[46] Aus Rahels Herzensleben. Briefe und Tagebuchblätter.

Die Herausgeberin 1 des vorliegenden Buches scheint in Rahels Briefschaften eine unerschöpfliche Fundgrube zu besitzen, die sie denn auch mit nie ermüdendem Fleiße ausbeutet. Im gegenwärtigen Falle verschmäht sie es allerdings nicht, nebst dem edlen Metalle auch geringes an den Tag zu fördern, nämlich zugleich mit den Ergüssen einer merkwürdigen Persönlichkeit auch die Briefe der unbedeutenden Männer zu veröffentlichen, mit denen Rahel in Beziehungen stand. Da jedoch die letzteren Mitteilungen dazu dienen, über die Herzensschicksale jener ungewöhnlichen Frau volles Licht zu verbreiten, uns den Abstand zwischen ihr und den Gegenständen ihrer Liebe, damit aber zugleich auch die Unvermeidlichkeit eines unglücklichen Ausganges erkennen zu lassen, so mögen wir uns darein [46] fügen, daß nur wenig mehr als die Hälfte des Buches von Rahel selbst herrührt, während ein ansehnlicher Teil desselben mit den keineswegs interessanten Briefen Finckensteins und den inhaltsleeren Billets Urquijos ausgefüllt ist.

Frühere Publikationen aus Rahels brieflichem Nachlasse haben die Namen dieser beiden der Leserwelt längst bekannt gemacht. Daß der eine so wenig wie der andere fähig war, das Wesen einer so ausnahmsweisen Individualität zu verstehen, die Glut ihrer Empfindungen zu teilen, geht aus diesen Briefen mit herber Unwiderlegbarkeit hervor. Sie waren Alltagsmenschen und vermaßen sich, gleiche Bahnen mit einer genialen Natur zu gehen. Wie vorwitzige Knaben, denen es einfiel, mit dem Feuer zu spielen, sehen wir sie vor der Flamme, die sie selbst entzündeten, erschreckt zurückweichen und sich am Ende glücklich schätzen, daß sie noch mit heiler Haut davonkamen.

Rahel war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie den etwas jüngeren Grafen Karl von Finckenstein kennen lernte; bald entspann sich zwischen ihnen ein leidenschaftliches Verhältnis. In dem Buche wird behauptet, Finckenstein sei Rahels erste Liebe gewesen. Wahrscheinlich ist es eben nicht, daß ein Wesen von solcher geistigen Frühreife, von so heißen Gemütstrieben die ganze eigentliche Jugendzeit hindurch der Liebe unnahbar gewesen sein sollte, doch können sich bloße Wahrscheinlichkeitsgründe [47] einer bestimmten Versicherung gegenüber nicht behaupten. Genug, Rahel liebte Finckenstein und wurde von ihm geliebt. Aber in diesem Herzensbunde waren die Rollen wunderlich vertauscht: das Weib war dem Manne nicht nur an Geist, sondern auch an Energie des Charakters weit überlegen, während er sie durch Schönheit, Anmut und Liebenswürdigkeit fesselte. Daß ein auf so naturwidriger Grundlage ruhendes Verhältnis unmöglich zum Glücke führen konnte, liegt auf der Hand. Zwar fühlte Finckenstein sich mächtig zu Rahel hingezogen; der sicherste Beweis dafür ist, daß er eine Weile allen Ernstes – so ernst er überhaupt etwas nehmen konnte – daran dachte, sie, die Bürgerliche, die Jüdin, zu heiraten, und in der Verblendung der Leidenschaft sich die moralische Kraft zutraute, allen Standesvorurteilen Trotz zu bieten. Als es aber wirklich dazu kommen soll, entsinkt ihm der Mut und auf Schleichwegen sucht er dem Wirrsal, in das er sich verstrickt hat, zu entrinnen. Statt sich offen als Feigling zu bekennen, spekuliert er auf die großartige Gesinnung der Geliebten und heißt sie darüber entscheiden, ob er denn auch seiner Familie eine so schwere Kränkung zufügen dürfe. Er hat sich in Rahel nicht geirrt: ein erbetteltes Glück verschmähend, entsagt sie ihren Ansprüchen auf ihn und gibt ihn frei. Das wars, was er wollte! Aber auf die Geliebte verzichten will er keineswegs. [48] Er bittet, fleht, bis Rahel, von ihrer Leidenschaft betört, und gewiß im Widerspruche mit ihrer besseren Einsicht, sich bewegen läßt, die früheren Beziehungen wieder aufzunehmen. Das unerquickliche Verhältnis schleppt sich einige Zeit fort. Da schwirrt dem Haltlosen plötzlich das Projekt einer Konvenienzheirat durch den Sinn und wieder beginnt das falsche, heuchlerische Spiel. Abermals gibt er sich den Anschein, als lege er sein Schicksal in Rahels Hände; nach ihrem Ausspruche will er handeln. Diesmal findet er sie aber nicht mehr so opferwillig, so selbstvergessen. Sie antwortet ihm: »Ein Mal habe ich dem, was ich für Recht erkenne, das ungeheuerste Opfer gebracht, welches Menschen zu bringen fähig sind. Es ist mir nicht gelungen, dem Schicksale selbst schien es nicht zu gefallen, es nahm es nicht an. Nie tue ich dergleichen wieder, das gelobe ich dir bei dem, was dir das furchtbar Heiligste sein mag. Ich werde nie wieder die Erste sein, die sich von dir trennt, und wenn Himmel und Hölle, die Welt und du selbst mir gegenüber stehen. – Den Kelch, den mir mein Gott reicht, ich will ihn leeren; selbst nur nehme ich ihn nicht wieder.«

