623. Der dankbare Tote.

Ein Kaufmann schickte seinen einzigen Sohn mit einem Schiffe aus, in der Fremde Waren einzuhandeln. Wohl ausgerüstet stach das Schiff in See und hatte anfangs glückliche Fahrt. Als es aber eine Weile gefahren war, blieb der Kompaß stehen, und der Schiffer wußte nicht mehr wohin noch woher. Da beschlossen sie, das Schiff dem Winde zu überlassen, und es dauerte auch gar nicht lange, da landete das Fahrzeug wohlbehalten an der englischen Küste.

Der Kaufmannssohn stieg an Land, und da nahe an der Küste eine Stadt lag, ging er hin, um sich umzusehen und sich zu erkundigen, ob er daselbst keine Handelsgeschäfte abmachen könne. Vor dem Tore sah er eine Leiche unbegraben auf dem Felde liegen, und mitleidig, wie er war, fragte er einen Vorübergehenden, [453] warum man die Leiche nicht begraben habe. Dieser erwiderte, es sei ein armer Mann gewesen und habe nichts hinterlassen, um das Begräbnis zu bezahlen, deshalb habe man den Leichnam unbegraben vor die Stadt geworfen. Als nun der Kaufmannssohn weiter fragte, wie hoch denn die Begräbniskosten seien, und erfuhr, daß sie mit dreißig Talern bestritten werden könnten, bezahlte er die dreißig Taler und ließ den Leichnam begraben, wie es sich gebührt. Dann ging er in die Stadt, und es fand sich, daß er da gute Gelegenheit hatte, von den Waren, deren er bedurfte, einzuhandeln. Während er nun seiner Geschäfte halber sich dort aufhielt, traf er eines Tages zwei Mädchen an, welche dort in Sklaverei gehalten wurden, und in seiner Barmherzigkeit kaufte er sie los, und weil sie ganz hülflos und verlassen waren und mit Bitten nicht aufhörten, nahm er sie zu sich. Bald hatte er die Aufträge seines Vaters mit dem günstigsten Erfolge ausgeführt, das Schiff konnte die Rückreise antreten und langte glücklich zu Hause wieder an, wo er die beiden Mädchen entließ und zu seinem Vater eilte und ihm Rechenschaft ablegte. Dieser freute sich zwar der billig erhandelten Ware, aber er ward sehr unwillig, als er vernahm, daß sein Sohn zwei Mädchen mitgebracht hatte, und ließ sich von seinem Zorne so weit treiben, daß er trotz seiner Liebe zu dem Sohne und trotz den Diensten, die ihm dieser geleistet, ihn von sich stieß.

Die Mädchen hatten sich gleich nach der Ankunft eine eigene Wohnung gemietet und lebten von ihrer Hände Arbeit, und da sie sehr schön sticken und nähen konnten, fanden sie reichlichen Verdienst. Zu diesen zog nun der verstoßene Kaufmannssohn und wurde gern und willig aufgenommen. Ja, die aus der Sklaverei geretteten Mädchen wollten nicht einmal leiden, daß ihr Wohltäter, der ihretwegen in seine traurige Lage geraten, irgend welche Arbeit verrichtete. Nach einiger Zeit heiratete der Kaufmannssohn das eine der Mädchen, und die drei lebten zusammen in zufriedener Genügsamkeit.

Nach mehreren Jahren aber, als der Kaufmann fühlte, daß das Alter ihn beschleiche, wurde sein Sinn weicher, und er nahm seinen Sohn, dessen Frau und das andere Mädchen zu sich ins Haus, und die Aussöhnung wurde vollständig, als des Sohnes Frau einen Knaben gebar.

Inzwischen wurde es notwendig, daß wieder eine Ladung Waren aus der Fremde geholt werde, und es wurde zwischen [454] dem Kaufmann und seinem Sohn ausgemacht, daß dieser abermals eine Reise unternehmen solle. Dasselbe Schiff ward ausgerüstet, und der Kaufmannssohn, da er seine Frau mit dem Kinde zurücklassen mußte, nahm wenigstens die Bildnisse derselben mit sich. Als das Schiff in See gekommen und ungefähr auf derselben Stelle angelangt war, wo auf der ersten Reise der Kompaß still gestanden, versagte dieser wiederum, und die Fahrt mußte auf gut Glück fortgesetzt werden. Das Schiff wurde an eine unbekannte Küste getrieben, und als der Kaufmannssohn an Land stieg und sich in die nahe Stadt begab, da waren alle Häuser mit schwarzem Tuch behangen, die Einwohner gingen in Trauerkleidern, und auch der König und die Königin, die ihm auf der Straße begegneten, waren schwarz gekleidet. Der Kaufmannssohn fragte den König, warum denn die allgemeine Trauer wäre. Der König aber erwiderte: »Heute vor fünf Jahren ist meine Tochter verschwunden, seitdem wird alljährlich diese große Trauer angestellt.« Da lud der Kaufmannssohn den König nebst seinem Hofstaate aufs Schiff, um sie zu zerstreuen. Der König nahm die Einladung an, aber kaum hatte er die Kajüte des Schiffs betreten und das Bildnis der Frau des Kaufmannssohnes erblickt, da weinte er laut auf und rief: »Meine Tochter, meine Tochter!« Als aber der Kaufmannssohn erklärte, was es mit dem Bildnisse für eine Bewandnis hatte, und der König erfuhr, daß seine Tochter noch lebe, da war eine große Freude, und der Kaufmannssohn mußte immer von neuem anfangen zu erzählen, wie er die Königstochter in der Sklaverei gefunden und was weiter vorgefallen, wie er sie dann geheiratet und sie ihm den kleinen Knaben geboren habe, und der König wollte nicht aufhören, ihn seinen lieben Schwiegersohn zu nennen und ihn in einem fort zu umarmen. Auch war bald die Trauerfarbe in der Stadt verschwunden, die schwarzen Kleider machten bunten Festgewändern Platz, und die Freude breitete sich über das ganze Land aus. Der König aber konnte kaum den folgenden Morgen erwarten, wo das Schiff in See gehen sollte, um seine Tochter zu holen, so sehr brannte er vor Begierde, sie wieder zu sehen.

