Ludwig Tieck
Die beiden merkwürdigsten Tage
aus Siegmunds Leben

Eine Erzählung

[39] Es war schon gegen Abend, als ein Wagen vor dem Gasthofe stillhielt, und ein junger Mensch munter und fröhlich herausstieg, um sich vom Wirt ein Zimmer anweisen zu lassen. Es entstand ein Laufen im ganzen Hause, Treppe auf und nieder, um Licht und Feuerung zu besorgen, alle Schritte hallten fünffach von den großen Gewölben wider, man führte den Fremden auf sein Zimmer und ließ ihm Wachslichter auf sehr eleganten Leuchtern da, und Herr Siegmund merkte aus allen Zeichen, daß er hier zwar in ein vornehmes, aber gewiß sehr teures Wirtshaus geraten sei.

»Mag's doch!« sagte er ganz laut, indem er mit zuversichtlichen Schritten in seinem Zimmer auf und ab ging, und flüchtig die englischen Kupferstiche betrachtete. »Ich bin morgen vielleicht schon Rat, und alle Sorgen für die Zukunft sind gehoben.«

Er sah aus dem Fenster; es war auf der Gasse noch ziemlich hell, und selbst hell genug, um ein allerliebstes Gesichtchen im gegenübersteckenden Hause zu bemerken, das aufmerksam nach ihm hinübersah. Seine Augen begegneten ihren freundlichen Blicken, er grüßte endlich, und sie dankte verbindlich.

Der zukünftige Rat sah bei so guten Vorbedeutungen die Stadt mit sehr günstigen Augen an. Er träumte sich hundert angenehme Abenteuer, und sah es sehr ungern, als sich die Schöne von ihrem Fenster zurück zog, und er nur noch hinter ihren Vorhängen das Licht bemerkte, das sehr oft seine Stelle veränderte, und bald näher zum Fenster, bald weiter zurückgesetzt ward.

Er ließ ebenfalls die Vorhänge herunter. Der Ofen wärmte das Zimmer nur wenig, und da er von dem Fahren noch eine gewisse Unruhe im Körper verspürte, so nahm er die Lichter, verschloß die Stube, und bestellte unten in der Küche, daß er zum Abendessen zurückkommen würde. Es wurde ziemlich spät gegessen, und er hatte daher zum Spazierengehn noch Zeit genug.

Siegmund liebte nichts so sehr, als aufs Geratewohl die Straßen einer fremden Stadt zu durchkreuzen, bald hier, bald dort zu verweilen, und die mannigfaltigen wunderbaren Eindrücke in seine Seele aufzunehmen, die die fremden Gegenstände, die unbekannten Häuser in ihm erregten. Es war ein angenehmer [39] Herbstabend, allenthalben stand der Rauch des Abendessens über den Häusern und vermischte sich mit dem Dunste des feuchten Herbstnebels, der tauend in die Gassen niedersank; der Mond fing eben an die Dämmerung gelb zu färben, und aus den Fabriken kehrte jauchzend der Schwarm der jungen und alten Arbeiter nach Hause. Mädchen durchstreiften Arm in Arm die entfernteren Gassen und plauderten laut durcheinander, um die vorübergehenden jungen Leute aufmerksam zu ma chen, und desto leichter ein interessanteres Gespräch mit diesen anzuknüpfen. Kleine Jungen balgten sich, und die Bettler sumsten ihre Bitten dreister den Eilenden nach.

Siegmund labte sich an den abwechselnden Gestalten, er stand oft still und sah durch ein niedriges Fenster in die sparsam erleuchtete Stube, deren Schein so anlockend, und deren enge von der Lampe schwarzgeräucherte Wände so abschreckend waren. Die Familien der Handwerker saßen um runde Tische und verzehrten froh und lebhaft kauend ihr Abendbrot; in andern Stuben saß eine emsige Alte beim Haspel, und zählte aufmerksam seine Umwälzungen, um morgen ihr gesponnenes Garn abzuliefern. Oft stand Siegmund still, wenn er in der Ferne auf den Fluren der Häuser ein Licht wahrnahm, und die hin- und herschießenden Schatten, oder wenn sich eine Tür unter dem Schall einer lauten Klingel eröffnete, und der Hausherr mit vielen Bücklingen einen Besuch entließ, der mit einer ehrbaren Laterne nach Hause schritt. – Siegmund las bei solchen Wanderungen das ganze menschliche Leben gleichsam kursorisch, er dachte sich in jede Familie hinein, und erinnerte sich seiner frühesten Kinderjahre, wo ihm in trüben regnichten Nächten der Schein des Lichts aus den Häusern immer wie ein Feenland gewinkt hatte. – Er bestieg in seinem poetischen Taumel endlich noch den Wall der Stadt, und sah nun auf der einen Seite dunkelflimmernde Lichter, ein dumpfes Geräusch von Wagen und Stimmen durcheinander, die sich ablösenden Wachten und das Schlagen der Glocken, Häuser hinter Bäumen versteckt, und der Abendwind, der im rasselnden Laube nachsuchte, einen Kahn auf dem kleinen Flusse: – auf der andern Seite das freie Feld mit Nebelwolken, mit fernen Hügeln und Wäldern, Bauern, die nach Hause fahren, Mühlen, die ihren einförmigen Takt im kleinen Wasserfall unermüdet wiederholen, Stimmen, von denen er nicht wußte, wo sie hingehörten, wandernde Vögel; – als er so alle die einzelnen zerstreuten Gemälde in ein einziges in seiner Phantasie sammelte, so war er mit sich und seinem Schicksale außerordentlich [40] zufrieden, er dachte sich sein künftiges Leben hier recht schön, und es befiel ihn unter seinen Hoffnungen nur die dunkle Beklemmung, die sich fast jeglichem Menschen in fremden Gegenden nähert.

Siegmund überließ sich seinen Träumereien und ging immer in verkehrten Richtungen, wie sie der Zufall ihm bot. Er überließ sich gern einer unbestimmten Ahndung, um sich mühsam aus kreuzenden Wegen herauszufinden, und am Ende mußte er gewöhnlich doch zum Fragen seine Zuflucht nehmen.

Die Szenen in den Straßen hatten sich jetzt sehr geändert, aus den Wirtshäusern tönte Musik und stampfender Tanz, die Fenster klirrten von fröhlichem Gelächter, Schattenspielleute zogen orgelnd und singend durch die Straßen, und kontrastierten seltsam mit den heiligen Liedern, die aus manchen unerleuchteten Dachstuben herunterwinselten; an manchen Orten wurde gezankt, Bettler lehnten betrunken an den Ecken, und nahmen jetzt das Mitleid übel, das sie noch vor kurzem erfleht hatten. Die Grazien wandelten einsamer und stiller und viele waren in männlicher Begleitung; nur aus den vornehmern Häusern rauchten die Schornsteine noch und bewölkten den Mond.

