[63] Schwermuth
Führe mich zu deiner Abendfeyer,
Göttinn mit dem tiefgesenkten Schleyer,
Göttinn der Gedanken und der Ruh;
Führe mich, zum Freunde dir geboren,
Fern von dem Geräusch der goldnen Thoren
Deinem dunkeln Ulmenwalde zu.
Auf der Felsengrotte grauem Steine,
Wo ich einsam oft, im tiefsten Haine,
Von der Erde losgekettet saß,
Will ich mich in deine Arme schmiegen
Zu dem süßen traurigen Vergnügen,
Welches nie des Weltlings Seele maß.
Rund umher kann ich mit tiefem Grauen
Monumententümmer überschauen
Aus der alten alten Fehdezeit;
Rund umher verkünden schwarze Mauern,
Die dem Auge morsch entgegen schauern,
Wie die Bosheit Gift in Wermuth streut.
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Dort von jenem eingestürzten Schlosse
Wieherten zum Straßenraub die Rosse
Unter braven Rittern in das Thal;
Und die Enkel schwelgen jetzt im Gute,
Das der Urahnherr mit Löwenmuthe
Einst vor grauer Zeit dem Pilger stahl.
Dort hat in des Faustrechts blut'gen Tagen
Einen Greis des Sohnes Schwert erschlagen,
Bey der alten moosbedeckten Gruft;
Dort floh von dem blutgefärbten Herde
Der Verruchte vor des Rächers Schwerte
In die Hölle durch die Felsenkluft.
Dort, wo man die Weitzengarben bindet,
Rauchte, von dem Satan angezündet,
Todesfeuer in die Luft empor;
Und die Gegend scholl von Kriegesrufe,
Und die Erde bebte von dem Hufe,
Und die Buche zitterte wie Rohr.
Unsre alten guten Väter haben
Tausende Erschlagner hier begraben,
Die der blinde Ehrgeitz hingewürgt;
Und der hochgeworfne Knochenhügel
[65]Liegt Jahrhunderten zum schwarzen Siegel,
Das den Menschen Menschenelend bürgt.
Unter jenes Kirchhofs dunkeln Hallen
Scheinen bleiche Gruppen hin zu wallen,
Und mit Grimme blickt vom Leichenstein
Noch, wie einst im alten Actensaale,
Der Erfinder teuflischer Kabale,
Seine Qual und seiner Brüder Pein.
Liebenswürdig wie die jungen Horen,
Zu der Schöpfung Meisterstück geboren,
Stürzte dort als Opfer feiler Brut,
Die mit süßem Gift ihr Herz belogen,
Minna, um ihr Erdenglück betrogen,
Sich mit holdem Wahnsinn in die Fluth.
Dort von jenem alten Klosterthurme
Funkelt' einst im kleinen Feuerwurme
Dickes Aberglaubens Gaukeley,
Und des Unsinns drohender Pagode
Gängelte die klägliche Synode
An dem Leiteseil der Möncherey.
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An den umgeworfnen Leichensteinen
Sah man Waisen voll Verzweiflung weinen,
Die Gerechtigkeit zu Waisen schuf;
Thränen grüßten dort die Morgenröthe,
Und des lauen Westes Flügel wehte
Laut zu Gott empor des Jammers Ruf.
Jene Gärten wo der Schwelger singet,
Hat der Armen Kummerschweiß gedünget,
Der von heiß gebrannter Stirne floß,
Und die Despotie, in Blut geschrieben,
Treibt der Gottheit Bild mit Geißelhieben
Durch die lange Sclaverey wie Troß.
Göttinn, Freundinn, ach wer kann die Plagen
Unsrer armen Menschheit alle klagen?
Elend deckt die Wiege, deckt das Grab:
Elend lagert sich um uns und lauschet,
Wenn der Freude schönster Becher rauschet,
Sitzt am Scepter und am Bettelstab.
Aus der Urne rinnt der Freude wenig,
Für den Sohn der Armuth und den König;
Und den Tropfen, der uns trösten soll,
Macht die scheele Bosheit schon im Falle
[67]Mit der Hölle Schlangenhauch zu Galle,
Und die Liebe selbst gebiert den Groll.
Göttinn, führe du mit deiner Trauer
Mich zur Weihe längs der alten Mauer,
Deren Firsten wilder Epheu deckt;
Laß mich unter kalten Leichensteinen
Eine Thräne bey den Brüdern weinen,
Welche nun nicht mehr der Kummer weckt.
Halte mich mit deinen Seelenblicken,
Wenn ich Tugend in der Bosheit Stricken,
Und die Bosheit im Triumphe seh;
Mache du mich fest in meinem Wandel,
Wenn ich neben einem Bubenhandel
Und dem Elend, seinem Sohne, steh.
Leite mich, Geliebte, wenn ich sinke,
Daß ich Kraft aus deinem Auge trinke,
Wenn der Zweifel wühlend auf mich rückt,
Wenn ich vor dem großen Vorhang stehe
Und mit Zittern in die Tiefe sehe,
Daß mich nicht der Zweifel nieder drückt.