Offiziere

Es wird in letzter Zeit etwas reichlich viel Geschrei von den Offizieren über die Offiziere gemacht.

Die Reichswehr wird in absehbarer Zeit auf den festgelegten Stand von hunderttausend Mann herabgesetzt werden. Rechnet man auf 30 Mann je einen Offizier (was hoch gegriffen ist), so ergibt das eine Zahl von dreitausend aktiven Offizieren. Skandal machen sie für zwanzigtausend.

Es muß dabei streng zwischen den Offizieren der alten kaiserlichen Armee und den aktiven Offizieren der Reichswehr unterschieden werden. Der Reichswehroffizier wird in ruhigeren Zeiten gesellschaftlich und auch politisch keine hervorragende Rolle mehr zu spielen haben; er kann politisch gefährlich werden, wenn die Reichswehr so schlecht geleitet wird wie bisher – aber die vorherrschende Rolle des Offizierkorps im Gesellschaftskörper ist ausgespielt. Das wissen die Offiziere. Es ist keinem Stand zu verdenken, wenn er mit der letzten Kraft des Untergehenden seine Existenz verficht, aber die Gründe, mit denen er es tut, sind dementsprechend zu werten.

Die Reste des alten kaiserlichen Offizierkorps, diese zehntausende verärgerter, entlassener, politisch enttäuschter und zum Teil in wirtschaftlicher Not befindlicher Männer erfüllen die Luft mit einem Lärm, als sei mit ihnen noch alles beim alten. Es ist aus.

Sie haben zweierlei Interessen, diese alten Offiziere: sie wollen die Verbreitung der Wahrheit über ihr Wirken im Kriege verhindern, und sie verlangen die Hebung ihrer wirtschaftlichen Lage, vor allem durch Stellenversorgung.

Das erste ist eine rein politische Frage. Es ist ja viel bequemer und angenehmer für einen Stand, in der Erinnerung durch offizielle Prachtwerke und bunte patriotische Bilderbücher fortzuleben, in aalglatten Statistiken fortzuleben, die dem preußischen Verwaltungsoffizier der Etappe bescheinigen, wieviel Stück Schlachtvieh er aus Flandern ausgeführt hat, wieviel Tanks Petroleum in Rumänien unter seiner Leitung hergestellt worden sind, wieviel Entlausungsanstalten, Fortbildungsschulen und Bordelle man unter seiner Leitung in Polen aufgebaut hat – und verschwiegen wird nur, welch grauenhafte Mißwirtschaft er in halb Europa trieb, was er sich in halb Europa zum Schaden seiner eignen Landsleute, die als Muschkoten nicht unter die Menschen gezählt wurden, dienstlich und außerdienstlich erraffte, verschwiegen wird seine Überheblichkeit, sein Mißbrauch der Dienstgewalt und sein gänzliches Unverständnis einer Zeit gegenüber, die er ›die große‹ nannte, und in der er wie ein Stück verrostetes Überbleibsel aus dem Mittelalter wirkte. Es ist natürlich bequemer und angenehmer für einen Stand, in dummen und bunten Hurrageschichten fortzuleben,[335] Geschichten, mit denen man unter Wilhelm II. ganze Generationen gefüttert hatte, und in denen ebenso rührsam wie verlogen zu lesen war, wie edel, wie hilfreich, wie gut und vor allem: wie schneidig der elegante, ritterliche deutsche Offizier allzeit gewesen ist. »Neese!« sagt der Berliner.

Es ist ein bekannter Fluch des Kapitalismus, die Bedürfnisse der Welt nach den wirtschaftlichen Forderungen der Liefernden zu regeln. Nicht ob du Zahnbürsten brauchst, ist das wesentliche, sondern daß es eine Fabrik gibt, die ihre Million Zahnbürsten im Jahr absetzen muß. Und bist du nicht willig, so braucht sie Gewalt, von der Reklame bis zum Zoll. Das ist nicht nur ein Fluch des Kapitalismus, das ist ein Fluch vieler Einrichtungen. Die Bünde, zu denen sich das alte Offizierkorps zusammengeschlossen hat, wollen Deutschland mit allen Mitteln klar machen, daß das Land seine Offiziere so oder so brauche. Das ist ein Irrtum. Wir brauchen sie nicht.

Wir brauchen sie nicht als Offiziere. Sie haben sich nicht einzubilden, daß etwa jenes alte Offizierkorps in die Reichswehr so wie es war übernommen worden ist. Der 9. November 1918 ist ein Einschnitt, der nicht fortzudenken ist. Sie haben ausgespielt.

Das Volk lehnt sie ab. Das Volk will sie nicht mehr. Wir haben alle, in der Friedensdienstzeit und vor allem in langen Kriegsjahren, viel zu viel gesehen. Wir haben alle die Hohlheit, die sittliche Ohnmacht und die Gedankenarmut eines Standes erkannt, der sich immer und immer nur sich als das Maß aller Dinge betrachtet hat. Das Wohl des Landes? Posten wollten sie.

