Die Zeitbremse

Wenn ich zum Augenblicke sage:
Verweile doch, du bist so schön . . . !

. . . tempus sistere . . . die Zeit aufhalten . . . Ich bekam eine Stunde Arrest, weil ich sistere damals nicht richtig konjugieren konnte – und ich bekäme sie heute wieder, denn ich kann es noch immer nicht . . . tempus sistere . . . Wer das könnte –!

Mein Freund Sylvius Antenkogel konnte es. Das war überhaupt ein Kerl –! Gott verzeih mirs, aber dagegen ist der Professor Eucken gar nichts. S. Antenkogel wurde uns dahingerafft – am 29. Februar 1923 – er starb an zu schnell und in maßlosen Quantitäten hinabgeschlungener Hamburger Sülze. Doch das nebenher.

Wenn Antenkogel mir – wie auch diesmal – eine unfrankierte Postkarte schrieb, wußte ich schon immer, was die Glocke geschlagen hatte. Auf der Karte stand nur das eine Wort: »Komm!« – Weiter nichts. In jener undeutlichen, krakeligen Schrift, die erst den wahren Gelehrten ausmacht. Ich wußte genug, ließ meine Roßschlächterei Roßschlächterei sein, packte das Nötigste zusammen und setzte mich auf [125] die Bahn. Antenkogel wohnte in Werneuchen – wie man dahin kommt, ist eine Sache für sich – und ich fuhr hin.

Sein Schlößchen, in dem er experimentierte, lag ein wenig außerhalb der Stadt – ein hübsches Villachen in einem jener Stile, von denen sich manche Leute ihr ganzes Leben lang ernähren. Ich verstehe nichts davon, aber es war ein hübsches Häuschen – ein kleiner, verschwiegener Fuchsbau im Grünen eines majestätisch rauschenden Parks. Die Hausdame ließ mich ablegen – Antenkogel war zur Zeit unverheiratet – und geleitete mich in das Empfangszimmer.

Da saß mein Freund Sylvius Antenkogel am Schreibtisch, dick und fett. »Sylvius!« rief ich. »Wie siehst du aus, Junge? Wo hast du dich so erholt?« Er grinste von einem Ohr bis zum anderen, was seinen feinen Zügen etwas mädchenhaft Schüchternes verlieh. »Ich habe etwas gefunden, Peter«, sagte er. »Ich habe etwas gefunden. Komm mit!« – Und ich kam.

Wir gingen durch die ganze Wohnung: durch das Wohnzimmer und das Skatzimmer und das Bridgezimmer und das Pokerzimmer, traten auf den Korridor und kletterten in den Keller. Hier pflegte Sylvius mit seinen Apparaten zu hantieren, tief unter der Erde – der Keller war ausgehöhlt und vertieft worden – und kein Mensch durfte ihn stören. Dröhnend fiel die schwere Tür ins Schloß.

»Peter!« sagte Antenkogel, »ich weiß, du bist ein Trottel.« – »Sylvius«, sagte ich, »du darfst nicht verallgemeinern. Manchmal freilich –.« – »Du bist ein Trottel«, sagte er fest. »Und doch will ich dir, weil du es bist, meine jüngste Erfindung vorführen. Es ist die statio temporis, die Zeitbremse. Kannst du dir vorstellen, was das ist?« – Ich konnte es nicht.

»Peter«, sagte er. »Hast du schon einmal in deinem verruchten Leben einen glücklichen Moment gehabt? Oder mehrere?« – Ich konnte es nicht leugnen und wurde rot. »Nein, nicht nur die«, sagte er. »Überhaupt–ist es dir noch nicht vorgekommen, daß du das Gefühl hattest: jetzt müßte die Zeit enden, Sonne, steh still im Tale Gibeon?« – »Ja«, sagte ich. – »Nun gut«, sagte er. »In diesem Zimmer, kann ich die Sonne, kann ich die Zeit still stehen lassen!«

Ich sah mich um. Wir waren in einem niedrigen, grau getünchten Gemach, nichts Auffälliges war darin zu entdecken. An der Wand hing eine Kuckucksuhr mit großen bleiernen Tannenzapfen als Gewichte. Antenkogel schloß eine Klappe in der Wand auf und machte sich daran zu schaffen. »Paß auf«, sagte er.

Und ich fühlte, wie mein Herzschlag zu stocken anfing und hörte, wie die Uhr langsamer tickte. Quälend und träge floß die Zeit dahin, schien es mir. »Wie fühlst – du – dich?« sagte Antenkogel – in endlosen Zeiträumen kamen die Worte aus seinem Munde. »Gut«, sagte ich schleppend. Und immer langsamer und langsamer kroch die Zeit daher und auf einmal: blieb sie stehen.

