Der Geist von 1914

Die Woge von Betrunkenheit, die heute vor zehn Jahren durchs Land ging, hat eine Schar Verkaterter hinterlassen, die kein andres Mittel gegen ihren Katzenjammer kennen, als sich noch einmal zu betrinken. Sie haben nichts gelernt.

Der geistige Grundgehalt, auf dem Deutschland heute noch steht, entspricht etwa dem der Gründerjahre. Seitdem ist kein geistiges Massenerlebnis über das Land hinweggegangen, denn der Krieg war keines. Er hat Körper zu Kadavern gemacht – die Geister hat er völlig unberührt gelassen. 1879 – 1914 – 1924: die Jahre unterscheiden sich nur durch ihre Terminologie. 1914 ist die logische Folge der Gründerjahre, und seitdem hat sich nichts geändert.


Als nach dem gewonnenen Kriege von 1870 die Industrialisierung Alt-Preußens einsetzte, glaubte sich der Feudalismus durch die Kaufleute bedroht. Er war aber der Stärkere, und es begab sich das eigentümliche Schauspiel, daß sich die Industrie feudalisierte. Es entstanden keine Ackerbaugenossenschaften m. b. H., sondern Kohlenbarone. Man verständigte sich sehr rasch. Bürgertum und aufstrebende, niemals ganz proletarisierte Arbeiterschaft drängten zur Expansion. Den Krieg ausdrücklich und planmäßig gewollt hat keiner – seine Möglichkeit stumm geduldet jeder. Eine ethische Gegenströmung hat nicht bestanden; die Sozialdemokraten, die das Sozialistengesetz nicht mehr erlebt hatten, waren niemals konsequente Pazifisten und viel zu treue Staatsbürger, um die Verweigerung der Wehrpflicht aus Gewissensgründen auch nur in Gedanken zu wagen. Sie nannten bürgerliche Ideologie und fehlerhafte Einzelhandlung, was ihnen in ihrer maßlosen Feigheit Magenbeschwerden verursachte. In diesem Punkt war die Nation einig – brillant erzogen, gedrillt und geschliffen schlidderte sie in den Krieg.

Ein Deutscher, der vor dem Kriege in Frankreich ansässig war und im August 1914 die Grenze überquerte, hat mir geschildert, wie die Kriegsstimmung jenseits und diesseits des Rheins aussah. »Sie besinnen sich«, sagte er, »auf diese merkwürdig heißen, drückend schwülen Julitage. Die Luft lastete, Staub wirbelte allerorten auf, ohne daß das erlösende Gewitter kam. Es war, als ob einer den Atem anhielte. Dann grollte es. Durch Frankreich ging ein stummer Schrei. Keiner wollte es glauben.« Die Leute hätten sich wie erstarrt angesehen, fuhr [426] er fort – es kann ja nicht sein, es kann nicht sein, stand in den Gesichtern. Totenstill ging eine Nation ans Sterben. Dies war der Eindruck der allerersten Tage. Es ist selbstverständlich, daß, als der Apparat einsetzte, Spionenhetze, Tobsuchtsanfälle und Staatskoller genau so ausbrachen wie bei uns. Aber die Franzosen sagen das heute! Solange das Volk sprach, der kleine Mann, der einzelne, solange die große Kollektivität noch nicht richtig funktionierte – so lange sprach die Stimme der Menschlichkeit. Und dann kam der Erzähler über den Rhein. »Mir blieb der Verstand stehen. Ich glaubte, ich sei auf ein Schützenfest geraten. Glockenläuten, Girlanden, Freibier, Juhu und Hurra – ein großer Rummelplatz war meine Heimat, und von dem Krieg, in den sie da ging, hatte sie nicht die leiseste Vorstellung.« Krieg ist, wenn die andern sterben. Helden – es waren nicht einmal Helden in dem Augenblick. Es waren die armen und rohen Geneppten einer Bauernkirchweih. Und dann ging es los.

Und seit diesem Tage ist es so geblieben. Was damals gut genannt wurde, heißt heute noch gut; wer damals ein von der Entente bezahlter Verräter hieß, ist es heute noch, weil er – in keine Sprache der Welt übersetzbar – »zum Frieden gehetzt hat«. Die Kohlrüben und Versailles, die Brotkarte und die Ruhr haben praktische Möglichkeiten zerstört – in den Köpfen ist es nicht lichter geworden.

