Karoline Stahl
Fabeln, Mährchen
und Erzählungen für Kinder
Mit Kupfern

[1] Der erste April.

»Heut' ist der erste April; heut' führ' ich an, wen ich will.« So sang Ernst, und hurtig rief er den jüngern Bruder, Ludwig. O höre, sprach er, thu' mir doch den Gefallen und hole mir aus der Apotheke um einen Groschen Krebsblut. – Ludwig nahm sich nicht die Mühe über den Auftrag nachzusinnen, er eilte fort, blieb lange weg, und kehrte endlich weinend nach Hause. Ernst lachte ihn aus, aber er erwiederte, das verbitte er sich. Zuerst hatten ihm die jungen Leute in der Apotheke ins Gesicht gelacht, dann hatte ihn ein bejahrter Mann, der zugegen war, gefragt, ob er nicht wisse, daß die Krebse, statt des Blutes, eine weisse, kalte Feuchtigkeit hätten. Beschämt schlich Ludwig fort, und die Mutter gab ihm die Lehre, mehr nachzudenken, und nicht alles, was man ihm sagte, leichtsinnig nachzusprechen. Ernst lachte noch, als einer seiner Schulkammeraden eilig ins Zimmer trat, und ihm zurief: er [1] solle gleich mitgehen, der türkische Kaiser wäre mit einem großen Gefolge angekommen, und auf dem Markte zu sehen. Ernst stürzte fort, kam aber nach einer Weile ganz kleinlaut zurück. Aha! rief Ludwig, lachend, bist du auch angeführt? – Es geschieht dir schon recht. O, einmal nur, versicherte Ernst: heute macht mir Niemand mehr etwas weiß. Und mir eben so wenig, sprach Ludwig. Hört Kinder, rief Marie, die ältere Schwester, schnell hereintretend, ich gebe einen jeden von euch ein großes Stück Kuchen, wenn ihr mir, so bald als möglich, dort von dem Krämer um zehn Groschen Mückenhaare holt. Vergessen war jeder Vorsatz nachzudenken bei den Knaben, und sie sprangen fort. Du hast uns schön angeführt, klagten sie zurückkommend; wir sind recht ausgelacht worden, und die Leute meinten noch, es sei Schande für so große Knaben, wie wir, solche dumme Sachen zu glauben. – Es war nur ein Spaß, entschuldigte sich Marie, aber wenn ihr mir etwas holt, das ich wirklich gerne hätte, so soll euch der Kuchen nicht entgehen. Ich wünschte ein Pfund Schwalbenhaare zu haben, könnt ihr mir das nicht von dem Mann, von dem die Mutter Roßhaare kaufte, verschaffen? Der kleine fünfjährige Theodor war zugegen, und als Ernst und Ludwig die Mützen ergriffen, fortzulaufen,[2] fragte er zweifelnd: Ja, aber die Schwalben haben ja Federn und nicht Haare auf dem Kopfe, wo soll man denn die Schwalbenhaare herbekommen? – Erröthend schwiegen die Brüder, und legten die Mützen hin. – Aber jetzt, sprach Marie, holt mir im Ernst Dachtraufenöhl. Du Theodor, kannst danach gegenüber im Laden geh'n. Theodor lief bis an die Hausthiere, dann kehrte er um. Ja aber, aus der Dachrinne träufelt nur Wasser und nicht Oehl? – Du willst mich nur anführen. Die ältern Brüder merkten sich das, und dachten mehr über alles nach. So war ihnen der erste April ein nützlicher Tag.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Der erste April. Der erste April. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-15F5-D