622. Die Lebensblumen.

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne und eine Tochter, und für jedes der Kinder wuchs in dem Königsgarten eine Blume, das war eine Lebensblume, die blühte und gedieh, so lange das Kind lebte, aber verwelkte und ging aus, sobald das Kind starb.

Nun verheiratete sich die Tochter an einen reichen Mann, der weit entfernt wohnte, und zog mit ihm fort, und es dauerte nicht gar lange, da ging ihre Blume im Königsgarten aus. Da sahen denn die drei Brüder, daß ihre Schwester tot war, und weil sie nicht wollten, daß ihr Schwager in seiner Betrübnis ganz ohne Trost und Zuspruch bleibe, beschlossen sie, daß der älteste Bruder ihn besuchen solle.

So ritt denn der älteste Bruder aus, und sein Vater gab ihm hundert Taler Reisegeld mit. Als der Königssohn eine Strecke Weges geritten war, kam er vor ein Heck, und ein Bauer stand daneben. Da bat der Reiter den Bauer, daß er das Heck öffnen möge, aber der Bauer fragte: »Wer ist davor?« »Ein Königssohn«, antwortete der Reiter. »Königssohn muß Zoll bezahlen«, sagte der Bauer. »Wie viel denn?« »Hundert Taler.« Der Königssohn gab dem Bauern sein [451] ganzes Reisegeld und konnte nun weiter reiten. Als er eine gute Strecke geritten war, kam er abermals an ein verschlossenes Heck, und daneben sah er einen Bauern, den er bat, das Heck zu öffnen. Aber der Bauer fragte: »Wer ist davor?« und als es hieß: »Ein Königssohn,« sagte er ebenfalls: »Königssohn muß Zoll bezahlen« und verlangte den Sattel des Reiters. Der Königssohn gab ihm den Sattel und ritt weiter. Und wieder nach einiger Zeit kam er an ein Heck und mußte dem Bauern, der daneben stand, sein Pferd als Zoll geben. So zog denn der Königssohn als ein armer Fußgänger seines Weges und langte endlich bei dem Schlosse seines Schwagers an. Aber wie er hineinging, sah er seine Schwester ermordet auf dem Walle liegen, und der Schwager setzte ihm gekochte Menschenfüße und Hände als Speise vor. Und als der Königssohn sich weigerte, davon zu essen, führte ihn der Schwager durch mehrere Zimmer in eine Mördergrube, da waren alle Mordgeräte beisammen, vor allen aber ein Galgen, ein Rad und ein Bluttopf. Hier sagte der Schwager zu dem Königssohn: »Jetzt mußt du sterben, aber deine Todesart kannst du dir selbst wählen.« Da wählte der Königssohn den Galgen, und wie er gewählt hatte, so geschah mit ihm.

Da verdorrte auch des ältesten Sohnes Blume in dem Königsgarten, und der zweite Sohn zog aus, um nach den Schicksalen seiner Geschwister zu forschen. Er zog aus auf gesatteltem Pferde und mit hundert Talern in der Tasche, aber es ging ihm in allen Stücken wie seinem ältesten Bruder, und er starb wie dieser an dem Galgen, den er in seines Schwagers Mördergrube wählte.

Als nun drei Blumen in dem Königsgarten verwelkt waren, machte sich der jüngste Sohn auf den Weg. Der war ein Stotterer und nahm weder Pferd noch Geld mit auf die Reise, sondern nur seinen kleinen Hund Phylax. Als er an das erste Heck kam, wo seine Brüder jeder hundert Taler Zoll bezahlt hatten, stand der Bauer wieder da. Der Königssohn bat den Bauern, das Tor zu öffnen, aber der Bauer fragte: »Wer ist davor?« Und als der Königssohn erwiderte: »Ein Königssohn«, sagte der Bauer: »Königssohn muß Zoll bezahlen.« »Wie viel?« »Hundert Taler.« Aber der jüngste Königssohn rief seinem Hündchen zu:


[452]
»Phylax, spring ut min Sack,
spring du den Kärl up'n Nack,
bit em dod,
smit 'n in 'n Sod!«

Da saß das Hündchen auch gleich auf des Bauern Nacken, daß der Bauer um sein Leben flehen mußte und als Lösegeld die zweihundert Taler gab, die er den beiden Brüdern abgenommen hatte. Am zweiten Hecke ging es ebenso, und der Bauer mußte die beiden Sättel hergeben, und am dritten Heck erhielt der Königssohn auch die beiden Pferde seiner Brüder zurück. So kam der jüngste stotternde Bruder, der mit nichts als seinem Hündchen ausgegangen war, mit zwei Pferden, zwei Sätteln und zweihundert Talern bei dem Schwager an. Er sah dort die ermordete Schwester auf dem Walle liegen und sollte von den gekochten Menschenfüßen und Händen essen. Und als er das nicht wollte, führte ihn der Schwager auch in die Mördergrube und fragte ihn, welche Todesart er wählen wollte. Da antwortete er: »Das Rad«, bat aber, daß der Schwager ihm zeigen möge, wie man den Kopf in das Rad stecken müsse, denn er wisse es nicht. Da steckte der Schwager seinen Kopf in das Rad, und wie er ihn darin hatte, drehte der Königssohn geschwinde um, und der Schwager mußte in seinem eigenen Rade sterben. Und als der Schwager tot war, da lebten des Stotternden Brüder und Schwester wieder auf und ebenso die Lebensblumen in dem Königsgarten zu Hause. (Saterld.)

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. Sagen. Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Zweiter Band. Viertes Buch. 622. Die Lebensblumen. 622. Die Lebensblumen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-377B-4