[151] Ouvertüre

Das Haus hatte sich verdunkelt. Lautlose Stille; bis in die entferntesten Winkel hörte man das Anschlagen des Kapellmeisterstabes. Nun setzten die Geigen ein – vierstimmig schleuderten sie übermütig die lustige Anfangsfanfare in den Saal. Lang hielten sie sie aus; dann kam das Fagott und streifte schelmisch undeutlich, als wüßte es nicht, wie man ihn tanzen könnte, den Walzer. Ein Kranz von Tönen löste ihn ab: alle aber hatten die süße Heiterkeit und die große Kraft. Die Hörer saßen unruhig auf ihren Sitzen; freudig dachten sie an die berühmten Anfangsworte:

»Ein Mädchen, sagst du, Pietro? Ei! Ein Mädchen.«

Alle wußten was kommen würde, kannten dieses süße Spiel der bologneser Liebesgeschichte, die die beiden Paare kreuzweis einander zuführt, umspielt von lustigen Tölpeleien der Zwillinge. Jetzt brachten die Trompeten, übertrieben schmetternd, den Trauermarsch des lebenden Toten – die Hörer schmunzelten, die Kanäle und die engen Brücken, die der Zug mit der schwankenden Bahre passieren mußte, tauchten auf – Pietro, die Signora Eliza Miquaela – alle, alle – und die Melodie sang, während drunten die Celli im Baß wie ein bewegtes Meer den Grundton des Taktes hielten . . .

Und dann geschah das, was bei der Ouvertüre dieses göttlichen Lustspiels immer geschieht: ich meine jene berühmte Stelle, die mit dem zweigestrichenen C in den Violinen beginnt und erst endigt, wenn die ersten Takte der einzigen Walzermelodie ertönen. Diese Passage hat von jeher eine eigentümliche Wirkung gehabt: die Hörer, schon ein wenig angespannt durch soviel Lustigkeit, sind erstaunt durch den plötzlichen Umschwung, die klagenden Läufe stimmen sie ernst, versetzen sie in unangenehme Lethargie, und ihre Gedanken springen ein wenig ab, weilen fern von dem Spiel . . . Es ist nicht anders zu erklären, als daß der Komponist hier sozusagen spintisiert hat und diese Neigung die Hörer eben dazu verleitet.

Der junge Mann saß oben im zweiten Rang und starrte benommen auf den matt erleuchteten Vorhang: die Stelle kam, augenblicks ließ er seine Gedanken Spazierengehen, der Komponist hatte befohlen. Wirre Einfälle und Bilder kamen: die Bar von neulich Nacht . . . Zwei hatten getanzt: sie in rotem Kleid, eine Französin mit habgieriger Männernase – sie hatten getanzt, wie es sonst eigentlich nur in den verbotenen Büchern geschieht – geil, rasend, wollustgeschwängert das Weib; ruhig, ernst, der Mann. Das Monocle im Auge, tanzte sie, indem sie sich an ihn heranwarf – mit dem Ausdrucke der letzten Lust im Gesicht: sie fühlte, fühlte – ihr ganzes Sein war Tastsinn. Einmal blieben sie stehen: sie bewegte sich ein wenig, fast unmerklich, und hatte doch damit instinktiv-genial die Marionette der Lust dargestellt – und dieses einzige [151] Mal hatte er mit einer Kopfbewegung ein merkwürdiges Laster angedeutet: er hatte sich ein wenig über ihre Schulter in ihre Achsel hineingebeugt . . . Mit geschlossenen Augen . . . ihre spitze Zunge berührte seine Lider . . .

Das Bild kam blitzschnell, mit unerhörter Intensität – zugleich auch jenes, das sie zu Dritt tanzen ließ: die Dritte war eine rundliche Person – sie schwamm zwischen den beiden – man mußte glauben, von zwei Seiten kam ihr der Kitzel . . .

Und wieder – noch dauerte jene Stelle an – kam ihm die schmerzliche Sucht, all diese Lust in sich zu fassen . . . alle, alle –

Aber der Besitz befriedigte ja nicht: was nützte ihm die rundliche Cacotte, was nützte, was konnten die jungen Dinger helfen, die er beneidete? Nicht die Männer beneidete er, nicht Körper wollte er besitzen: jenes Letzte, Dritte wollte er in sich schlürfen, das, was auf obszönen japanischen Bildern die ineinandergekrampften Paare sanft die Augen schließen ließ – über ihnen schwebte . . . An den Sommerabenden war es am schlimmsten: heiße junge Mädchen mit ihren Liebsten, die begatteten sich mit den Blicken, alle waren erhitzt, aufgeregt: und er kam sich keineswegs zurückgesetzt, verlassen vor – aber er beneidete sie um ihre Zusammengehörigkeit, um ihre Vertrautheit . . . Wie sie im Gleichtakt lebten! Mit welch ungeheurer Selbstverständlichkeit die Mädchen Lust verursachten, Lust genossen. Nach außen hin verschlossen, öffneten sie sich ohne Scham dem Geliebten, gaben sich ganz, elementar wie eine Naturkraft . . . Beneidete er sie um dies? Um was? Um . . . um . . .

Schwingend, in hohen Akkorden, kam der Walzer.

Um nichts! Er besaß mehr als sie, mehr als alle, die ihre jungen Puten durch einen lauen Sommerabend und einige heißgeflüsterte Dummheiten ganz ausschöpfen konnten. Diese war nicht auszuschöpfen. Bis zu der Grenze besaß er sie: dann kam das Unergründliche, das Letzte.

Der Walzer tönte jetzt voll, laut und sieghaft wirbelnd.

Sie war ein Mann, beinah ein Mann.

Dies wundervolle ›Beinah‹ nahm ihm den Atem – Glück! Glück!

Die Ouvertüre verhallte. Piano brummelte noch ein Baß das Anfangsthema.

Alle saßen gespannt. Der Vorhang bewegte sich leise.

Er aber fühlte, daß sie eine Einzige war.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1913. Ouvertüre. Ouvertüre. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5F20-E