Warum stehen

eigentlich Angeklagte vor dem Richter? Es strengt an, stundenlang zuzuhören, sich zu verteidigen, und dabei ununterbrochen zu stehen. Die Attitüde soll wohl die Wehrlosigkeit des Angeklagten nach außen so recht manifestieren, seine Subordination, die der da von ihm verlangt, nach der Melodie: »Vor allen Dingen stehen Sie mal auf, wenn Sie mit mir reden!« Denn Hochachtung und geistige Überlegenheit spielen sich in Deutschland meistens in jenen Formen ab, wie sie zwischen westpreußischen Gutsbesitzern und polnischen Saisonarbeitern üblich sind. So auch vor Gericht.

Humane Richter, also solche, die unter dem Talar keine Reserveoffiziers-Uniform tragen, erlauben manchmal den Angeklagten – als ganz besondere Gnade – sich hinzusetzen. Selbstverständlich ist, daß auch der Angeklagte sitzen darf; habt ihr weiter keine Mittel, um ihm klarzumachen, daß er sich hier zu verantworten habe?

Nein, sie haben keine. Und sie können keine haben, weil sie sich ja einer Amtsanmaßung schuldig machen: nämlich einer göttlichen. Das bestandne Assessorexamen und die Bestallung irgend eines Beamten scheint zu genügen, um aus Herrn Landgerichtsrat Blumenkohl den Stellvertreter Christi auf Erden zu machen: er straft. Er hat nicht zu strafen. Er hat keine Verhaltungsmaßregeln zu erteilen, er hat nicht Moral zu blasen, er hat zu schweigen, zu verstehen und dann das einzige zu tun, wozu ihn Menschen allenfalls delegieren dürfen: die Gesellschaft zu schützen.

Sitzend stülpt er dem vor ihm Stehenden eine Strafe über den Kopf, [223] deren Nuancen er nicht kennt. Unter hundert Richtern sind wahrscheinlich nicht vier, die den Unterschied zwischen zwei und drei Jahren Zuchthaus überhaupt abzumessen vermögen. Für die körperlichen, die seelischen, die sexuellen Nöte eines eingesperrten Verbrechers haben sie nicht viel Verständnis – woher sollten sie auch? »Wir geben in solchen Fällen immer zwei Jahre«, hat mal einer im Beratungszimmer gesagt. Das schien sein fester Satz, billiger tat ers nicht.

Nun, und später sitzt ja der bis dahin stehende Angeklagte genug . . . Nur einmal wünschte ich, daß Angeklagte stehen, solange stehen, bis sie zum Umsinken müde sind. Das ist dann, wenn so ein Richter vor dem Seinen steht. Und weil auf die himmlische Instanz nicht viel Verlaß ist: vor einer irdischen.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Warum stehen. Warum stehen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5E0E-2