Ein Franzose im alten Berlin

Das Wappen von Berlin ist ein Bär, der auf seinen Hinterpfoten schön macht.

Jules Laforgue


Die Gattin des alten Kaiser Wilhelm hatte einen Vorleser, das war ein Franzose. Daß er auch ein Dichter war, wußte sie nicht und niemand – so ängstlich verbarg Jules Laforgue seine Qualitäten vor der Welt. Bei meinem alten Verleger Axel Juncker (Gott strafe ihn!) ist ein kleines Bändchen erschienen, von dem ich nicht weiß, ob es noch zu haben ist: Franz Blei und Max Brod haben darin einige der schönsten Gedichte und Szenen Laforgues nachgedichtet, zärtliche, feine und bezaubernd leichte Gebilde. Die Gedichte Laforgues und das, was man so ›Werke‹ nennt, sind im Verlag des Mercure de France erschienen, und was sonst von dem jungen Menschen, der mit siebenundzwanzig Jahren starb, übrig geblieben ist, sind melancholische Briefe und eine dünne Freundes-Literatur . . .

Lassen wir den komplizierten Fall Laforgue beiseite, so gut es geht. Der kaiserliche Vorleser war einundzwanzig Jahre alt, als er im Jahre 1881 über Koblenz an den Berliner Hof kam; er blieb – mit Unterbrechungen und Urlaubsreisen – bis zum Jahre 1886; 1887 starb er.

Er hat nun (Éditions de la Sirène, 29 Bd. Malesherbes, Paris) ein kleines Skizzenbuch über›Berlin, La Cour et la Ville‹ hinterlassen, das für uns sehr spaßig zu lesen ist. Aquarell, verblichenes Foto und Vexierbild in einem.


»Berlin«, hat ein Zeitgenosse Laforgues geschrieben, »das ist Frankreich vor 1789.« Das ist etwas bitter und zu hart – aber laßt uns das Bilderbuch des jungen Mannes betrachtender sich – besonders anfangs – schrecklich einsam und verlassen und heimatlos in Berlin vorkam.

Wenn wir mit der Schale beginnen, so ist es die berliner Kleidung, die dem Franzosen auffällt, und nicht angenehm auffällt. Nun, es ist die Zeit, da sich der Kaiser aus dem Hotel de Rome Unter den Linden sein Holzfaß warmen Wassers zum Bad ins Schloß fahren ließ, und wenn auch körperliche Ungepflegtheit nach alten Vorstellungen Eleganz nicht ausschließt: das militärische Berlin war gewiß nicht elegant. »Alle Zylinderhüte, die man in Deutschland sieht, müßten erst mal aufgebügelt werden«, sagt Laforgue, und: »Ein gut geschnittner Frack ist hier eine sensationelle Seltenheit.« Das ist übrigens nicht bösartig gesagt – es ist eine einfache Beobachtung, und eine, die damals richtig war. (Inzwischen ist die Geschichte, was die Kleidung der Männer in Paris und Berlin angeht, fast umgekehrt. Wovon leben eigentlich die pariser Schneider, die Anzüge aufbügeln?)

[320] Und Zug für Zug taucht jenes alte, längst verschollene Berlin in den Beschreibungen Laforgues auf, Beschreibungen, die übrigens fast gar nichts Dichterisches an sich haben, die beinah merkwürdig nüchtern und naßkalt sind . . . offenbar ein Symptom des Seelenzustandes, in dem sich der Papa eines spleenigen Pierrots damals befunden haben muß. Du gutes, schlechtes, dußliges altes Berlin!

Der Dienstmann Unter den Linden, auf dessen roter Mütze EXPRESS stand, im alkoholdunstigen Kielwasser dieses Expreßkutters konnte wohl niemand folgen . . . ; das Geklingel der alten brüchigen Schlitten, mit den hohen klapprigen Droschkengäulen davor und den bezylinderten Droschkenkutschern, die sich in diesem romantischen Winterschnee wohl selber etwas dämlich vorkamen; die Verse – Herz, glüh auf! – die Verse der Goldenen 110! Junger Mann, das wissen Sie nicht, das war vor Ihrer Zeit: da gab es an der Neuen Brücke und später in der Leipziger Straße ein Geschäft mit billiger Konfektion, das seine Hausnummer als Refrain von Reklamegedichten verwandte, die grün an den Litfaßsäulen klebten, eine gradezu unerhörte Sensation. Besonders schön war der ›Dreh‹, mit dem der Reklamedichter von einem allgemein gültigen hochpoetischen Thema auf seinen Laden kam . . . Etwa so:


Im Walde singt die Nachtigall,
die Pilze blühn am Bachesrande;
es zieht der süße Frühlingsschall
wohlklingend durch die deutschen Lande.
Drum, Jüngling, zieh auch du durchs Land,
mit deiner Liebe in der Hand –
Willst wie ein Frühlingsgott du gehn –
dann komm zur Goldenen 110!

Auf die Art.

Und wie das alles wieder lebendig wird . . . Da beklagen wir dicken Herren uns heute, wenn sich die jungen Damen bei Tisch bepudern, frisieren, beschminken und wieder abschminken . . . Aber was haben wir einst getan? Schilderung eines berliner Restaurants: »Ein Gast kommt herein; wenn er sich an deinen Tisch setzt, grüßte er erst mal und wünscht dir eine ›Gesegnete Mahlzeit!‹ Darauf, ob General, sonst ein Offizier oder Zivilist, vergräbt er beide Hände in die Schöße seines Rocks und holt da aus den Taschen zwei kleine Bürsten, und nun bringt er, mit beiden Händen, rasch seinen Scheitel auf dem Hinterkopf in Ordnung und kämmt sich die Haare über die Ohren . . . « Wie bist du weit . . . ! Und wie vieles hat sich von Grund auf geändert. (»Na, wollen Sie vielleicht damit sagen . . . ?« Nein, ich will nicht.)

