Rosa Bertens

Eine Dame geht hinter die Kulissen, in ihre Garderobe, schminkt sich ein wenig und kommt heraus, auf die Bühne. Ihre bürgerliche Person tritt in den Hintergrund und geht uns nichts mehr an – die Künstlerin ist imstande, uns alles und alle vorzutäuschen: die Schwatzende und die Weinende und die Hassende und die Leidende. Sie ist, wie Julius Bab vor Jahren hier sagte: der Gipfel einer distanzierenden Schauspielkunst. Sie identifiziert sich nicht mit ihren Gestalten: »Sie gibt statt eines lebendigen Menschen den Sinn eines Menschenlebens – seinen letzten Gehalt.«

Sie spielte bunte Papageien in Konversationsstücken, trauen, die sie lächerlich zu machen hatte, und das Publikum lachte denn auch, weil sie zu hastig oder durch die Nase sprach – aber sie ließ doch tiefer sehen. Durch eine Schicht von Kosmetika, die Jugend vortäuschen sollte, grinste das Alter, diese schrecklichen dreißig Jahre, die nach den ersten dreißig Jahren kommen. Sie stand da, mit einem schiefen Federhut, [215] sie plapperte, sie lorgnettierte, sie neigte schelmisch den wohltoupierten Kopf – und konnte mit einer kleinen Senkung der Stimme zu verstehen geben, daß sie sehr wohl wußte: es half alles nichts. Tick-tack, tick-tack – da war nichts zu machen.

Letzten Endes war es ja gleichgültig, ob das bewußtes Können war: ihre Kraft der Suggestion – und was andres ist Schauspielkunst? – zwang uns, zu glauben, was sie wollte. Als in ›Gabriel Schillings Flucht‹ die Weiber aufeinanderplatzten, stand die Bertens ganz allein und hatte wenig zu sprechen. Und als alle durcheinanderschrieen und riefen und tobten, da sah sie leer in die Luft. Und dann weinte sie. Man hörte keinen Laut, aber ein Strom von Schmerz ging von ihr aus, wie sie so grau und unansehnlich dastand; sie bildete in diesem Augenblick das Symbol der Trauer. Sie verhüllte eigentlich nur das Gesicht, und doch war das mehr als alle Tränen und alles Geschrei.

Und in eine Untersuchung über den distanzierenden Stil in der Schauspielkunst drängt sich ein grandioses Bild, eine Rolle, in der diese Frau noch einmal alles, alles zusammenfassen konnte: den Schmerz und den Geifer und die Tränen und – wer weiß? – vielleicht auch die Liebe. Das ist die Mutter in›Scheiterhaufen‹.


Wind und Musik, Wind und Musik! Der Wind streicht durch das hohe Zimmer, wellt die lange Gardine vom Fenster, er klagt draußen um die Ecken mit menschlichen Tönen, und im Wind spielt jemand Klavier. Und dann ihre unvergeßliche Stimme: »Schließ die Tür, bitte!« Was war das? Sie fürchtete sich, sie erschauerte vor Furcht und Grauen. Sie saß auf einem gepolsterten Sessel und hielt sich an den Armlehnen fest. Herrschte sie noch? Sie hatte geherrscht, fünfzehn Jahre, zwanzig, vielleicht länger, und es waren bittere Jahre gewesen. Sie hatte die ganze Zeit hindurch ihre Augen offen gehabt, sie, die ungekrönte Königin einer Fünfzimmerwohnung. Da war kein Scheit Holz, kein Stück Zucker, keine Scheibe Wurst, die nicht durch ihre Hände gegangen wären. Und so gehört es sich ja wohl. »Schließ die Tür, bitte!« Wimmerte sie jetzt? Sollte sie zetern, würdevoll gebieten, flehen? Sie wußte es nicht – die Lage war zweifelhaft. Sie zitterte vor Herrschsucht, bebte vor Angst, gestürzt zu werden. Noch war sie Gebieterin. »Schließ die Tür, bitte!« Die Eysoldt hätte sich eine gefährliche Schlange zurechtgezischt und damit einen Fehler gemacht. Die Bertens ignorierte den unendlich seltenen Sonderfall und dozierte uns kühl und scharf das Paradigma der Mutter. Dies war durchaus kein Monstrum. Dies existierte zwar nicht, aber es war ein entsetzliches Mosaikbild aller Mütter. Keine hatte Milch unterschlagen, Kinder hungern lassen, Holz gestohlen. Keine hatte kriminell Strafbares begangen. Aber die Wahrheiten müssen sich aufplustern, damit wir sie recht erkennen. Hier war die ›Humbugmutter [216] Medea‹, von der jede im Parkett ein Stückchen hatte. Das war kein Einzelwesen mehr – das war etwas viel Schrecklicheres: das war die Hölle, aber eine sehr menschliche Hölle.