Eben wollte sich Siegmund nach seinem Gasthofe erkundigen, als er ein lautes Gezänk durch die stille Straße schallen hörte; es machte ihn aufmerksam, und er ging dem kreischenden Tone nach. – Auf der steinernen Treppe eines kleinen Hauses stand ein ältlicher wohlgekleideter Mann in einem Winkel und schien in das Haus zu wollen. Eine alte Weiberstimme versagte ihm den Eingang. – »Und Sie wissen ja ein für allemal, daß Mamsell nichts mit Ihnen zu sprechen hat«, – rief es zu wiederholten Malen kreischend aus dem Hause heraus; der alte Mann hatte aber immer wieder die Klingel in der Hand, und machte mit gedämpfter Stimme neue Vorschläge, von denen die Alte nichts wissen wollte. Die Kapitulation währte eine geraume Zeit, und Siegmund, der hier eine lustige Szene aus einem komischen Stücke zu sehn glaubte, konnte sich am Ende nicht mehr halten, sondern fing an überlaut zu lachen. Der alte Mann sah sich brummend um, und ging dem Lachenden hart vorüber nach Hause. Dieser erkundigte sich nun nach seinem Gasthofe, und die Reihe, ausgelacht zu werden, war jetzt an ihm, denn er stand dicht davor. – Das Haus, vor welchem die merkwürdige Kapitulation vorgefallen war, war dasselbe, aus welchem in der Dämmerung das allerliebste Mädchengesicht herausgesehn hatte. –

Er ging in das Wirtszimmer, wo man schon stark mit Essen [41] und politischen Gesprächen beschäftigt war. Es war gerade um die Zeit, als Dumouriez sein Heer verlassen hatte, und dieser Schritt den Verstand und die Imagination aller Leute beschäftigte, man schrie und eiferte, um ihn zu verteidigen oder zu verdammen, es wurde seine Gesundheit getrunken und an einer andern Stelle auf ihn geflucht, ein Spieler schalt ihn niederträchtig und sprach mit Enthusiasmus von den hohen Pflichten der Vaterlandsliebe; ein Gelehrter, der kürzlich einen Traktat über die römischen Silbenmaße herausgegeben hatte, bewies, daß Dumouriez den ganzen Feldzug ohne die nötigen taktischen Vorkenntnisse unternommen hätte; ein anderer sprach mit Verachtung von ganz Frankreich, und war schon halb betrunken, das arme Land hatte ihm in seinem eignen Weine Waffen wider sich in den Mund gegeben.-

»Aber, meine Herren, der Präsident ist völlig meiner Meinung!« rief ein kleiner untersetzter Mann hinter dem Tische hervor.

»Sehr natürlich«, antwortete der Spieler, »weil Sie immer seiner Meinung sind.«

Die ganze Gesellschaft lachte, und der kleine Mann ward rot, er wollte zu verstehen geben, daß er dem Präsidenten gar manches über die Zeitläufte unter den Fuß gebe, allein er fand kein Gehör. Je näher er die Parallele zwischen sich und dem Präsidenten zog, je deutlicher ward es den Zuhörern, daß er nichts als ein Echo seines Gönners sei, und manche spielten ziemlich handgreiflich darauf an, daß er nur durch sein Widerhallen eine einträgliche Stelle suche. Der Mann ward immer hitziger und röter, und wandte sich vorzüglich mit seinen schutzsuchenden Blicken an Siegmund, dem die Verlegenheit des aufgelaufenen Gesichts wehe tat, und der deswegen eine kleine Pause benutzte, um die Rechtfertigung des Kleinen über sich zu nehmen.-

»Muß man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen«, fing er an, »wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Oberzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, daß man unabhängig von ihm leben könne? Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie ganz aufrichtig, wir geben ihnen manches zu, wovon wir nicht überzeugt sind, wir behalten in den herzlichsten Stunden [42] eine gewisse Lebensart bei, wir schonen ihrer Schwachheiten, um sie nicht gegen uns aufzubringen, und damit sie wieder andere Schwächen an uns übersehn. Hanc veniam damus petimusque vicissim.«

»Schön«, rief der Mann aus, der den Traktat geschrieben hatte – »Schade, daß Sie ein Sophist sind, und für Sophistereien einen Spruch des redlichen Horatii zitieren.«

»Machen wir es in unserm ganzen Leben anders?« fuhr Siegmund fort, »und machen sich wohl die edelsten Menschen Vorwürfe darüber? – Wer gibt dem Müller das Recht, einem Wasserfalle sein Mühlenrad unterzustellen, so daß die Wellen, statt frei und ungehindert fortzufließen, erst angespannt werden, um mit Mühe ein ungeheures Rad zu drehen?«

»Eine seltsame Ideenkombination!« rief der Traktatenschreiber.

»Nicht so seltsam kombiniert«, antwortete der Mann, der in Verlegenheit gewesen war, und dessen Gesichtswellen sich jetzt zur Ruhe legten; – »nicht so seltsam, als Sie die Ode Justum et tenacem etc. erklärt haben.«

»Sutor ne ultra crepidam!« antwortete kaltblütig der Gelehrte, und warf sein Motto wie einen Fehdehandschuh über den Tisch hinüber. Der Gegner hatte eine außerordentliche Fertigkeit im Rotwerden, denn schneller als in einem erhitzten Thermometer stieg nun das Blut wieder in die aufgedunsenen Wangen. Er schöpfte frischen Atem, als Siegmund wieder von neuem anfing:

»Wenn wir die Schwäche eines Menschen ertragen, so ist dies nichts als eine Pflicht der Menschenfreundlichkeit; bringt es aber der Zufall mit sich, daß wir durch diese Schonung irgendeinen Vorteil erlangen können, so sind wir große Toren, wenn wir uns nicht an dem Geländer festhalten, das uns einen steilen Pfad hinauf begleitet. Wer wird nicht bergunter langsam gehn, und einem bergabrollenden Steine aus dem Wege treten?«

Der Freund des Präsidenten ward ein Freund Siegmunds, und bekräftigte alles, was dieser sagte, mit sehr gewichtvollen Blicken, die er langsam in der Gesellschaft herumgehn, und dann an dem überwundenen Gelehrten hängen ließ. Siegmund war ohne es zu wollen der Sprecher in diesem langweiligen Parlamente geworden, und alle Augen waren nach seinem Munde gerichtet. Man fragte den Wirt heimlich, wer der verständige Fremde sei dieser aber wußte es selber nicht, und man hatte von Siegmund nur eine desto größere Hochachtung, da man seinen Namen und Charakter nicht kannte.

Die Gäste zerstreuten sich nach und nach, nur der kleine dicke [43] Mann blieb mit Siegmund im Zimmer dieser spürte jetzt einen weit größeren Mut, da er mit seinem Verteidiger das Feld behalten hatte. Er wagte es jetzt dreister, sich in philosophischen Sentenzen zu ergießen, und Siegmund war gutmütig genug, alles zu bestätigen, da er einmal sein Sekundant geworden war. Beide versprachen es sich, Freunde zu bleiben und sich öfters zu besuchen. – Man trennte sich und Siegmund ging schlafen.