[126] Mein Herz blieb stehen. Jetzt war gar nichts, fühlte ich. Die Welt stand still. Das war die Ewigkeit. Der Kuckuck hatte wohl gerade eine volle Stunde ausrufen wollen, denn er steckte seinen kleinen Holzkopf zum Fensterchen hinaus und guckte in die Gegend. Er rief nicht. Niemand und nichts bewegte sich. Wir saßen wie die Wachsbilder, reglos stumm – Sylvius unbeweglich in seiner Ecke – und sahen uns an . . . Wie lange? Das kann ich eben nicht sagen. Es gab kein wie lange . . .

Aber dann gab es einen Klapp, der Kuckuck schrie mit beängstigender Schnelligkeit viele Male, die Uhr schnarrte, mein Herz pochte stürmisch, und Antenkogel tat, wie es mir schien, viele Dinge hintereinander mit unglaublicher Fixigkeit.

»So«, sagte er. »Jetzt sind wir wieder richtig. Wir haben der Zeit unseren Tribut gezollt, und waren wir erst etwas zurückgeblieben, so gehen wir nun wieder mit der übrigen Menschheit d'accord. Voilà!« – Und er verbeugte sich wie ein Zauberkünstler.

Ein Wunsch durchzuckte mich heiß. »Leih mir das Ding!« bat ich. »Leih mir die Maschine!« – Und er lieh sie mir.


Ich stürzte auf die Bahn. Die geheimnisvolle Maschine hatte ich in meine Reisetasche gepackt – da lag sie, mit dem Griff nach oben, und ich brauchte nur zu ziehen. Ah – würde ich ziehen!

Das Zügelchen der Kleinbahn fuhr ab, und ich dachte und spintisierte und träumte . . .

Ich würde an dem Griff ziehen, wenn ich wieder einmal wegen Vergehens gegen § 146 Absatz 2 der republikanischen Verordnung über den Handel mit Pferdefleisch angeklagt war, und stehe vor meinen Richtern: vor mir der Rechtsanwalt Rothspon, bekleidet mit einem koketten Seidenmützchen, und redend, wie einer redet, der ein anständiges Honorar bekommen hat–fassungslos, an allen Gliedern zitternd und gänzlich ermattet, sprechen die Richter mich frei. Ah – ist das ein schöner Moment! Den heißts auskosten. Ich werde am Griff ziehen.

Ich werde ziehen, wenn ich am Traualtar mit Adelgunden stehe, meine Frackbrust ist gestärkt, der Organist spielt eine schöne, fromme Weise, und der Prediger fügt unsere Hände zusammen, und seine Beffchen zittern leise. Und ich weiß noch nichts von den Regentropfen, die in eine junge Ehe fallen können, weiß noch nichts von einem Dienstmädchenkrach, einer angebrannten Mahlzeit und einem verheulten Frauenantlitz . . . Alles ist rosig, von jenem zarten, impertinenten Rosa, wie es kein zweites auf der Welt gibt . . . Diesen Augenblick werde ich bis ins Endlose verlängern . . . Ich werde ziehen.

Am Griff werde ich ziehen, wenn ich leicht angeschwipst zu Füßen meiner angebeteten Auguste sitze. Sie hält eine leere Sektflasche auf dem Schoß, deren Hals sie angelegentlich streichelt, ihre Augen glitzern, und sie erzählt phantastische Geschichten aus Amerika, die alle nicht [127] wahr, aber alle ungeheuer amüsant sind. Morgen ist ein grauer Arbeitstag . . . Heute! Heute! Ewig soll das Heute dauern! Ich werde ziehen.

Ich werde am Griff ziehen, wenn beim Roulette vor mir der Papiergeldhaufen groß und immer größer geworden ist, ein dickes, schmutziges Bündel Banknoten liegt aufgeschichtet da, und ich sitze dahinter und atme durch meine Nüstern voller Schadenfreude den Haß und die Angst und den nervenerregenden Kitzel ein, die da über dem grünen Tisch brodeln. Gewonnen habe ich, gewonnen –! Wer weiß, was die nächste Minute bringt! Lange – lange –! Ich werde am Griff ziehen.

Und ich werde ziehen, wenn Hulda, das Mädchen aus guter Familie . . .

Aber da wurde mein Gesicht lang und länger. Der Zug stuckerte über die letzten Weichen, wir waren kurz vor Berlin.

Werde ich ziehen? Werde ich wirklich ziehen? Hat es einen Wert, die Zeit anzuhalten? Ist es nicht viel, viel schöner, die Zeit auskosten zu müssen, hastig, gierig, schlürfend – weil man Angst hat, daß sie zerrinnt und verfliegt? Besteht nicht darin der Wert aller großen und kleinen Freuden, daß sie vergänglich sind? Vergänglich die paar glücklichen Wochen in dem kleinen Försterhaus und vergänglich ein Vierundzwanzigstundenglück? Würde ich wirklich ziehen?

Und da hielt der Zug, und ich packte mit entschlossenem Griff meine Reisetasche mit der Zeitbremse, sah noch einmal lange auf das qualmende und neblige Berlin – und fuhr zurück – nach Werneuchen.

Ich gab die Zeitbremse ab und habe sie nie wiedergesehen.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1919. Die Zeitbremse. Die Zeitbremse. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5EF4-B