Nach zwei Jahren

»Mohammed ist ausgegangen«, sagte der Kantinier bedauernd.

»Hm, Mohammed ist ausgegangen«, wiederholte ich brummig und dachte mich dabei orientalisch. Ich nahm irgendwelchen Ersatz, der aber nichts taugte. Gestern zum Abendbrot hatte ich einen Ersatz für Leberwurst genossen, der wie Wolle schmeckte.

Bis Zapfenstreich spielte ich Schach oder schlug Fliegen tot mit einer lächerlichen, aus einer Brandsohle und einem Stück Kleiderbügel hergestellten Klatsche. Krieg und kein Ende.

Denke Dir: Eine Hoffnung tat sich mir auf, endlich aus diesem trostlosen Mauerleben hinter der Front zu einer, wie wir's nennen, »dicken Sache« zu gelangen, zu einer schön gefährlichen Unternehmung. Selbstverständlich G.G. (ganz geheim). Aber ungefähr galt es, hier ins Meer zu springen, im Londoner Hafen plötzlich aufzutauchen, dem Lordmayor den Hut vom Kopfe zu reißen und damit wieder zu verschwinden. Ich meldete mich als Erster, diesmal direkt beim Kompanieführer. Der wies mich mit dem faden, gewiß schwer zu widerlegenden Kriegsschlagwort ab: Jeder hat da seine Pflicht zu erfüllen, wo er hingestellt wird. Seitdem verfolge ich diesen nüchternen, trockenen Offizier im geheimen mit Haß und Verachtung, wobei ich etwa die Rolle eines Mannes spiele, der ein loderndes Brandbündel vorstreckend gegen den Wind angeht.

Ach, ich bin voller Bitterkeit und Überdruß und ruhelos. Ich renne mit einem bösen Gesicht die hallenden Korridore entlang, reiße jede Tür auf und werfe sie wieder zu, ohne die Schwelle überschritten zu haben, weil mir nichts einfällt, was ich dort suchen könnte. An Sonntagen irre ich im Park von Ritzebüttel umher, lagere mich an einem buschüberhangenen Teich, worin [151] Goldkarpfen als zinnoberrote Striche durch Binsengrün streifen. Aber meine Sinne gleiten ab von den Märchenbildern. Ich habe kein Herz mehr, ich habe eine Kasernenuhr in der Brust – Herzersatz. Wirre, windelweiche Gedanken entziehen mich der Ruhe wie der Arbeit, vornehmlich vier Erinnerungen, die gleich Windmühlenflügeln mir immer von neuem vorbeisteigen. Das sind die Brüsseler Bibliothek und eine Schar Kinder. Und ich habe einmal die Feier eines kleinen Friedens miterlebt, in Boston in England. Da umarmten sich öffentlich Menschen, die einander fremd waren, und tanzten auf dem Pflaster; musizierende Banden querten die Stadt, Gassenbuben krakerten allerwärts mit Feuerwerk – die Ziegelsteine sangen vor Glück.

Und besinnst Du Dich, ich meine so schwärmerisch wie ich, auf unser Außerweltsein bei den gesprächigen Frühstücken in Borkes Garten? Auf die Austern und Kürbisse? Auf das komisch feige Hühnervolk mit den kinoartigen Bewegungen?

Übrigens, damit ich's nicht vergesse: Sollte in Breslau noch Seifenpulver ohne Karte zu kaufen sein, so besorge mir bitte ein Postpaket davon. Füge auch neue Lektüre bei (Detektivgeschichten – einen billigen Faust).

Kurz aber überschwenglich teilte ich bereits mit, daß ich zwei Tage voriger Woche dienstlich in Brüssel weilte, einer Stadt, wo man noch heute tanzt und lacht und läuft wie Anno 1913 in Breslau – oh nein, in Paris.

Habe ich das genossen! Bruxelles! Dort rauschte zwischen schroffen, imponierenden Ufern der Strom modernen Menschenvertragens. Lustwandelnde und Geschäftsgänger, Wallonen, Deutsche und Flamen, Zeitungsschreier; im Gewoge treibend eine lange, hübsche oder aparte Girlande von unbestreitbar berückenden Kokotten; und, über das Ganze verteilt, die straffen, grauen, bescheidenen Sieger. Meine blaue goldstrotzende Obermaatenjacke wirkte über die Maßen auffallend. Ich schwelgte in dem Ansehen, das sie mir lieh, und betrug mich in allen Situationen ausgesucht chevaleresk, aus Eitelkeit, darein sich ein Quäntchen Triumphgefühl mengte, einem tückischen Feinde gegenüber, der auch bezwungen noch unsere Rücksicht mißbraucht, hinterm Rücken unserer Offiziere höhnt und mich mehrmals durch vorsätzlich falsche Auskünfte fehlwies.

