[155] Die Liebe

Weißt du, was die Liebe ist?
Ach, ein Kind mit leisen Schwingen;
Schwärmend bald und bald voll Scherz
Müht es sich in jedes Herz
Los' und luftig einzudringen.
Zagend jetzt und jetzt voll Muth,
Laulich jetzt und jetzt nur Gluth,
Kennst du es? das ist die Liebe.
Sag mir, wo die Liebe wohnt?
In des Lenzes Duftgefilden
Baut sie sich ein grünes Haus,
Schmückt es bunt mit Blüthen aus
Und mit zarten Traumgebilden.
Ach, du brauchst es nur zu sehn
Und schon haucht der Weste Wehn
Dir ins Ohr: Hier wohnt die Liebe!
Kennst du ihren Zeitvertreib?
Tändelnd kos't sie mit dem Weste,
Wiegt sich auf der Blüthen Duft,
Baut sich träumend in der Luft
Zauberische Goldpaläste,
Mischt zu Schmetterlingen sich:
Doch nicht lange täuscht sie dich,
Denn ihr Spiel verräth die Liebe.
[156]
Doch wie lebt das zarte Kind?
Wie ein Bienchen schwelgt sie immer
In der Blüthen weichem Schooß,
Füttert sich mit Düften groß
Und mit warmem Sonnenschimmer;
Thränen die Aurora thaut
Und der Weste Klagelaut
Sind die stete Kost der Liebe.
Weiß sie auch was Thränen sind?
Wenn des Lenzes Rosenwangen
Bleichend nach und nach verglühn,
Wenn die Kränze nicht mehr blühn,
Die um seine Stirne prangen,
Wenn er scheidet von der Flur,
Ach, dann weinet die Natur,
Und es weint mit ihr die Liebe.
Aber kennt sie auch den Tod?
Wenn im Hain die Stürme brausen,
Wenn, vom rauhen Hauch berührt,
Jeder zarte Halm erfriert
Und des Winters Mächte hausen,
Dann muß alles Schöne fliehn,
Und, um schöner aufzublühn,
Senkt in's Grab sich auch die Liebe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schulze, Ernst. Gedichte. Vermischte Gedichte. Die Liebe. Die Liebe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0401-9