§. 42. Hailsberg.

Auf der Mauer des in Trümmern liegenden Bangerlschlosses, auch Hailsberg genannt, bey Frauenzell, sah man öfter eine Jungfrau sitzen und sich die Haare flechten. Nicht weit vom Schlosse ist eine Mühle. Wenn nun ein junger Bäckerbursche, der nicht lange erst eingestanden war, zur Mühle ging, sah er jedesmal die Jungfrau auf den Mauern des alten Schlosses sitzen und sich die Haare machen. Er frug daher die Mühlknappen um Auskunft darüber, erhielt aber zur Antwort, daß es ein Geist sey, der schon oft wäre gesehen worden. Da gedachte er, ob er sie nicht erlösen könne, und wie er sie wieder einmal erblickte, nahm er sich ein Herz und frug sie, »warum sie denn immer die Haare mache.«

»Schon Viele,« erwiederte sie, »sind an mir vorübergegangen, [397] aber Keiner noch hat mich befragt; ich werde dir Alles sagen, wenn du thust, was ich von dir verlange, um erlöst zu werden.«

Er versprach es, und sie hieß ihn nun gehen: denn sie werde zu ihm kommen.

Wirklich kam die Gestalt schon in der ersten Nacht vor das Bett des Bäckerjungen und eröffnete ihm, daß er um die Mittagsstunde hinter den alten Baum auf dem Schlosse zu kommen habe. Den Tag könne er selbst bestimmen, sich auch Leute mitnehmen, so viel er wolle; nur dürfe Niemand ein Wort reden, und er müsse sich am Baume die Augen verbinden, da er den Anblick nicht würde vertragen können. Wenn es nun zwölf Uhr schlage, so werde er unter dem Baume vermeynen, es gehe die ganze Welt zu Grunde, so ein Lärm werde entstehen. Er solle sich aber nicht fürchten, denn ihm geschehe nichts. Darnach werde eine Schlange an ihn hinaufkriechen, und wenn diese mit dem Kopfe an seiner Brust seyn wird, solle er beyde Arme um sie schliessen, aber ja nichts reden und nicht die Augen öffnen, bis die Schlange zu reden begonnen hätte. Dann werde sie vor ihm stehen in ihrer früheren Gestalt als Tochter des Schlosses.

Der Junge versprach Alles, und sie bat ihn noch dringend, ja nichts zu versäumen; denn wenn er nicht aushalte, müsse sie leiden bis zum Ende der Welt.

Er ging also des folgenden Tages auf das Schloß zu dem Baume, seine Genossen bildeten um ihn einen Kreis und verbanden ihm die Augen.

[398] Als es zwölf schlug, entstand ein fürchterliches Krachen und Fallen und Stürzen, wie wenn Alles zu Grunde gehen wollte. Der Bäckerjunge hielt wacker aus und wich nicht. Dann verspürte er, daß es kalt an seinem Leibe hinaufkrieche, und schon nahte sich der Kopf der Schlange seiner Brust, und schon wollte er sie umfangen, als es ihn trieb, die Augen zu öffnen. Da schien es ihm und allen Anderen, daß Alles ringsum in Flammen stehe, und sie hörten herzzerschneidendes Wehklagen.

Betäubt ging Alles nach Hause. Der Bäckerjunge, trostlos über seine Neugier, starb bald darauf an Gram. Die Jungfrau aber wurde nicht mehr gesehen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schönwerth, Franz. Sagen. Aus der Oberpfalz. Zweyter Theil. Eilftes Buch. Erde. 5. Burgen. 42. Hailsberg. 42. Hailsberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-DE35-D