[6] Vorrede zur zweyten Ausgabe

Das größte Verdienst dieser Verse ist vielleicht, daß sie, im strengen Sinne unserer neuen Kritik, keine Gedichte sind. Was die Kunst dadurch verliert, gewinnt die lebendigere Theilnahme an wahren menschlichen Verhältnissen, und findet sich nicht selten dabey in ihrer eigenen Heimath. Der Verfasser hat Ursache, mit der Aufnahme im Publicum zufrieden zu seyn, und beruhigt sich in dieser Rücksicht über sich selbst: ob er gleich die Gründlichkeit manches Tadels der Kunstrichter eingesteht, ohne sich deßwegen durchaus bessern zu können. Manche Erinnerungen hat er wirklich benutzt; manche Dinge liegen als Eigenheiten seines Charakters zu tief und fest, daß er sie nicht ausreuten kann: und manches gibt er nach seiner bessern Überzeugung nicht zu. Die Sprache ganz glatt zu machen, will [7] mir nicht gelingen; aber an der Richtigkeit habe ich mit vieler Aufmerksamkeit gearbeitet. Dieß ist bey der Dissonanz und der anscheinenden Nachläßigkeit unsrer guten Schriftsteller keine leichte Sache. Wir haben keine Akademie, an die wir uns halten könnten; und jeder geht, mit oder ohne Grund, seinen eignen Weg. In der Messiade sind eine Menge Stellen, deren grammatische Unrichtigkeit nicht Adelung allein tadeln wird. Auch der Herausgeber von Namlers Gedichten hat noch zuletzt gefühlt, wie viele Dinge der sonst so strenge Dichter in der Sprache noch übersehen hatte. Etwas weniger Gewissenhaftigkeit gegen die Handschrift hätte dem Publicum mehr classische Richtigkeit gegeben: aber strenge Redlichkeit gegen fremdes Eigenthum, besonders gegen Ramlers, war billig des Herausgebers erstes Gesetz.

Ich gebe hier wenig neues; fast alles, was nicht in der ersten Ausgabe stand, hat schon in Zeitschriften hier und da zerstreut gelegen. Was fehlt, habe ich aus irgend einem ästhetischen oder moralischen Grunde nicht aufnehmen wollen. Manches soll seiner Natur nach nur ephemerisch seyn. Über meine Meinungen habe ich nichts zu sagen: diese müssen durch sich selbst stehen oder [8] fallen. Ich habe nun ein Mahl die Krankheit, daß mich alles, was Bedrückung, Ungerechtigkeit und Inhumanität ist, empört, und werde wohl schwerlich ganz davon genesen. Und wenn in einer guten Sache tausend Versuche fehlschlagen, so verzweifle ich doch nicht an dem endlichen Gelingen. Jede Äußerung vom Gegentheil ist also bloß eine Wirkung des momentanen Mißmuths und des Glaubens, daß man noch nicht auf dem rechten ist. Was wir nicht finden, bleibt andern. Für mich selbst habe ich mich so ziemlich von Furcht und Hoffnung los gemacht; aber für die Menschheit, für Licht und Recht und endliche Vernunft zu hoffen und zu sprechen und zu arbeiten will ich nicht eher aufhören, als bis meine Zunge den letzten Gedanken stammelt. Die Menschen brauchen wahrscheinlich noch mehrere tausend Jahre Erziehung. Diese muß vorwärts rücken, wenn sich auch alle Schlechtgesinnten verbänden sie zu hemmen. Sokrates brachte die Philosophie vom Himmel herab, und alle unsere neuen Philosophen arbeiten mit vereinten Kräften daran, sie wieder hinauf zu tragen und nichts zurück zu lassen. Die practische Philosophie des Lebens ist fast zum Spott geworden: und doch ist von der ganzen Weisheit [9] nur das für den Menschen das beste, was für den Menschen taugt. Man ist mit seiner Seele so gern in höhern Sphären, weil man nicht den Muth hat, hier auf der Erde rein menschlich vernünftig zu seyn. Der aufgezogne Vorhang wird uns einst schon zeigen; was wir wissen sollen. Aber ich gerathe in Gefahr mich selbst zu verlieren.

Besondern Fleiß habe ich angewendet, den Abschnitt des Verses zu berichtigen, der die Rhythmik so sehr befördert und den leider auch unsere guten Dichter oft nicht genug beachten. Hierin ist Wieland der große Meister und läßt uns die verborgenen feineren Gesetze nur rathen, nach denen er verfährt. Es belohnte wohl die Mühe, wenn ein scharfsinniger leise hörender Kritiker sie und ihre Ausnahmen heller aus einander setzte. Ich empfehle meine wohlgemeinten Bemühungen dem Wohlwollen des Lesers.

Juny. 1804.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Vorrede zur zweyten Ausgabe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0AA2-4