Er wachte mit den angenehmsten Vorstellungen auf, die Sonne schien hell in sein Zimmer, und die freundlichen Tapeten und ihre Kupferstiche lachten ihm entgegen er ließ sich frisieren und zog sich an. – Das hübsche Mädchen lag wieder im gegenüberliegenden Fenster, er grüßte, sie dankte, er sah noch einigemal hinüber, und stellte sich dann vor den Spiegel, um seinen Anzug und Anstand zu mustern. Dann ging er gedankenvoll im Zimmer auf und ab, und sagte zu sich selbst:

»Es kann mir nicht fehlschlagen, meine Empfehlungen sind zu gut und dringend; es wäre Beleidigung des Generals, wenn man mir die Stelle versagte: Und warum sollt ich eine unnütze und lächerliche Deutschheit und Biederkeit und wie die närrischen Titel weiter heißen mögen, affektieren? Man empfiehlt sich den Menschen immer auf das vorteilhafteste, wenn man recht demütig erscheint, und sich gar nicht zu empfehlen sucht; man darf nur die Leute selber sprechen lassen, und sie finden, daß man ganz außerordentlich vernünftig redet. – Bis jetzt haben die eingebildeten Weltreformatoren noch nichts genützt, aber wohl sich und andern geschadet. – Wenn es in unserer Welt dazugehört, daß man schmeichelt um ein Amt zu bekommen, ebenso, wie man sich examinieren läßt – je nun, so kann ich nicht begreifen, warum ich nicht etwas schmeicheln sollte, um in einen Zustand zu geraten, daß ich mir kann schmeicheln lassen. Das Ganze ist doch wahrhaftig nicht unangenehmer, als wenn ich auf der Hierherreise mit dem Wagen umgeworfen und einen Arm gebrochen hätte, und doch wäre es wahrlich auch nur geschehn, um hier Rat zu werden. Der Präsident hat viele Schwächen, sie sollen mir ebenso viele Haken werden, um mein Glück zu ergreifen.«

Als er diese Rede geendigt hatte, ging er zum Wirt hinunter, um sich jemand von seinen Leuten auszubitten, der ihn zum Präsidenten führen könne. – »Was ist das für ein Mädchen, die dort drüben wohne?« fragte er den Wirt zu gleicher Zeit ganz vorübergehend.

Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – »Es ist eine von denjenigen«, sagte er halb lächelnd und halb böse – »nun, Sie [44] verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigne Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich nur vor der boshaften Person in acht«, setzte er spottend hinzu, »sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!«

Siegmund hatte nicht Zeit, um den Schmähungen des Wirts noch länger zuzuhören, er ging und sahe nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.

Nachdem sie durch mehrere Straßen gegangen waren, zeigte ihm der Bediente gerade vor ihm ein sehr ansehnliches Haus, dessen vornehme Treppe, die großen Fenster und alles von dem aristokratischen und reichen Besitzer zeugten. Das Herz fing ihm an etwas zu klopfen, da er nun in kurzem den Mann persönlich vor sich sehen sollte, der seinem Glücke den Ausschlag geben konnte. Er hatte sich den Präsidenten so viel als möglich gedacht, aber es war doch immer ein fremder Mensch, mit dem er jetzt in Unterhandlungen treten sollte; sein Anzug erschien ihm jetzt bei weitem nicht so vorteilhaft, und auf dem hallenden, mit Marmor gepflasterten Flure schien es ihm sogar, als wäre er nicht Menschenkenner genug, um den Präsidenten so ganz in seine Gewalt zu bekommen, als er sich erst eingebildet hatte.

Er ward in das Vorzimmer geführt, um auf die Ankleidung des Präsidenten zu warten, er schickte ihm die Briefe des Generals hinein, und hatte Muße genug, um die ängstlich prächtige Möbilierung des Zimmers zu mustern.

Als er in Gedanken seine Komplimente wiederholt, mehrmals leise und zahm auf dem getäfelten Boden auf und ab gegangen war, seine Uhr aufgezogen, ob es gleich noch nicht Zeit war, Tabak aus einer recht eleganten Dose, einem Präsente, genommen hatte, um es sich von neuem ins Gedächtnis zu rufen, daß er doch auch schon ehemals mit vornehmen Leuten, und zwar auf einem ziemlich vertrauten Fuße, umgegangen sei, trat der Präsident endlich zu ihm in das Zimmer, und hielt nachlässig den Brief des Generals in der Hand.

Verbeugungen, gnädig und demütig, und von beiden Seiten ein Schritt plötzlich zurück, Verlegenheit, besonders auf Siegmunds Gesichte, indem man sich gegenseitig erkannte: denn der Präsident war niemand anders, als der alte Mann, den er [45] gestern im Mondenscheine vor der Tür seines Gasthofs so derb ausgelacht hatte.

Das Benehmen des Präsidenten setzte sich leicht wieder zu einer zurückstoßenden Kälte, die den vornehmen Leuten so leicht zu Gebote steht. Siegmund war in einer Verwirrung, die alles konfundierte, was er dachte und was er sagen wollte, die prästabilierte Harmonie war auf einige Minuten in ihm gestört, und er stammelte dem Präsidenten eine unzusammenhängende Entschuldigung ins Gesicht, daß er ihn gestern abend unbekannterweise in der bewußten Gegend ausgelacht habe. Der Präsident fragte sehr ernsthaft und wie verwundert, was er meine, und Siegmund vermochte es kaum, sich auf seinen Beinen aufrecht zu erhalten.

Als er sich etwas erholt hatte, sah er ein, daß ihm unter diesen Umständen nur zwei Wege offenständen, entweder sogleich den Präsidenten zu verlassen, Pferde zu nehmen, und nach seiner Geburtsstadt zurückzureisen, oder den Versuch zu machen, alles auf eine feine Art wieder ins Geleise zu bringen. Er entschloß sich zum letzten, da er sich erinnerte, daß er die gehoffte Stelle schon immer als sein Eigentum angesehen und darnach alle Einrichtungen getroffen habe. Er fiel sich in den Zügel, und suchte bei der Dämmerung aller Sinne und Begriffe den rechten Weg wiederzufinden. Aber ich möchte den Mann sehn, der nach so vielen Unglücksfällen noch fein sein kann und doch ein Deutscher ist.

Der Präsident war verstockt genug, dem armen Sünder auch nicht einen einzigen Schritt entgegenzutun, oder ihm Pardon anzubieten er hatte vielleicht ein Wohlgefallen an den Krümmungen und wunderbaren Windungen des Supplikanten, der die Füße in alle mögliche Tanzpositionen brachte, der die Uhrkette und die Augenbraunen kniff, und nichts sehnlicher wünschte, als der Präsident möchte seine goldene Dose zur Erde fallen lassen, um sie ihm mit der demütigsten Behendigkeit wieder reichen zu können.

