Abreißkalender

8. Dezember

Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun.

Griesgrütze

Falscher Hase

Gedämpftes Apfelkompott


Es gibt in Deutschland eine ganze Reihe gebildeter Abreißkalender – wenn nichts Besonderes dabeisteht, sind sie deutsch-national und fälschen Geschichte und Geographie, um das Andenken des Rentenempfängers in Doorn hochzuhalten. Also davon wollen wir nicht reden. Es gibt doch auch andres.

Der Verlag Carl Hoym in Hamburg hat für das Jahr 1926 einen Arbeiterkalender herausgebracht, der als eine Illustrierung unsrer alten Forderung gelten darf: hier haben wir die Tendenzfotografie in ihrer höchsten Vollkommenheit, Als ich hier neulich davon sprach, daß die Fotografie eine gefährliche Waffe im politischen Kampf sein könnte, [283] wenn man sie nur benutzen wollte, griff die nationalistische Provinzpresse das auf, und von Bogenhausen bis Palmnicken ergoß sich ein Strom von Talentlosigkeit in unser Ausschnittbüro. »Man sollte Herrn Wrobel und Ludendorff neben einander fotografieren – da wollen wir einmal sehen, wer besser abschneidet!« Gut gegeben. »Die vergiftende Waffe, die hier von dem berüchtigten Ignaz Wrobel vorgeschlagen wird . . . « Oh, diese Dackel . . . ! Kurz: ›Fliegende Blätter‹. Von mir gefordert war: die Verwendung der Fotografie, wenn möglich unretuschiert – die Tendenz nur in der Auswahl der Bilder und in der Unterschrift. Hier ist die Erfüllung.

Der Kalender enthält in klarem Druck auf schönem Papier:

Auf der Rückseite jedes Blattes gut ausgewählte Stellen aus der politischen Literatur; Abdrucke von Zeitungsausschnitten; Blamagen der Gegner; Mahnungen, Rufe, Erinnerungen – sehr schätzenswerte und notwendige Erinnerungen. Auf der Vorderseite das deutliche Datum, kommunistische Gedenkdaten und eben das, weswegen er hier angezeigt werden soll: auf jedem Blatt ein Bild.

Es sind in den meisten Fällen Fotografien, die da abgebildet sind – und soweit ichs beurteilen kann, ist keine einzige retuschiert. Es sind also keine fotografischen Scherze, die man gemacht hat – gegen die freilich nichts einzuwenden wäre –, sondern es ist das Abbild der Wirklichkeit hergenommen, eine kurze, schlagende Unterschrift besagt: »Seht, so war das!« – und nun sehen die Leser;

»15. Januar, Freitag. ›Karl Liebknecht nach seiner Einlieferung als Unbekannter im Leichenschauhaus.‹« Auf der Holzpritsche liegt der Erschlagene – mit nacktem Oberkörper, die Augen sind schon zugedrückt. Ich weiß noch alles: die begeisterten Straßengespräche der Bürgerlichen, als der ›Kerl‹ endlich ›erledigt‹ war, die Komödie von Gerichtsverhandlung, wo sechs Offiziere der allerübelsten Prägung teils logen, teils sich brüsteten, und es waren Söhne guter Familien darunter – haben Sie sich noch ein kleines Andenken an den Fez aufbewahrt, Herr Liebmann? Ja, da liegt er also – und für Freitag, den 15. Januar, wird die Erinnerung wohl reichen.

Politische Hiebe folgen. Eine Fotografie der Nationalversammlung ist mit der erledigenden Unterschrift versehen: ›Am Grabe der ersten deutschen Revolution.‹ ›Ruhe und Ordnung herrscht wieder in Berlin‹ – und man sieht sie herrschen. ›Im Stechschritt durch die deutsche Republik‹ – nun, man weiß, wem diese Beine und wem diese Gesichtskopien gehören . . . Bilder aus dem Proletarierleben folgen: Elendsszenen, mit einer Schärfe fotografiert, die nur noch von der Schärfe der Texte überboten wird. ›Proletarisches Feierstündchen‹ – aber diese Bitterkeit ist gerecht, kommt aus brennendem Herzen, bleibt haften.