Von meinem Abenteuer am Gare du Nord, von herrlichen Bauten, die ich geschaut, mag unser nächstes Wiedersehen, so Gott [152] es gibt, behaglich plaudern. Du hättest dabei sein sollen, wie ich mit umgeschnallter Pistole und Entermesser mich als deutsche Marineessenz der Rue Neuve zeigte. Ich trank auch, mich gegen Brüsseler Zauber zu feien, braven Pfälzer, auf Deine Gesundheit. Und zu anderer Stunde in einem stockbelgischen Restaurant beobachtete ich im sanften Lichte eines teuren Chablis, wie die Besten die Schande ihres Landes tragen. –

Duftige Schauläden, seltenen Blumenbeeten vergleichbar, hatten mich vom Place Royal in das Spitzenviertel gelockt, unversehens befand ich mich der Bibliothek gegenüber. Du nickst lächelnd – ja, ich stieg wie tausendmal im Heimatlichen vom Vestibül über steinerne Stufen zum Lesesaal empor. Oben zögerte ich einen Moment, weil ich bemerkte, daß ein Angestellter Einlaßkarten abforderte. Nun tat es mir wohl, als dieser belgische Beamte, meine Unschlüssigkeit erratend, mir durch eine ernste aber ungemein höfliche Verbeugung Einlaß gewährte. Warum es mich doch so seltsam verwundern konnte, alles wie bei uns zu finden?! Ein andächtiger, lichter Saal, ringsum die Repositorien voll ewiger Früchte, auf den Bänken, über die Tische gebeugt, still nach Wahrheit oder Klarheit grabende Männer, viele interessante Köpfe darunter. Einige dieser Arbeiter blickten nach mir auf, vertieften sich aber unverzüglich wieder in ihre Bücher. Und ich, auf Zehen leise rundum schreitend, empfand auf einmal, daß meine Uniform dort nicht hingehörte, daß ich in ein wirklich neutrales Land geraten war, denn Du weißt, es gibt keine neutrale Schweiz, sondern eine deutsche und eine französische Schweiz, ein deutsches Dänemark und ein feindliches. Verlegen blätterte ich kurze Zeit in einem der Nachschlagewerke, dann stahl ich mich davon.

Kleinlaut, verstimmt, fuhr ich mit der »Schokoladen«-Bahn nach dem Bois, wo mir ein zweites, ebenso nachgehendes Erlebnis begegnete.

Ich erkor mir eine Bank unter Bäumen. Vor mir auf einer Wiese trieben flämische und französische Kinder ein drolliges Wesen. Sie spielten »Hund«, auf allen vieren durchs Gras hüpfend und bellend. Dann wollte jedes der Beschnüffelte und keines der beschnüffelnde Teil sein, daß ich ob solcher naiven Belustigung abwechselnd gerührt war und wieder hell auflachen mußte.

Da kam Mignon hinzu. Mignon, sorglos, weiß und wehend im Glockenrock und in zierlichen Lackstiefelchen mit ganz hohen, schlanken Absätzen – schlug, mein goldenes Vließ anstaunend, die [153] Hände überm Kopf zusammen und rief in allerliebst heiterer Zutraulichkeit: »Ah, comme un domestique du prince!«

Ich dankte mit heiklem Lächeln. Sie nahm an meiner Seite Platz; und wir plauderten mitsammen artig, auch nicht ganz töricht. Indes blieb ich mit Blicken und Gedanken doch mehr bei meinen Kindern, was die ungeduldig werdende Modepuppe schließlich zu einem näherbringenden Witzwort benutzte. »Dies«, erwiderte ich, auf die kleinen Spieler deutend, »ist eine Welt für sich, ist ebenfalls ein neutrales Gebiet.«

Mein Französisch geht auf Erbsen. Mignon verstand nicht recht. »Deutsch oder Belgisch, mir gilt beides gleichviel«, beteuerte sie. Mignon mochte gern ins Café Mocca geführt sein, jedoch ich vertröstete sie auf ein andermal, erfrug deswegen ihre Adresse. »Ihr paßt Euch nur an!« sagte ich bei einem Händedruck zum Abschied. »Ihr seid nicht abseits, wie dieses Kinderland, an dessen Ufern die Kriegswoge umkehrt.« –

Liebling, schilt oder spotte; vielleicht kuriert's mich. Denn ich bin krank. Die Zeitung, die Tagesgespräche der Kameraden, alles, was den Krieg betrifft, ekelt mich an.

Ich werde einsam nachher wieder in den Park flüchten, dort ist es doch noch am erträglichsten.

In der Jugend dünkt uns das Heimatland zu eng; später wird es uns Genuß, durch schöne Anlagen zu wandeln, und das Alter bescheidet sich gar dankbar mit einem grünen Eckchen. So macht uns die Zeit genügsam. Denke an Großmuttern, die sich im Rollstuhl allabendlich ans Fenster fahren ließ, wie sich die Alte den ganzen Tag über auf diese eine Stunde Sonne freute!

Weißt Du, was ich mir innigst wünsche, mir öfters während des Dienstes oder in wachen Nächten sehnsüchtig ausmale? Ich möchte wieder einmal in einem Dorfgarten, wo allerlei bunte Blumen mit Kraut und Rüben durcheinander leben, bei gutem, starken Bohnenkaffee und richtigen Buttersemmeln mit Dir ...

– – – –

Bis hierher hatte ich mittags geschrieben. Der Kompanieführer ließ mich rufen. Er ist doch ein Prachtmensch! Das mit dem Untertauchen wird nix, aber er sagte, er hätte eine andere dicke Sache für mich (»obwohl Sie's nicht verdienen«). Soll mich noch heute klarmachen. Tausend eilige Grüße! Morgen an Bord! Hurra!!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Ringelnatz, Joachim. Erzählprosa. Die Woge. Nach zwei Jahren. Nach zwei Jahren. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-983E-2