Schreiben von vernünftiger Erlernung der Sprachen und Wissenschaften auf höheren Schulen.

(Belustigungen des Verstandes und Witzes. Mai 1742).


Mein Herr!


Man hat mir gesagt, Sie wären seit etlichen Monaten mit einer Sammlung verschiedener deutscher Schriften beschäftigt. Bei dieser Gelegenheit bekommen Sie vermutlich viele Briefe von gelehrten Männern zu lesen. Ich zweifle aber doch nicht, Sie werden sich auf mein Bitten die kleine Gewalt anthun und einen Brief eines jungen Menschen aussehen, welcher nur vor wenig Wochen die niedern Schulen verlassen[42] hat und im Begriff steht, auf eine hohe Schule zu ziehen, um gewöhnlichermaßen längstens binnen 3 Jahren zu absolvieren. Daß ich mir diese Freiheit nehme, dazu veranlaßt mich ein Umstand, von dessen Wichtigkeit ich Sie bald überzeugen will.

Ich habe mich sechs Jahre lang in einer Schule aufgehalten, welche vor anderen Schulen einen Vorzug und zugleich den billigen Ruhm hat, daß viele große und gelehrte Männer den Grund ihres Glücks daselbst gelegt haben. Sobald ich die ersten Jahre überstanden und mich geschickt gemacht hatte, die Sache mit einer reifern Überlegung einzusehen, so ließ ich bei meinem unermüdeten Eifer diejenigen Wissenschaften mein Hauptwerk sein, zu denen ich den größten Trieb empfand, und welche ich für die edelsten unter allen hielt. Ich traue Ihnen die Einsicht zu, daß Sie von selbst erraten können, worin also meine vornehmste Bemühung bestanden habe.

Es ward uns Gelegenheit gegeben, die ältere und neuere Geschichte zu erlernen. Man lehrte uns die Geographie und andere davon abhängende Wissenschaften. Man bemühte sich, uns einen kleinen Vorgeschmack von den Rechten eines jeden Reiches und hauptsächlich unseres Vaterlandes beizubringen. Es wurden auf Kosten der Oberen Leute gehalten, welche die Jugend in der französischen und italienischen Sprache unterrichten sollten. Ja, was beinahe unglaublich ist, sogar in der deutschen Sprache gab man uns Anleitung. Die mathematischen Wissenschaften wurden getrieben, so viel es auf Schulen möglich ist. Von der Malerei, Musik und Tanzkunst will ich nicht einmal etwas erwähnen, so wenig als von der Anweisung, wie man die Buchstaben leserlich und schön schreiben soll.

Was meinen Sie davon, mein Herr? Ich weiß, Sie lassen mir die Gerechtigkeit widerfahren und trauen mir zu, daß ich die kostbare Zeit mit dergleichen Sachen nicht verderbt habe. Es wäre dieses ein Fehler gewesen, welchen man kaum mit dem gelinden Namen einer Jugendsünde hätte entschuldigen können; und ich glaube, meine Enkel würden sich dereinst schämen müssen, wenn man ihnen dergleichen gelehrte Schwachheiten ihres Großvaters vorwürfe.

Meine Bemühungen waren weit rühmlicher. Lateinisch, griechisch, hebräisch, die Redekunst und die Logik, dieses sind die Wissenschaften, worauf ich mich mit einem unersättlichen Fleiß und mit Ausschließung aller andern gelegt habe.