Sehr schöne Bilder aus Rußland wechseln mit den Porträts der russischen Revolutionsführer, es sind Aufnahmen dabei, die man sicherlich [284] nicht wegwerfen wird; wenige, aber schlagende Karikaturen, Greuelbilder aus den politischen Kämpfen unsrer Zeit, Gehenkte und Zerstückelte, Rebellen fremder Länder – und fast hätte ich unsern Entlaufenen vergessen: den reich dotierten Imperator Rex. Was dieser Kalender gegen Wilhelm unternommen hat, gehört zu dem Stärksten seiner Art und steht sogar noch über dem Zivilbild des Kaisers in Emil Ludwigs Buch; ja, es läßt sich auch neben dem Wagenbild sehen, wo Eduard der Siebente den feixenden Feldwebel dick und peinlich berührt von der Seite anblickt. Der Kalender hat weiter nichts getan, als den Kaiser bei einem Manöver fotografiert – da steht dieses Stück Unglück, hält den Arm in die Höhe und grinst. »30. März, Dienstag. Jetzt wollen wir sie dreschen. Wilhelm beim Kaiser-Manöver.« Neben ihm ein fetter Junge, als Kürassier angezogen, der strahlt über sein ganzes deutsches Sektgesicht. Und ER . . . ! Es ist der ganze Mann: die große Geste, die Hohlheit, die Schwäche, der kleine Oberleutnant, der hinter allem Gerassel stak – das Bild erklärt Niederlage, Flucht und nachfolgende Rente.

Zwischendurch bekommt die Republik, wie sie geworden ist, eins aufs Dach. Dazu ist vielleicht etwas zu sagen.

Es findet sich in diesem Kalender das Äußerste an Hohn und Spott, an Wut und Empörung gegen Fritz Ebert, in Bild und Wort. Der Mann ist tot, und wenn man die sentimentale Saite im Deutschen anschlägt – »Mutter!« und »De mortuis nil . . . « –, so kann man seines Erfolges ziemlich sicher sein. Der Mann wird in diesem Kalender als Verräter an seiner Klasse gezeichnet – und hier wird vielleicht der Republikaner stocken. Er sollte das nicht tun.

Die persönliche Rechtlichkeit des ersten Präsidenten steht hier nicht zur Diskussion – sie ist kein Verdienst, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber heute allen Ernstes versucht wird, diesen mittelbegabten Funktionär, der seine eigne Stunde, aber niemals die des Reiches begriff, neben Bismarck zu stellen – so muß man doch wohl den übereifrigen Demokraten, die dergleichen aus tiefer Brust herausrollen, raten, sich Beffchen umzubinden, damit sie sich nicht bepredigen. Die Herren, die im Prozeß Cossmann für Ebert aussagen wollten, haben ihn vernichtend belastet. Richtig ist, daß die Soldatenräte nicht allzu viel laugten; daß da ein Chaos geherrscht hat; daß schlechte Elemente unter den Aufrührern wider Willen und ohne Willen dabei waren. Aber vom Mittag des 9. November an Angst vor dem Bolschewismus haben; Auswüchse einer Revolution verhindern wollen, die überhaupt noch nicht da war; nach rechts und immer nur nach rechts sehen; mit Hilfe der übelsten Erscheinungen des Militärs eine Heeresmacht wiederaufrichten, die die Pest dieses Landes gewesen ist: das ist Verrat an der Arbeiterklasse und an der Idee der Revolution. Und Fritz Ebert durfte das nicht, er hatte nicht das Recht, so zu handeln, denn er war ein Beauftragter, [285] ein vom Volk Beauftragter. Vielleicht war das seine persönliche Politik . . . Es waren aber die Arbeiter, die ihn zum Vorsitzenden gemacht hatten, die Arbeiter, die ihre Knochen im Krieg zu Markte getragen hatten, während er in Stabsquartieren den artigen Sozialdemokraten machte, die Arbeiter, die reinen Tisch haben wollten. Diesen Willen hat er verfälscht, aufgefangen und abgeleitet. Er ist schuldig.

