Kapp-Lüttwitz

Sechzehn Monate Nichtstuns haben sich gerächt: am dreizehnten März 1920 hielten die deutschen Militaristen ihre Stunde für gekommen und packten zu. Der Fang entglitt ihnen – merkwürdigerweise. Aber wie hatte es so weit kommen können?

Die alte Regierung Ebert-Bauer hatte sechzehn Monate durch geschlafen. Sie ist gewarnt worden, sie sah nicht, was um sie herum leise oder auch manchmal recht vernehmlich vorging, was sich vorbereitete, heranschlich: sie schlief.

Um den im Kern unpolitischen Militärputsch richtig zu verstehen, muß man die Psyche des deutschen Militärs kennen.

Der aus dem Kriege zurückgekehrte Offizier kannte nur eine Sorge: seine militärische Sinekure so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Sie kämpften alle: den bitterharten Kampf um die Dienststelle. Der[294] Soldat braucht Krieg, damit er gerechtfertigt ist. So wie Richard Wagner eine Kunsttheorie aufstellte, in deren Mittelpunkt er, mit seinen Gaben, als Erfüller stand, so brauchen die Soldaten einen ›Feind‹, den Feind schlechtweg – sonst wären sie überflüssig. Sie hatten also alles Interesse daran, daß es solche Feinde gab, zu deren Bekämpfung man sie benötigte – mehr: deren Existenz ihre eigne nötig machte und hob. Mit dem äußern Feind war es nun nichts mehr – also suchte man sich einen im Innern. Die Reichswehr, die Sicherheitswehr, die Einwohnerwehren – sie waren pure Polizeitruppen (die übrigens ihren Zweck nur sehr unvollkommen erfüllten).

Nun lag die Sache für den altgedienten Unteroffizier, für den Offizier wirtschaftlich besonders ungünstig: sie hatten nichts weiter gelernt und konnten ihre Kenntnisse nirgends sonst verwerten. Angenommen etwa, daß ein Reichsgesetz die Versicherungsbranche auflöst, so sucht sich der kaufmännische Angestellte dieser Anstalten anderswo eine neue Position und findet sie; der Soldat ist völlig aufgeworfen und steht ziemlich wehrlos im harten Zivilleben.

Sie suchten also – wie menschlich ist das! – ihre militärische Stellung so lange wie möglich zu halten. Sie wollten das nicht missen: die Löhnung nicht, nicht die bunte Uniform, die ihnen im Familienkreis und bei den Mädchen doch immerhin noch ein gewisses Relief gab, nicht die stolze Stellung als ›Vorgesetzter‹ im Dienst – sie brauchten das, um zu leben, weil sie kein andres Leben kannten und sich auch kein andres vorstellen konnten. Und das wollte man ihnen entreißen?

Sie malten die Bolschewisten an die Wand. Bei ihrer Gewohnheit, in jedem Zivilisten ein minderwertiges, ja feindliches Wesen zu sehen, wuchs ihr Mißtrauen gegen die Republik ins Maßlose. Sie hielten fest und treu zusammen. Wehr reihte sich an Wehr, Abwicklungsstelle an Abwicklungsstelle, und alle pflegten einen Geist, der ihnen die Fortdauer ad calendas Graecas verhieß: also den preußisch-konservativen. Im Grunde ihres Herzens waren sie alle unpolitisch: sie wollten sein. Und seis auch als Selbstzweck. Und sie fanden kaum Widerstand: in der Regierung Unterstützung, in der Presse fast ausnahmslos freundliche Nichtbeachtung ihrer Fehler, beim Bürgertum Hilfe.

Zwei Männer waren es besonders, die dieses gemeingefährliche Treiben förderten: Noske und Heine.

Der § 316 des deutchen Strafgesetzbuches (Fahrlässige Gefährdung eines Eisenbahntransportes) hat leider kein staatsrechtliches Gegenstück: wer als schläfriger Lokomotivführer einen Stadtbahnzug zur Entgleisung bringt, fliegt ins Gefängnis – bei einem Staat kommt das nicht so genau darauf an.