Die geplante Heirat kam nicht zustande. So erstaunlich es klingen mag: die Korrespondenz geht weiter fort und nach wie vor zeichnet Finckenstein seine Briefe mit seinem stereotypen »Ewig dein Karl«. [49] Er, der wiederholt feig und schmählich von ihr abgefallen war! Die Erinnerung daran scheint ihm nicht im geringsten gestört zu haben. Es gibt Menschen, die es ganz natürlich finden, vorkommendenfalls den zu verraten, den sie zu lieben glauben. – Allmählich wird Finckensteins Ton kühler und endlich so gleichgiltig, ja so geringschätzig, daß Rahel sich dagegen aufbäumt. Es kommt zum vollständigen Bruche. Zwölf Jahre vergehen, ohne daß eines dem andern ein Lebenszeichen gibt; erst nach diesem langen, von wechselnden Schicksalen und Leidenschaften ausgefüllten Zeitraume sehen sie sich wieder. Das Tagebuchblatt, welches von diesem Zusammentreffen berichtet, ist reich an psychologischen Rätseln. »Dein Mörder!« denkt sie, als sie ihn erblickt und Tränen kommen ihr in den Hals und in die Augen. Sie durchschaut ihn ganz, beurteilt ihn schonungslos, nennt ihn einen beschränkten, unfesten Mann, der wie solche auch störrisch sein kann, aber der Zauber, den er einst auf sie ausübte, ist noch immer nicht gebrochen. Sie gesteht sich: »Und nun, da ich ihn sah und besah, fühlte ich, wußte ich, daß ich ihm treu geblieben war, so wie er ist, trotz meiner Kenntnis von ihm. Hätte er gestern durch einen Zauberring alles, was in den zwölf Jahren vorgefallen ist, ungeschehen machen können, so hätte er sich mein ganzes Leben wieder anlocken können, wenn er gewollt hätte.«

[50] Möchte man nicht an alle Wunder des Magnetismus glauben, wenn man dies Geständnis liest, sich nicht beklommen fragen, ob denn wirklich unsere Erkenntnis, unser sittliches Gefühl nichts vermögen, sobald ein unbekanntes Fluidum auf unsere Nerven einwirkt? Wenn irgend etwas, so scheint mir diese unbegreifliche Herrschaft, die hier eine schwächliche, armselige Persönlichkeit über eine reichbegabte, kraftvolle ausübt, dem unheimlichen Gebiete anzugehören, das man die Nachtseite der Natur nennt.

Es war Rahels letzte Begegnung mit Finckenstein; wenige Monate später starb er.

