[119] Kleines Theater in der Arena

Werther und Charlotte wird gespielt. –
Wie neugierig strömt das Volk
Das Lieblingsstück zu sehn,
Wie ungeduldig sucht jeder Platz
Den Liebling als Werther zu vernehmen.
Die kleine Bude
Steht ohne Vorhang,
Das volle Sonnenlicht scheint hinein.
Unten der gemeine Mann,
In zweien Logen die Vornehmen und Kranken.
Wie sonderbar
Strecken sich die großen runden weiten Stufen
Der Steinzirkel aus.
Ein Sechstheil nur des großen Amphitheaters
Ist eingehegt,
Um auch von dort zu schaun.
Hierher ziehn die Frauen und Mägdlein,
[120]
Mit Schmuck angethan,
In farbig seidenen Kleidern,
Sie nehmen lachend die hohen Sitze ein,
Und spannen über sich bunte Sonnenschirme.
Wie ein Tulpenbret glänzt die Versammlung,
Wie leuchtende Edelsteine
Bewegen sich die Farben im wechselnden Schimmer.
Alles ist aufmerksam,
Und wie das Leiden der Dichtung steigt,
Erröthen die staunenden Hörer gerührt.
Carlota piange! ruft Werther
Im süßesten Schmerze melodischen Lauts,
Und alle Hände, Fächer, Tücher, Beine, Stöcke
Erregen das lauteste Getümmel freudigen Beifalls,
Und tausend Thränen fließen.
Glückseliger Dichter,
Der du nur die schwache Feder
In den Wohllaut der süßesten Sprache
Nachläßig tauchen darfst!
Wozu noch Bilder, Gedanken, Gefühle,
[121]
Wenn dein Mutterton
Schon für dich dichtet und die Herzen bewegt?
Doch Heil dir, Werther,
Denn nie vernahm ich wieder
Die zarten Worte also schmerzlich und süß erklingend.
Charlotte, das edelste Bild,
Anmuth jede Geberde,
Kräftig und groß,
Die Stimme zart und voll: –
O weh!
Was mischt sich in die Leiden der Liebenden?
Ein ferner Donner ertönt vernehmlich,
Die leuchtenden Farben bewegen sich unruhig,
Auch das Parterre murrt schon.
Und wieder ein Schlag,
Und der Regen strömt schwer in großen Tropfen,
Da drängen sich Weiber und Mädchen herbei,
Sie springen die Stufen herab,
Ein Flammenmeer bunter Farben,
Sie suchen alle Schutz, wo keiner zu finden,
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Unten kehrt man Bank und Sessel um,
Sich gegen den Regen zu bergen,
Alles murrt und zankt, Niemand weiß weswegen,
Und der geliebte Werther
Muß im Monologe
Der Leidenschaft gebieten und inne halten, –
Das Stück bleibt stehn,
So lange das Gewitter des Himmels spielt.
Darüber wird es spät und finster,
Mancher schleicht fort,
Und der durchnäßten Versammlung
Wird in der Finsterniß
Bei wenigen Lichtern,
Gegen die die Fledermäuse fliegen,
Das Schauspiel geendigt,
Und Werther gerettet,
Doch war er nicht froh mehr,
So schien es, seines Lebens.

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TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Gedichte. Gedichte. Dritter Teil. Reisegedichte eines Kranken. Kleines Theater in der Arena. Kleines Theater in der Arena. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-54E3-1