Es kann ja auch nicht anders sein: denn es gibt keine fünfundzwanzigjährige Regierung, die einem Volk nicht adäquat wäre; auf so lange Zeit ist jede Regierung schließlich der wahre Ausdruck ihres Landes. Der Psychopath von Doorn war kein Tyrann. (Seine Lautheit war Schwäche – er war unsicher.) Er war durchaus ihr Kaiser, ein wahrer Volksfürst, nicht übermäßig beliebt, aber genau der Extrakt seiner herrschenden Klassen. Daß es nicht etwa die Dynastien waren, die das arme Volk bedrückten, geht aus der immer noch bestehenden kindlichen Kleinstaaterei hervor; nicht die kleinen Fürsten von Greiz-Schleiz-Reiz haben da geherrscht, sondern die lokalen Eitelkeiten. Eine Versammlung sämtlicher Ministerpräsidenten der deutschen Länder – man überlege sich einmal, was dieses Dorfschulzentum für Geld kostet, und daß ein Ort wie Hamburg wahr und wahrhaftig einen Gesandten in Berlin hat . . . Ich glaube, man nennt das Stammeseigenart, ohne die man nicht regieren kann.

Es gibt keinen deutschen Staatsmann, der von der Denkart der alten Monarchie je ganz abgerückt wäre. Es gibt kaum einen deutschen Hochschullehrer von Format, der seinen Schülern jemals zu sagen gewagt hätte: Jeder Krieg ist ein Verbrechen, dieser war ein doppeltes – am Land und am Geist. Es gibt keinen deutschen Kirchenmann, der seine Mithilfe an diesem Morden versagt hätte. Und es gibt außer Leonhard Nelson keinen deutschen Philosophen, der die geistigen Grundlagen, grade das, was seit 1870 fast unbestritten gepredigt [427] wird, mit den Mitteln des Geistes angegriffen hätte. Sie bejahen es fast alle.

Die Arbeiterschaft hatte ihren Marx. Oder vielmehr: sie hatte Leute angestellt, die ihn gelesen haben mußten. Im übrigen paukte sie ihre Lohnkämpfe aus. Das bis zur Erschlaffung wiederholte Geplapper von der Präponderanz der Wirtschaft ließ vergessen, daß die Dinge auf der Welt eben nicht allein vom Ökonomischen ausgehen; und so wichtig und nötig es auch ist, den faulen Sprüchen einer Kaste, die nur verdienen will, immer wieder entgegenzuhalten, daß Lebensgefühl und Lebensbild sich zum allergrößten Teil nach dem Lebensstandard richten, so kümmerten sich doch die neuem Sozialisten einen Schmarrn um den kleinen Rest, um die winzige, so oft den Ausschlag gebende Summe von Imponderabilien. Manche hatten eine Seele, alle hatten ein Mitgliedsbuch, und Charakter hatte am 4. August 1914 keiner.

Viel wichtiger war das Bürgertum. Hier ist die Sterilität der letzten fünfzig Jahre ganz augenscheinlich. In dem, was praktisch geschieht, ist alles gleich geblieben – nur die wirtschaftlichen Formen haben sich verändert. Ich sehe ab von den Gedankenspielen der Pseudophilosophen, Schriftsteller, Lyriker und der andern Clowns, die man sich zum Zeitvertreib für den Nachtisch hielt. Da war alles möglich: von der Abschaffung des lieben Gottes bis – sogar – zur Steuerreform. Aber im grellen Licht des Zehnstundentages sah das anders aus – mit dem wirklichen Leben hatten diese Kunststücke gar nichts zu tun. Versuchte einmal ein Schwärmer, über die weiße Schnur ins Reale zu schlagen, dann sperrte man ihn ein. Darin bestand eine schöne Einhelligkeit.

Im Krieg kroch mancherlei ans Licht. Es gab brave Liberale, die so etwas wie eine, entschuldigen Sie, Opposition machten, sehr leise, sehr taktvoll, sehr abstrakt. Es gab Ängstliche und Leute, die nicht sterben wollten, es gab alles Mögliche. Es gab auch Pazifisten. Und es gab auch die einzige Rosa Luxemburg.

Nach dem Waffenstillstand, den die Mittelparteien in ihrer unendlichen Torheit selber unterzeichneten – drüben Foch, bei uns Erzberger –, kam die grauenhafte Angst um das Portemonnaie. Und da war alles aus.

