Der Gallenbittre
Beim Kaiser Franz Joseph war Langlebigkeit schon beinahe ein Verdienst: zu denken, was er alles miterlebt hatte! Man tut bei alten Leuten gern so, als wären sie wirklich Teilnehmer an allen den Ereignissen gewesen, die sich da zu ihren Lebzeiten abgespielt haben – als ob Kriege, Friedensschlüsse, Morde und Hochzeiten nicht einfach kalendermäßig an ihnen vorbeigeglitten wären.
Georges Clemenceau aber hat teilgenommen. Der dreißigjährige Arzt war zur Zeit der pariser Kommune Bürgermeister eines Arrondissements auf Montmartre – und was ist seitdem nicht durch seine Hände gegangen, woran hat er nicht alles mitgewirkt! Es gehört schon die ganze politische Instinktlosigkeit kleiner nationaler Provinzler dazu, ununterbrochen gegen Poincaré zu donnern und dabei zu vergessen, wer der Papa des Friedens von Versailles gewesen ist. Wer –?
Ein gallenbitterer, allem Pathos abholder, böser Knabe: Arzt, Politiker, Journalist, Angreifer, Besetzer eroberter Stellungen, hartnäckig wie ein Büffel, geschmeidig – und dann ein alter Mann, der still seine Devisenspekulationen begießt. Er züchtet auch Rosen und liebt ihre Hausse. Memoiren –?
Aber er hat eine Fülle von gesprochenen Memoiren hinterlassen, und das sind seine Witzworte: lange harte fünfzöllige Nägel, die er erbarmungslos in die Köpfe der Gegner trieb. Das Buch ›L'Esprit de Clemenceau‹, von Léon Treich gesammelt und in der Librairie Gallimard zu Paris erschienen, ist ein Nagelkasten.
Es beginnt mit einer Stecknadel. Im Jahre 1906 war Clemenceau Minister des Innern, und er ging mit seinem ersten Bürodirektor von Saal zu Saal, morgens um zehn Uhr. Alle Tische waren leer – so früh fingen die Herren nicht an. Der Chef sagte kein Wort. Im dritten Saal saß ein Beamter, aber der schlief. Der Bürodirektor wollte den Mann wecken, »Tun Sie das nicht!« sagte Clemenceau. »Sonst geht er auch noch weg.« Aber dann werden die Stecknadeln dicker, und nun kommen die Nägel. Da war Clemenceau schon Ministerpräsident, als er mit seinem ganzen Kabinett bei einem Senator zur Jagd eingeladen war. Neben ihm saß ein Romanschriftsteller. »Sind Sie ein großer Jäger vor dem Herrn?« fragte ihn Clemenceau. »Ich schieße miserabel«, antwortete der. »Ich habe immer Furcht, meinem Nachbar eins aufzubrennen.« Da machte Clemenceau eine liebenswürdige Handbewegung auf alle seine Minister hin und sagte: »Bitte bedienen Sie sich!« Und [261] zum Hausherrn: »Geben Sie ihm einen recht guten Platz, nicht wahr?« Es ist ein Humor mit der Zitrone im Wappen.
