Interview mit Frau Doumergue

Paris, im Juli.

Es war nicht leicht. Ein Ministerium nach dem andern erklärte sich für unzuständig, schließlich versuchte ich es direkt an der Quelle: beim Sekretär des französischen Präsidenten. Der wies mich ab. Weil ich aber über die ›besten Beziehungen‹ verfüge (diese Worte sind zu lispeln) – so gelang es mir schließlich doch. Ich hielt ein kleines [420] Kärtchen in der Hand; wenn ich meinem Lexikon Glauben schenken durfte, so stand darauf: » . . . gibt sich die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß die Frau Präsidentin Sie Montag, den 21. Juli, vormittags 12 Uhr . . . « Der Montag kam heran.

Ich rasierte mich erheblich, einmal in die Backe, denn meine Hand war unsicher, man interviewt schließlich nicht alle Tage eine Präsidentin. Obgleich aus Deutschland, hatte ich darin gar keine Übung . . . Ich fuhr hin.

Sie kennen den Eingang zum Hause des Präsidenten in Paris? Nicht? Es ist sehr hübsch da, ein Posten steht vor der Tür, ein feiner, geschlossener Hof empfängt den Eintretenden, ängstlich hielt ich immerzu meine Karte fest, und wenn mir einer etwas tun wollte, wedelte ich leise mit ihr. Ich stieg über die grauen Steinstufen, wurde in ein herrliches Wartezimmer geführt, das Louis Seizeste, was ich je gesehen habe – dann öffnete ein untersetzter Diener eine hohe Flügeltür. »Mein Herr . . . «

Bumm – bumm – bumm machte mein Herz. Aber ich dachte an alle Gefahren, die ich in meinem Leben schon bestanden hatte: das Abiturientenexamen, zwei Bücher von Edschmid gelesen, einmal einem preußischen Schutzmann gesagt, daß er sich geirrt hätte, an der Börse auf meinen Bankier gehört – man war doch wer, Herrgott . . . ! Rein.

Eine majestätische Blondine empfing mich, sehr fein und diskret gekleidet, mit dunkelblauen Augen. (›Blond – in Paris‹, dachte ich. ›Wie merkwürdig!‹) Eine runde Handbewegung hieß: Bitte. Setzen Sie sich. Ich setzte mich; der alte Quaritsch, der einmal für teures Geld versucht hat, mir das Tanzen anzugewöhnen, hätte seine Freude an meinen feinen Sitten und Gebräuchen gehabt. Ich sah schnell in meine hohle Hand, wo ein kleines Pappkartonchen stak, darauf stand einiges geschrieben.

»Gnädige Frau!« sagte ich. »Frau Präsidentin: ich habe die Ehre, mir die Freiheit zu nehmen, Sie zu fragen: was halten Sie von der Situation der Lage?« (Das ging glatt wie bei einem dressierten Star – ich hatte es mit meiner Portierfrau geprobt.) Die Frau Präsidentin hob anmutsvoll das Haupt: »Etwas ist immer«, sagte sie. »Aber es gleicht sich alles im Leben aus –!« Ich machte verstohlen eine Notiz, das war ein guter Anfang. »Sie beabsichtigen, längere Zeit hier zu wohnen?« fragte ich. Bautsch! das war eine Dummheit. Aber nun war es einmal heraus, da war nichts mehr zu machen.

»Ja«, sagte die hohe Frau. »Meine Vorgängerin, Frau Millerand, ist plötzlich ausgezogen, ihr Mann ist über einen Block gestolpert und hat sich seine rechte Hand verstaucht. Kannten Sie seine rechte Hand? Ein sehr begabter Mann. Ja, wenn er linkshändig gewesen wäre! Aber so . . . Man bot uns die Wohnung an, und Sie wissen: Paris hat ein bißchen Wohnungsnot, wir sagten sofort zu. Erst sollte hier ein [421] anderer einziehen, aber das Wohnungsamt, ich meine: der Senat wollte nicht recht . . . Und nun wohnen wir hier – und wie ich sagen darf: das Land wäre sicherlich glücklich, wenn wir bis zum Ablauf des Mietkontraktes auch hier blieben! Ja.«

»Und London –?« fragte ich vorsichtig.