Seine Briefe füllen etwa ein Drittel des Bandes; von den ihrigen sind wenige erhalten geblieben, zudem nur solche, die unmittelbar vor dem definitiven Bruche geschrieben wurden. Die Zeugen einer früheren, glücklicheren Zeit wurden durch Zufall oder mit Absicht vernichtet, nur die Anklagen, die Schmerz und Zorn der Schwerbeleidigten entrissen, sind auf uns gelangt Sehr merkwürdig ist, daß einer dieser Briefe Rahels, und zwar ein in den heftigsten, härtesten Ausdrücken abgefaßter, nur noch in einer Abschrift von Finckensteins Hand existiert. Was konnte ihn veranlassen seine eigene Schmach zu verewigen? Wir stoßen hier überall auf Rätsel.

Wenn Rahel in ihrem Tagebuche sagt, sie sei Finckenstein in den langen zwölf Jahren der Trennung[51] treu geblieben, so ist dies wohl nur in dem Sinne gemeint, daß sie bei seinem Anblicke sich neuerdings in seinem Banne fühlte. Seiner Gegenwart entrückt, war sie leidenschaftlichen Empfindungen für andere sehr wohl zugänglich. Jenes Jahr, nachdem sie mit Finckenstein für immer gebrochen hatte, lernte sie während eines längeren Aufenthaltes in Paris einen jungen hübschen Hamburger namens Bockelmann kennen; beide faßten für einander ein lebhaftes Interesse, das sich bald bis zur Zärtlichkeit steigerte. Der junge Mann weiß den Reiz dieses Geistes voll Originalität und Sprühkraft zu würdigen; Rahel, die vor nicht langer Zeit alle Qualen des Verschmähtwerdens empfunden hatte, ist um so empfänglicher für die ihr entgegengebrachte Huldigung, aber das Verlangen, einander dauernd anzugehören, scheint sich in keinem von beiden geregt zu haben. Nirgends gibt der Gedanke an eine Vereinigung in künftigen Tagen, seien diese auch ferne, dem Verhältnisse einen ernsteren Hintergrund. Es ist und bleibt eine flüchtige Begegnung wie die zweier Reisenden, die, vom Zufall zusammengeführt, sympathisch zueinander hingezogen, einen Teil der Fahrt in heiterem, genußreichen Verkehr verbringen und sich da, wo ihre Wege auseinandergehen, Lebewohl sagen, um allein weiter zu wandern. Sie haben eben andere Zielpunkte. Höchstens, daß die für eine kurze Zeit Zusammengesellten sich aus der Ferne noch eine Zeitlang [52] Grüße senden, bis auch dieser Nachhall trauter Stunden verklingt und die Dämmerung schattenhaft zerfließt. So geschah es hier. Nur wenige Wochen währte das Glück – sie selber gebraucht dieses Worte – das Rahel im Umgange mit Bockelmann fand, dann riefen ihn zwingende Notwendigkeiten nach Cadix. Rahel schreibt ihm oft und ausführlich. Sie hegt die innigste Teilnahme für den jungen Freund und empfindet die Trennung von ihm als Schmerz. Da sie jedoch vom ersten Tage ihrer Bekanntschaft an wußte, daß ihnen verschiedene Lebenswege angewiesen waren, da hier von keinem Unrechte, keinem Treubruche die Rede sein konnte, so war diesem Schmerze keine Bitterkeit, kein Zorn beigemischt. Gefaßt fügte sich Rahel in ihr Los und bewahrte sich den freien Blick, die lebendige Empfänglichkeit für alle Erscheinungen des Lebens. Sehr interessant sind in diesem Teile des Buches die nur flüchtig skizzierten und dennoch höchst lebendigen Schilderungen, die Rahel auf einer Reise durch Holland von diesem Lande entwirft. Es kommt ihr vor »wieeine Herrenhuterei; schön propre zum Bewundern und zum Todängstigen. Hat man eine Stadt, ein Dorf gesehen, so kennt man alle: denn Amsterdam selbst ist nichts als viele Herrenhutereien zusammengerückt, ebenso rein, so still, so tot, die handeltreibende, berühmte Stadt.«