Eines Tages kam Herr Mandel, sein getreuer Adlatus zu ihm – es wäre zu langwierig, hier auseinanderzusetzen, wer Herr Mandel war, kurz: Herr Mandel – und bat den Alten um einen Rat. Er wolle zum Journalismus. Darauf Clemenceau: »Schreiben kann jeder. Machen Sie hübsche, kurze Sätze: Verbum, Subjekt, Objekt . . . « Pause. Dann: »Wenn Sie ein Adjektiv schreiben wollen, kommen Sie vorher zu mir!« Seine Journalisten kannte er. Als er noch Direktor der ›Aurore‹ war, wurde auf seine Veranlassung in den Redaktionsräumen ein Schild angepappt: »Die Herren Redakteure werden gebeten, nicht eher aus dem Dienst zu gehen, als bis sie gekommen sind.«
Und nur hier und da liegt zwischen den Nägeln eine harmlose kleine Eisenkugel, die da zur Erinnerung aufbewahrt ist. So erzählt Clemenceau von einem seiner Besuche an der Front, wo ihn ein Hauptmann durch die Gräben führte. Der brachte sich reinweg um: »Vorsichtig, Herr Präsident! Hier muß man sich etwas bücken! Bitte, hier ist eine Stufe . . . « Und alles das ganz, ganz leise. Schließlich fragte der ›Tiger‹, natürlich ebenso leise: »Sind wir denn ganz nahe an den feindlichen Gräben, daß Sie so leise sprechen?« – »Aber nein, Herr Präsident«, flüsterte der Hauptmann. »Die Deutschen sind ein paar Kilometer von hier. Ich bin nur furchtbar erkältet!«
Nägel, Nägel. So bekam er eines Tages die Zuschrift einer großen Zeitung, die eine Enquete machte, zur Abwechslung so: »Was halten Sie von der gegenwärtigen Regierung?« Clemenceau nahm einen Briefbogen und schrieb: »Sehr geehrte Herren! Wie können Sie nur glauben, daß ich meiner Meinung über Politiker Ausdruck geben würde, die grade an der Macht sind?« Unterschrift. Aber bevor er den Brief zuklebte, nahm er ihn doch noch einmal her und schrieb ein Postskriptum:
»0 + 0 + 0 + 0 = 0.«
Im großen und ganzen kann man das Urteil von Lloyd George nur unterschreiben, der von dem ›dear old tiger‹ gesagt hat: »Herr Clemenceau ist ein furchterweckender Greis. Jedesmal, wenn ich ihn sehe, hat er ein Jahr weniger auf dem Buckel und eine Klaue mehr.« Das ist richtig, denn grade die Urteile über die jüngsten Zeitgenossen sind die schärfsten. Vom Ministerium Herriot im Juni 1924: »Die armen Verwandten«, eine nicht auszuschöpfende Bosheit. Und sind nicht in diesem Diktum die zwei Männer, um die es sich handelt, beinah völlig eingefangen? »Dieser Poincaré . . . der weiß alles, alles, alles – aber er versteht nichts. Briand weiß nichts, nichts – aber er versteht alles.«
Mitunter haben ihn die andern ebenso scharf beurteilt, und er hat es nie übelgenommen, im Gegenteil. Nach der blendenden Rede eines jungen Politikers im Palais Bourbon beglückwünschte Clemenceau [262] seinen Kollegen und sagte ihm lächelnd: »Ein ausgezeichnetes Debut, junger Mann. Kommen Sie an mein Herz!« Der andre verzog keine Miene: »Das kann ich nicht, Herr Präsident. Ich habe den horror vacui.«
Dieses Herz war leer. Über das Gehirn läßt sich streiten. Für den Frieden von Versailles, wo die Hartnäckigkeit eines alten Mannes die Erfüllung einer Jugendsehnsucht erzwang, ohne daß er bedachte, wie inzwischen alles anders geworden war, für diese anachronistische Tat erscheint mir nichts so bezeichnend wie jene kleine Geschichte, in der erzählt wird, daß ein Justizminister im französischen Parlament plötzlich ohnmächtig wird. Man schickte nach einem Arzt. Zufällig kam Herr Clemenceau vorbei. »Was gibt es denn? . . . Weiter nichts? Lassen Sie mich sehen, ich bin Arzt.« Er untersuchte den leblos Hingestreckten, hob dessen Augenlid, zuckte die Schultern und gab die Diagnose. »Nichts. In fünf Minuten ist alles wieder in Ordnung.« Sprachs und ging davon. Etwas später kam der diensttuende Arzt und untersuchte seinerseits. Der Minister war tot.
Vielleicht hat der Tiger selbst gewußt, daß seine Diagnosen nicht immer gestimmt haben, und in einem Schlußwort ist mehr Wahrheit, als er selber weiß. Jemand machte ihm ein Kompliment über seine Klugheit. »Aber ich bin nicht klug«, sagte der damalige Ministerpräsident. »Sehen Sie, wenn ich klug wäre – wissen Sie, was ich dann täte? Ich würde noch heute abend sterben. Dann wäre ich wenigstens sicher, eine schöne Leiche zu haben. Aber wenn ich nur bis übermorgen warte . . . «
Er hat bis übermorgen gewartet, und Europa wird seines Erbes nicht froh.