Auf dem Nachttisch

Brom, Bromural, Pantopon, Bromopon, Pantoral . . . es geht nichts über ein gutes Buch. Einschlafen –

Die Räderchen laufen noch, bei gehemmtem Antrieb, es grübelt, selbst der Pyjama ist noch wach und will gar nicht still liegen. »Eine schreckliche Angewohnheit!« sagte meine gute Großmama. »Im Bett zu lesen! Ein junger Mann legt sich ins Bett und schläft!« Die gute Großmama; sie übertrieb so gern. Gibt es etwas Schöneres, als im Bett zu lesen? Auf der Kurve heult eine verspätete Elektrische; Stimmen tönen herauf; ein Auto pustet; einer geht auf der Treppe – und du liegst in der Kajüte deines Betts, niemand kann dir etwas tun, und du blätterst und liest, Bücher rutschen über die schräge Decke auf den Boden, du hörst es nicht, du legst dich von einer Seite auf die andre Seite, schade, daß man nicht mit den Füßen lesen kann, es wäre eine große Erleichterung . . . Lesen. Lesen.


Obenauf liegen zwei bunt gekleidete Bücher. Von Rudolf Kircher: ›Fair Play‹ und ›Engländer‹ (beide bei der Frankfurter Societätsdruckerei in Frankfurt am Main erschienen).

Es ist sehr merkwürdig: England ist für die deutsche Presse noch nicht entdeckt. Ob die sinnlose Überschätzung von Paris darin ihren Beweggrund hat, daß die maßgebende Generation der maßgebenden Redakteure auf der Schule Englisch nur als Fakultativfach gehabt hat oder woran immer es sonst liegen mag: England gibt es kaum. In Paris braucht sich nur die Spinelly ihren Oberschenkelschmuck, stehlen zu lassen, und Prenzlau, Königsberg und Darmstadt sind auf das ungenauste informiert. Es blitzt nur so von pariser Informationen. London? C'est là-bas . . . wie sie hier in Paris sagen. Davon spricht man in feinen Zeitungen nur im politischen Teil. Es soll sich aber auch dort eine Art Leben abspielen, hörte ich . . . Hier bei Kircher, dem[399] ausgezeichneten Korrespondenten der ›Frankfurter Zeitung‹, kann mans kennenlernen.

Das Buch ›Engländer‹ ist instruktiver: es gibt da Porträts großer Briten, und, soweit das jemand beurteilen kann, der nicht in London gelebt hat, sind sie gut und überzeugend. (Ganz besonders anzumerken: die hervorragenden Fotografien.) Wir lernen, was es mit der englischen Aristokratie auf sich hat; wie das konservative Element drüben aussieht und das liberale und das sozialistische, und wie das konservative sie alle drei durchdringt . . . wir sehen Reinhold Schünzel, als Churchill verkleidet, und den Deutschenfresser Northcliffe, den die Deutschnationalen jetzt bei uns, das ist die große Mode, mit einem Radauantisemiten vergleichen, was die Rolle der Deutschen unter den Nationen gut beleuchtet; wir lernen etwas von den englischen Geschäftsleuten kennen und zum Glück gar nichts von G. B. S. Ganz außerordentlich fesselnd das Kapitel über den Pfarrer von St. Pauls – dazu eine Fotografie! Daß es so etwas gibt! Herrlich. In ›Fair Play‹ wird die Untersuchung Englands fortgesetzt; Kircher versucht, mit vollem Recht, den englischen Nationalcharakter aus dem Sport zu erklären. Wie schön, daß er es nicht mit den ›Sportlichen Hochschulen für Leibesübungen‹ hat – das soll mal einer ins Englische übersetzen –, sondern daß er sagt: »Der Sinn der englischen Sportfeste ist nicht, sich und andre zu ärgern, sondern fröhlich das Leben zu genießen, wie es sich bietet.« Wo kämen wir denn da hin –! Kurz: diese beiden Bücher, besonders das erste, das dicke, soll man lesen. Man wird viel Gewinn davon haben.


Was ist das? Mann mit Monokel auf Umschlag? Franz Molnár ›Die Dampfsäule‹ (im Verlag Paul Zsolnay, Berlin). Sehr amüsant. Schmeckt wie fast immer bei Molnár, nach . . . ja: Paprika ist es nicht. Die Butter, mit der er kocht, ist gut, kein Zweifel, aber irgend etwas ist billig, schmeckt ein wenig, ein klein wenig nach Speisehalle – es ist, wie wenn unter den vier Küchenchefs eines großen Hotels einer ist, der aus einem billigen Laden kommt, und jeweils ein Gericht im Diner . . . Immerhin: die Erfindungskraft dieses Ungarn ist stark, das quillt nur so von Einfällen. Und hat ›Spiel im Schloß‹ geschrieben und sei gesegnet.