Noch weniger ist sie bei der Rückkehr nach Berlin[53] von den dortigen Zuständen erbaut; Verfassung, Theater, Klima, alles erregt ihren Widerwillen. Sie fühlt sich da am wenigsten zu Hause, wo sie zu Hause ist; sie kennt nichts Glücklicheres, als im rechten Lande geboren zu sein, nichts Unglücklicheres als das Gegenteil. An diese Klagen knüpfen sich Projekte eines Wiedersehens in Paris, die sich jedoch nicht verwirklichen sollten. Ungefähr ein Jahr lang währte diese Korrespondenz, dann kehrte Bockelmann auf einige Zeit nach Deutschland zurück und besucht seine Freundin in Berlin. Nur noch zwei Briefe folgen nach dieser Begegnung; dann scheint jeder Verkehr zwischen ihnen plötzlich abgebrochen. So viel ich mich erinnern kann, wird auch in Rahels Briefen und Tagebüchern aus späterer Zeit des einst so zärtlich geliebten Freundes nicht wieder gedacht. Das ganze Verhältnis gleicht einer jener schwimmenden Inseln in südlichen Meeren, die, in reichem Blumenschmucke prangend, eine Weile auf der Wasserfläche umhertreiben und dann verschwinden, als wären sie nie gewesen.

In diesem Abschnitte ist es Rahel, die allein das Wort führt; die Briefe Bockelmanns fehlen. Er war vorsichtig genug, sie nach Rahels Tod von Varnhagen zurückzuverlangen. Menschen von zarter und keuscher Empfindung scheuen die Publizität, wenn es sich um ihre Herzensangelegenheiten handelt, es wäre denn, daß [54] eine künstlerische Form diese verklärte und das rein Persönliche von ihm ausschiede.

Man wird wohl kaum irren, wenn man Rahels plötzliches Verstummen Bockelmann gegenüber in Zusammenhang mit der Leidenschaft bringt, in der sie eben jetzt für einen spanischen Diplomaten, Don Raphael Urquijo, entbrannt war. Es ist schwer, ja un möglich, sich von dem Verhältnisse dieser Beiden eine deutliche Vorstellung zu machen, denn der weitaus größere Teil dieser Korrespondenz ging verloren und die Briefe, die erhalten blieben, sind nicht genügend, uns über den ferneren Verlauf der Dinge aufzuklären. Sie stammen aus der ersten Zeit dieser Verbindung und zeigen uns Rahel von einer Liebesraserei ergriffen, gegen die der kühle Ton des mit so maßloser Zärtlichkeit Überhäuften besonders absticht. Varnhagen erzählt in seinen Aufzeichnungen Urquijo habe Rahel leidenschaftlich geliebt, sie aber durch törichte unbegründete Eifersucht sehr unglücklich gemacht, bis sie, aufs Äußerste getrieben, sich endlich von ihm losriß. Wir müssen der Angabe eines so gutunterrichteten Gewährsmannes Glauben schenken, wenn sich auch in den hier mitgeteilten Briefen Urquijos nicht ein Wort vorfindet, das zu ihrer Bestätigung dienen könnte. Nirgends begegnet man in ihnen dem Ausdruck einer tiefen, starken Empfindung. Um so überschwänglicher sind die Dithyramben, die Rahel anstimmt. All ihr früheres Leben, Lieben und Leiden ist vergessen, [55] ihr ganzes Sinnen, Fühlen, Trachten in dem Geliebten aufgegangen. Wie wenig dieses neue Ideal solche Anbetung verdiente, können wir aus Rahels späteren Mitteilungen an Andere ersehen. Urquijo behandelte sie aufs grausamste, warf ihr erbarmungslos ihre Vergangenheit vor, erklärte ihr unumwunden: »Je vous aime mais je ne vous estime pas« und dennoch konnte die Betörte nicht von ihm lassen. Von dem Tone, den er sich ihr gegenüber für erlaubt hielt, mag die Szene einen Begriff geben, die Rahel in einem Briefe an Varnhagen erzählt. Sie schreibt: »So sollst du auch denken, daß einen Tag, von dem ich dir schon sprach, ich mit Urquijo im Tiergarten von der Bleiche aus ging und ich eine schöne fremde Dame in einem Wagen in der Nähe sehen wollte, er, ohne daß ich erraten konnte warum, ganz wütend und zusammenhangslos geworden war, er mir sehr Hartes sagte, ich nur seufzte: ›Dieu! Dieu!‹ und er hinzufügte: ›Que veuxtu? Finckenstein t'a traitée comme cela, cela ne doit pas être nouveau pour toi.‹ – ›Dieu!‹ sagte ich, beinahe nicht zu ihm, im tiefen Walde, gegen das Wasser, bei der Abendsonne, ›si cela etait dit dans une tragédie, tout un parterre frémirait, ou fondrait en larmes‹. – ›Eh bien!‹ sagte er, ›c'est vrai, cela même devrait te détacher de moi; cela devrait te prouver que nous ne pouvons pas vivre ensemble.‹« Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll, ob [56] über die Brutalität, die solche Worte eingibt, oder über die Unterwürfigkeit, die angesichts so tödlicher Beleidigungen nur Seufzer hat. Zwei Jahre währte dies unglückliche Verhältnis; wer den entscheidenden Anstoß zu seiner Lösung gab, ersehen wir nicht. Urquijo blieb noch lange Zeit in der preußischen Residenz, kam aber nur selten mit Rahel zusammen. Im Jahre 1812 treffen sich beide in Prag. Urquijo sagt ihr, daß er sie in Berlin aufgesucht habe; von seiner Roheit angesteckt, erwidert sie: »Oui, parceque vous étiez dans le malheur.« Später kehrte Urquijo in seine Heimat zurück und entschwand Rahels Augen für immer. Varnhagen sagt uns, daß sie den Schmerz, den diese Leidenschaft ihr bereitete, nie verwunden habe. Da kann man denn abermals die Frage nicht unterdrücken: Was war es, das sie an diesen Urquijo kettete, sie seine verrückten Launen ertragen ließ und ihr Herz wie mit ehernen Klammern festhielt? Seine geistige Bedeutung konnte es wahrlich nicht sein, ebensowenig der Adel seines Gemütes. Wie voreinst bei Finckenstein war es wieder nur der Zauber der Persönlichkeit, dem sie sich willenlos gefangen gab.

