Dorf Berlin

»Eine Großstadt?« sagte meine greise Freundin Lisa, als sie aus Paris zurückkam, »eine Großstadt? Kinder, auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner –!« Das könnte wohl sein.

Frühmorgens, beim ersten Hahnenschrei, erhebt sich der Großbauer Wresczynski von seinem kargen Strohlager. Die Mistforke in der [443] nervigten Faust, ruft er Weib und Kind zu: »Auf! Auf! Die Sonne vergoldet schon den Synagogenknopf!« und geräuschvoll poltert er durchs einfache Bauernhäusel, das sich, mit Stroh gedeckt, an der Leibnizstraße erhebt. Draußen gluckert der freundliche Bach, umwogen die Bananenfelder und jungen Gemüsebeete den stolzen Besitz, die mächtigen bologneser Wachthunde bellen, nationale Ochsen brüllen, und demokratische Schafe wandeln gesenkten Hauptes auf die magere Geschäftsweide. Die Bäuerin tritt auf die Schwelle und sieht frohgemut in die weite Landschaft: vom Lunapark bis zum Nelsonberg eine einzige üppige und fruchtbare Gegend. Der Hafer blüht 354 fob, die milde Kuh blickt verächtlich in ein Faß mit Margarine, und die Schweine wühlen behaglich in der weichen Streu, die man ihnen aus den Blättern der ›Deutschen Tageszeitung‹ bereitet hat. Wo sind die Hühner? War der Fuchs im Hühnerstall? Aber Fuchs ist doch in Marienbad – nein, die Hühner sind schon frühmorgens auf den Geflügelmarkt gegangen, die guten Tiere, und haben sich da im Preis etwas heraufsetzen lassen. Erleichtert atmet die Großbäuerin auf.

Die Dorfkinder eilen in die Schule, und bald hört man die kleinen Stimmchen aus dem Schulfenster singen:

»Siegreich wolln wir Frankreich schlagen
als ein tapfrer Heheheld . . . !«

»Herr Lehrer«, sagt der kleine Gothein, »ich muß mal rausgehn – mir ist mein Kompromiß geplatzt!« Und dann singen sie wieder.

Das Leben im Dorf hat sich unterdessen mächtig entwickelt. Die wackern Knechte verladen die Saisonarbeiter auf große ratternde Wagen, die tragen vorn eine Nummer, oben eine Stange und hinten einen Mann, der schimpft. Manchmal fahren sie. Die Frömmern werden in den Aboackerwagen geladen, und bald ist das ganze Volk rüstig bei der Arbeit. Emil Jannings geht hinter dem Pfluge einher und singt ein gar fröhlich Liedlein. In den Zeitungsredaktionen dreschen sie leeres Stroh. Die Großkopfeten lassen ein goldenes Haus am Brandenburger Tor schwarzweißrot anstreichen, von oben bis unten, und daß die Farbe auch regenfest ist, dafür sorgt schon der Obermeister aus Ludendorf; er trägt eine blaue Brille gegen die Sonne und hinkt etwas: er hat sich einmal vor Jahren das Ehrenwort gebrochen, aber es ist schon beinahe wieder zugeheilt. In einer Ecke hat Schlächtermeister Wulle eine kleine Judenschlächterei aufgetan und steht, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, vor der Tür. Dampfend raucht er aus einer ungeheuren Pfeife und liest die Memoiren des Herrn Tirpitz. Das ist ein starker Toback.

Zwei Büttel mit dem feierlichen Dreispitz und langen Obrigkeitsstock mit goldenem Knopf führen einen Mann einher, der lacht und wirft mit vollen Händen Geld unter die bettelnden Bankiers, die am Wege kauern. Neidisch zischelts hinter ihm: »Ja, der Müller! Der kann sich das leisten! Der steht unter Geschäftsaufsicht –!« Zwei [444] dralle Mägde kommen mit weiten Netzen aus der Au – man sieht ihnen die fünfundvierzig gar nicht an, wie sie so elastisch einherschreiten in dem putzigen Bubenkopf und dem guten Büstenformer! Sie kommen vom Tauentzien-Fluß, da haben sie nachts dem Fischfang obgelegen, und sie müssen gute Beute gemacht haben, denn die eine sagt zur andern, in ihrem bäuerischen Dialekt: »Det kann ich da sahrn, Else, ich hab den ollen Seeje die ganze Marie aus de Brusttasche jeklaut –! Wat heißt hier!« Muntere Dirnen.