Nach den gewöhnlichen Eingangsredensarten, von – »Leidtun« – »wünschen ein andermal dienen zu können« – den Trauerkutschen, die unsre Hoffnungen so oft zu Grabe begleiten, kam endlich die abschlägliche Antwort zum Vorschein, die schon lange den armen Kandidaten wie ein herannahendes Gewitter geängstigt hatte. Siegmund war ohne Trost, als jetzt der kleine Bellmann durch den Saal ging und ihn der Präsident sehr freundlich in sein Zimmer beschied, in welches er ihm sogleich folgen [46] würde. Es fiel ihm schneidend ein, wie er gestern den Gönner des kleinen Mannes gespielt habe, und dieser heut mit einem Menschen so vertraut umging, der ihm fürchterlich war. Der Präsident suchte jetzt absichtlich die Visite abzukürzen, so wie Siegmund sie verlängerte, ohne eigentlich zu wissen, warum er es tat. – Der Präsident sagte ihm endlich, daß der Mann, den er eben gesehn habe, derjenige wäre, dem die Stelle schon versprochen sei, auf die er gehofft habe. Siegmund fiel aus den Wolken.

Es gibt Momente im Leben, wo die Verlegenheit Stoß auf Stoß so auf uns einstürmt, daß wir uns endlich in blinder Verzweiflung widersetzen. Dies ist der Augenblick, wo alles Tierische im Menschen gewöhnlich die bessere geistige Materie zu Boden ringt, der gefährliche Augenblick, in welchem der Mensch allen feinern Empfindungen Abschied gibt, wo er in seinem Gegner den fühlenden Menschen verkennt und bloß den Feind wahrnimmt. In diesem stürmischen Augenblicke entdeckte Siegmund dem Präsidenten seine ganze Lage wie er seinen vorigen Posten aufgegeben habe, weil er die hiesige Ratsstelle gewiß geglaubt, wie er Geld aufgenommen und nun nicht wieder zu bezahlen wisse, wie ihn jetzt plötzlich tausend Unannehmlichkeiten bestürmten, an die er bis dahin gar nicht gedacht habe.

Der Präsident zuckte die Schultern eine Mitleidsbezeugung, mit der die Leute noch freigebiger sind, als mit Seufzern. Es kam ihm sogar ein Einfall, den er für witzig hielt, so daß er ihn unmöglich unterdrücken konnte.

»Sie glaubten«, sagte er mit sehr spitzigem Munde, »daß guter Rat hier so teuer sei, daß man Sie auf den Händen tragen würde.«

Man sieht, es war ein Wortspiel, die verschrieenste Abart unter den verschiedenen Arten des menschlichen Witzes; daß es außerdem noch unartig war, bedarf gar keiner Erwähnung.

»Sie bringen mich zur Verzweiflung!« rief Siegmund so aus, als wenn er schon wirklich verzweifelt wäre; der Präsident erschrak bei diesem Sprunge über die gewöhnliche Lebensart hinweg, er sicherte sich hinter einen prächtigen Sessel, vor dem Siegmund wie ein begeisterter Prophet stand und Reden führte, wie die verfolgte Tugend.

»O wehe mir, daß ich sah, was ich sah«, fuhr er fort zu klagen, und wandte eine Stelle aus dem Ovidius Naso auf seine Umstände an. »Was konnte ich dafür, daß man Sie nicht in das bewußte Haus hineinlassen wollte? Was konnte ich dafür, daß ich Sie dort traf und wider meinen Willen lachen mußte? Ist Ihnen das Glück eines Menschen nicht teurer, als daß Sie es ganz [47] so vom Zufalle und Ihren Launen abhängen lassen? – Oh, widerrufen Sie Ihr Urteil und verhöhnen Sie mich nicht in meinem Unglücke, denn ich hab es nicht verdient, schicken Sie mich nicht so ohne Trost fort, und bestrafen Sie, wenn Sie können, den Zufall, nicht mich.«

»Mein Freund«, antwortete der Präsident mit einer unausstehlichen philosophischen Kälte – »Ihr Unglück besteht ja eben darin, daß Sie mit diesem Zufall zusammengetroffen sind. Ist dies nicht vielleicht ein Wink des Verhängnisses, daß Sie unglücklich sein sollen? Ja, es ist Ihr Verhängnis, denn Sie sind ja unglücklich und haben nicht die Kunst verstanden, mein Herz zu Ihrem Vorteil einzunehmen, weil es das Schicksal nicht so haben will. Bewundern Sie die Anzahl von Zufällen, die sich gleichsam mühsam aneinandergereiht haben, um diese Wirkung hervorzubringen.«

»Ich sehe nichts als Ihren Zorn und Unwillen, Ihre Hartherzigkeit mit meinem Unglücke«, antwortete Siegmund. – »Können Sie, ohne Reue zu fühlen, so ungerecht sein?«

»Ungerecht?« Der Präsident fing unwillig dies Wort auf. – »Und wo liegt denn, mit Ihrer Erlaubnis, die Ungerechtigkeit? – Wenn ich einen Freund habe, der mir schon seit lange eine Menge von Gefälligkeiten erzeigt hat, und ich finde nun endlich Gelegenheit, ihm wieder etwas Vorteilhaftes zuzuwenden, sollt ich es da unterlassen, und diesen Nutzen einem Menschen gönnen, der mir fremd ist? Warum soll ich meinem Freund nicht nützen, wenn ich die Gelegenheit dazu in Händen habe? – Ich halte es nicht für ungerecht, sondern für meine erste Pflicht. – Sie können nicht für den Zufall, aber ich ebensowenig für den, daß die Stelle schon meinem guten Freunde versprochen ist. – Leben Sie wohl.«

Der Präsident machte ihm eine nachlässige Verbeugung, und der kleine Bellmann trat wieder aus dem Zimmer des Präsidenten; der Beschützer zog sich zurück, und der kleine Mann begleitete unsern Helden bis an die Treppe. Siegmund machte den Versuch, diesem wieder wie gestern zu imponieren; aber alle seine Kunst war vergebens, der kleine Mann kannte jetzt das Verhältnis, in welchem sie beide standen, und war fast ebenso unhöflich als der Präsident selbst. Er bot ihm ein kaltes Lebewohl, und ging dann hochmütig wieder in die Tür zurück.

Auf der Straße sah sich Siegmund ein paarmal um, um frische Luft zu schöpfen; er betrachtete die Vorübergehenden genau, um das Gesicht des Präsidenten in seinem Gedächtnisse zu verwischen; aber dieses stand mit allen seinen kalten und verhöhnenden[48] Zügen wie angenagelt in seiner Phantasie da. Er ging in die erste Straße hinein, um nur das vornehme Haus aus den Augen zu verlieren, das ihm gleich beim ersten Anblick von so übler Vorbedeutung gewesen war. Es kam ihm vor, als wenn ihn alle Menschen höhnisch betrachteten, als wenn seine ganze Unterredung mit dem Präsidenten auf seiner Stirn geschrieben stehe.

