1065. Das verlorene Kind.
Mündlich.
In der Gegend von Marktschorgast ging eine Frau mit einem ihrer Kinder in das Beersuchen. Sie fand auch einen reichen, herrlichen Strauch, den sie oftmals ringsum ablas, ohne daß er je leer wurde. Als sie nun das achte Mal »umgebeert« hatte, sah sie plötzlich zu ihrer nicht geringen Verwunderung neben dem Strauche eine weite Oeffnung in der Erde. Neugierig stieg sie hinab – da funkelte und blitzte es in der Höhle wie Gold und Edelgestein und drei weiße Jungfrauen traten an sie heran. Die redeten ihr freundlich zu, sie solle sich von den Schätzen nehmen, was sie miteinem Griffe fassen könnte. Die Habsucht aber verblendete das Weib, sie raffte dreimal in den Gold-und Silberhaufen hinein und sprang dann schnell zur Höhle hinaus. Hinter ihr fiel krachend die Thüre zu. Nun überlief sie's plötzlich eiskalt – sie merkte, daß sie in ihrem wilden Eifer ihr Kind vergessen hatte. Sie eilte zurück, aber jede Spur der Höhle war verschwunden. Da härmte sie sich ein ganzes Jahr lang, denn die köstlichen Gaben der drei Jungfrauen konnten ihr keinen Ersatz für das Kind gewähren. Am nächsten Johannistage ging sie wieder in den Wald – o Freude! da stand jene Pforte offen, welche ihr damals soviel Glück und Schmerz gebracht hatte, und ohne Bedenken trat sie hinein. Sie achtete aber diesmal nicht der schimmernden Herrlichkeiten, denn ihr Kindlein, frisch und blühend, war das erste, was ihr in die [119] Augen fiel. Es hielt einen schönen rothen Apfel in der Hand und lächelte ihren Armen entgegen, die es auch alsbald umfingen und an das Licht der Sonne trugen. Von nun an war und blieb sie glücklich.