[130] Ständchen

Mein Liebchen, komm, uns beiden
Ist wohl, wenn der Abend scheint.
Es hat der Tag beim Scheiden
Sein Auge rot geweint.
Die allertiefste Bläue
Umduftet den Bergeswall,
Und wie in süßer Scheue
Murmelt der Wasserfall.
Lautlos die Flügel regend
Hinschwimmt des Winters Flug,
Das ist der entschlafenden Gegend
Duftflutender Atemzug.
Er macht die Welle nicht schüttern,
Er streicht ihr Haar nur glatt;
Er läßt die Blätter nicht zittern,
Er küßt nur jedes Blatt.
Die Blumen traumhaft schwanken
Und atmen wollustschwer,
Es flattern Märchengedanken
Um ihre Häupter her.
Der Baum mit allen Zweigen
Zum Himmel blickt er stät,
Er spricht in seligem Schweigen
In sich sein Nachtgebet.
Mein Liebchen, komm, das Glutmeer
Ist hinter die Berge gerollt
Und wirft noch über die Flut her
Sein letztes Streifchen Gold;
Mein Liebchen, komm, es nachtet,
Tau schlürfen die Rosen fromm,
Mein Mund nur dürstet und schmachtet,
Mein Liebchen, komm, o komm!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Strachwitz, Moritz von. Gedichte. Neue Gedichte. Den Frauen. Ständchen. Ständchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1FEC-2