38. Der Hertha-See.

Auf der Insel Rügen, in dem Theile, welcher Jasmund genannt wird, nicht weit von der Stubbenkammer, findet man noch einzelne Theile, insbesondere den Burgwall der daselbst vor vielen hundert Jahren, schon zur Zeit des Heidenthums gestandenen Herthaburg. In dieser Burg verehrten die heidnischen Rügianer ein Götzenbild, welches sie Hertha nannten, und unter welchem sie sich die Mutter Erde vorstellten. Nicht weit von dieser Herthaburg liegt ein tiefer, schwarzer See, rund von Anhöhen und Waldung eingeschlossen, der Herthasee genannt. In demselben badete sich alljährlich einige Male die Göttin. Sie fuhr dahin in einem Wagen, der mit einem geheimnißvollen Schleier bedeckt war, und von zwei Kühen gezogen wurde. Nur ihr geweiheter Priester durfte sie begleiten. Es wurden zwar auch Sklaven mitgenommen, welche die Zugthiere leiten mußten, aber sie wurden, nachdem sie ihren Dienst verrichtet hatten, alsbald in demselben See ertränkt; denn wessen ungeweihete Augen die Göttin einmal gesehen hatten, der mußte sterben. Darum hat man auch keine nähere Nachrichten über den Dienst der Hertha. An diesem See begeben sich noch jetzt allerlei Schreckgeschichten, von denen Einige zwar meinen, es seien Gaukeleien des Teufels, der sich von den Heiden hier als Göttin Hertha habe verehren lassen, und der deshalb noch immer die Gerechtigkeit auf dem See [65] sich zuschreibe, wovon aber Andere sagen, daß eine alte Königin oder Prinzessin hierher gebannt sey.

Man sieht oft, besonders im hellen Mondscheine, aus dem nahen Walde, da wo die Herthaburg liegt, eine schöne Frau hervorkommen, die sich nach dem See hinbegibt, um sich darin zu baden. Sie ist von vielen Dienerinnen umgeben, die sie zu dem Wasser hinbegleiten. In diesem verschwinden sie alle, und man hört nur das Plätschern darin. Nach einer Weile kommen sie sämmtlich wieder heraus, und man sieht sie in großen, weißen Schleiern zu dem Walde zurückkehren. Für den Wanderer, der dieß sieht, ist dieß alles sehr gefährlich, denn es zieht ihn mit Gewalt nach dem See, in dem die weiße Frau badet, und wenn er einmal das Wasser berührt hat, so ist es um ihn geschehen, das Wasser verschlingt ihn. Man sagt, daß die Frau alle Jahre Einen Menschen in die Fluth verlocken müsse.

Auf diesen See darf auch Niemand einen Kahn oder ein Netz bringen. Es hatten vor Zeiten einmal etliche Leute sich unterstanden, darauf mit einem Kahne zu fahren, den sie des Nachts auf dem Wasser ließen. Als sie aber am anderen Morgen dahin zurückkehrten, war er fort, und sie fanden ihn erst nach langem Suchen oben auf einer Buche am Ufer wieder. Da hatten ihn die Gespenster des Sees über Nacht hinauf gebracht; denn wie die Leute ihn herunter holten, da hörten sie tief unten aus dem See ein Gespött und eine Stimme, die ihnen zurief: Ich und mein Bruder Nickel haben das gethan.

Micrälius, Altes Pommerland, I. S. 16. Berliner Kalender für 1837. S. 198. 199., für 1838, S. 359. Pommersche Prov. Blätter, I. S. 43. Grümbke, Darstellung der Insel Rügen, I. S. 71. II. S. 209 bis 216.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Temme, Jodocus Deodatus Hubertus. Sagen. Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Die Volkssagen von Pommern und Rügen. 38. Der Hertha-See. 38. Der Hertha-See. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-39E8-F