Auch zeigte sich am andern Tage kaum das Morgenrot, als der Kaufmannssohn die Segel spannen ließ und abfuhr. Der König hatte das Schiff reich mit Schätzen beladen lassen und für seine Tochter, damit sie desto schneller käme, einen Brief [455] mitgegeben. Außerdem hatte er, um ihr Ehre zu erweisen, seinen Minister mitgeschickt. Der Minister aber war einst mit des Königs Tochter verlobt gewesen, und nur ihr plötzliches Verschwinden hatte ihn gehindert, in den Besitz der schönsten Frau und der größten Reichtümer auf der ganzen Welt zu gelangen. Darum haßte er den Kaufmannssohn und suchte nun nach einer Gelegenheit, ihn aus dem Wege zu schaffen, und als er einst mit ihm allein auf dem Verdecke war, lockte er ihn mit falschen Worten an den Rand des Schiffes und stieß ihn heimtückisch über Bord. Als der Kaufmannssohn in den Wellen verschwunden war, rief jener um Hilfe und sagte, der Kaufmann sei über Bord gefallen, aber die Herbeieilenden sahen ihn nicht mehr und konnten ihm keine Hilfe leisten.

Das Schiff setzte seine Reise fort und langte wohlbehalten in der Heimat des Kaufmanns an. Der Minister spiegelte der Königstochter vor, ihr Gatte harre ihrer bei ihrem Vater, und freudig bestieg sie das Schiff, um zu den beiden zu eilen. Als sie bei ihrem Vater angekommen war und ihren Mann nicht fand, sagte er, derselbe sei schon auf der Hinfahrt in die See gefallen, und er habe es ihr nicht früher gesagt, um ihr so lange als möglich den Schmerz zu ersparen. Da trauerte die Königstochter, und auch der König trauerte und wies die Werbung des Ministers zurück und sagte, es sei billig, ebenso lange um den verlorenen Gatten zu trauern, wie er um die verlorene Tochter getrauert habe; fände sich aber in fünf Jahren der Gatte nicht wieder, so solle der Minister die Witwe zur Frau haben.

Inzwischen war aber der Kaufmannssohn, als er über Bord gestürzt worden war, nicht in der See ertrunken, sondern die Wellen hatten ihn an einer unbekannten Insel ans Land geworfen. Die Insel war wüst und öde, und keine Menschenseele lebte darauf. Kümmerlich fristete er mit Wurzeln und Beeren sein Leben, und die Kleider verschlissen und fielen ihm vom Leibe, und splitternackt, mehr einem Tiere als einem Menschen ähnlich, verbrachte er lange, lange Zeit in Kummer und Elend. Eines Tages war er über sein Unglück so recht von Herzen traurig und bat den lieben Gott, er möge ihn von diesem Jammer befreien. Da erschien ihm der Geist des armen Mannes, den er auf seiner ersten Reise hatte begraben lassen, in Gestalt einer schneeweißen Taube, sprach ihm Mut ein und trug ihn zu der Stadt, wo seine Frau bei ihrem Vater weilte. [456] Hier war große Feier und Fröhlichkeit, denn es war grade die Trauerzeit verstrichen, und der Minister sollte heute des Königs Tochter heiraten. Als Bettler gekleidet, schlich der Kaufmannssohn auf das Schloß und bat um ein Glas Wein. Als das Kammermädchen der Königstochter ihm das Glas brachte, trank er es halb leer, warf dann den Ring hinein, den er bei der Trauung von seiner Frau erhalten hatte, und bat das Kammermädchen, das Glas seiner Herrin zu bringen. Diese erkannte den Ring sofort und ließ den Bettler zu sich kommen in ein besonderes Zimmer, weil sie dachte, sie würde von ihrem verstorbenen Gatten Nachricht empfangen. Aber wie freute sie sich, als der Gatte selbst vor ihr stand! Auch der König wurde hereingerufen, und der Kaufmannssohn mußte alles erzählen, was er in den letzten fünf Jahren erlebt und erduldet. Wie nun der König hörte, daß der Minister alles Unglück seines Schwiegersohnes verschuldet hatte, da bestimmte er, daß der Minister sich selbst sein Urteil sprechen solle. Als daher alle Gäste um den Hochzeitstisch versammelt saßen, fragte er den Minister: »Was hat der verdient, der einen andern hinterlistig über Bord gestoßen hat, daß er elendiglich in den Wellen umkommen muß?« Der Minister dachte, das sei ein fremder Fall, denn seine Tat könne nicht bekannt geworden sein, und sagte: »Wer das getan hat, der verdient mit vier Ochsen auseinander gerissen zu werden.« Da ließ der König seinen Schwiegersohn hereinkommen und sprach zum Minister: »Du hast dein eigenes Urteil gesprochen.« Der Minister bat um Gnade, aber der König stieß ihn fort, und augenblicklich wurde das Urteil erfüllt, und der Minister mit vier Ochsen auseinander gerissen. (Saterld.)

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. Sagen. Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Zweiter Band. Viertes Buch. 623. Der dankbare Tote. 623. Der dankbare Tote. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-37D0-2