»Wie Sie wissen, stammt mein Mann aus kleinen Verhältnissen«, antwortete sie. »Sie müssen nie glauben, was in den Zeitungen steht. Die kleinen Leute auf beiden Seiten hassen sich gar nicht – wir wissen es recht gut. Frankreich will Deutschland nicht fressen – Sie kennen doch den kleinen Mann in Frankreich: sein Essen, seinen Wein, ein glückliches Familienleben, seine ungestörte Arbeit und keine Geschichten. Da haben Sie sein politisches Programm.« Ich kritzelte. »Und dann noch eines«, sagte sie. »Lassen Sie sich doch ja nicht von den militärischen Ruhmes- und Erinnerungsfeiern täuschen. Ich habe nicht die Ehre, Deutschland zu kennen – aber ich vermute, daß es bei Ihnen ebenso sein wird: die menschliche Freude am Gepränge, die Eitelkeit über erhaltene Auszeichnungen, die Lust an Massenerlebnissen . . . das Militär ist der Zirkus des kleinen Mannes.« Ihre braunen Augen sahen mich still an.

»Und Sie erlauben, gnädige Frau«, sagte ich. »Was halten Sie von der französischen Kunst?« – »Europa stagniert«, sagte sie. »Ist es bei Ihnen anders? Die Leute vertreiben sich auch hier die Zeit, wie sie können – sogar die Dichter malen bei uns vor Langeweile. Haben Sie die Zeichnungen von Jean Cocteau gesehn? Eine lustige Sache. Aber das war ja immer so. Im Museum des Luxembourg-Gartens hängt ein Bild: ›Souvenirs‹. Es ist Charles Chaplin signiert – ich denke, das ist Charlot. Wie? Picasso soll seit gestern kurz nach Tisch wieder klassizistisch malen. Ein bedeutender Mann. Wie viele Kunsthistoriker wären ohne ihn schon längst verhungert! Und haben Sie Proust gelesen? Und Duhamel? Gute Leute.« Ich schrieb – 180 Silben in der Minute. Die hohe Frau fuhr fort.

»Jetzt kann ich ja nur noch selten auf den Montparnasse in das Maler-Café de la Rotonde gehen«, sagte sie. »Früher besichtigte ich es ab und zu. Wir wollten eine Inschrift über der Tür anbringen lassen, aber mein Mann riet ab.« Eine Inschrift? fragte ich mit einer Kopfneigung. »Ja«, sagte sie. »Sie sollte lauten: Psychopathen aller Länder, vereinigt euch! Aber, wie gesagt, mein Mann möchte es nicht gern. Sie gehen viel ins Theater –?«

Ich nickte schmerzlich. »Ja, so hat jeder Beruf seine Last!« sagte sie. »Wie ich höre, hat man neulich eine pariser Revue ohne nackte Frauen gegeben – es ist nicht recht, dem Fremdenverkehr so ins Gesicht zu schlagen. Und Frau Cécile Sorel von der Comédie Française – ist es, daß Sie sie gesehen haben?« Ich nickte tief ergriffen. »Auch ich kenne sie«, sagte die Frau Präsidentin, und ihre schwarzen Augen verloren[422] sich in der Erinnerung. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich sie gesehn – sie war schon recht gebrechlich damals . . . «

Vom nahen Kirchturme St. Mendel schlugs halb eins. Die Frau Präsidentin erhob sich – ihre hellen grauen Augen blickten lebhaft. »Sagen Sie bei sich zu Hause, daß wir gemeinsam das Vergangene begraben wollen. Frankreich braucht Sicherheit und Ruhe – Sie Luft und Atem. Hoffen wir auf beides. Gleich kommt mein Mann; ich denke, man wird das Frühstück angerichtet haben . . . Sie entschuldigen mich. Ja, noch eines. Warum haben Sie kein rotes Bändchen –?«

Ich sagte schüchtern: »Ich bin erst vier Monate in Frankreich – aber ich hoffe . . . Und dann, Frau Präsidentin: die deutsche Republik verbietet in ihrer Verfassung ihren Bürgern Orden und Ehrenzeichen!«

»Aber das wird doch hoffentlich nicht eingehalten?« fragte sie entsetzt. Ich sagte: »Frau Präsidentin, eine Verfassung ist wie eine Flöte: man kann sie an die Wand hängen, man kann aber auch noch etwas andres damit machen!«

Sie nickte beifällig. »Auf Wiedersehen, Herr . . . Pantère!« sagte sie. Ein grünlich schillernder Blick entließ mich. Verbeugung. Untersetzter Lakai. Flügeltür. Louis Seize. Grauer Steinhof. Posten. Auf der Straße.


Herr Doumergue ist zu seinem Glück nicht verheiratet.

Merk: Er ist nicht mehr Präsident und hat inzwischen geheiratet.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1924. Interview mit Frau Doumergue. Interview mit Frau Doumergue. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-646E-6