Noske gehorchte ausschließlich dem bürgerlichen Kommando: [295] »Die Augen links!« Er sah überhaupt nicht, was rechts vor sich ging. Sicherlich hat er einige kleine Verdienste um die Aufrechterhaltung der Ordnung – im großen ganzen hat er eine Schuld auf sich geladen, die ihn in jedem parlamentarisch regierten Staate vor einen Staatsgerichtshof brächte. Unter seiner Amtsführung geschah folgendes:

Die Truppen ließen sich die schlimmsten Übergriffe gegen die Bevölkerung zu schulden kommen – niemand wurde bestraft oder gar aus dem Heeresverband ausgestoßen. Offiziere mordeten ihre politischen Gegner und kamen so gut wie unbestraft davon. Noske vermochte nicht einmal, die neuen Abzeichen durchzusetzen, geschweige denn eine neue Gesinnung. Nichts wurde aufgelöst: die Reichswehr war viel stärker, als sie nach dem Friedensvertrage sein durfte. Der Kern des Rumpfheers bestand in den Abwicklungsstellen fort – Baths ›Einteilung und Standorte der Reichswehrtruppen‹ füllt allein sechseinhalb engbedruckte Seiten mit diesen Stellen. Die lächerlichste Überorganisation benutzte Büros als Vorwand, den alten Offizieren ihre alten Stellen zu erhalten: da gab es ein Allgemeines Truppenamt und ein Heeresverwaltungsamt mit sechs Unterabteilungen – und das alles nicht etwa gegen einen äußern Feind, sondern ausschließlich gegen uns selbst und letzten Endes, damit Oberstleutnants und Majore und Obersten weiter Gehalt empfangen und eine gewichtige Stellung einnehmen konnten. Noske war in der Hand seines persönlichen Adjutanten, des Majors von Gilsa, eines Mannes, dessen Einfluß alle Kenner der Reichswehr für verderblich hielten. Zweimal, 1919 und 1920, wurde Kaisers Geburtstag in der Reichswehr offiziell feierlich begangen, ohne daß der Reichswehrminister dagegen einzuschreiten vermochte: er forderte, wie in allen Fällen, ›Berichte‹ ein und wollte nichts davon wissen, daß er angelogen wurde.

Seine Haltung nach außen hin war würdelos. Er warf mit aufgeschnappten Redewendungen des Kaisers um sich, drohte, seinen früheren Arbeitskollegen »die Knochen zu zerschlagen«, wenn sie etwa von ihrem Streikrecht Gebrauch machen wollten, beschimpfte jeden, der wagte, das Offizierkorps als unrein anzusprechen – dem gehörten aber Verbrecher an – und befand sich völlig im Bann der Militärs, geblendet durch den Glanz der Achselstücke: ein zweiter Bürger Schippel, der, einmal hochgekommen, den geborenen Bürger noch übertrumpft.

Ein ähnliches Kaliber war der feinsinnige Wolfgang Heine. Dieser Sozialist eigner Prägung verleugnete seine Herkunft aus einer alten preußischen Beamtenfamilie nie, und es war nur nicht einzusehen, warum er nicht die Landratskarriere eingeschlagen hatte. Unter seiner Agide erstanden neue Titel, erstand auf Anregung Noskescher Offiziere die Sicherheitswehr, die neue Offiziersstellen eröffnete, und Wolfgang Heine sah nicht oder wollte nicht sehen, wie dieser ganze[296] Apparat eine einzige Verhöhnung der Republik war. Auch er stand in der Preußischen Landesversammlung seinen Mann: Mißgriffe leugnete er ab, oder er deckte sie, und seine Reden heute nachzulesen, ist ein wirklicher Genuß. Unter seiner Ägide wurde eine Zentralversorgungsstelle für Einwohnerwehren begründet: die Familie jedes Einwohnerwehrmannes, der bei Ausübung seines Wachtdienstes verunglückte, sollte jährlich sechstausend Mark erhalten. Man vergleiche damit die kümmerlichen Renten der Kriegsinvaliden. Was gingen Herrn Wolfgang Heine die Invaliden an!

Die Presse? Ihre Kritik an diesem Treiben? Noske war der ›starke Mann‹; er wurde gefeiert und durch dick und dünn gehalten. Rechts war man noch immer mißtrauisch – das Lustige war, daß den ehemaligen Arbeiterführern ihr Verrat nichts nützte, und daß alle ihre Konzessionen den Reaktionären noch nicht weit genug gingen. Das Bürgertum aber war mit geringen Ausnahmen auf ihrer Seite. Seine völlige Instinktlosigkeit hatte sich noch niemals besser dokumentiert als hier.

Die bürgerliche Presse duldete keinen Tadel an Noske. Sie ignorierte das ihr dargebrachte reichliche Material gegen diesen Reichsverderber, oder sie kannte es gar nicht. Mit ein paar leichten Scherzworten glitt man über die Schutzhaftschande, über die Verbrechen der Offiziere hinweg, um sich mit Wonne und Wutgeschrei gegen die ›Kommunisten‹ zu stürzen. Da war der Leitartikler in seinem Element.