Wie anders erschienen ihm alle Straßen jetzt, als gestern abends! Das Gewühl der Menschen, die Kaufläden, die Tätigkeit, alles schlug ihn nieder, denn alles war ein Bild des Erwerbes, des Strebens nach Wohlstand; eine Vorstellung, die ihm gestern abend so wohlgetan hatte, und die ihm jetzt verhaßt war. – Wie tief war er in seinen Ideen seit einer Stunde gesunken!

Wenn ein Mensch in einer großen Verlegenheit ist, geht er gewöhnlich sehr schnell, er will allen unangenehmen Gedanken vorübereilen nach einem Moment der Ruhe und Zufriedenheit hin, der boshaft mit jedem seiner Schritte wieder einen Schritt voranläuft. Siegmund stieß an manche Lastträger, die ihm ihre Flüche nachschickten; Kutscher schimpften von ihrem Bocke herunter, weil er ihnen zwischen die Pferde lief, eine alte Frau fing ein jämmerliches Geheul an, weil er ihr einige Töpfe zerbrochen hatte, die er in der zerstreuten Eil mit dem sechsfachen Preise bezahlte. – Er ward des Getöses überdrüssig, und bestieg jetzt langsam, um sich wieder zu erholen, den Wall der Stadt.

Siegmund ward sehr verdrüßlich, als er auch hier die gehoffte Ruhe und Einsamkeit nicht fand. Geputzte Herren und Damen schritten vorbei, um gesehn zu werden. Männer gingen laut disputierend vorüber – kein einziger Spaziergänger, der sein Auge an der schönen Natur erquickt hätte, und auch Siegmund tat es nicht, denn er überlegte bei sich sein künftiges Schicksal.

»O hätte ich nur meine gestrigen Empfindungen zurück!« und lehnte sich an einen Baum. – »Ich Tor! daß ich mich gestern des Kleinen so lebhaft annahm, und mir mein Genius nicht zuflüsterte, daß ich für meinen ärgsten Feind die Waffen ergreife! – Was soll ich nun anfangen? – dem General meine Verlegenheit melden? – Er ist froh, daß er sich seiner Verbindlichkeiten gegen mich entledigt hat. – Eine andre Stelle suchen? – Aber welche?« –

Alles machte ihn betrübt, er sah in die Straßen der Stadt hinein, und verachtete das Treiben und Drängen der Menschen recht herzlich. Die Glocken riefen die Leute vom Spaziergange zum Mittagsessen aber er hörte es nicht; der Wall ward nach und nach leer, doch er achtete nicht darauf, und befand sich in der Einsamkeit ungestörter und glücklicher. Es währte aber nicht [49] lange, so kamen die Spaziergänger zurück ja ihre Anzahl war größer, als vormittags, die Damen waren noch geputzter und sahen ängstlich nach dem Himmel, ob die drohenden Herbstwolken näher ziehen und durch einen Regenguß ihren Anzug verderben würden. Aber die Sonne brach immer wieder mit neuer Wärme hervor, und der Spaziergang machte alle Gesichter froh und heiter.

Ein hagerer Mann gesellte sich durch einen Zufall zum melancholischen Siegmund; es war der Zeitungsschreiber des Orts, der gern allenthalben nach Neuigkeiten forschte. Dieser vaterländische Dichter hatte es aus dem Gesicht, dem Gange und der Kleidung Siegmunds herausgebracht, daß er ein Fremder sein müsse, er wollte daher einige Traditionen aus ihm herausziehn, um sie in Briefform mit andern Wendungen seinem Blatte einverleiben zu können. Siegmund war ziemlich einsilbig, seine Szene mit dem Präsidenten war für ihn jetzt die größte Weltbegebenheit, an diese dachte er unaufhörlich und war sehr gleichgültig für alle politischen Bemerkungen seines neuen Bekannten, der viele Sachen prophezeite und andre Prophezeiungen widerlegte.

Ein Pferd trabte hart an ihnen vorüber, und machte dann viele von den närrischen Gebärden, die den Tieren mit großer Mühe in den Schulen beigebracht werden, um nicht ganz geschickte Reiter bei irgendeiner schicklichen Gelegenheit in die Gefahr zu bringen, herunterzustürzen. Dies war auch hier der Fall; der Reiter wankte von einer Seite zur andern, und wollte doch auch nicht gern den edlen Paradeur in seinen schönen Figuren unterbrechen. Der Reiter war niemand anders, als der furchtbare Präsident. – »Sehn Sie«, sagte der Zeitungsschreiber heimlich, »den wunderbaren Mann an. Glauben Sie wohl, daß er sich bloß unsertwegen die Mühe gibt!«

»Unsertwegen?« unterbrach ihn Siegmund. »Nicht anders«, antwortete der hagere Mann; »dieser Herr bildet sich auf nichts in der Welt so viel ein, als auf seine Reitkunst, und bloß um sich von uns bewundern zu lassen, läuft er jetzt Gefahr den Hals zu brechen. – Sehn Sie, wir sehn ihn kaum mehr und er läßt die Streiche doch noch nicht.« – Der Präsident hatte sich indes eine ziemliche Strecke unter Traversieren entfernt. Das Pferd drängte sich etwas zurück, er geriet in die Zweige der Bäume und verlor in diesem Augenblicke einen sehr eleganten Hut. Kaum hatte der Zeitungsschreiber dies gesehn, als er schnell unsern Helden verließ, den Hut ehrerbietig dem gnädigen Herrn überreichte, und dadurch hinlänglich belohnt ward, daß der Präsident vor [50] den Augen mehrerer Menschen eine Zeitlang mit ihm sprach, indem das Pferd wieder traversierte und der Zeitungsschreiber ebenfalls zu paradieren eifrigst bemüht war.

Wie gut, daß Siegmund zurückgeblieben war, denn er fing so laut an zu lachen, daß ihn ein alter Herr und eine ältliche Dame für verrückt erklärten, weil er so sehr alle Lebensart beiseite setze und auf einem öffentlichen Spaziergang lache.