Ist es nicht kläglich, daß man die Jugend zu Erlernung [43] der Geschichte und besonders unserer gegenwärtigen Zeiten anhält? Dieses vermehrt ihre leichtsinnige Neugierigkeit, zu der sie ohnedem mehr als zu geneigt ist. Aus dieser Ursache habe ich mich jederzeit davor gehütet, und ich kann mir ohne eiteln Ruhm nachsagen, daß mir dasjenige, was nach dem Raube der Helena in Griechenland vorgegangen, weit bekannter ist als die Unruhe, worein Deutschland durch den Tod des Kaisers gestürzt sein soll. Wozu die Geographie und die zugehörigen Wissenschaften nützen, das kann ich nicht einsehen. Ich habe den Weg von der Schule nach meiner Heimat gewußt, ich will ihn auch wohl ohne Geographie nach Leipzig finden. Ich weiß die Namens- und Geburtstage meiner gnädigen Herrschaft; ich weiß, daß unser Herr Pfarrer einen Totenkopf mit einem Kreuze in seinem Petschaft hat: dieses hilft mir mehr, als wenn ich das ganze Geschlecht und alle Wappen des Kaisers von Fez und Marokko auswendig könnte. Daß ich die Rechte der Reiche und meines Vaterlandes lernen soll, solches scheint mir ein verwegenes Unternehmen zu sein. Es sind dieses Geheimnisse, welche man nicht erforschen, sondern den Regenten überlassen muß; zu geschweigen, daß man vielmals an den Höfen selbst nicht weiß, was Rechtens ist: wie will man es in den Schulen wissen! Die flatterhafte Eitelkeit der Franzosen und die Gemütseigenschaften der Italiener haben mir jederzeit einen Abscheu vor ihren Sprachen gemacht. Deutsch zu lernen, klingt gar lächerlich. Unser Thorwärter in der Schule konnte gutes Deutsch reden, ungeachtet er niemals in die Lehrstunden kam, und meine Mutter verstand mich allemal, wenn ich um Geld schrieb. Ich habe zwar gegenwärtigen Brief von einem meiner guten Kameraden durchsehen und die Schreibart ändern lassen; dieses geschieht aber mehr aus einer Gefälligkeit als innerlichen Überzeugung, daß es nötig sei. Daß die mathematischen Wissenschaften auf Schulen getrieben werden, das lasse ich eher gelten. Es kommen doch immer griechische Wörter darin vor. Die Malerei, Musik und das Tanzen schicken sich am besten für Frauenzimmer, und die Kunst, leserlich und schön zu schreiben, für den Pöbel. Denn gelehrte Leute müssen schlecht schreiben, dieses ist ein altes Herkommen.

Sagen Sie mir aufrichtig, mein Herr, wie gefällt Ihnen dieser Beweis? Nicht wahr, vortrefflich? Sollten Sie wohl in einem jungen Menschen so viel Verstand und einen so guten Geschmack suchen?

Die lateinische Sprache kam mir so einnehmend und reizend [44] vor, daß ich mich schäme, ein geborner Deutscher zu sein. In der griechischen Sprache fand ich etwas, von dem ich viel zu wenig sage, wenn ich spreche, daß es reizend und entzückend war. Ich habe mich vielmals gewundert, warum man sie nicht bei Hofe einführt, und ich bin ganz gewiß versichert, ein Frauenzimmer würde bei einer griechischen Liebeserklärung nimmermehr unempfindlich bleiben können. Daß ich hebräisch ohne Punkte verstehe, das ist das wenigste, dessen ich mich rühmen kann. Die Redekunst hatte mich recht bezaubert. Die Regeln und Muster, die ich mir erwählte, waren zwar nicht nach dem neuesten, jedoch nach meinem Geschmack. Besonders in den Figuren war ich sehr stark. Ich wußte alle ihre Vor- und Zunamen, und meine Reden, die ich hielt, bestanden in nichts als Fragen und Ausrufungen. Die Erlernung der Logik war meine ernsthafteste Beschäftigung. Zwar die gemeine Art zu denken, hat mir niemals gefallen wollen. Sie ist gar zu deutlich, und die Kunstwörter sind zu gespart. Wenn ich jemanden als ein Gelehrter überzeugen will, so muß meine Überzeugung kunstmäßig sein; und ich mag denken, was ich will, so denke ich in forma. Meiner Abschiedsrede kann ich mich ohne einige Selbstliebe nicht erinnern. Ich handelte von den Rauchfängen der alten Griechen und insonderheit der Lacedämonier. In welcher Sprache ich dieselbe eigentlich gehalten habe, solches kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn ich Ihre Ohren nicht beleidigte, so würde ich sie Ebraico-Latino-Graecam nennen. Dieses letzte Meisterstück meiner Fähigkeit mochte wohl Ursache sein, daß man mir ein vortreffliches Schulzeugnis gab. Ich werde es mit nach Leipzig bringen und also die Ehre haben, Ihnen Brief und Siegel über meine Geschicklichkeit zu zeigen.

