4. Die Rose.

Ein reicher Kaufmann hatte drei Töchter. Die jüngste derselben, die noch ein Kind war, hatte zu einem armen Mädchen, der Tochter eines Besenbinders, eine innige Zuneigung gefaßt, so daß sie dieselbe immer als Gespielin um sich hatte. Im Hause des Kaufmanns nannte man das arme Mädchen, welches zuletzt ganz ins Haus genommen wurde, nicht anders als das Besenstielchen. Der Kaufmann machte oft große Reisen und pflegte dann vor der Abreise seine Töchter zu fragen, was er ihnen mitbringen solle. Die jüngste sagte dann immer, er möge ihr mitbringen, was er wolle, es wäre ihr alles recht. Einst wollte er wieder verreisen und fragte nach seiner Gewohnheit seine Töchter wieder, was er ihnen mitbringen solle. Die älteren Töchter wählten sich jede etwas; die jüngste sagte aber, sie wäre mit allem zufrieden, was er ihr mitbrächte. Weil sie aber durchaus [263] wählen sollte, so wünschte sie sich zuletzt eine Rose aus einem Garten. Es war mitten im Winter und es gab also keine Gartenrosen; doch der Kaufmann dachte, unterweges wolle er schon von einem Gärtner eine bekommen. Auf der Rückreise erinnerte er sich seines Versprechens, konnte aber nirgend eine Rose auftreiben. Da kam er eines Tags zu einer Stadt, bei welcher sich ein großes schwarzes Gebäude erhob, dessen Thor weit offen stand. Drinnen war alles ganz schwarz und kein Mensch ließ sich sehen. Der Kaufmann schaute hinein und sah zu seinem großen Erstaunen, wie darin die schönsten Rosen in Menge standen. Da sich niemand sehen ließ, so ging er zuletzt hinein und pflückte sich selbst eine Rose ab. Als er aber wieder hinausgehn wollte, hing ihm plötzlich ein Unthier (»Gedierze«) wie ein Bär im Nacken, so daß er nicht von der Stelle konnte. Das Unthier fing an zu sprechen und fragte ihn, ob er ihm seine jüngste Tochter geben und hierher bringen wolle, sobald sie dreizehn Jahr alt geworden wäre, oder ob er jetzt sterben wolle. In seiner Todesangst versprach der Kaufmann ihm seine Tochter zu geben, worauf ihn das Ungethüm wieder los ließ. Ohne einen weiteren Unfall legte er dann seine Reise zurück und gab bei seiner Zurückkunft seinen Töchtern die mitgebrachten Geschenke, der jüngsten die Rose, über welche sie sich sehr freute. Die Rose blieb aber immer frisch, als wenn sie eben abgebrochen wäre. Alle im Hause wunderten sich darüber. Der Kaufmann hatte es zwar keinem gesagt, wie er zu der Rose gekommen wäre, er war aber seit seiner Rückkehr so nachdenkend und still, daß es allen auffiel. Seine Frau drang so lange in ihn, ihr die Ursache seines Kummers zu sagen, bis er ihr am Ende alles erzählte. Von der Mutter erfuhr es dann auch die jüngste Tochter. Als diese das gehört hatte, sprach sie zu ihrem Vater: »darüber, lieber Vater, brauchst du nicht so betrübt zu sein; wenn die Zeit gekommen ist, dann will ich hingehen: komme ich dann um, so sterbe ich gern für dich.« Damit war die Sache einstweilen abgemacht und ward fast vergessen. Als aber die Zeit abgelaufen war, kamen von dem Bären Boten zu dem Kaufmann, welche ihn aufforderten jetzt seine Tochter zu schicken; thäte er das nicht, so werde sie geholt werden. Doch der Kaufmann konnte sich nicht dazu entschließen. Da kamen eines Tages drei schwarze Wagen vor das Haus gefahren, jeder mit sechs schwarzen Pferden bespannt, um das Mädchen abzuholen. [264] In den Wagen saß niemand, und außer den Leuten bei den Pferden war kein Mensch zu sehen. Der Kaufmann wollte jetzt noch durch eine List seine Tochter retten, und Besenstielchen, die ungefähr eben so alt war, ward statt seiner eigenen Tochter in den mittleren Wagen gehoben, und fort ging es in sausendem Galopp. Doch es dauerte nicht lange, so ward Besenstielchen zurückgebracht: das wäre die rechte nicht, die rechte müsse kommen. Jetzt setzte sich die jüngste Tochter in den Wagen, und fort ging es dem alten schwarzen Schlosse zu. Als sie dorthin kam, sah sie zwar keinen Menschen, aber das schönste Essen und Trinken war aufgetragen, und alles, was sie nur begehrte, stand alsbald da. Nur der Bär kam zum Vorschein und blieb immer bei ihr. Setzte sie sich an den Tisch, um zu essen, so setzte er sich zu ihr; sie bot ihm dann wohl zu essen und zu trinken an, er nahm aber nie etwas, sondern brüllte nur laut. So blieb das Mädchen eine lange Zeit bei dem Bären, gewöhnte sich allmählich an ihn und gewann ihn zuletzt so lieb, daß sie gar nicht mehr ohne ihn sein konnte. Wohin sie nur ging, dahin begleitete er sie. Als sie eines Tags wieder mit ihm im Garten war, hatte sie ihn auf einmal verloren; sie suchte ihn nun im ganzen Garten, konnte ihn aber lange Zeit nicht finden, bis sie ihn endlich an dem Wasser, welches an dem Garten hinfloß, wie todt auf dem abhängigen Ufer liegen sah. Als sie ihn in diesem Zustande erblickte, fing sie bitterlich zu weinen an, setzte sich zu ihm und neigte sich ganz über ihn hin, so daß die heißen Thränen, welche ihr auf den Wangen herunter flossen, auf ihn fielen. Kaum hatten die Thränen des Mädchens den Bären berührt, so erwachte er und alsbald stand ein schöner Prinz vor ihr. Zugleich that es mehrere furchtbare Schläge und alles krachte. Das alte Gebäude verwandelte sich in ein schönes, herrliches Schloß, und von allen Seiten strömten jetzt schön gekleidete Diener herbei. Der Prinz aber umarmte seine Erlöserin und küßte sie herzlich. Dann heiratheten sie sich und lebten lange mit einander auf das glücklichste.

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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. Märchen und Sagen. Niedersächsische Sagen und Märchen. B. Märchen. 4. Die Rose. 4. Die Rose. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BE00-1