In seinem Stück, das er durchlachte, schien keine einzige Pause zu sein, denn es war ein einziger Strom von jenen unartikulierten Tönen aus denen die Menschen nicht wissen, was sie machen sollen, und die sie Lachen betiteln. Es ist schwer zu berechnen, wie vielerlei Gedanken jetzt durch seinen Kopf gehen mochten aber als er ausgelacht hatte, setzte er sich ermüdet auf eine Bank, rieb sich die Hände, sah ganz froh und heiter die Gegend an, und da es gerade an dieser Stelle einsam war, genierte er sich nicht, sondern begann folgenden Monolog:

»Gibt es in der ganzen Welt etwas Närrischers, als den sogenannten König der Welt, den Menschen? – Die seltsamste von allen Arabesken ist gerade in diesem bunten Gemälde des Lebens so angebracht, daß sie uns am meisten in die Augen fällt. – Ich komme hier mit der größten Zuversicht an, Rat zu werden, ich lache einen Menschen aus, von dem mein Glück abhängt, schütze mit kühnem Mute meinen Feind vor den Angriffen seiner Spötter, werde von diesem und vom Präsidenten verachtet, ich fühle meine Abhängigkeit – und doch gibt sich jetzt das Pferd und der Präsident meinetwegen die größte Mühe er hängt von meinem Blick ab, und ein bedenkliches, verächtliches Kopfschütteln hätte ihn ängstigen können. Dieser hagre Mensch philosophiert über die Eitelkeit, und ist eitel genug, dem Präsidenten nachzulaufen, um mit ihm zu sprechen, die Vorübergehenden verspotten den Zeitungsschreiber, und werden bei der nächsten Gelegenheit sich nicht anders nehmen, und ich selbst wäre jetzt wieder imstande, den Präsidenten den vortrefflichsten Reiter von der Welt zu nennen, um seine Gunst zu gewinnen, und an der nächsten Ecke liegt mein hoher Gönner vielleicht im Sande, weil er sich von einem vorübergehenden Dummkopf hat wollen bewundern lassen.«

Siegmund fing hier von neuem an zu lachen, und rückte auf seiner Bank unter heftigen Erschütterungen des Körpers hin und her.

»Meinetwegen«, fuhr er fort, »hat der Präsident heut sein Pferd satteln und die beste Decke auflegen lassen warum soll [51] ich mich denn in einer demütigen Abhängigkeit fühlen? – Mir zu gefallen sind diese Herren und Damen so geputzt und festlich!«

Durch diese Philosophie bekam Siegmund seine gute Laune so ziemlich wieder. Da gerade Leute vorbeigingen, setzte er seine Gedanken stillschweigend fort, und war immer mehr überzeugt, daß die Menschen Narren sind.

Siegmund genoß nun des Spazierganges mit ziemlich heiterm Mute, er spottete in seinem Herzen über jedermann, den er sah, kein Gesicht und kein prächtiger Anzug setzte ihn in Verlegenheit.

Gegen Abend kehrte er in seinen Gasthof zurück; er war zufrieden, daß der Wirt noch ebenso höflich gegen ihn war, ja noch höflicher als vorher, weil er sich einbildete, Siegmund habe beim Präsidenten gegessen. Er ging auf sein Zimmer und bestellte sich ein delikates Souper, weil er nicht an der Wirtstafel den Spöttereien seines guten Freundes Bellmann ausgesetzt sein wollte. Er ließ den Vorhang herunter, setzte sich einen behaglichen Sessel an den Tisch, und ließ sich eine Flasche vom besten Weine geben. Darauf fing er mit dem besten Appetit seine Mahlzeit an.

Als er einige Gläser des feurigen Weins getrunken hatte, kam er sich vor, wie ein Prinz in einem Feenpalast, auf dessen Gebot sich alle dienstbare Geister in Bewegung setzen man trug die leeren Schüsseln fort und brachte andre mit neuen Gerichten, und er fühlte sich in seinem Zimmer warm und behaglich, und der Wein machte, daß ihm das Blut leicht und hüpfend durch das Herz strömte. Er vergaß seine Situation gänzlich, und lebte im Sinnengenuß die glücklichsten Minuten. Die Wände tanzten in einer leichten Bewegung um ihn her er lachte und scherzte mit dem Markör, der nicht genug die kuriösen Einfälle des lustigen Herrn bewundern konnte.

Er trank jetzt mit einem langen Zuge das letzte Glas aus, und wankte die Treppe hinunter, um am schönen Abend noch einen Spaziergang zu machen. –

Die Häuser mit ihren erleuchteten Fenstern kamen ihm außerordentlich schön und freundlich vor; er grüßte ein paar Vorübergehende sehr höflich, ohne sie zu kennen, stand auf einer Brücke still, und lachte gewaltig über einen Kahn, der mit einer kleinen Kette an einer Waschbank befestigt war und hin und her schwankte. Er trug gar kein Bedenken, einen Mann mit einem Kuckkasten anzuhalten, und in seinen Schauplatz bei dem kreischenden Gesange des Alten hineinzusehn und sich von Herzen [52] zu amüsieren. Als das Schauspiel geendigt war, wollte er sich ohne Bezahlung heimlich davonmachen, bloß um mit dem Direktor des Nationaltheaters zanken zu können. Als dieser Streit über das usurpierte Freibillet geendigt war, gab er dem Manne zwölfmal soviel als er verlangte.

Die freie Luft nahm nach und nach den Taumel von seinen Sinnen hinweg; es herrschte nun in ihm jene frohe Laune, die kälter und eben deswegen angenehmer ist. Die Umrisse der verschiedenen Gegenstände waren nicht mehr ineinander verflossen, er ging langsamer, und alles, was er sah, machte ihn froh und heiter. Das warme, frohmachende Klima, der helle Sonnenschein und der blaue Himmel werden gleichsam verkörpert in den Weinfässern nach unserm Norden hergefahren; durch den Genuß des Weins wird der Mensch auf einzelne Stunden der Bewohner jener schönen Länder, und kehrt nur ungern in sein kaltes Klima nach den verflogenen Dünsten zurück. Siegmund nahm sich in dieser Stimmung vor, eine große und poetische Apologie des Weins und der Trunkenheit zu schreiben, zu beweisen, wie mit dem Rausche das Herz erwärmt und gehoben wird, wie unbemerkte geistige Kräfte des Menschen sich aus ihrem Hinterhalte hervorschleichen, und das Gehirn zum bunten Tanzplatz der schönsten und feinsten Gedanken machen. – Um sich nicht selbst Lügen zu strafen, gab er einem alten Krüppel alles Geld, das er bei sich trug, ohne es auch nur vorher zu zählen. »Da ich mich glücklich fühle«, sagte er, »so nimm, und sei es auch heute abend, und meine Augen sollen nicht wissen, was meine Hände tun.«

Siegmund war fast schon wieder nüchtern, als er vor seinem Gasthofe stand und sich wunderte, als er die Tür verschlossen fand; er klingelte, es öffnete jemand das Fenster, und bald darauf hörte er Pantoffeln auf der Treppe und die Tür mühsam und tiefatmend aufschließen; sie öffnete sich, und eine alte Frau leuchtete ihm die Treppe hinauf. Noch ehe er sich besinnen konnte, stand er in einem fremden Zimmer, wo das ofterwähnte Mädchen mit dem hübschen Gesicht in einem Sofa saß.