Nach einem solchen Kriege, nach dem Kapp-Putsch, der zum großen Teil von Offizieren angezettelt und gemacht worden ist, überlaufen die Offiziersbünde den Reichswehrminister mit Forderungen, die der ernsthaft in Erwägung zieht, statt die Deputationen die Treppe hinunterzuwerfen. Sie verlangen sein Einschreiten, wenn einer das alte Offizierkorps so malt, wie es gewesen ist, obgleich das Herrn Geßler juristisch gar nicht zusteht; sie verlangen hart und gebieterisch, wie sie immer in Geldfragen gewesen sind, ihre Übernahme in den Reichsdienst, nur weil sie einmal Offiziere waren. Das ist eine Gefahr.

Denn auch die zweite ihrer Forderungen, ihre wirtschaftliche Hebung durch die Stellenversorgung, ist stark politisch gefärbt. Jedem deutschen Offizier steht das Recht auf Arbeit zu – aber weil er ein Staatsbürger ist, nicht, weil er Offizier gewesen ist. Das ist völlig belanglos.

Der eitle Stolz, mit dem sich ein kleiner Schwadronskönig heute noch sein ›Rittmeister a. D.‹ auf die Visitenkarte drucken läßt, zeigt, daß er die alte Gesinnung nicht aufgegeben hat. Er wäre noch wertloser als er es schon ohnehin ist, wenn er es täte. Ein ehrlicher Gesinnungswechsel kann von diesen Männern füglich nicht erwartet werden. Und so bilden sie eine Gefahr. Offiziersstellen haben wir Gott sei Dank [336] nicht mehr soviel, daß man sie alle unterbringen kann. Setzt man sie auf Verwaltungsposten, so werden sie, mit ganz geringen Ausnahmen, selbstverständlich mit den Grundsätzen ihrer alten niedergeschlagenen Welt die neue bekämpfen wo sie können. Sie werden auf stumpfsinnige Strammheit dringen, wo wir Verständnis und Einfühlung erwarten; sie werden Unterordnung und Disziplin donnern, wo es sich um Zusammenarbeit handelt. Sie leben noch.

Einer der zahllosen Schreiber des Reichswehrministeriums hat neulich dargelegt, es sei Pflicht der Deutschen, ihre Offiziere durch auskömmliche Versorgung zu versöhnen. Womit? Damit, daß sie vierzig Jahre lang geschlafen haben, uns schadeten und schikanierten und sich dummstolz einen Staat im Staate schufen?

Revolution versöhnt nicht. Es ist ein Unding, politische Gegner flau und mau ans Herz zu drücken, um sie gut zu stimmen. Wir bekämpfen sie.

Ich weiß sehr wohl, daß die bezahlten Industrieblätter aus diesem Aufsatz ein hervorragendes Propagandamaterial für die Wahl herausholen können. »Seht, die bösen Unabhängigen! Sie greifen euch an! Sie greifen euch an die Ehre! An die Achselstücke! Eure Ideale sind bedroht: Sie greifen euch sogar ans Portemonnaie!« Ich weiß aber auch, was ein Volk, dumpf, schweigend und geduckt viereinhalb Jahre lang durch diese Kaste gelitten hat, und die vereinzelten Ausnahmen halten unser Verdammungsurteil nicht auf. Ich weiß, daß jeder von uns die Erinnerung an einen Kompanieführer, an einen Bataillonskommandeur, an einen Generalstäbler zähneknirschend durchs Leben mit sich fortträgt, und daß die Zeit wohl die erste Wut heilend sänftigt (sonst gnade Gott den Offizieren!) – aber daß wir alle letzten Endes nicht vergessen können. Und nicht vergessen wollen. Nicht die Redensarten vom Schutz der geistigen Arbeit, hinter der sich die höheren Stäbe verkrochen, wenn sie fernab vom Schuß so lebten, wie sich ein Wachtmeistergehirn Gott in Frankreich vorstellte (man sollte lieber sagen: »er lebte wie ein Brigadekommandeur in Frankreich«) – nicht vergessen können wir die rohe Selbstverständlichkeit, mit der Offiziere Vorschriften erließen, die für das Pack galten, das den Krieg führte, aber nicht für sie – nicht vergessen die tiefe Verlogenheit, mit der sich menschliche Abneigung gegen einen andern hinter starren Reglements und dienstlicher Schikane verkrochen. Wir wollen es nicht vergessen. Und wir wollen sie nicht mehr.

Hier gibt es nur eine reinliche Scheidung. Drüben sie: versorgt in selbstgeschaffenen Stellungen, in Sicherheitswehren, Freikorps, Einwohnerschutz und Zeitfreiwilligenorganisationen, immer auf dem gutbezahlten Posten gegen einen selbstgeschaffenen Feind, und im Herzen eine unauslöschbare Wut gegen eine neue Zeit und ihre Menschen, die den Jahrmarktsrummel von Abzeichen, Orden, Titeln und einer als [337] Unteroffizier verkleideten Militärjustiz (selbstverständlich ohne Binde) nicht mehr anerkennen wollen. Hüben wir: als Menschen der verhaßten neuen Zeit, die da glauben, daß es keine ›Untergebenen‹ und keine ›Vorgesetzten‹ mehr geben darf. Sie wittern die Gefahr: entziehen wir ihnen die Untergebenen, dann ist es mit ihnen aus.

Die deutschen Offiziere haben uns eine Riesenrechnung aufgemacht, und wir haben die einzelnen Posten sorgfältig im Kopf notiert. Wir wollen sie ihnen quittieren. Am ersten Sonntag des Monats Juni im Jahre 1920.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Offiziere. Offiziere. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5CEC-B