Die Mehrheitssozialdemokratie war geteilt: einige tapfere Organe im Reich wandten sich von Noske ab – das berliner Zentralorgan streichelte ihn manchmal leicht tadelnd, aber zu einer energischen Aktion konnte es sich nicht aufschwingen.

Sie alle haben bis zu allerletzt, bis zu jenem letzten Sonnabend, die Gefahr verkannt, und die letzten Leitartikel all dieser Blätter zeigen ihre glatte Blamage und ihre Unfähigkeit, in politischen Dingen weiter als bis um die nächste Ecke zu sehen. Einzig die ›Berliner Volkszeitung‹ hat von Anfang an, ununterbrochen, sechzehn Monate durch, tapfer Wacht gegen die Militaristen gehalten und hat, unermüdlich, immer und immer wieder, die klare Linie erkannt. Sie stand fast ganz allein.

Von radikalen Organen wurde die Regierung genugsam gewarnt. (Was wir dazu getan haben, steht an andrer Stelle aufgereiht.) Die Regierung schlief.

Das Verderben brach herein. Den äußern Anstoß gaben, wie nicht anders zu erwarten, die Baltikumer.

Die Offiziere und Mannschaften, die sich da in Kurland zur Verteidigung der bolschewistenbedrohten Heimat (und ihrer Dienststellung) zusammengefunden hatten, bildeten eine schwere Gefahr für die Republik. Noske wurde gewarnt. Man veröffentlichte Material,[297] aus dem hervorging, wie diese Truppen offenen Monarchismus betrieben, wie sie räuberten, plünderten, die weibliche Bevölkerung infizierten – die Regierung schlief.

Das Verderben brach herein. Wenn diese Zeilen erscheinen, werden ja die rechtsstehenden Parteien längst erklärt haben, daß sie mit diesem Putsch nicht das mindeste zu tun hätten. Sie sind seine geistigen Väter.

Die nationalen Parteien haben dauernd gegen die Republik gehetzt und das Militär verherrlicht, ja, es als ultimum refugium hingestellt. (Das war es auch: aber peccatorum.) Eine Erörterung der Kriegsschuld hat durch die alte Regierung nie stattgefunden – als Mitschuldige hatten diese von der Straße heraufgekommenen Minister allen Grund, sich darüber auszuschweigen. Das fürchterliche Leiden des deutschen Volkes im Kriege unter seinen eignen größenwahnsinnig gewordenen Landsleuten, das Leiden des gemeinen Soldaten – das wurde verschwiegen. (Töricht genug: hier ist der Keim einer ganz großen Volksbewegung, hier der Angelpunkt für eine wahrhafte Demokratie.) Aber so, wie man sich niemals getraut hatte, die Wehrpflicht gesetzlich abzuschaffen, so schwieg man sich auch über die geistige Struktur der preußischen Pest aus – das Militär war tabu. Und solange diese alten Offiziere mit ihren Epauletten herumliefen und vier Jahre Diebstahl, Unterschlagung, Schlemmerei und Unterdrückung vergessen machen wollten –: so lange war an eine Demokratie nicht zu denken. Wohl aber an eine gefährliche Stärkung der Reaktion.

Wie sich diese Generalstabsgehirne die Welt vorstellten, haben wir alle schaudernd erlebt. Die kindliche Regiererei des Herrn Kapp hat gezeigt, was Deutschland von einem Ludendorff zu erwarten gehabt hätte. (Der Zusammenhang Ludendorffs mit dem Hochverrat ist unwiderleglich geklärt. Der Herr General läuft in Berlin frei herum. Und Leviné?) Die alten vergilbten Mittelchen wurden hervorgeholt: W. T. B. mußte, was ihm nicht schwer fiel, Lügen verbreiten – auch in diesem Amt hatte niemals eine demokratische Reinigung stattgefunden – und W. T. B. verbreitete, Kapp wolle die gesamte Kriegsanleihe zurückzahlen; er veröffentlichte einen Ukas, wonach er das für die Juden bestimmte Mehl zur Herstellung von Ostergebäck unter die Arbeiter verteilen wollte – und ein Befehl: »Wer . . . , wird erschossen« fehlte gleichfalls nicht. Kurz: preußischer Generalstab.

