[436] Die längste Nacht

Von des längsten Tages Helle
War mir noch der Sinn bestrickt;
Gern an seines Lichtes Quelle
Hätt' ich ewig mich erquickt.
Doch die Nächte wurden länger,
Und das Dunkel stieg und stieg;
Engre Kreise, immer enger
Zog die Sonne, matt und siech.
Selbst der Himmel schien zu trauern,
Daß die Strahlenpracht verglüht,
Und inmitten finstrer Mauern
Mich verbarg ich lebensmüd.
Nun wie anders alles! Nicht mehr
Sehn' ich mir zurück den Tag,
Da allhin, ein wallend Lichtmeer,
Sonnenglanz auf Erden lag.
Schöner nun zu tausend Malen
Unter schneebedecktem Dach
Glänzt von zweier Augen Strahlen
Mir dies nächtliche Gemach.
Weich hält mich ein Arm umwunden,
Und zwei Lippen flüstern sacht:
Mit den dunklen, dunklen Stunden
Sei gesegnet, längste Nacht!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Lotosblätter. 1. Vermischte Gedichte. Die längste Nacht. Die längste Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B610-1