Und da gab es einen toten Mann, der nicht auf dem Personenzettel stand – aber sie machte ihn leben. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, er könne wieder auferstehen, also war er da, spielte stumm und unsichtbar mit, schaukelte auf dem leeren Schaukelstuhl und geisterte im Zimmer umher. Sie ließ sein Bild von der Wand reißen, sie wirbelte mit dem Zugwind herum, klapperte und wühlte in allen Schubladen zugleich – er war da! er war da!

Sie sprach nicht sehr ausführlich von ihm, und doch hatten wir da die ganze Ehe. »Es gibt höllische Ehen in der Welt zwischen Ehegatten, welche inwendig die bittersten Feinde, äußerlich aber die herzlichsten Freunde sind«, sagt Swedenborg und zählt die Gründe für diese »ehelichen Verstellungen auf«, die ihm lobenswert scheinen: die Erhaltung der Ordnung im Hauswesen, einmütige Sorge für die Kinder, der häusliche Frieden, der gute Ruf, allerhand pekuniäre Vorteile. So mochte es anfangs um sie gestanden haben. Aber dann kam doch der Krieg, der niederträchtige Kleinkrieg.

»Der eigentliche Grund, weshalb die Frauen zur Herrschaft gelangen, liegt darin, daß der Mann aus dem Verstande handelt und das Weib aus dem Willen, und daß der Wille sich verhärten kann, nicht aber der Verstand.« Oh, er verhärtete sich! »Es wurde mir gesagt«, fährt Swedenborg fort, »daß die schlimmsten dieser Sorte, welche vom Streben nach Herrschaft ganz durchdrungen sind, an ihren eigensinnigen Forderungen bis zum letzten Atemzuge festhalten können.« Bis zum letzten Atemzuge. (Der Germane scherzte hierüber wohl noch gutmütig in seinen Volksschwänken; der Jude hatte einen schmachvollen Frieden geschlossen, denn sein Autoritätsgefühl der Frau gegenüber ist größer, groß bis zur Furcht.)

War das die Notwehr der Frauen? Die Angst vor dem Mann, dessen Überlegenheit sie erkannten, und dem sie sich doch nicht unterordnen mochten? Die Bertens legte mit grausamen Fingern dar, daß es ganz etwas andres war. Sie hockte auf ihren geretteten Scheiten Holz, die sie, vor Herrschsucht keuchend, aus dem Kamin gezogen hatte; sie stopfte sie unter das Sofa und saß knurrend da, wie ein Hund über dem Knochen. Es handelte sich gar nicht um das Holz: sie hatte ihren Willen, ihren verfluchten Willen.

Und es war nicht das Mogeln, die Nachlässigkeit in der Erziehung und der Geiz – es war nicht das. Es war die unbändige Herrschsucht der Familienglucke, die auf Küken und Hahn gleichmäßig hackte. Früher hatte die Geliebte dem Mann die Augen zugeküßt, sodaß er nichts mehr zu sehen vermochte – nun errichtete sie die heiligen Schranken der heimatlichen Hütte, worin sie regierte. Hier war ihr [217] Reich; und der weite Horizont war verbaut. Hier herrschte sie, herrschte mit allen Mitteln. Mit Gewalt, mit Schlägen, mit der Lüge, »wenn man das Wort Lügen von jemand benutzen kann, der nicht weiß, was Wahrheit ist«. Der Familienversorger war da – Rechte hatte er nicht. (Weil er nicht die Kraft hatte, sie sich zu nehmen.) »Da waren schreibende Damen, kranke Damen, faule Damen, junge Damen, schöne Damen«, schrieb Strindberg 1886 von der Schweiz. Die Bertens spielte alle auf einmal. Sie gab einen Extrakt. »Wenn er deren Müßiggang sah, der keine Sorgen, keine Arbeit zu kennen schien, so fragte er sich: wovon leben diese Parasiten?« Und: wovon leben sie? fragen wir uns, wenn wir zänkische Weiber das Portemonnaie ziehen sehen. Seht dahinter den Mann! Den Mann auf dem Kontorbock, auf dem Kasernenhof, im muffigen Laden; und denkt an ihn!

Das Phantom, das die Bertens für ein paar Stunden leben ließ, dachte an ihn. Wie sie ihn haßte! Sie hatte ihn nötig, und es gab kein besseres Mittel, diese Abhängigkeit zu verstecken als dadurch, daß man sie negierte. Der Tölpel, die Tölpel merkten nichts.

Da war der Familientisch mit der gemütlichen Lampe. Ein Flug in die Sonne? Flieg du, wenn die Bleiklumpen der Frauen dich zur Erde ziehen. Nieder! nieder! nieder! Du sollst nicht zu den Wolken, du sollst nicht höher steigen, als wir sehen können, und wir sind kurzsichtig, das ist wahr, aber bleibe bei uns! Lache, schluchze, murre, aber unter unsrer Kontrolle; wir wollen im Nebenzimmer sitzen, wenn du lachst, schluchzt, murrst, damit wir immer wissen, was du grade treibst. Du sollst nicht allein sein, nie! Du könntest auf schlimme Gedanken kommen, am Ende gar auf die Freiheit! Wir sind die Hennen – schlupf unter!

