Theater

Szenen aus einer Revue von Alfred Polgar und Theobald Tiger

Die Bühne stellt die Stube des kleinen Mannes dar, in der aus Stühlen, Bänken, Kisten und anderen Sitzgelegenheiten eine Art Zuschauerraum gebaut wurde. Hinten ein Fenster, mit Vorhang abgeschlossen, der wie ein Theatervorhang bemalt ist. Davor Lichter, in der Art von Rampenlichtern. Die ganze Familie ist als Theaterpersonal beschäftigt. Der Vater als Sitzanweiser, die Mutter sitzt an der Kasse, die Tochter verkauft Programme, der Sohn Schokolade und Eis, ein anderer Sohn sitzt am Klavier.


Mutter: Wir haben nur noch ein paar Sitze in der dritten Reihe, Papa.

Vater: Die Freikarten für die Presse schneiden uns ins Fleisch.

Tochter: Kommt Ihering?

Sohn: Die Redaktion hat angefragt, ob die Vorführungen neue, dynamische Ausdrucksmöglichkeiten haben und die Polarität des Zeitgeschehens sich in ihnen anständig emaniert.

Vater: Was hast du geantwortet?

Sohn: Ich habe geantwortet: Nein.

Tochter (traurig): Dann kommt er nicht.

(Es erscheinen die ersten Gäste, werden vom Vater placiert.)
Der Sohn (durch die Reihen): Limonade, Eskimo-Eis, belegte Brötchen!
Die Tochter (ebenso): Programme, Zettel!
Ein Herr von der Presse kommt.

Direktor: Oh, Herr Doktor – –

Der Herr von der Presse: Warum schicken Sie keinen Ecksitz? Ein Kritiker muß einen Ecksitz haben, damit er jeden Augenblick weggehen kann. Versprechen Sie sich viel von dem neuen Stück?

Vater (lachend): Ich kenne es ja selbst noch nicht, Herr Doktor. Ja, natürlich.

Kritiker: Aber es ist doch heute bestimmt Premiere?

Vater: Bestimmt, wie jeden Samstag. Jeden Samstag wechselt die Dame vis à vis die Liebhaber. Nach den Vorbereitungen in der Wohnung drüben zu schließen, wird es eine sehr interessante Vorstellung. Das Kanapee ist frisch überzogen worden, und die Mutterrolle ist neu besetzt.

2. Kritiker (kommt): Guten Abend, Herr Kollege (Begrüßung).

1. Kritiker: Nicht bei der Premiere im Deutschen Theater heute?

2. Kritiker: Nein, Theater der Fiktionen ödet mich an. Hier ist die wahre, neue Sachlichkeit. Hier ist der Durchbruch des Theaters in die Realität.

[427] 1. Kritiker: Ein geschickter Mann, der Direktor!

2. Kritiker: Blendender Einfall, den Umstand, daß man von der Wohnung hier in das Zimmer der Kokotte vis à vis hinübersieht, theatergeschäftlich auszuwerten. Gar keine Regie. Die Familie macht allein den ganzen Betrieb, und die Darsteller kosten gar nichts. Sind Schauspieler, ohne es zu wissen.

1. Kritiker: Wie wir alle . . . Bitte, mein Gedanke. Werde ich in meinem Referat tiefer ausführen (er macht sich Notizen).

Ein Amerikaner (kommt): Please, the Festspiele sein here?

Tochter: Yes, Sir!

Amerikaner: At what o'clock do you begin?

Vater: Das überlassen wir ganz den Schauspielern, wann sie wollen. Auch die Dauer der Vorstellung.

Amerikaner: Oh, you are really a pleasant manager!

Liebespaar im Zuschauerraum.

Der Mann (liest vom Theaterzettel): Heute: ›Die Liebhaber der Dame von vis á vis. Eine Studie nach dem Leben.‹ Das kann fein werden!

Die Frau: Wird das sehr unsittlich sein?

Der Mann: Hoffentlich.

Die Frau: Aber die Kunst soll doch den Menschen reinigen und ihn stärken für den Alltag, sagt Lessing.

Der Mann: Wenn ich das will, geh ich ins Dampfbad.

Der Sohn: Limonade, Eskimo-Eis, belegte Brötchen!

(Ehepaar kommt.)

Sie: Gott sei Dank, es hat noch nicht angefangen.

Er: Ein Wunder, daß ich einmal einen ersten Akt seh!

Vater: Orchester, zweite Reihe . . . hier, bitte.

Der 1. Kritiker: Jawohl, hier ist Theater, projiziert auf das Leben.

Der zweite: Und umgekehrt.

Der erste: Wieso umgekehrt? (Sie sprechen weiter.)

Der Besucher (den der Fremdenführer hergeschickt hat): Man soll hier prachtvolle Schweinereien zu sehen kriegen.

Vater: Das kommt ganz auf Sie an, wie Sies auffassen.

Der Besucher: Dann ist schon gut.


Der Polizeimensch kommt. Begrüßung: »Oh, Herr Polizeikommissar!«

Der Sohn mit den Bäckereien gibt ihm auf einen Wink des Vaters ein paar belegte Brötchen. Da der Kommissar Miene macht, zu zahlen:

Vater (ablehnend): O bitte, Zensur-Exemplar!
Der 1. Kritiker (im Gespräch mit dem zweiten): Glänzender Einfall.
Der 2. Kritiker: Das hätte uns einfallen müssen.
Der 1. Kritiker: Es wird uns schon noch einfallen.
Der 2. Kritiker: Man sagt ohnehin, daß die Idee von Ihnen ist.
Der 1. Kritiker: Noch nicht.
[428] Der Vater: Die Damen werden gebeten, die Hüte abzunehmen!

(Ein Klingelzeichen. Rufe: Pst! Ruhe! Setzen! Es wird dunkel.)

Stimme des Vaters aus dem Dunkel . . . : Meine Damen und Herren! Wenn der Vorhang hochgeht, sehen Sie in die gegenüberliegende Wohnung, in dieser Wohnung wohnt eine Dame, die jeden Abend um diese Stunde ihre Liebhaber empfängt. Ich habe die Sache in drei Akte eingeteilt, wenn der Vorhang hochgeht, sieht man grade in das Boudoir der Dame . . .

(Wieder Klingelzeichen. Das Klavier beginnt.)
Der Vorhang am Fenster geht auf, der Vorhang des Theaters schließt sich.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Theater. Theater. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5FA0-0