[164] Vergessene Liebe

Wie oft Erinn'rung plötzlich sich erneut! –
Im letzten Carneval, nach einem Fest,
Das stolz verschwenderisch der Reichthum gab,
Ging ich nach Haus in früher Morgenstunde,
Die, noch gehüllt in Nacht, das erste Regen
Geschäft'gen Tagwerks meinen Blicken wies.
Halb offen standen schon die Bäckerläden;
Schlaftrunk'ne Gäule zogen hinter sich die Karren
Mit Milch und mit Gemüse nach dem Markt,
Allwo beim Scheine wandelnder Laternen
Die Hökerweiber ihre Plätze suchten.
Und da mit einem Male sah ich mich
Zurückversetzt im Geist um dreißig Jahre,
Und sah mich selbst, wie ich als schmächt'ges Bürschchen,
Im grauen, schlotternden Soldatenmantel,
Die blaue Mütze in's Gesicht gezogen,
Mich aus der schlafenden Kaserne schlich
Zu einem Stelldichein im Morgengrau'n. –
Die ich erwartete, sie war das Kind
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Von armen Leuten, anvertraut dem Ohm,
Der mit der spinnendürren Ehehälfte
Für das Soldatenvolk in kleiner Stadt
Mit Lebensmitteln dürft'gen Handel trieb.
Dort wurde sie gebraucht zu nied'rem Dienst:
Sie schenkte voll das leere Branntweinglas
Und schnitt den Bissen ab dem Fordernden;
Jedoch sie that's wie eine Königin –
Und war so schön auch! Hoch und stolz gewachsen –
Vielleicht zu voll für ihre Jahre schon –
Trug sie das Haupt erhoben, das umwunden
Endlos von dunkelbrauner Flechte war.
Hell schimmerte ihr Antlitz wie die Rose,
Und Augen hatte sie von jenem Blau,
Mit dem Cyanen leuchten aus dem Korn,
Und wie die Kirsche war ihr kleiner Mund,
Der trotzig aufgeworfen, Perlen wies.
Wir fanden uns beim ersten Seh'n. So kam's,
Daß ich nun öfter, als erklärlich schien,
In jene Bude trat und länger weilte,
Als üblich sonst zur Zehrung von der Faust.
Die Alte merkte bald, warum ich kam,
Und schickte stets sogleich das Mädchen fort –
Zuletzt auch mich, mit schnöden Worten drohend.
Doch Liebe, heißt es, findet ihre Wege,
Und jenes Stelldichein, Glock' sechs am Morgen,
Wo meine Schöne, um des Tag's Bedarf
Zu dem entfernten Bäcker eilen mußte,
War ein Beweis, wie sehr das Sprichwort trifft.
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Ich wartete – sie kam. Um's Haupt geschlagen
Ein warmes Tuch, und auch den Korb am Arm.
In stummer Eile huschten wir dahin
An stummen Häusern, bis ein altes Thor
Erreicht wir hatten, das mit off'ner Halle
In's Freie führte. Mittwoch war es und
Auch Wochenmarkt, der dort gehalten wurde
Auf wüstem Platz. Mit Wagen kamen schon
Die Bauern; Schafe blökten, Kühe brüllten –
Und vor uns lag, bei irrem Schein von Lichtern,
Ein wirres Durcheinander aufgerollt.
Doch wir, geborgen in der Halle Dunkel,
Der eis'gen Luft, die sie durchstrich, nicht achtend,
Versanken ganz in die entzückten Wonnen
Des ersten sel'gen Beieinanderseins –
Bis uns der helle Tagesschein erschreckend
Um die erglühten Wangen leuchtete.
Sie fuhr empor: »So spät schon – ach so spät!«
Rief sie, den Korb ergreifend: »morgen wieder!«
Und meinen letzten Küssen sich entringend,
Enteilte sie ...
Das »Morgen« kam und auch das Übermorgen –
Und auch der dritte Tag: doch sie kam nicht.
Im Tiefsten krank von Sorge und von Sehnsucht,
Strich an dem kleinen Laden ich vorüber,
Sah in die Fenster, blickte durch die Thür,
Trat auch hinein – sie aber blieb verschwunden.
Die Frage wagt' ich nicht; doch gute Freunde,
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Die stets Verkünder sind jedweden Unheils,
Erzählten mir: es hätte schlimmen Zwist
Gegeben und der Oheim hätte gestern
Das schlechte Ding zurück geschickt den Eltern –
Wie viele Meilen weit, sie wüßten's nicht ...
Das Alles, längst vergessen, kaum mehr wahr,
Stand jetzt vor mir, fast greifbar wachgerufen
Vom morgendlichen Treiben um mich her.
Es war, als lebt' ich's heut', und durch die Seele
Ging wonnig weh das ganze Hochentzücken,
Der ganze Schmerz mir jener frühen Liebe ...
Wie oft Erinn'rung plötzlich sich erneut!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Aus dem Tagebuch der Liebe. Vergessene Liebe. Vergessene Liebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-ADC0-F