Die Soldaten fuhren in ihren Lastautos durch die Stadt und waren treu. Wem – davon Stand nichts in den Kriegsartikeln. Aber treu waren sie, mit jener stumpfsinnigen Treue, die um ihrer selbst willen da ist, ohne sich um den Herrn zu kümmern, dem zu dienen ist. (Ja, nach Schluß der Operette sah man auf den Panzerautos die Aufschrift: »Wir stehen hinter der Regierung Ebert-Bauer« – aber zum Glück war das mit Kreide angemalt und leicht wegzulöschen. Es war eine [298] auswechselbare Treue. Und die Pointe schließlich bildete, daß in den allerletzten Tagen jene Aufschrift, auch auf den Stahlhelmen, durch ein Fragezeichen ersetzt wurde – das Loreley-Regiment: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.)

Der erwartete Jubel der Bürgerschaft blieb aus. Keine Jungfrauen schwenkten Tücher, kein Blumenregen, nichts. Die ›Deutsche Tageszeitung‹ stellte sich selbstverständlich den Verschwörern zur Verfügung – bis zum dritten Tage; dann verließ diese Ratte das sinkende Schiff. Herr Johannes W. Harnisch vom ›Berliner Lokalanzeiger‹ hielt länger durch. Die anderen warteten ab. (Daß sie, wenn Kapp Erfolg gehabt hätte, fast alle umgefallen wären, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden.) Mit Freuden funktionierte die Technische Nothilfe. Die Lehrer in den Schulen trieben die Schüler dieser Streikbrecherorganisation zu. Die Einwohnerwehr, unpolitisch, wie sie sich hatte, stellte gleichfalls Posten – sie benahm sich, im Gegensatz zu den eingerückten Soldaten, herausfordernd. In Eisenhelmen liefen die als Landsknechte verkleideten Kommis umher und freuten sich, daß ihnen die ganze Straße ehrfürchtig nachsah, und wenn sie gar vor einem richtigen Offizier stramm stehen durften, so schlug ihr Herz. Auch sie wird selbstverständlich aufgelöst werden müssen.

Der Streik setzte ein. Es muß gesagt werden, daß die Demokraten die schwere Schuld, die sie durch Duldung der Vorbereitung eines solchen Futsches auf sich geladen haben, in den drei kritischen Tagen wettzumachen suchten. Sie hielten mit den Arbeitern zusammen und verweigerten der Regierung Kapp die Gefolgschaft. Die Reaktionäre verhielten sich feige abwartend.

Die große Masse der Bürger blieb auch diesmal indolent. Soweit sie nicht organisiert waren, und soweit nicht die Angestellten- und Beamten-Verbände den Streik aufrecht erhielten, dominierte der Spießer, den es ärgerte, daß die 54 nicht ins Geschäft fuhr, und daß die gewohnte Morgenzeitung ausblieb. Die Frage, wer ›da oben‹ regiere, interessierte ihn wenig.

Als es nicht mehr ging, flohen Kapp und Lüttwitz, so wie Wilhelm geflohen war und Ludendorff und Noske. Und nun?


Und nun wird ganze Arbeit gemacht werden müssen. Die Forderungen, die man der Regierung abgerungen hat, sehen auf dem Papier ganz nett aus – wichtig ist, wie und von wem sie durchgesetzt werden. Und wichtig ist vor allem eines:

Es muß einmal allen – Politikern, Publizisten und Soldaten – gezeigt werden, daß man nicht ungestraft aufs falsche Pferd setzt. Es muß einmal Gesinnung richtig gewertet werden. Bei uns ist das so: der Monarchist plustert sich auf und bekämpft die Republik; der Offizier verteidigt seinen Posten gegen die Zivilisten; der Publizist prophezeit, [299] und dem Publikum genügts, daß einer überhaupt prophezeit – richtig brauchts nicht zu sein. Hier muß ein Ende gemacht werden. Hier muß einmal gezeigt werden, daß es auch praktische Folgen hat, wenn man in einer demokratischen Republik monarchistisch, militaristisch, nationalistisch agitiert. Diese Männer müssen entfernt werden.

Glückt wieder nur eine Schein-Reorganisation, so haben wir dasselbe in mehr oder minder kurzer Zeit noch einmal – aber dann erfolgreicher. Keiner kommt bei uns auf den Gedanken, daß Politik auch in die engsten Verbände, in die Kommunen, in die kleinen Ämter, in die Kasernen greifen dürfe. Aber grade dahin muß sie greifen. Es geht unter keinen Umständen an, daß alle, die an diesem Hochverrat teilgenommen haben, nun einfach, da er mißlungen ist, ruhig nach Hause gehen. »Du! du! wenn du noch einmal einen Hochverrat begehst, dann bekommst du einen Tadelstrich!« Wenn dieses Offizierkorps es schon mit seiner sogenannten Ehre vereinbaren kann, von der Republik Geld zu nehmen und sie dann doch zu bekämpfen –: wir könnens nicht mehr.