Bis hierher klingen meine Erzählungen ganz vergnügt. Sie werden den wichtigsten Umstand noch nicht einsehen können, welcher mich bewogen hat, an Sie zu schreiben. Sie sollen ihn gleich erfahren.

Von der Schule ging ich nach Hause zu meinem Vater, welcher im Gebirge ein adeliges Rittergut gepachtet hatte. Meine Absichten erforderten, daß ich unserm gnädigen Herrn sogleich meins Aufwartung machte. Er erkundigte sich nach der Einrichtung der Schule und besonders meines bisherigen Studierens. Ich erzählte ihm alles, was ich jetzt geschrieben habe, und ich glaube, ich erzählte ihm noch mehr. Seine Aufmerksamkeit machte mich beredt, und ich versprach mir schon im voraus die Anwartschaft auf eine Pfarre. Allein, wie sehr betrog ich [45] mich in meiner Hoffnung! Urteilen Sie selbst von meiner Bestürzung, die ich empfand, als mir derselbe mit einem ernsthaften Gesicht ungefähr also antwortete:

»Gewiß, mein Herr, ich bedaure Ihn; Sein Vater hat das Geld verloren und Er die Zeit verderbt. Er hat studiert und ist keinem Menschen zu etwas nütze. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, wenn Er sich auf diejenigen Wissenschaften etwas mehr gelegt hätte, von denen Er geglaubt, daß sie so verächtlich und überflüssig sind? Muß Er sich nicht schämen, daß Er in Griechenland zu Hause und in Sachsen ein Fremdling ist? daß Er die Gesetze seines Solons versteht und nicht die geringste Kenntnis von den Rechten seines Vaterlandes hat? Hätte Er sich nicht mit den Sprachen der Ausländer wenigstens nur in etwas bekannt machen sollen, wenn Er sie auch allenfalls nicht besser gelernt hätte als die deutsche? Wie viel brauchen wir lateinische und griechische Sprachmeister? Ich tadle deswegen nicht an Ihm, daß Er lateinisch und griechisch gelernt hat. Dieses muß sein, und ein Gelehrter, der es nicht kann, kommt mir ebenso abgeschmackt vor als Er, da Er seine Muttersprache nicht besser versteht. Was glaubt Er wohl, daß ich mit meinem Schneider anfangen sollte, wenn er nichts arbeiten könnte als solche Kleider, wie sie Seneka und Sokrates getragen haben? Würde der Kerl nicht Hungers sterben müssen, wenn er sonst nichts gelernt hätte? Mit Seiner Redekunst lockt Er keinen Hund unter dem Ofen hervor, geschweige, daß Er die Gemüter seiner Zuhörer rühren sollte, und Seine Logik besteht aus Worten ohne Gedanken. Hat Ihm denn niemand auf der Schule gesagt, wie unentbehrlich es heutigestages sei, daß man die sogenannten gelehrten Sprachen und Künste mit den neueren Wissenschaften verknüpfe?«

Ich konnte dieses nicht leugnen. Ich gestand, daß einige meiner Lehrer mich deswegen vielmals getadelt und mir meine Bemühungen als unnütz vorgeworfen hätten. Ich sagte aber auch, daß andre meinen Eifer aufgemuntert und mir mit großer Zuversicht prophezeit hätten, ich würde dereinst die Zierde ihrer Schule, eine Brustwehr wider die einreißende Barbarei und eine Stütze des Vaterlandes sein. Er schüttelte den Kopf und ließ mich mit vielen derben Vermahnungen von sich gehen.

Wie meinen Sie wohl, daß mir damals zumute gewesen ist? Wahrhaftig, so hat sich wohl Plato kaum geschämt, als ihn Diogenes durch einen nackten Hohn wegen seiner irrigen [46] Meinung lächerlich machen wollte. Ich ging ganz bestutzt nach Hause.