Die gradezu kindische Furcht vor einem Bolschewismus, der in Deutschland niemals von Dauer gewesen wäre, ja, der bei uns gar keine geistige Vorbereitung hatte, also in einem zivilisatorisch so vorgebildeten Lande gar nicht Platz greifen konnte – diese Angst war zuletzt der tiefste Ausdruck von der Unwandelbarkeit der alten Gesinnung. Es war der alte Geist von 1914. Und der hatte seine festen Grundsätze, die 1875 gegolten hatten, die im Kriege galten, und die heute noch genau so gelten. Diese Grundsätze sind unter andern:

Man braucht nichts zu sein – man muß etwas werden. Der Vorgesetzte [428] hat immer recht. Wenn du Geld verdienst, such dir gleichzeitig eine Philosophie dazu, die dir ›recht‹ gibt. Du brauchst dir nie vorzustellen, wie dem andern zu Mute ist; tu so, als ob du allein auf der Welt wärest. Es ist alles nicht so schlimm. Herrschaft verleiht Rechte, nicht Pflichten.

Man kann diesen Katechismus beliebig erweitern; es war der grauenhafte Typus des ›Untertans‹, dieses sadistisch-masochistischen Kommis im Stahlhelm, ein trauriges Produkt der letzten Zivilisationsjahre, versehen mit einem ganzen Vokabularium mittelalterlicher Begriffe. Karl Kraus ist wohl der erste gewesen, der auf diesen kompakten Widersinn aufmerksam gemacht hat: »Seitdem man dem Kaufmann eine Hellebarde in die Hand gedrückt hat, wissen wir endlich, wie ein Held aussieht.« Die Lieferanten machten Geschäfte; für die Poesie waren Wagner und Wilhelm der Zweite da.

An diesem Geist hat sich nichts geändert.

Der Ausflug ins Romantisch-Völkische scheint beendet; jeder Tag, der verstreicht, tut den Leuten Abbruch, weil ja nichts geschieht, und weil das tödliche Netz der Börsen den Zauberwald grau umspinnt. Was nun heraufkommt, ist viel gefährlicher. Es ist die gänzlich unromantische Form des kaufmännischen Deutschen.

Der Raffke-Typus ist dahin. Es hat ihn so nie gegeben: die harmlose Bilderbuchfigur, die den Zorn der Straße auf etwas ablenkte, was nicht existiert hat, ist eine ausgezeichnete Erfindung. Der wirkliche sah ganz anders aus. Das war ein Kerl aus Fleisch und Blut: stramm, schwer, nicht einmal ganz unelegant in seiner Art, morgens mit der Frisierhaube auf dem Kopf; einer guten Autofahrt, einem guten Tropfen und – in den ersten Anfängen schon – einem unterhaltsamen Buch gar nicht einmal abgeneigt. Fremdwörter verwechseln –? Die Begriffe saßen fest, und das genügte. Sie hießen: Ja sagen, Erfolg haben, skrupelloser, brutaler, fixer und gewitzter sein als der andre – und möglichst all das auf dessen Kosten. Er machte sich.

Diese Burschen sind sämtlich gut national. Bis tief hinein in die jüdischen Kreise (von denen ein Teil heute noch deutschnational wählte, wäre diese Partei nicht so dumm, in Antisemitismus zu machen) – bis tief hinein in die Kaufmannskreise herrscht diese Gesinnung vor. Geschäfte machen, ein bißchen Steuern zahlen; den Staat pro forma anerkennen, man kann ihn brauchen. Im übrigen heißt national eine Gruppenroheit, die alles Dagewesene übertrifft. Erzberger ermordet hätten nicht viele: die Mörder verborgen jeder. Daß diese Mörder nicht vor ein deutsches Gericht gekommen sind, ist gut: so ist uns eine neue Schändung des Namens Fechenbach erspart geblieben.

Und so sieht also dieses Deutschland aus seinen kurzsichtigen Augen durch Brillengläser in die Welt:

»Wir haben den Krieg nicht verloren – ihr habt ihn bloß gewonnen. [429] Besiegt ist niemand, am allerwenigsten wir. Wir haben die Gnade, mit euch wieder Geschäfte machen zu wollen – wenns sein muß, kriechen wir euch auch ein bißchen nach, aber nicht sehr. Ihr müßt natürlich verstehen, daß es aus ›taktischen Erwägungen‹ nötig und nützlich ist, daß wir bei jeder Denkmalseinweihung das gesamte Ausland maßlos beschimpfen – zum Teil glauben wir auch selbst daran. Auf den Konten sind wir international. Unsre Worte nach innen sind wahr und unwahr, ganz, wie wir das gebrauchen können. Wir sind übrigens der Mittelpunkt der Erde!«

Und dann wundern sie sich, wenn drüben reagiert wird. Was auch in Frankreich geschieht – es ist vor allem aus dem einen Motiv zu erklären: Frankreich hat Angst. Und diese Angst ist berechtigt.

