Der Hellseher
»Sie . . . sind Hellseher?«
»Ich bin von Haus aus eigentlich Schwarzseher – nun verbinde ich diese beiden Berufe . . . «
»Erfolge?«
»Im Mai des Jahres 1914 notierte ich im Büchelchen: ›Was wäre, [87] wenn . . . ‹ und wollte dartun, was sich begäbe, wenn es zu einem Kriege käme. Begeisterung Unter den Linden, allgemeiner Umfall . . . «
»Wo haben Sie diese Arbeit veröffentlicht?«
»Ich war zu faul, sie niederzuschreiben.«
»Das kann jeder sagen. Wußten Sie denn, daß es einen Krieg geben würde?«
»So wenig wie ich sechs Tage vor Rathenaus Tod wußte, daß er gekillt werden würde. Trotzdem stieß ich am 22. Juni 1922 einen Kassandra-Ruf aus: Was wäre, wenn . . . «
»Und – wie sehen Sie heute? Hell? Schwarz? Hell? Bitte setzen Sie sich. Aber legen Sie nicht die Hand auf die Augen . . . mit mir müssen Sie das nicht machen. Sagen Sie nur, was Sie wissen. Putsch?«
»Putsch trocken. Ich sehe kein Blut. Ich sehe die aufgeregte Insel Deutschland. Faschismus Lagerbräu.«
»Erklären Sie sich näher.«
»Wozu ein Putsch? Die Herren haben ja beinahe alles, was sie brauchen: Verwaltung, Richter, Militär, Schule, Universität – wozu ein Putsch? Immerhin . . . es ist Frühling . . . in Deutschland geschieht nie etwas, aber in den Köpfen steht: es muß etwas geschehn. Es kann schon etwas geschehn. Was wäre, wenn . . . «
»Nehmen Sie etwas Kaffee. Es ist gar kein Kaffee, aber nehmen Sie nur etwas Kaffee, also; der deutsche Faschismus. Was wäre, wenn . . . ?«
»Der Stahlhelm, sorgsam gepflegt unter dem freundlichen Patronat einer Regierung, in der die Sozialisten stets auf die Koalition hinwiesen und in der die Rechten so taten, als wären sie ganz allein . . . der Stahlhelm wird aufmarschieren. Geld hat er. Gedrillt ist er. Passieren kann ihm nichts.«
»Warum nicht –?«
»Weil er die Verwaltung wachsen hört. Weil er alles, was jemals eine Behörde gegen ihn unternimmt, wenn es eine wagte, etwas zu unternehmen, achtundvierzig Stunden vorher weiß.«
»Durch wen?«
»Durch seine Leute, die die Verwaltung durchsetzen wie der Schimmel den Käse.«
»Die Regierung?«
»Die Regierung weiß es, will nichts wissen, ahnt es, möchte nichts ahnen . . . der Stahlhelm weiß.«
»Die Hitlerleute?«
»Halb so schlimm. Furchtbar viel Geschrei; Brutalitäten; Freude an organisiertem Radau; Freude an der Uniform, den Lastwagen und dem Straßenaufmarsch . . . halb so schlimm. Vorspann – sobald sie den ersten Ruck gegeben haben, wird man sie bremsen, die armen Kerle. Es wird da große Enttäuschungen geben.«
»Und was wird geschehen?«
[88] »Äußerlich nicht so sehr viel. Kleine lokale Widerstände der Arbeiter; die sind aber gespalten, desorganisiert, waffenlos, niedergebügelt von einer jahrelangen Vorbereitungsarbeit der Justiz. Die Besten sind nicht mehr. Die Zweitbesten hocken in den Zellen. Der Rest steht auf – und legt sich gleich wieder hin. Müde. Enttäuscht. Ausgehungert. Stempeln, stempeln, stempeln.«
»Ausrufung der Diktatur? Absetzung des Reichspräsidenten?«
»Wo denken Sie hin! Mussolini hat seinen kleinen König; die hier haben ihren breiten Hindenburg. Der bleibt. Der Reichstag wird so gut wie nach Hause geschickt . . . niemand wird ihn vermissen. Denn was die da in den letzten Jahren getrieben haben: so etwas von Leerlauf, von Selbstzweck, von Insicharbeit . . . so etwas war noch nicht da. Eine Karikatur des Parlamentarismus. Der ist fertig. Ein Direktorium, ein Ausschuß, irgend etwas mit harmlos-hochtönendem Namen, das wird regieren.«
