Mariae Verkündigung

Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
auffahren –, pflegte sie an der Gestalt,
in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,
wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,
die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,
sich so in sie versehn, daß sich in ihr,
ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,
das Tier aus Licht, das reine Tier –.)
Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,
der Engel, eines Jünglings Angesicht
so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als wäre draußen plötzlich alles leer
und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt in sie: nur sie und er;
Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
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sonst nirgends als an dieser Stelle –: sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.
Dann sang der Engel seine Melodie.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Rilke, Rainer Maria. Gedichte. Das Marien-Leben. Mariae Verkündigung. Mariae Verkündigung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-940A-5