Über Rußland . . . Ich weiß: ihr habts beinah satt, ich auch. Aber nun kristallisiert sich aus dem Wust dafür und dagegen, aus diesen dummen Flüchen und den noch dümmern Kriegsberichten langsam etwas Vernünftiges heraus. Hier zum Beispiel ›Moskau‹ von Karl Anton Prinz Rohan (bei G. Braun in Karlsruhe). Ich habe dem Mann manches abzubitten. Mir ist seine ›Europäische Revue‹, die er einmal herausgegeben hat, in der Seele zuwider gewesen – das Blatt war genau so wie die Anekdote, in der jemand den Prinzen auf das snobistische [400] Getue der reichen Leute um den Völkerbund aufmerksam macht und tadelt wie albern das alles sei . . . »Was hams gegen die Elite –?« sagte er.

Aber dieses Buch ist anständig, fleißig, sehr lehrreich und vernünftig. Es ist etwas reichlich rosig – auch kann sich der Verfasser nicht abgewöhnen, ›Konferenzen‹ abzuhalten und seine Unterhaltungen mit den russischen Staatsmännern in einem Tone zu schildern, als habe die Welt derweil den Atem angehalten – und doch ist es ein lesenswertes Buch, Freilich, lange nicht so gut wie das Beste, das ich in der letzten Zeit über Rußland gelesen habe:

E. J. Gumbel ›Vom Rußland der Gegenwart‹ (E. Laubsche Verlagsbuchhandlung in Berlin). Hundert Seiten – aber das hats in sich.

Das Beste scheint mir diese Stelle, wo Gumbel von den tintenschwarzen und den brustzuckerrosa Schilderungen spricht, die wir so über Rußland zu lesen bekommen. »Wesentlich ist . . . , daß Rußland . . . weder mit dem ersten noch mit dem zweiten Bild übereinstimmt, erst recht aber nicht in der Mitte liegt, sondern auf einer ganz andern Ebene.« Das ist es. Und auf diesen Ton ist das Buch gestimmt. Nicht in der Mitte – auf einer andern Ebene.

Man muß, sagt Gumbel, Rußland mit sich selbst vergleichen: das Land vor dem Kriege und das Land nach dem Kriege – dann kommt man vielleicht zu einem Resultat. Er zeigt, wie der ›Bolschewismus‹, der niemals Kommunismus gewesen ist, damit begonnen hat, daß er den Landhunger der rückkehrenden Soldaten aufzufangen verstand – »zu dieser schon vorhandenen Bewegung schufen sie die notwendige Theorie. Dieser Akt staatsmännischer Klugheit, eine vorhandene starke volkstümliche Bewegung auszunutzen, auch wenn sie der Parteidoktrin widerspricht, kennzeichnet die ganze Politik der Kommunisten.« (Man vergleiche damit die nichtsnutzige Haltung der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1918.) Gumbel erzählt, wie Lenin dann die große historische Umkehr vollzog – mit welchem Mut er umkehrte, und wie trotz alledem der ›Privatbesitz‹ in Rußland, »um den der Spießer bangt, wenn er von Sozialismus hört« besteht, und wie das mit der Staatswirtschaft gar nichts zu tun hat. (Auch das Erbrecht ist geblieben!) Ganz besonders erquickend die Stelle, wo von der Staatstheorie und der Rechtstheorie der Sowjets die Rede ist. Es gibt keine Demokratie – das ist eine Fiktion, »Von allen andern Staaten unterscheidet sich nun der russische dadurch, daß er diese Fiktion aufgibt und seine klassenmäßige Struktur offen zugibt. Das gilt auch für seine Rechtsprechung.« Und da es eine Gesellschaftsstruktur ist, die wir bejahen, so bejahen wir auch den Mut, mit der die Folgerungen gezogen sind.

Aber Gumbel ist durchaus nicht so begeistert, wie die übereifrigen Reisenden, deren Hallo stets ein bißchen kindlich anmutet: die guten [401] Russen! und alles so schön und sauber! und so gerecht! Die haben Sonne im Herzen . . . Gumbel hat Verstand. »Das wahre Symbol dieses Staates ist nicht Sichel und Hammer, die man verschwenderisch, womöglich vergoldet, überall sehen kann, sondern das Kugelrechenbrett, das neben jedem Beamten liegt. Denn die Kenntnis des großen Einmaleins ist nur schwach verbreitet.« Wobei allerdings zu sagen ist, daß das im gebildeten Kurland genau so gewesen ist: eine Sitte, keine Schwäche. Scharfe Schilderungen aus dem Leben der Strafgefangenen; scharfe Kritik an der russischen Presse: »Das Bild, das die russischen Zeitungen vom kapitalistischen Europa entwerfen, ist genau so grotesk verzerrt, wie das Bild, das die meisten europäischen Zeitungen von Rußland bieten.« Was sich leider an den Weisungen kontrollieren läßt, die die deutschen und französischen Kommunisten von Moskau empfangen. Daß sie Weisungen, Führer und Geld ›vom Ausland‹ beziehen, ist rechtens; daß Führer und Befehl nicht besser sind, beklagenswert. Und von der Wohnungsnot ist die Rede, die nur in Moskau herrscht – und: »Kein Priester darf eine Schule betreten« – ach, ist das weit von Berlin bis nach Moskau! So weit! Und es ist lehrreich, zu sehen, in wie winzige Nichtigkeiten die modernen Staaten zusammensinken, wenn man ihr Tun und Treiben gewissermaßen medizinisch betrachtet: also marxistisch – dann ist es auf einmal aus mit der Würde und den Fahnen und den Senatoren und dem Reichsrat – dann kommt die Wahrheit heraus, und die sieht elender aus als das, was der tapfere und wahrheitsliebende Gumbel in diesem vorzüglichen Buch über Rußland zu berichten weiß.