»Und wie?«
»Immer verfassungstreu, oho! Druck mit staatsfeindlichen Mitteln auf den Staat – und dann verfassungstreu. Wie sie regieren werden? Viel harmloser, als die maßlos enttäuschten, aber bald gebändigten Kleinbürger glauben. Deren radikale Flügel werden rasch unterdrückt; auch Herr Hitler hat seine Schuldigkeit getan und kann gehn. Es wird keine Revolution sein, so wenig wie die von 1918 eine gewesen ist – Personalböen werden sie machen . . . «
»Bitte, klarer. Was sind Personalböen?«
»Stürme in den Wassergläsern der Ressorts. Absägung der unbequemen Regierungssozialisten; Pensionierung von ein paar hundert Konzessionsschulzen, die sich schlecht und recht durchgebuttert hatten, bis zu diesem Augenblick – und die kindlich erstaunt waren, als es nun so weit war. Die Brüder hatten nie etwas andres gesehen als ›Realitäten‹ – also gar nichts. Von der wahren Kräfteverteilung im Lande fühlten sie nichts; hier mußten ihre Informationen versagen, denn statistisch läßt sich dergleichen nicht erfassen. Die werden verschwinden. Nun wird Deutschland stramm nationalliberal.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht. Mehr ist gar nicht zu erzielen. Das wußten Schacht, Nicolai, selbst Seldte längst, ein paar Nazis wußten es auch, brüllten aber um des lieben Krieges willen mit den andern mit. Außenpolitisch: eine Art Friede mit denen da draußen; verklausulierte Weiterzahlung der Schmachtribute, natürlich . . . wer kann denn auf den Mond fliegen? Platonische Liebe zu Italien, vergessen Südtirol; vage Noten an Frankreich, da geht Briand; Hin und Her; Verhandlungen mit England, mit Genf . . . und an alle: Versprechen der absoluten Bolschewisten-Feindschaft. Das beruhigt ungemein. Was glauben Sie: Deutschland als Hort gegen Rußland! Eine sehr schöne Melodie.«
[89] »Also . . . innenpolitisch?«
»Nicht, was Sie denken. Ein paar Zuchthausstrafen . . . ein paar Roheiten gegen die Juden . . . gegen eine Handvoll Republikaner . . . Beschränkung des Reichsbanners . . . Verbot der KPD – weiter nichts. Ja, und die Beamten werden wieder flegelhaft.«
»Sozialversicherungen?«
»Zeitweiser Abbau – aber auch der halb so schlimm in seiner Auswirkung. Das ginge ja gar nicht. Man wird einiges plakatieren und vieles stehen lassen. Was wirklich abgebaut wird, das wird die Kampfkraft der Arbeiter sein. Auch die zahmsten Gewerkschaften werden nichts zu lachen haben.«
»Also . . . nehmen Sie noch etwas Kaffee, also Jubel im Lande?«
»Gott, ja. Zunächst die übliche Verwirrung, an der Börse. Ach, diese Nase der Börse! Sie riecht alles, was in der Luft liegt – nachher. Übrigens ist es ihnen gleich. Die Börse wird nicht geschlossen werden, und der Kurfürstendamm, dessen Bewohner sich ein paar Tage ängstlich zu Hause halten oder verreisen, wird nicht gestürmt. Pogrome? Nein . . . Dann atmen sie wieder auf. Und alles geht weiter. Eigentlich, werden sie sagen, eigentlich ist ja alles gar nicht so schlimm.«
»Die Zeitungen?«
»Alle Obrigkeit kommt von Gott. Man muß sich nicht gegen das Gegebene auflehnen – das bekommt dem Inseratengeschäft nicht. Es sind Musterschüler; sie werden eine gute Zensur bekommen. Nach vier Wochen ist Ruhe im Lande . . . ›Wenn auch . . . so doch immerhin . . . ‹«
»Schlafen Sie nicht ein!«
