Ab 12.46 Uhr

Dies ist der letzte Tag an der See; heute mittag muß ich davon.

Noch einmal: baden. Noch einmal an den kleinen windschiefen Bäumchen vorbei, wo die Mädchen immer die Badetücher aufhängen, die wehen dann den ganzen Vormittag wie weiße Fahnen. Noch einmal Gruß zum Zeitungsstand hinüber, wo die Zeitungen aus der Stadt hängen, ich habe ihnen jeden Tag eine lange Nase gemacht . . . noch einmal alles mit den Augen ansehen, mit dem Geruch aufschnuppern, den feinkörnigen Sand fühlen – und denken: Das kommt nie wieder. Das kommt nie wieder.

Der letzte Tag . . .

Im Krieg übten wir unser Gewerbe im Umherziehen aus. Mit gefurchter Stirn und entrüsteter Nase krochen wir in den kurländischen Bauernhäusern herum, die uns die vorigen Truppen leer und völlig mit [198] Stroh verdreckt zurückgelassen hatten – Zimmer zu vermieten! hatten die Dragoner vor uns angeschrieben. Verflucht –!

Und dann gings los: sauber machen, alles reinigen; die Löcher in den Wänden, wo still die Wanzen brüteten, mit Petroleum ausspritzen und zukleistern . . . das Stroh heraus und sauberes neues Stroh hineinschaffen . . . die Fenster einigermaßen putzen . . . hier habe ich viele schöne Flüche gelernt.

Dann lebten wir uns langsam ein. Das Quartier war doch erträglicher, als es vorher den Anschein gehabt hatte; es ließ sich darin leben. Wir soffen und sangen; wir spielten Karten und lasen zivilistische Bücher; wir rechneten uns aus, wann der Krieg wohl vorbei sein würde . . .

Und gewannen mittlerweilen das Quartier lieb. Die grauweiße Hütte mit dem Holzhäuschen davor fing an, uns eine neue Heimat zu werden; die wievielte! Aber es wurde eine. Wenn wir nach Hause kamen, dann kuschelte sich schon jeder in seine Ecke, alles war vertraut und gut eingespielt, man wußte schon, wo alles lag. Und täglich sannen wir auf neue Verschönerungen: hier wurde noch ein Bild aus der Zeitung herausgeschnitten, aufgehängt, da ein Spiegel; hier Tannenreiser angebracht und da ein Birkengeländerchen . . . (aus unerfindlichen Gründen hatten alle deutschen Offiziere eine besondere Vorliebe für Birkenholz; am liebsten hätten sie den gesamten Kriegsschauplatz mit Birkengeländern einfassen lassen . . . ), und das Quartier wurde immer schöner. Und regelmäßig dann, wenn einer vorschlug, man könnte nun noch ein Vogelbauer aufhängen und vielleicht – »Mensch, azähl doch nicht! Ick ha doch schon Krieg geführt, wie du noch bei Muttan . . . !« – Regelmäßig, wenn noch eine ganz besondere Verbesserung geplant, ausgeführt und beendigt war, wenn das Auge des Kompanieführers beinah wohlgefällig auf der Unterkunft ruhte, und wenn der letzte Nagel saß –:

Dann mußten wir fort.

Solch ein Auszug war jedesmal eine melancholische Sache. Ich lernte abermalen neue Flüche. Fluchend packten die Leute ihren Kram zusammen – was würde nun wieder kommen? Wohin nun wieder? Wo es hier so schön gewesen war!

Und dann zogen wir los. Und kamen in ein neues Quartier. Und dann fing alles wieder von vorn an. Und am schönsten, am schmerzlichsten und am heimatvollsten war allemal der letzte Tag.

Da liegt die See . . . Warum bleibe ich eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel da oben einmieten, das wäre bestimmt gar nicht einmal so teuer – und dann, immer: blaue Luft, Sonne (doch, das gabs – sogar diesen Sommer!), und Salzwasser und Flundern und Grog – und immer, immer: Sommerfrische . . .

Soweit Herr Panter. Der in ihm wohnende Peter aber ist schlauer. Er weiß.

[199] Er weiß, daß es damit nichts ist. Daß die Sorgen alle mitziehen, wenn man umzieht: daß es etwas ganz anderes ist, ob man nur vorübergehend in einem Ort sitzt – oder für immer. Ist man für vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die Unannehmlichkeiten. Es geht einen so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man sich ärgern. Man muß teilnehmen. Man muß mitleben. »Schön habt ihr es hier!« sagte einst Karl der Fünfte zu einem Prior, dessen Kloster er besuchte. »Transeuntibus!« erwiderte der Prior. »Schön – ja: für die Vorübergehenden.«

So erfrischend ist das Bad in all den vier Wochen nicht gewesen. So lau hat der Wind nie geweht. So hell hat die Sonne nie geschienen. Nicht, wie an diesem letzten Tag.

Sei gescheit. 12.46 Uhr geht der Zug . . . und du wirst drin sitzen. 12.46 unerbittlich. Die Arbeit ruft. Und du kommst.

Nicht losreißen kannst du dich. Letzter Tag . . .

Letzter Tag des Urlaubs – letzter Tag in der Sommerfrische . . . ! Letzter Schluck vom roten Wein . . . letzter Tag der kleinen Reiseliebe – noch eine halbe Stunde! Noch eine halbe! Noch eine viertel . . . ! Letzter Tag . . . letzter Tag des Lebens . . . ?

Vielleicht ist es deshalb so schwer, zu sterben, weil niemand einen letzten Tag ertragen kann. Er ist aber gar nicht so schwer zu ertragen. Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören. Was dann kommt . . .

Nichts ist so schön wie der letzte Tag.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1930. Ab 12.46 Uhr. Ab 12.46 Uhr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5A38-F