Sie war viel zu scharfsichtig, um sich über den inneren Gehalt eines Menschen zu täuschen, aber sie tat ihrem besseren Ich Gewalt an, um einem dunklen Triebe und Zuge sklavisch zu folgen. Da gab es freilich kein anderes Ende als Verzweiflung. Gründlich[57] hat Rahel diese durchgekostet, für den verhängnisvollen Irrtum ihres Lebens schwer gebüßt. Dieser Irrtum war, den Reiz, den ein Mensch für sie hatte, höher anzuschlagen, als dessen Charaktereigenschaften. Nicht nur in der Liebe, auch in der Freundschaft ist Rahel Verbindungen eingegangen, die ihrer unwürdig waren. Ist es ein Wunder, wenn sie bei solcher Lebensführung fortwährend Ursache hat, über Kränkungen und Mißhandlungen zu klagen? Man erniedrigt sich nicht ungestraft; die Frevel, die man an sich selbst begeht, rächen sich am bittersten. Rahel wollte um jeden Preis amüsiert oder emotioniert sein; geschah dies, so ging sie über alle sittlichen Bedenken gleichgiltig hinweg. Nicht ihr allein ist dies als Schuld anzurechnen. Sie war eben ein Kind ihrer Zeit – einer Zeit, in der – namentlich in den tonangebenden Kreisen Berlins – der Kultus einer frivolen Genialität und ihres souveränen bon plaisir jeden anderen verdrängt hatte, bis endlich der ganze moralisch unterwühlte Staat bei Jena zusammenbrach.

Es wäre unstatthaft, an Bücher wie das vorliegende den Maßstab literarischer Kritik anzulegen; sie entziehen sich ihm, weil sie nicht Kunstwerke, sondern unmittelbare, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Herzensergüsse sind. Varnhagen selber meint in seinen »Denkwürdigkeiten« in bezug auf die verloren gegangenen Briefe an Urquijo: »Es scheint, als solle[58] dergleichen nicht zum literarischen Denkmale werden, sondern heimgehen mit den Personen, denen es unmittelbar angehörte.« Ein sehr richtiges Gefühl! Aber warum war er dann bemüht, diesen Lauf der Dinge, in dem er selbst den rechten ahnte, zu hindern? – Ich möchte wohl wissen, ob es außer Varnhagen noch einen Mann gegeben hat, der sichs angelegen sein ließ, die Liebesbriefe seiner Frau an Andere für den Druck vorzubereiten.

[59]

Fußnoten

1 Ludmilla Assing. A. d. H.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Essays. [Rahel Varnhagen]. Aus Rahels Herzensleben. Briefe und Tagebuchblätter. Aus Rahels Herzensleben. Briefe und Tagebuchblätter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-68F2-9