Es wäre unschicklich gewesen, sich zu entschuldigen und wieder fortzugehen; die Alte war verschwunden, und Siegmund nahm nach einer freundlichen Einladung Platz zur Seite des Mädchens.

Siegmund wollte seinem fröhlichen Taumel die Krone aufsetzen, und erstaunte sehr, als er seine dreisten Liebkosungen nicht so erwidert fand, wie er nach allen Umständen erwarten konnte, sondern die Schöne machte sich im Gegenteil von ihm los, und [53] bat ihn mit so vielem Anstande, sich gesitteter zu betragen, daß er rot ward und verschämt um Verzeihung bat. – Das Gespräch nahm nun eine andere Wendung; man sprach von gleichgültigen Dingen, und Siegmund, der eine mit Achtung vermischte Zuneigung zu dem Mädchen fühlte, war endlich schwach genug, ihr seine ganze Geschichte zu erzählen. – Sie gestand ihm im Gegenteil daß er ihr gleich beim ersten Anblick auf eine sehr vorteilhafte Art aufgefallen wäre, daß sie sogleich seine Bekanntschaft gewünscht, daß sie aber nach dem Blick, den er ihr heut vormittag zugeworfen habe, gänzlich daran verzweifelt sei.

Siegmund erinnerte sich nun, was ihm der Wirt am Morgen von diesem Mädchen gesagt hatte, und er fand sich jetzt schon aufgelegt, ihm kein Wort zu glauben.

»Man hat gewiß von mir nachteilig zu Ihnen gesprochen«, fuhr die unbekannte Schöne fort, »aber ich versichere Sie, es ist Verleumdung gewesen.«

Siegmund bestätigte alles, was sie sagte; beide schimpften mit vereinigten Kräften auf die Bosheit der Welt, daß gerade die schlechtesten Menschen am schlechtesten von andern redeten. »Hüten Sie sich besonders vor Ihrem Wirte!« sagte die Schöne sehr eifrig; »er ist der größte Betrüger in der ganzen Stadt, ziehn Sie sobald als möglich von ihm aus, sonst wird er Ihnen eine ungeheure Rechnung machen!«

Siegmund erschrak nicht wenig über diese Nachricht; er glaubte schon die geschriebene Summe zu sehen, die er dem wohlbeleibten Manne auszahlen solle.

Man sprach noch viel über die mannigfaltigen und zusammengesetzten Charaktere der Menschen, über Bosheit und Niederträchtigkeit, Edelsinn und Rechtschaffenheit Siegmund hatte es ganz vergessen, in welchem Hause er sich befand, und moralisierte tapfer darauflos.

»Ich glaube nun Sie zu kennen«, fuhr die Schöne fort; »jetzt will ich Ihnen auch etwas von meiner Geschichte ganz aufrichtig erzählen, damit Sie sehen, wie sehr man sich in manchen Leuten irren kann.

Ich bin ein armes Mädchen, meine Eltern sind früh gestorben, meine Erziehung war nicht die beste; was ich ohngefähr weiß, oder von Bildung erhalten habe, habe ich mir ganz allein zu danken. Man hat mich von Jugend auf ziemlich hübsch gefunden, und ich bin am Ende überredet worden, es selbst zu glauben.

Da ich kein Vermögen hatte, suchte ich meinen Unterhalt durch Sticken, Putzmachen und andere dergleichen Beschäftigungen [54] zu erwerben; meine Anbeter verfolgten mich unaufhörlich, und ich überlegte mir meine Situation etwas vernünftiger, und seit der Zeit lebe ich vergnügter, und bin nicht so sehr, wie vordem, dem Mangel ausgesetzt.

Man darf nur um sich her die Beschäftigungen der Menschen und das Triebwerk ihrer Tätigkeit betrachten, so findet man sehr bald, daß nichts als Eigennutz alle Maschinen in Bewegung bringt, und forscht man nach dem reellen Nutzen bei den meisten Beschäftigungen, so ist es kein anderer, als daß der Magen der Arbeitenden angefüllt wird. –

Gelehrte, schöne Geister, Musiker, alle Arten von Menschen leben von den Talenten, die ihnen die Natur mitgegeben hat. – Warum soll es denn nur erlaubt sein, mit geistigen Schätzen oder körperlichen Kräften zu wuchern? – Warum soll man nicht auch andre Vorzüge geltend machen dürfen? Wenn die Menschen närrisch genug sind, ihr Vermögen einem Mädchen aufzuopfern, das sie für schön halten, warum sollte man nicht aus dieser Narrheit Nutzen ziehn, so wie Marktschreier, Doktoren, Seiltänzer und Schriftsteller die Schwächen der Menschen nutzen? Ich fand, daß es kein Gewerbe gebe, bei welchem nicht eine Art von Betrug stattfände, und daß die Dummheit, sich betrügen zu lassen, die List des Betrügers gewissermaßen rechtfertigt. – Sie lächeln über meine Geständnisse, und werden gewiß in Ihrem Herzen glauben, daß ich recht habe.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, meine schöne Freundin«, antwortete Siegmund, der eben daran dachte, wie er noch gestern die Schmeichler verteidigt hatte.

»Jeder«, fuhr die Rednerin fort, »sucht die Armseligkeiten seiner Nebenmenschen dazu zu brauchen, sich einen ebnen Weg durchs Leben zu bahnen; der eine kleidet sich, wie sein Gönner es gern sieht; ein anderer hat dieselbe politische und philosophische Meinung, die man von ihm fordert; ein dritter heiratet, um reich zu werden; ein vierter übervorteilt im Handel; jeder lügt, hintergeht, spielt den Scharlatan; die ganze Welt maskiert, und nur die Macht der Schönheit soll von dieser allgemeinen Sucht, andre zu beherrschen, ausgeschlossen bleiben?

So lebe ich angenehm und im Wohlstande. Fremde, die, wenn nicht mir, einem andern Mädchen ihren Reichtum hingetragen haben würden, vermehrten mein Vermögen; Narren verfolgten mir, und drangen mir, sosehr ich mich weigerte, ihre Börse auf. – Aber ich wähle auch aus; ich bin, so wie Sie mich hier sehn, aufs eifrigste Demokratin, und hasse und verachte alles, was [55] sich Edelmann nennt so habe ich Ihren Präsidenten immer mit dem größten Spott abgewiesen, sosehr er sich mir aufgedrängt hat. – Ich habe schon manchen Armen unterstützt, und mancher Familie aufgeholfen, und so kann ich nicht einsehn, warum ich nicht mit mir zufrieden sein, sondern mich für ein verworfenes Geschöpf halten sollte?«

»Sie sind die liebenswürdigste Philosophin von der Welt!« rief Siegmund aus. »Ich habe noch kein Frauenzimmer gefunden, deren Seelengröße sich mit der Ihrigen messen dürfte.«

Die Schöne drückte einen zärtlichen Kuß auf die schmeichelnden Lippen. – »Ich habe Sie heut abend kommen sehn«, sagte sie, »und Ihnen bloß die Tür eröffnet, weil Sie mir gefallen, und weil ich Sie jetzt sogar liebe, ohne Vorteil von Ihnen zu hoffen. Ich denke, meine Liebe ist uneigennütziger, als die anständige Zärtlichkeit mancher Ehefrau.«

Siegmund ward immer mehr bezaubert; er schloß sie an sein klopfendes Herz und überdeckte Wangen und Busen mit feurigen Küssen.