Allein, das war noch nicht genug. Dieser Tag schien recht zu meiner Demütigung ausersehen zu sein. Ich fand unsern Hofmeister, welcher seinen Sohn mit vielem Eifer ausgescholten hatte. Ich hörte nur noch soviel, daß er zu ihm sagte: »Du bist mir ein braver Kerl! Du schickst dich zu allem, wie ein Esel zum Lautenschlagen. Ein Narr bleibt ein Narr, und wenn man ihn im Mörser zerstieße. Du kannst nichts, du hast nichts gelernt, du willst nichts lernen; was soll denn endlich aus dir werden? Halte dein Maul oder – fort! Packe dich! Geh mir aus den Augen!«

Ich erstaunte, als ich dieses hörte. Wie? dachte ich: unser Hofmeister, ein Bauer, ein Mann, der weder lesen noch schreiben kann, der versteht die Redekunst! Sarkasmus, Diasyrmus, Ploki, Anaphora, Ellipsis, Asyndeton – sind dieses nicht alle die Figuren, die ich jetzt von ihm gehört habe? Und der Kerl hat nicht studiert! Wie geht das Ding zu? – Ich redete ihn an. Ich fragte ihn, warum er sich so ereifert hätte? Was? sprach er, das ist mein Junge, und ich soll mich nicht ärgern, daß sich der Schlingel auf die faule Seite legt? Neue Wunder! Unser Hofmeister versteht auch die Logik: ist dieses nicht der bündigste Schluß in Darii? War es nicht ebensoviel, als wenn er gesagt hätte: Wer einen ungeratenen Sohn hat, welcher sich auf die faule Seite legt, der muß sich ärgern. Atqui, ich habe einen solchen ungeratenen Sohn. Ergo muß ich mich ärgern.

Ich muß es Ihnen gestehen, mein Herr, ich war damals ganz außer mir. Die empfindlichen Reden unseres gnädigen Herrn machten mich nur unruhig, dieser Hofmeister aber ganz und gar kleinmütig. Gehört zu einem Gelehrten heutigestages mehr als lateinisch, griechisch und hebräisch; kann auch der einfältigste Bauer in Figuren und Schlüssen reden, ohne daß er weiß, wie sie auf griechisch heißen oder in welcher Form sie sind: wozu nützt denn mir mein Fleiß? Warum habe ich mir denn so viele schlaflose Nächte gemacht? Sollte es wohl in der That vernünftiger sein, wenn man auf Schulen sich mit den Sprachen der Gelehrten zwar gründlich bekannt macht, zugleich aber auch in den neuern Sprachen und (wie man sie nennt) in den galanten Wissenschaften sich übt? Sollte es wohl lächerlich sein, wenn man sich einbildet, die Erlernung einiger Kunstwörter machte uns zu Rednern und Philosophen?

[47] Nein, ich kann mich dieses nicht bereden. Ich gehe von der einmal gefaßten Meinung nicht ab. Das sei fern von mir. Und ich werde Ihnen, mein Herr, ungemein verbunden sein, wenn Sie mich zu meiner Beruhigung in diesem Urteile bestärken wollen. Ich werde dafür ohne alle Figur in bester Form verharren,


Dero

ergebenster Diener

Irenäus Mastigophorus,

sonst Friedrich Geißelmann genannt.


P.S. Ich habe bei müßigen Stunden des Hieronymus Comitem sive Lectionarium denen zum besten in griechische Verse übersetzt, welche der lateinischen Sprache nicht mächtig sind. Weil ich nun glaube, daß es eine besondere Belustigung des Witzes abgeben kann, so übersende ich Ihnen diese Übersetzung zu beliebigem Gebrauch.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Rabener, Gottlieb Wilhelm. Satire. Sammlung satirischer Schriften. 1. Satirische Abhandlungen und Erzählungen. Schreiben von vernünftiger Erlernung der Sprachen. Schreiben von vernünftiger Erlernung der Sprachen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8B63-4