Marburger Nachwuchs

Der Vorsitzende (verliest eine Urteilsbegründung):

» . . . und, meine Herren, was dem Gericht besonders belastend erschienen ist: der Angeklagte hatte vor der Tat vier Kognak getrunken, obgleich er wußte und nach allen seinen früheren Erlebnissen wissen mußte, wie diese geistigen Getränke auf ihn wirken würden. Als dann sein Feind, der Schneider Vegesack, das Gastzimmer betrat, übermannte den Angeklagten die Wut, und er ergriff das Bierseidel, mit dem er den Zeugen durchaus nicht unerheblich am Kopf verletzte. Wenn der Zeuge jetzt auch von seiner Wunde genesen ist, so verlangt doch das Volksbewußtsein und das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl – ganz abgesehen von der ehernen Notwendigkeit des Gesetzes – –«

(In diesem Augenblick zieht blitzschnell – ohne äußere Veranlassung – vor dem geistigen Auge des Herrn Vorsitzenden, der in Marburg studiert hat, folgendes vorüber:

Eine Chaussee im dichten Nebel. In den grauen Schwaden trotten stumpfsinnig und niedergedrückt etwa zwanzig bis dreißig Männer in Arbeiterkleidung. Soldaten mit umgehängten Gewehren begleiten den traurigen Zug. Vorn, hinten und an den Seiten Offiziere mit blanken Säbeln.

Stimmen: Nicht mehr schlagen! Nicht! Nicht schlagen – Herrgott!

Andre Stimmen: Vorwärts! Schweine!

Ein Offizier: Tretet doch den Lümmeln ins Kreuz, wenn sie nicht schneller gehen wollen!

[366] Ein Arbeiter: Herr Leutnant, ich kann nicht weiter!

Ein Offizier: Wie lange soll denn das noch so gehen, Remer? Wollen wir denn die Spartakistenhunde noch lange so hier mit uns rumschleppen, wie?

Zweiter Offizier: Unsere Anatomie braucht Leichen. Was fliehen denn die Brüder nicht? Mal 'n bißchen an den Graben, Leute! Vastanden?

Die Soldaten: Links ran! Links ran! Geht doch! [Kolbenschläge.]

Arbeiter: Hilfe! Nicht schlagen! Nicht schlagen!

Soldaten: Bullen! Nu man los!

Ein Arbeiter: Nicht fliehen, Kameraden! Nicht fliehen!

Ein Soldat: Hältst du das Maul, verdammter Roter!

Ein Offizier: Lassen Sie doch Schluß machen, Waldner! Wie lange soll denn das noch dauern –?

Zweiter Offizier: Na, nu mal lustig! Wir kommen so nicht weiter!

Soldaten: Rechts ran! Rechts ran!

Arbeiter: Nicht! Herr Leutnant! Herr . . .

Schüsse. Dumpfes Hinschlagen von Körpern. Scharren von vielen grobgenagelten Stiefeln. Ein Leutnant lacht näselnd. Die Körper wälzen sich zuckend auf der Chaussee. Liegen endlich still. Der Soldatenzug zieht ohne die Arbeiter im Nebel weiter. Verschwindet.)

Der Vorsitzende: » . . . von der ehernen Notwendigkeit des Gesetzes – eine exemplarische Bestrafung. Das Gericht hat demnach auf eine Gesamtstrafe von vier Jahren Gefängnis, verbunden mit einem Ehrverlust von acht Jahren und Zulässigkeit von Stellung unter Polizeiaufsicht erkannt. Die nächste Sache!«

Der Angeklagte (ist lautlos in der Anklagebank zusammengebrochen).

Der Vorsitzende: »Justizwachtmeister! Schaffen Sie den Mann weg! Erst prügeln und dann im entscheidenden Moment schlappmachen! Bande! (Zu den Beisitzern): Frühstücken wir nachher in der Krone? Einen delikaten Steinbutt gibts da. Justizwachtmeister! Die nächste Sache! –«


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Marburger Nachwuchs. Marburger Nachwuchs. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-671E-4