»Verzeihen Sie: ich sah im Geiste Leitartikel. Geben Sie mir bitte noch etwas Kaffee. Auch in den Provinzstädten wird man auf die Dauer nicht zufrieden sein. Gewiß, die Jugend ist verhetzter als je, die Studenten hochfahrender, die Umzüge zahlreicher . . . aber die Jugend hat im Grunde andre Sorgen. Und dann eben . . . langsam . . . die Enttäuschung . . . «
»Worüber?«
»Daß Berlin nicht dem Erdboden gleichgemacht ist. Daß die Not andauert. Daß auch jetzt nicht die Arbeitsgelegenheiten aus der Luft geflogen kommen. Daß die Butter nicht billiger wird. Leise, ganz leise kommt die Unzufriedenheit. Davon spricht aber kaum einer.«
»Die öffentliche Meinung?«
»Bewußt entpolitisiert, bei einem Höchstmaß von politischen Schlagworten. Bündischer Unfug . . . Demonstrationen . . . Fahnen . . . im übrigen lenkt uns eine hochwohlweise Regierung. Das haben die Deutschen immer so gehalten. Verloren ist allerdings, wer in diesen Jahren der Justiz in die Finger fällt. Mit dem ist es dann aus. Kurz: es ist eine Nachahmung des Faschismus – so, wie sie alles nachahmen [90] . . . finanziell, aber moralisch aufgebessert. Man wird ihnen geben, was sie brauchen, und wen sie brauchen. Kurz: es ist eine Nachahmung des Faschismus – so, wie sie alles nachahmen . . . wie sie nicht einmal fähig sind, sich eine Bewegung für sich und aus sich heraus zu schaffen. Der Marsch auf Rom! Das war ein faszinierender Filmtitel. Auf Berlin marschieren sie gar nicht. Nach Berlin werden sie nur fahren, wenn sie sich von der Mittelstadt erholen wollen. In Berlin fallen sie nicht auf, wenn sie auf die Weiber gehen. Widerstand –? Verzeihung . . . ich fühle, daß Sie das fragen wollen . . . Widerstand? Nein, den finden sie wohl kaum. Von wem denn auch? Von dem bißchen Republik? Die hat in zwölf Jahren nicht verstanden, echte Begeisterung zu wecken, Menschen zur Tat zu erziehen, nicht einmal in ruhigen Lagen, wie denn, wenn es Kopf und Kragen zu riskieren gilt? Widerstand? Lieber Herr, das Land ist so weit entfernt von jeder Revolution! Dies ist ein Volk, das noch nicht einmal liberal ist. Die vielgelästerte Verwestlichung ist gar nicht so tief eingedrungen . . . sie halten mildübertünchte Korruption für Parlamentarismus, wirres Geschwätz aller für Selbstbestimmungsrecht, Ressortstank für Politik, Vereinsmeierei für Demokratie . . . sie sind nie liberal gewesen, auch 48 nicht. Sie spüren nicht, daß die Welt um sie herum anders denkt und anders fühlt . . . sie spielen ihren politischen Skat ohne Partner. Wirft der andre die Karten hin, dann glauben sie, sie hätten gewonnen. Es ist ein Inselvolk.«
»Die deutschen Brüder im Ausland?«
»Werden sich ein paar Unannehmlichkeiten mehr zuziehn. Und das bißchen Kulturfassade, das kleine bißchen deutscher Freiheit – es ist zum Teufel.«
»Das ist alles?«
»Das dürfte alles sein. Ob es geschieht, weiß ich nicht. Wenn aber –: dann so. Übrigens . . . ich bin Hellseher . . . ich hatte eine Vision: Sie werden mir diese Sitzung honorieren . . . Ich dachte an hundert Mark?«
»Hier haben Sie ein Bildnis Hindenburgs. Und lassen Sie sich draußen in der Küche ein paar Butterbrote geben . . . Gott befohlen, junger Mann!«
»Heißen Dank, gnädiger Herr. Wenn Sie wieder etwas brauchen: Nepomuk Schachtel, Hellseher und Original-Astrologe mit ff. indischen Erkenntnissen. Täglich von 9 bis 8, Sonntags geschlossen. Und empfehlen Sie mich in Ihrem werten Bekanntenkreise –!«