Die Kinder? Wir lieben unsre Kinder. Wie wir sie lieben! Die Bertens hatte diesen empfindlichsten Punkt ihrer Rolle begriffen. Sie haßte ihre Kinder nicht. Sie würde sie wahrscheinlich gegen Fremde verteidigt haben. Das Muttertier liebt seine Jungen; und wenns ein Wechselbalg wird, auch den. Doch Liebe, steht geschrieben, ist nur möglich von Individualität zu Individualität. Dies aber ist eine reflexartige Verbindung, ein geistiges Verhältnis, das auf dem körperlichen basiert – alles, alles, nur keine Liebe.

Und die Resultate? Die Kinder wurden nicht für den Staat und für die Gemeinschaft, sondern immer nur für eine neue Familie erzogen, und die meisten Utopisten, wie auch Cabet, den Strindberg bejahte, bemühten sich, in ihren Mond- und Sonnenreichen den engen Kreis der Familie auszudehnen. Doch das stand auf dem Papier. Die Bertens war greifbarste Wirklichkeit. Und in all dem Brodem, in all den heißen Schlachten mochte vor dem gequälten Mann wie eine Lufterscheinung das friedliche Bild jener andern so seltenen Frau auftauchen, die nicht brauchte, was seiner so bitter nötig tat: eine harte[218] Faust und einen eisernen Willen. Diese andre gab sich so zufrieden, sie strich mit ihren schlanken Fingern dir durch das Haar, verachtete es, sich einen Sklaven zu halten, und liebte den Starken auch ohne die schimmernde Rüstung. Vielleicht war das gar keine Frau mehr? Umso besser: dann war es der beste Lebenskamerad. Und wohl dem, der eine solche Hand halten darf! Er halte sie ganz fest, denn sie ist ein Schatz, den nicht jeder findet.

Hatte er so geträumt? Vielleicht. Aber nun war er tot. Was würde geschehen? Bis dahin waren die Fenster sorgfältig verriegelt gewesen: jetzt wehte scharfe Luft von draußen herein. Es zog; aber es war immerhin keine Stubenluft. Sie hatte ihre Zeit geherrscht – sollte jetzt alles zusammenstürzen? Denn das war das Schlimmste: Magd sein, dienen müssen, einem fremden Willen gehorchen. Niemals. Und sie duckt sich und sucht durch alle Löcher zu entwischen. Noch einmal: Gewalt. Aber der Schwiegersohn ist ein Fleischhacker an Brutalität. Nun denn: Mitleid. Und wie hier die Bertens ein Leierkastenlied auf ihre Jugend, auf ihre bösen Eltern sang: das war hinreißend. Die Sympathie kippte auf ihre Seite. Der Sohn schluchzt. Sie stellt sorgfältig fest: »Hast du Mitleid mit mir?« Ja, er hats. Dann ist es gut. Und als dann die Vorwürfe der Tochter kommen, trommelt sie vergnügt, ruhig, heiter mit den Fingern auf der Stuhllehne. »Ich kann nichts dafür! Ich kann nichts dafür!« Sie hat gebeichtet, Schwächen zugegeben, Entschuldigungen gefunden – sie ist gesichert, ihr kann nichts geschehen. Und da vergißt sie sich, nunmehr ein Stück Natur im Urzustand, vergißt sich und wie alt sie ist, und wird wieder jung und singt. »Der Walzer: ›Er sagte mir‹ wird gespielt.« Und aus ihrem alten Gesicht springt das junge heraus, sie wiegt einen schwerfälligen, fetten Körper im Takt und girrt in hohen Kopftönen. Der Ekel packt einen vor dem alternden Weibchen – es ist derselbe Ekel, den man empfindet, wenn die Natur eine Achtjährige verdorben sein läßt.

Und dann zieht sich die Spirale enger und enger; sie sieht, daß es kein Entrinnen mehr gibt, und sie brüllt vor Wut wie ein gefangenes Tier. Lieber sterben als nachgeben! Sie rast ans Fenster, kauert sich zum Sprung und stürzt hinaus. Wind und Musik! Wind und Musik! Und ihr letzter Gedanke ist: »Macht! Macht!« und: »Ich! Ich!«


Ein Spiel? Gewiß. Wenn aber der Vorhang gefallen ist, blinzeln wir ins Licht, taumeln, sammeln uns und küssen der großen Spielerin ehrfurchtsvoll die Hände.


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1914. Rosa Bertens. Rosa Bertens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-65B3-2