Wir brauchen unser Geld zu notwendig, um es mit vollen Händen als Arbeitslosenunterstützung für unnütze Truppen herauszuwerfen. (Sie nennens Sold.) Wir können uns den Luxus dieses großen militärischen Apparats als Selbstzweck und reaktionäre Polizeitruppe nicht mehr leisten. Hier muß Ordnung geschaffen werden.

Es muß Publizisten, die dauernd daneben raten, die Berechtigung abgesprochen werden, noch ernstlich mitzureden. Verpflichtet denn bei uns eine Ansicht zu gar nichts mehr? Alle tragen die Verantwortung, die schwere Verantwortung – und wenns zum Klappen kommt, dann laufen sie weg oder haben es anders gemeint oder haben nichts gesagt . . . und beginnen morgen von vorn. Keiner tritt ab – es sind noch immer alle, alle da.

Wenn einer heute noch glaubt, daß Menschentöten im Kriege kein Mord ist, daß Waffen Argumente sind: wenn einer heute noch meint, eine Kaste – die Militärs – dürfe, mit besonderen Gerichten, Ehrenanschauungen, Lebensbedingungen versehen, als Staat im Staate das eigne Volk schädigen, so soll ihm diese Meinung unbenommen sein. Aber die Republik hat die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, diese Männer aus ihren Ämtern und Betrieben herauszusetzen – und die Presseleser täten gut, ihren blamierten Führern nicht mehr zu glauben. Das geht nicht an: vorgestern für den Krieg zu sein und gestern für die Republik und heute für Noske und morgen für Reorganisation. Meinungen verpflichten. Das ist hart und unbequem – aber sauber. Und Presseschreiber, die die jeweils moderne Meinung tragen, sind keine Führer des Volkes. Glaubt ihnen nicht.

Hier muß ganze Arbeit getan werden.

Entfernung der konservativen Preußenoffiziere aus der Reichswehr. [300] Sofortige Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. Verwandlung der Reichswehr in eine zuverlässige Volksmiliz. Und vor allem: Aufklärung von Staats wegen.

Aufklärung darüber, daß ein Offizier auch nur ein Mensch ist, und vielfach nicht einmal der beste. Aufklärung darüber, daß der Offizier, genau wie jeder andre Staatsbürger, den Gesetzen unterworfen ist, daß Hochverräter nicht immer Ballonmützen und rote Schlipse tragen, und daß rohe Gewalt auch dann zu verachten ist, wenn sie sich militärisch kostümiert. Ihr liebt noch alle zu sehr das Tempelhofer Feld, mit einer stillen, unterirdischen, unausrottbaren Liebe. Man muß sie ausrotten.

Aufhebung der Technischen Nothilfe. Auflösung sämtlicher Einwohnerwehren. Nicht etwa: Umwandlung. Wir kennen das: dann wird ›gemeldet‹, daß hieramts alles republikanisch sei, und es wird nichts geändert. Hier muß ganz bis zu Ende gegangen werden – eher bekommen wir keine Ruhe.

Aufklärung der Öffentlichkeit darüber, wie sehr die ›nationalen‹ Parteien an diesem unabsehbaren Unglück die Schuld getragen haben. Aufklärung über die Schuld der reaktionären Offiziere und Beamten.

Und vor allem, vor allem: Reorganisation der Schule. Da steckt das Unheil, da die zukünftige Generation, da unsre Hoffnung und unsre Furcht. Den Kindern muß – nicht Parteipolitik –: demokratische Gesinnung eingepflanzt werden. Politik gehört in die Schule, hat immer hineingehört, solange sie monarchistisch gefärbt war. Pensioniert lieber nationale Lehrkräfte mit vollem Gehalt, als daß ihr die Kinder noch einmal zu einer Generation werden laßt, die, wie die von 1914, ein Blutbad bejubelt.

Wenn die Republik Deutschland, erweckt durch den Militärputsch, das nachholt, was sie im November 1918 versäumt hat: dann ist er nicht umsonst gewesen.

Gegen eine Reorganisation der großen Ämter wird niemand etwas einwenden. Der Widerstand der kleinen Gruppen und Kollektivitäten – bis zur Familie herunter – wird stark sein. Brecht ihn. Wir haben keine Revolution gehabt. Macht eine.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Kapp-Lüttwitz. Kapp-Lüttwitz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5CB1-D