Draußen geht die Welt weiter. Sie ist bei Gott nicht so sehr viel besser, aber anders als das da. Auch hier läuft die Zeit: auch hier ist das wirtschaftliche Tun des Einzelnen weltenweit von seinem Wirken entfernt. (Das scheint mir der hervorstechendste Zug dieser Zeit zu sein, daß keiner mehr, wie der Weber der alten Zeit, sieht, was er eigentlich bewirkt. Spengler gibt als wichtigstes Kriterium die Abstraktion des Besitzers durch die Wertpapiere an – aber jenes Moment dünkt mich noch schlimmer und schwerer.) Auch draußen versteckt sich die Industrie hinter den Vater Staat, wenn sie was will, und entfaltet Fahnen, wo Petroleum gemeint ist. Aber alle kommen ohne den Störenfried Deutschland aus.

Der macht inzwischen auf seine Weise Politik. Man muß nur einmal – nur ein Mal! – die deutsche Presse durchblättern, um zu sehen, wer überhaupt gehört wird, wer sprechen darf. Propheten, deren Bart ganz abgeschworen ist von lauter Fehlschlägen in der Kunst der Weissagung; die ältesten Trümmer des seligen Liberalismus; vorsichtige Taktiker, die keinen Abonnenten mehr hinterm Ofen hervorlocken, aber den Inserenten nicht verletzen; Jugenderzieher, die dem jungen Menschen den grauenhaftesten Jargon von Starrheit und Abstraktion beigebracht haben – das sind die Führer einer Herde, die kaum den Kopf nach dem hinwendet, der sie führt. Es ist ja so gleichgültig . . . Alle Nase lang erfinden sie irgendetwas Altes. Augenblicklich sind sie dabei, die ›Kriegsschuldfrage‹ aufzurollen. Aber es hat kein Mensch gefragt, sondern alle Welt hat längst geanwortet. Sie wälzen dicke Weißbücher, es gibt wohl sogar eine Zeitschrift zu diesem Behuf. Heute, nach zehn Jahren, nachdem so viele Akten verschwunden, gestohlen, beiseitegeschafft sind – heute kommen sie mit diesem Schachzug, der ihnen ungeheuer diplomatisch erscheint. Und niemand hört zu außer den Lesern der ›Süddeutschen Monatshefte‹, und denen ist es ganz recht.

Am 3. August hat in Berlin einer jener kitschigen ›Erinnerungs-Opfertage‹, oder wie das in dem amtlichen Rotwelsch heißt, stattgefunden. [430] Herr Jarres, der deutsche Innenminister, hat ihn arrangiert, und so wird er ja denn auch gewesen sein. Die Reichswehr wird aufmarschiert sein, die Verbände, die Beamten, unter ihnen – leider nicht im Talar – das, was sich hierzulande Richter nennt . . . Und alle haben einen Geist, einen echtvaterländischen Geist.

Aber daß heute, nach diesen zehn Jahren, erwachsene deutsche Menschen zusammentreten und von den armen, nutzlos getöteten Opfern der Schlächterei anders sprechen als mit dem heißen Wunsch: »Wie kommen wir um das nächste Mal herum? Wie? Wie?«; daß keiner, ausnahmslos keiner der deutschen maßgebenden Männer den moralischen Mut aufbringt, von dieser Kriegsreklame abzurücken; daß nicht ein einziger anders über den Krieg reden kann, als mehr oder weniger geschickt verhüllt seinen Racheschrei für ein neues Gemetzel kundzutun – daß das möglich ist, das darf mir doch wohl unverwehrt sein eine Schande zu nennen.

Nicht der Schimmer eines Verständnisses für das, was vorgegangen ist; kein Pulsschlag im Rhythmus dieser Zeit; Anachronismen im Zylinder oder in einer nicht mehr existierenden Uniform; ein faules und flaues Bürgertum, das ›Verdienst‹ nur in einer Bedeutung versteht und nicht in zwei; eine niedergekämpfte, ohne ihre Schuld niedergeknüppelte Arbeiterschaft; die Kegelklubvorsitzenden der Parteien und – nicht zu vergessen! – die deutsche Frau, der das bunte Tuch so wohlig in die Augen und nicht nur in die Augen stach: das bist du, Deutschland –?

Fluch dir. Und Segen auf dich, daß du dich wandelst.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1924. Der Geist von 1914. Der Geist von 1914. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5FDF-6