Muff

Am 2. Januar zündet der dresdner Arbeiter Herzog in der Stube den Weihnachtsbaum an, bereitet in der Küche das Abendbrot, räumt seine paar Quadratmeter Wohnung festlich auf . . . Und sagt zu seiner vierjährigen Tochter Ilse, die in der Tür auf der Schaukel baumelt: »Ich hol jetzt Hans und Erna – laß den Baum stehn!« Und dann geht er auf die Straße, um die beiden andern Kinder, die da spielen, heraufzupfeifen . . . Ilse klettert von der Schaukel und schleicht an das Helle, das da leuchtet. Und macht eine Bewegung . . . Das brennende, schreiende Ding, das auf den Hausflur tobt, alarmiert die Nachbarn, und was noch zu retten ist, wird gemacht. Als die Flammen erstickt sind, bleibt ein zuckendes Bündel Schmerzen, das am nächsten Tag erlischt.

Vor dem Schöffengericht unter dem Vorsitz eines Herrn Ambrosius weint der Mann wie ein Kind. Sagt nur immer: »Ich habe das ja nicht gewußt . . . « Und bekommt vier Monate Gefängnis. Wegen fahrlässiger Tötung.

Der Staatsanwalt selbst hatte in einer dieser Kategorie sonst nicht eignen Erkenntnis gesagt, der Angeklagte sei bereits hart genug gestraft, er überlasse die Festsetzung einer Strafe dem Ermessen des Gerichts . . .

Nach Richtergrausamkeit, wie wir sie gewöhnt sind, sieht das Urteil nicht aus. Dieser Prozeß war nicht politisch, auch stand keinerlei irgendwie geartete Autorität auf dem Spiel, das unsre Richter dann stets begeistert auf der Seite des Mächtigen mitspielen. Wer der Unhold war, der diese Strafe ausgesprochen hat, läßt sich nicht feststellen. Wahrscheinlich die Schöffen.

Wer die heimlichen Siebungsmethoden der Justizverwaltung kennt, die einseitig, bewußt die braven Untertanen bevorzugend und unzulänglich die Schöffen und Geschworenen sich so heraussucht, daß den Richtern möglichst wenig Opposition entsteht, der weiß, welche Gesichter unter Laienrichtern anzutreffen sind. Besonders in kleinem Städten und in der Provinz sind es, neben den Fabrikbesitzern und Besitzenden feinster Stände, matte und satte Kleinbürger. Bevorzugt wird der Erzeuger jenes Kleinwohnungsmuffs, der die überkommenen Fibelvorstellungen stumpf und dumm durchs Leben schleppt, die Hände an der Hosennaht, mit treuem Hundeblick zum Vorgesetzten aufblickend, und es ist immer, immer ein Vorgesetzter da. Ich weiß zwar nicht, wie [182] das auf sächsisch heißt, aber ich höre den Bürgersatz, der ebenso gut in Gumbinnen wie in Celle gesprochen sein kann: »Der Mann muß einen Denkzettel haben!« Es ist nachweislich ausgeschlossen, daß das Schöffengericht jemals gewagt hätte, bei einem bessern Steuerzahler mit Dienstmädchen und hölzernem Verdienerkinn solche Fahrlässigkeit anzunehmen, obgleich solch einer doch Personal hat, um kleine Kinder zu bewahren. Geschieht so etwas in einer feinen Familie, so wird wahrscheinlich kaum Anklage erhoben, höchstwahrscheinlich niemals das Hauptverfahren eröffnet, bestimmt freigesprochen. Und hätte der Arbeiter Herzog sein Kind windelweich geschlagen, so daß sein Körperchen nur noch eine einzige Farbenpalette gewesen wäre –: mit 150 Mark wäre das abgemacht, denn das ist etwa der Satz, für den man in Deutschland Rinder und Tiere quälen darf, daß ihnen die Augen herausquellen. Aber hier mischten sich Todesgruseln, Volksstück und eine vage Vorstellung von göttlicher Rache in den Gehirnen, und der Schrei des Opfers: »Wenn ich aus dem Gefängnis komme, mache ich mich tot!« erreichte kein Ohr und kein Herz.

Gott schütze uns vor diesen Schöffen. Reißt die Fenster auf –! Es mufft.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Muff. Muff. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-65DA-A