Immerhin: die Bahnhofsrestaurants, über deren mindere Qualität Laforgue sich aufhält, sind besser geworden, wenn auch nicht gut – und was die berliner Bälle anbetrifft, so kennt der kaiserliche Vorleser[321] deren vier: den Subskriptionsball, den Kavalierball, den Presseball und den Schauspielerball. Es sollen, bestem Vernehmen nach, inzwischen einige mehr geworden sein. Und wenn er von den Schaufenstern sagt, daß sie in Paris gar so schön und in Berlin gar so häßlich seien, so hat sich auch das geändert, und zwar ganz gewaltig und sicherlich nicht zum Nachteil von Berlin – trotz der rue de la Paix. Das Niveau liegt, wie in vielen Kleinigkeiten, in Berlin wesentlich höher. Freilich: eines hat sich kaum geändert, oder doch wohl nur in der Form.

»Das ist ein mehr als monarchistisches Schauspiel: ein asiatisches Spektakelstück ist es, was man wöchentlich ein oder zwei Mal Unter den Linden und den benachbarten Straßen sehen kann.« Nämlich? Begrüßung irgendwelcher Prinzen durch das Volk . . . Und davon ist die Rede, wie ein Abgeordneter im Rang nach dem jüngsten Leutnant kommt . . . Nicht wahr, wir sind ja so republikanisch geworden, das gibt es alles nicht mehr. Nun, was dem einen sein Hofball, das ist dem andern sein Landesverratsprozeß. Und Laforgue findet die Formel, wie der Franzose stets die Formel findet: »Berlin riecht immer nach dem kleinen Belagerungszustand.« Mit dem bekanntlich jeder Kriegsminister regieren kann.

Die Politiker werden ihren Spaß an diesen alten Erinnerungen haben. Dieser bezaubernde kleine Satz, der in die Bismarck-Biographie Ludwigs gehört: es ist davon die Rede, daß dieser Diktator den alten Kaiser in Briefen immer »Mein allergnädigster Herr« ansprach und sich selbst »alleruntertänigster Diener« unterzeichnete. Und blitzschnell, wie die streichelnde Klinge eines Floretts, der Nachsatz: »On n'est pas plus réaliste.«

Und wer tommt denn da –?

»Er sieht (auf einem Hofball) nach rechts und nach links, mit affektierter Lebhaftigkeit, er schüttelt Hände und das alles mit einem Lachen, das freier klingen soll als es klingt . . . mit dieser falschen Lebhaftigkeit, die gegenüber den Botschaftern bis zur Formlosigkeit geht . . . trägt Manieren zur Schau, die . . . « Das ist er. Das ist unser Herminerich.

Das Buchchen ist gleich charakteristisch für Berlin wie für den Franzosen, der es schrieb. Natürlich sind eine Menge Beobachtungen darin, die entweder nicht richtig oder deren Schlußfolgerungen einfach falsch sind. Wie man einen preußischen Postbriefkasten – und besonders den damaligen – schön finden kann, ist mir unbegreiflich; wenn Laforgue von den Briefträgern spricht, bedauert er, daß sie so viele Treppen steigen müssen, sagt aber kein Wort davon, daß diese Art der Briefbestellung immerhin der Pariser vorzuziehen ist, wo die Portierfrau ihre polizeilich lackierte Nase in die Korrespondenz des ganzen Hauses, soweit die nicht eingeschrieben ist, steckt . . . kein Wort. Und daß er das Weißbier ein »horrible liquide« nennt – ja, das also ist unvereinbar: der, der die Verse von »Je suis la femme. On me connaît« geschrieben [322] hat und dann die kühle Blonde mit 'm Schuß. Wenn der Band mit den Gedichten Laforgues vor mir liegt, so schön gebunden, und wenn es dann in Paris ganz heiß und staubig ist, dann traue ich mich manchmal fast, eine kleine Sehnsucht nach dem ›horrible liquide‹ zu haben, die einem so angenehm kitzelnd in die Nase steigt . . . Horreur! Prost.

Merkwürdig, sich in einer andern Sprache wiederzufinden. Wie vertraut-fremd das klingt! Wie tönt es von einem deutschen Kirchturm?

Va toujours fidèle et probe
Jusqu'à ton tombeau froid,
Et ne t'écarte pas d'un pas
Duchemin du Seigneur.

Üb immer treu und Redlichkeit . . . Immerhin: dieser Künstler hat sie geübt, mehr als jener unsägliche Henri Béraud, der in Paris über Deutschland nicht nur ein Buch voll infamer Verleumdungen veröffentlicht hat, sondern schlimmer: der ein hundschlechter Reporter ist und seinen Beruf nicht gelernt hat. So werden Kriege vorbereitet . . .

Laforguen aber wünscht man schmunzelnde Leser. Man kann auch aus solchen Büchern viel lernen. Nämlich, wie ein Volk von großen Qualitäten, hündisch dressiert, versehen mit den Tugenden seiner Fehler, sich von seinen verkörperten Lastern in den Krieg jagen ließ, in den es hereinschlidderte und sich erst dann, aufwachend, besann, daß es ihn nie gewollt hatte, obgleich es ihn immer gewollt hatte. À la prochaine!


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Ein Franzose im alten Berlin. Ein Franzose im alten Berlin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6386-9