Friedrich Ebert ›Kämpfe und Ziele‹. Das wollen wir uns nicht antun. Einseitige Kritik ist feige, der Mann kann sich nicht wehren und auf die kindlichen Bewunderer Eberts, die diesen Mann, von dem in zwanzig Jahren kein Mensch mehr sprechen wird, zum ›Staatsmann‹ aufplustern, wird an andrer Stelle geschossen. Es war keiner da, um die Revolution zu machen? Der war immer da. Und weil er immer da war, drängelte er sich zum Reichspräsidenten hinauf, ein mittlerer Bürger, die schlimmste Mischung, die denkbar ist: persönlich rein und sachlich schmutzig. Der hat viele Arbeiterjahre Zuchthaus auf dem Gewissen . . . Die Sammlung seiner Aufsätze ist trostlos; dagegen kann man nicht polemisieren. Ich weiß, daß man die Tagesarbeit von Gewerkschaften nicht mit Hallo und Pathos machen kann – aber jede Arbeit hat doch ihren Klang, ihren ganz bestimmten Ton . . . diese ist pappen, dumpf klein, schlau und dumm. Vorn wird in Vater-Sentimentalität gemacht, ich kann mich nicht besinnen, daß dieser Mann jemals solche Gefühle für seine Klassengenossen aufgebracht hätte, die er den Militärs und den Richtern überliefert hat; hinten erzählt – wie unvorsichtig! – ein Vollbart eine ›Anekdote‹. Ein Fotograf habe Ebert gebeten,[402] etwas mehr nach rechts zu rücken, und der Erzähler habe dazu gesagt: »Noch mehr nach rechts kann er ja gar nicht!« Der so sprach, war der württembergische Gesandte in Berlin, Herr Hildenbrandt; für seine Staatstreue, für seinen realpolitischen Blick, für seine ›staatspolitische Mitarbeit‹ hat er denn auch von Herrn Bazille einen Tritt bekommen und ist geflogen. Auch Noske ist in dem Buch vertreten. Niemand schämt sich. Nur wenige sagen dieser Gesellschaft Bescheid . . . Um etwas ernsthaft Politisches anläßlich Eberts anzuschneiden: was ist das für eine neue Verlegerunsitte, die Bücher mit Prospekten vollzustopfen, die man vor der Lektüre erst alle herausschütteln muß? Einer fängts an, und alle machen es nach. Das lacht mich nicht an.

Nein, wenn man schon lachen will: dann über Hans Reimanns ›Sächsische Miniaturen‹ (bei Carl Reißner in Dresden). Die Geschichten des ›Geenijs‹, der trotz aller humorlosen einstweiligen Verfügungen als solcher ins Elysium eingehen wird (halt dich bereit, Biograph!), – die bezaubernd formulierten kleinen Geschichten . . . einmal, bei der Sache mit den Elefantenfladen, ist Reimann dem, was Humor ist, so nahe gekommen wie noch nie. Die Geschichte hat überhaupt keine Pointe – sie löst sich völlig in ein behagliches, wortloses Schmunzeln auf. Es ist der echte, dem Volk abgehörte Humor – man lese ›Estremadura‹ und bleibe ernst, wenn man kann. Die schöne Geschichte von der klemmenden Himmelstür, die ich ihm erzählt habe, ist auch drin. Ih! 'ch werd se doch nich nochemal uffschreihm – nu, das wäre gelachd! Darin bin 'ch säcksch.

Ziemlich schauerlich, wenn nachts im Bett einer allein lacht! War da jema – –? Nein. Plötzlich werde ich ganz ernst und sehe an mir herunter. Da rinnen die Bücher über das ganze Bett, halb aufgeschlagen liegt der Kircher, verbogen ›Moskau.‹ und unten, unter dem Bett, da wo er sonst zu stehen pflegt, die›Tägliche Rundschau‹. Halb drei –! Und morgen kommt um acht der Postfritze mit den Fahnen, und die ganze Post liegt unerledigt da, hungrig sperren die Umschläge die Mäuler auf, welche Familie! Brom, Bromural, Pantopon, Pantoral, Bromopon – – Allerherzlichst gute Nacht.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Auf dem Nachttisch. Auf dem Nachttisch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5ADA-1