Schwerbeladene Wagen mit Dung schwanken unter den Torbogen, sie karren den Mist fort, kommen sie doch von einem sozialdemokratischen Parteitag. Halt! geht da nicht der schöne Rudi? Ja, er ists; das grüne Hütl keck auf einem Ohr, ein breites Scheit an der Seite, die Flinte auf der Schulter, so kommt Deutschlands beliebtester Sozialist durch die schmalen Dorfgassen, und strahlt, der Jägersmann: er hat wieder einmal einen fetten Bock geschossen. Im Dorfwirtshaus nehmen sie das Mittagsmahl; nach dem guten Essen sitzen sie an einem großen runden Tisch: Erich Koch, der Zentrumsschreiber Schreiber und Hugenberg, und spielen Skat. Man hört ein mächtiges Geschrei, sie scheinen also ganz gut miteinander auszukommen. Hugenberg, wie immer, mogelt.

Gewichtige Amtspersonen gehen durch die Wilhelmstraße: der Dorfschulze und die Mitglieder der Gemeindeversammlung. Viele haben ein blaues Auge, mit dem sind sie gerade davongekommen, und sie haben soeben beschlossen, mit dem Nachbardorf nur bei schönem Wetter Krieg anzufangen. Und eine neue Fahne wollen sie auch. Sonst haben sie keine Sorgen. Der Dorfschneider Haferl hütet seinen Laden, der alte Ladenhüter; er setzt den Mädchen alte Obstkörbe auf den Kopf und redet ihnen ein, das seien die neuen Modelle aus Paris. Mitten in der Gesellschaft sitzt ein armes Bäuerlein, das hat schon manches Anwesen ruiniert; während andre ackern, rechnet er und malt große Tabellen, da steht es alles drin. Aber obgleich er noch nie auf einen grünen Zweig gekommen ist, so wartet er doch und ist fein geduldig. Gut Hilferding will Weile haben.

Jetzt leuchtet die goldene Abendsonne über das Panketal, die Bäuerinnen treiben müd die Gänse heim, ihr Brusttuch steht, Gott behüte, offen, man hört das tiefe Muh der Rinder und: »Achtuhrabendblattachtuhrabendblatt!« schnattern die Enten. Die Stalltüren öffnen sich langsam und weit.

Alt und jung hat sich auf dem Dorfplatz unter der grünen Linde versammelt. Da steht herumfahrendes Gauklervolk und zeigt seine Künste. Einer kann eine ganze deutsche Grammatik verschlucken und gibt sie nur stückweise wieder von sich, der heißt Sternheim. Ein Alter ist da in würdevollem weißem Bahr, der ist katholisch und dreht sich herum und – husch! – ist er ein Freigeist, und wieder herum und – [445] husch! – ist er ein Hitlermann. Keine Verpackung, nur Ausstattung! Und einer dreht auf der Laterna magica schöne Bilder; da kann man einen berliner Schauspieler sehen, tiefe Schmink- und Sorgenfalten durchfurchen sein Gesicht, und alles Volk schreit: Hurra! Denn die dummen Bauern glauben, das sei Fridericus Rex mit der Königin Luise, und nur der Gaukler an der Laterne weiß es besser. Aber er sagt nichts und schmunzelt und streicht das Eintrittsgeld ein. Und in einer Ecke haben sie ein Theater aufgeschlagen, aber das ist ganz leer, nur ein Mann sitzt darin, der hat sein Billett bezahlt. Es ist der Dorftrottel.

Nun ruhen alle Wälder, und der gute Mond scheint seins durch die silberblassen Wolken. Alt und jung . . . ach, das hatten wir schon. Normal und Andersrum ist zur Ruh gegangen, allein, zu zweit und assortiert. Vor dem Haus eines Weingroßhändlers rauscht zauberhaft und familiär ein Brunnen. Die Schenken haben geschlossen. Der letzte Fiedelton erstarb.

Klappt da ein Fenster –? Auf schwanker Leiter steht ein junger Bauer mit nackten Knien in der krachledernen Hos auf der obersten Sprosse und busselt sein Mädel ab, die da vollbusig zum Fenster heraushängt. Es ist der Graf Keyserling, der voll Weisheit, wie er es in der Schule gelernt hat, einer drallen Bauerndirn den Hof macht. »O Katharina –!« flüstert er heiß. Der Mond versinkt hinter dem Pallenberg, der Graf rutscht von der Leiter, ein leiser Abendlandwind gespenstert durchs Gras . . . Das Dorf schläft.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1924. Dorf Berlin. Dorf Berlin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-61F3-5