»Ich habe einen Einfall!« rief die Geliebte wie begeistert aus, »ich habe einen Einfall, für den Sie mir gewiß danken werden. – Sie sollen sehn, daß ich nicht nur uneigennützig bin, sondern daß ich mich auch aufopfern kann, wenn ich mich jemandes Freundin nenne. – Ich habe mir einmal vorgesetzt, daß Sie hier in der Stadt bleiben sollen, und ich will für Sie den unangenehmsten Schritt tun: ich will mich nämlich mit dem Präsidenten in Kapitulation einlassen.«

Siegmund konnte nicht Worte genug finden, ihr zu danken. – Sie gab ihm in derselben Nacht noch zu mehrerem Dank Gelegenheit, und er verließ sie, um sich in seinem Gasthofe von dem philosophischen Räsonnement zu erholen, das ihn ermüdet hatte.

Es ward sogleich zum Präsidenten geschickt, der nicht zu kommen ermangelte. – Als sich Siegmund auskleidete, um zu Bette zu gehen, sagte er zu sich selbst: »Einem Freudenmädchen soll ich also vielleicht mein Glück verdanken? Nicht meinen Talenten und Kenntnissen? – Aber ich verdanke es mir ja doch selbst; meine Gestalt hat dies Mädchen ja so für mich eingenommen. Es hätte mir wahrhaftig weniger Ehre gemacht, wenn ich bloß dem vornehmen Fürwort des langweiligen Generals, der mich nicht kannte und nicht besonders leiden mochte, alles schuldig geworden wäre. – Ich bin nicht der erste, und werde auch nicht der letzte sein, der durch ein Frauenzimmer eine Stelle erhält; sie geben uns als Säugling Milch und als Männer Brot, und es [56] ist gewöhnlich noch anstößiger, wie viele durch eine verheiratete Frau oder durch Heirat versorgt werden.«

Er schlief bald ein und lag noch in süßer Ruhe, als ihn der Markör weckte und ihm ein Billet vom feinsten Postpapier überreichte. Noch schlaftrunken erbrach er es. Es war eine außerordentlich höfliche Einladung vom Präsidenten, ihm die Ehre seines Besuchs zu gönnen; er habe gestern vergessen, sich nach manchen Umständen zu erkundigen, die ihn sehr interessierten.

Siegmund sprang schon aus dem Bette, ehe er noch zu Ende gelesen hatte, seine gestrigen Skrupel fielen ihm gar nicht einmal ein. Er rief den ersten vorübergehenden Friseur hinauf, zog sich so eilig an, daß es dadurch eine Viertelstunde länger währte, und lief trabend zum Präsidenten. Der Bediente führte ihn in das Schlafzimmer des gnädigen Herrn, der um Verzeihung bat, daß er ihn schon so früh inkommodiert habe. Siegmund wußte gar nicht, wie er die großen und ausgesuchten Höflichkeiten beantworten sollte. Der Präsident erklärte, daß er den Brief des Generals noch einmal überlesen und sich gestern aus Zerstreuung in der Person geirrt habe, er habe schon seit lange so viel von der Geschicklichkeit und den unbeschreiblich großen Talenten des Empfohlenen rühmen gehört, daß er ihm die verlangte Stelle unmöglich, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, abschlagen könne.

Kurz, alles ward in dieser Unterredung berichtigt; Siegmund war Rat, und mietete sich sogleich, als er den Präsidenten verließ, seine künftige Wohnung, forderte im Wirtshause die Rechnung, und erschrak zwar nicht, aber erstaunte doch ein wenig über die große Summe.

Alles schien hier in der Stadt sein Gewerbe philosophisch zu treiben, denn als der Wirt das langgezogene Gesicht des Bezahlenden sah, sagte er ganz kalt: »Man kann es unsereinem nicht übelnehmen, wenn man den Vorteil nimmt, wo man ihn findet; ich lasse mir auch dafür etwas bezahlen, daß mein Gasthof derbeste ist, und jeder Eingehende kann doch nachher erzählen daß er hier logiert habe. Ober fünf Jahre ungefähr wird es auch bei mir etwas wohlfeiler sein, denn ich denke, daß ich dann die Summe wieder erübrigt habe, um die mich einmal ein verkleideter Herzog betrog.«

»Der Bürger muß also auch bei Ihnen die Schulden der Fürsten bezahlen?« fragte Siegmund lachend.

»Zum Glück ist mein Gasthof hier in der Stadt der einzige recht gute«, fuhr der dicke Mann ungestört fort; »ich habe daher [57] die Summe, auf die ich hoffe, schon so gut wie in der Tasche. Der Goldschmied ist ein Narr, der das abfallende Silber nicht sammelt.«

Die Rechnung ward quittiert, Siegmund zog aus und in seine neue Wohnung.

Als er auf den Mittag wieder im Gasthofe aß, sprang ihm der kleine Bellmann in die Arme, und freute sich, daß ein so würdiger Mann die erledigte Stelle erhalten habe. Seine Freude war ungeheuchelt, denn er hatte die Aussicht, in wenigen Wochen mit einer andern ebenso einträglichen Würde bekleidet zu werden.

Der Zeitungsschreiber machte in seinem Blatte einen großen Artikel aus der Ankunft und Einführung des neuen Rats.

Siegmund, der Präsident und das Mädchen lebten seit der Zeit in der größten Eintracht die Schöne stimmte ihr demokratisches Gemüt etwas aristokratischer, und schon am folgenden Tage sah man den Präsidenten in der Gesellschaft Siegmunds reiten. Siegmund tat ihm den Gefallen, nur wenig zu schließen, und mit dem Pferde etwas ungeschickt umzugehen. Der Präsident gab ihm viele Regeln; Siegmund dankte und lernte besser reiten.

Der General antwortete auf das Danksagungsschreiben des Rats: er habe wohl gewußt, daß der Präsident nicht unterlassen könne, seine Empfehlung zu beachten. –

Dies sind die beiden merkwürdigsten Lebenstage aus Siegmunds Geschichte. – Der Leser, der nur ein halb gutes Buch über die Moral gelesen hat, wird leicht die schnell erfundene sophistische Scharade auflösen können; folglich braucht sich der Verfasser gar nicht weiter darüber zu erklären, daß er die aufgestellten Personen nicht für Ideale auszugeben gesonnen sei.

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TextGrid Repository (2012). Tieck, Ludwig. Erzählungen und Märchen. Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben. Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-54F3-E