6.

Eine halbe Stunde von Hildesheim liegt das Dorf Ochtersum; da war es vor der westphälischen Zeit nicht richtig. Die Hildesheimer Bürger, welche oft noch spät mit einer Ladung Holz [183] auf dem Schiebkarren aus dem Wole (dem Hildesheimer Walde) kamen, hielten sich dicht zusammen, wenn sie unten am Steinberge vor dem Dorfe waren; denn da war schon manchem etwas begegnet. Einmal kam auch ein Bürger bei Nacht aus dem Wole, der war sehr vermessen und fuhr mit seinem Schiebkarren allen andern »Holzgängern« voraus. Seine Frau aber, die einen rothen, wollenen Rock an hatte, war ihm entgegengegangen um ihm zu helfen: sie spannte sich vor den Schiebkarren und zog wacker, so daß ihr Mann nicht so schwer zu schieben hatte. Als die beiden Eheleute nun dicht bei Ochtersum waren, da wo die alten Weiden an dem Bache stehen, sprang auf einmal ein abscheuliches Gethier hinter einer Weide hervor und packte die Frau in ihren rothen Rock. Jesus, Maria und Joseph! schrie die Frau. Da ließ das Gethier die Frau los und wollte den Mann anfallen; dieser aber nahm sein Beil aus dem Gürtel und hieb dem Gethier in die Vorderpfote. Da lief das Unding laut heulend davon; die erschrockenen Eheleute aber konnten deutlich sehen, wie es ins Dorf humpelte. Im Dorfe fingen nun die Hunde so an zu bellen und zu heulen, daß man seit Menschengedenken nicht einen solchen Lärm gehört hatte. Den andern Tag ging der Hildesheimer Bürger zu einem Kapuziner, der mehr als Brot essen konnte, und erzählte, wie es ihm und seiner Frau gestern vor Ochtersum ergangen sei. Da nahm dieser den Mann mit nach dem Dorfe und ging mit ihm in den Krug. Der Kapuziner fragte die Krügerin, wie es mit der Gesundheit stände und ob alles munter im Dorfe sei. – Da sagte sie: »es ist so weit alles munter, aber meinem Manne ist vorige Nacht eine Sense in den Arm gefallen, deshalb liegt er oben im Bette.« – »Nun, da müssen wir doch einmal sehen, was er macht,« sagte der Kapuziner und ging mit dem Hildesheimer Bürger auf die Kammer, wo der kranke Wirth lag. Der wollte aber seinen Arm nicht zeigen, wurde bitterböse und wies den beiden Leuten in seiner Wuth die Zähne. – »Siehst du, da haben wir den Spitzbuben!« rief jetzt der Bürger, »da sitzt dem Bösewicht noch die rothe Wolle, die er meiner Frau aus dem Rocke gerissen hat, zwischen den Zähnen!« – Nun wuste man, daß der Krüger ein Werwolf war und schlug ihn todt.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. A. Sagen. 198. Der Werwolf. 6. [Eine halbe Stunde von Hildesheim liegt das Dorf Ochtersum; da war]. 6. [Eine halbe Stunde von Hildesheim liegt das Dorf Ochtersum; da war]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BC08-7