Und weil die Genossen, die er sich ausgesucht hat, noch schlimmer waren, weil in diesen Jahren die anständige Opposition der Sozialdemokratischen Partei nie zu Worte gekommen ist, durch Geschäftsordnungsmanöver geknebelt, an ihrer schwachen Stelle, an der falsch verstandenen Disziplin gepackt: deshalb ist auch Ebert und sein Regime schuld an den Arbeitermorden, die er verschwiegen und Herr Noske vergessen hat, an diesem Richtertum, an der feigen Personalpolitik in den Ämtern – an dieser Republik.

›Reichsbanner! Zurück zur Klassenfront!‹ heißt eine eindrucksvolle Fotografie des Kalenders. Man sollte sich auch hier besinnen, und ich hoffe, daß man nachdenkt. Der Weg, den die Sozialdemokratische Partei gegangen ist, sie, die heute noch nicht weiß, wie man ihr das Fell gegerbt hat, noch in der tiefsten Niederlage stolz auf eine Charakterlosigkeit, die sie Taktik getauft hat – der Weg ist glatt, bequem, verlockend. Der Reichsbanner sollte ihn nicht auch noch gehen.

Der Kalender aber ist ein Zeugnis und ein Dokument. Ein Zeugnis für eine Partei, die trotz der allerelendesten Führung eine immanente Kraft besitzen muß, größer als die Sturheit ihrer Bezirksfeldwebel. Ein Dokument unsrer Zeit – unsrer Kämpfe, dessen, was uns angeht.

Haben das die andern nicht –? Doch. Warum wirkts da nicht –? Weil es so aussieht:

»Das Jahrbuch Kinderland, der bekannte und beliebte Kalender für die Buben und Mädels des Proletariats, ist für das Jahr 1926 erschienen. Text und Bild, von denen unsre Streubilder eine Probe geben, fesseln und agitieren in dezenter Weise für die sozialistische Ideenwelt.« 1789 –? Moskau –? Viel zu indezent!

Die Vollbärte, die da noch aus der friedrichshagener Zeit Wilhelm Bölsches übrig geblieben sind und zu ihrem wenigen nichts dazu gelernt haben – sie lähmen die Sozialdemokratische Partei, sie stecken die Jungen an, und vierzigjährige Redakteure und Funktionäre sind an Verkalktheit und Parteitrott kaum noch von den Hundertdreißigjährigen zu unterscheiden. Man hat sie aus allen Stellungen herausgeworfen; wird schon mal einer Landrat, dann verwaltet er, wie Ebert, sein Amt ›selbstverständlich nicht nach parteipolitischen Grundsätzen‹, worauf man sich zu fragen hat, weshalb er denn eigentlich die Macht erstrebt, wenn er sie doch nicht anzuwenden gewillt ist; vor Gericht werden sie behandelt wie die Stiefelputzer; die Reichswehr geht mit den sächsischen und thüringischen Genossen um, wie eben die Reichswehr mit Sozialdemokraten [286] umgeht; sie taumeln von Niederlage zu Niederlage, nichts erreicht, nichts gewonnen, alles verloren . . . Aber dezent.

Man berufe eine Redaktionskonferenz von Durchschnittsrepublikanern, von kindlich ehrgeizigen Kongreß-Pazifisten, von sozialdemokratischen Partei-Redakteuren (Ausnahme: Frankfurt am Main, Leipzig und noch ein paar Orte) – und lege diesem Gremium diesen Kalender vor: jedes Mitglied würde drei Stunden über jedes Blatt sprechen und haarscharf beweisen, warum ›das nicht geht‹. Hier ist es gegangen.


Wer einen solchen Abreißkalender herausgeben kann, so frisch, so neu, so spritzig-jung, so kämpferischen Geistes und der Unbedenklichkeit voll – der zeigt, daß er lebt.

Wenn die KPD nun noch Führer hätte, dann könnte jeder Tag von den 365 ein Gedenktag fürs nächste Jahr werden.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1925. Abreißkalender. Abreißkalender. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5FBF-E