[145] Segnung

Die Hütte lehnt am braunen Rebenhügel,
Von der sie Stunden oft ins weite Land geschaut,
Daraus sie eines Tags, auf farbiger Dämmerung Flügel,
Hintrat ins Volk, mit Grün geschmückt wie eine Braut.
Durch ihre Augen irrten blanke Sterne,
Um ihre Kinderwangen Feuer sprang,
Die Stimme bebte, da ihr Wort zum Volke drang:
»Mich ruft ein hoher Wille in die große Ferne.
Fragt nicht noch sorgt euch, was mir Schicksal werde,
Der hält mein Leben, der mir diese Sehnsucht schuf –
Aus stiller Hut reißt mich ein ungeheurer Ruf
In allen Sturm und Seligkeit der Erde.«
Sie hörte kaum, wie Greise schwach sich mühten.
Sie gieng. Im Abend leuchtete wie Weizen gelb ihr Haar.
Vor ihrem Fenster die Holunderblüten
Erglommen und verwehten einsam Jahr um Jahr.
Doch eines Morgens, da die späten Sterne blichen,
Und banges Zwielicht eisig in den Zweigen hieng,
Da sah ein Weib, das Wasser schöpfen gieng,
Wie sie sich fremd und fröstelnd in die Tür geschlichen.
Und seit dem Tage schwebt auf ihren Wegen
Ein Glorienschein, der Gau und Volk erhellt,
Und ihre Stimme hat den großen Segen
Der Liebenden, die Gott zu Mittlern hat bestellt.

Notizen
Erstdruck in: Literarische Rundschau der Straßburger Neuen Zeitung, Nr. 42, 16. Oktober 1910.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Stadler, Ernst. Segnung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1581-F