Macht und Mensch

Der mathematische Grundriß zu Heinrich Manns Roman ›Der Untertan‹ ist erschienen: der Essay-Band ›Macht und Mensch‹ (bei Kurt Wolff in München). Hier ist herausgeschält, was dort unter Fleisch und Muskeln verborgen lag, hier hat einer sauber die Adern herauspräpariert – und klar und übersichtlich liegt das ganze große Netz vor uns. Es ist das bedeutendste Buch, das die Übergangsperiode hervorgebracht hat.

Demokratie war den Deutschen ein leerer Begriff. Unter dem Kaiser war das suspekt, demokratisch zu sein – und es hieß damals so viel wie heute bolschewistische nämlich, nach dem Wort des klugen Geheimrats Krüger: »Bolschewistisch ist alles, was einem nicht paßt«. Dafür sagte man damals demokratisch; man durfte auch liberal sagen – es kam auf dasselbe heraus. Diese Worte hatten allenfalls eine theoretische, politische, abstrakte Bedeutung – mit dem täglichen Leben hatten sie gar nichts zu tun. Das wandelte sich.

Der kleine Novemberschwips des Jahres 1918 hielt ganze sieben Tage an – dann begründeten sie die Deutsche Demokratische Partei, die mit der Idee der Demokratie so viel zu tun hat wie die Schopenhauer-Gesellschaft mit Schopenhauer. Wenn bei uns die Ideen populär werden, dann bleibt die Popularität, die Idee geht gewöhnlich zum Teufel. Die Idee, diese Idee in ihrer vollen Reinheit, die Idee der Demokratie – sie lebt in diesem Buche.

Der Band enthält die wichtigsten politischen Essays Heinrich Manns: ›Geist und Tat‹, jene erste Arbeit, mit der der Aktivismus in Deutschland eingeführt wurde, das heißt: der Gedanke, daß ein Parteiprogramm, das den Leuten nicht in allen Geschäften des Tages wehe tut [359] oder sie anfeuert, zu nichts nutz ist. Er enthält des weitem den kleinen Aufsatz ›Reichstag‹, wohl das Vollendetste, was in den letzten Jahrzehnten überhaupt über die deutsche Politik geschrieben worden ist. Auf diesen sechs Druckseiten ist das politische Elend, die gänzliche Stagnation, die Trostlosigkeit dieses Bürgertums – und Bürger sind fast alle – ist all das eingefangen. Ich zitiere diesen Aufsatz seit dem Jahre 1911 – und er stimmt immer. Es hat vor dem Kriege gestimmt, es traf erst recht im Kriege zu, als sich ein ganzes Land von seiner Militärkaste unterjochen ließ, ohne es zu merken und ohne es jemals zuzugeben – und es trifft heute noch zu, heute noch . . . Da steht von den Konservativen: »Dies Lächeln! Es sagt: Komödie! Ihr alle seid Objekte der Gesetzgebung, die Subjekte sitzen hier. Es sagt: Ein Leutnant mit zehn Mann. Es ist ein Lächeln von Holofernes bis Dschingis Khan. Es ist das Wulstlächeln aller Schweine der Weltgeschichte: aller Herrenschweine.« Da heißts von den Liberalen: »Droben steht jetzt ein Freisinniger und beweist den Sozialdemokraten, daß sie beim Ausbruch eines Krieges gestreikt haben würden. Er ist sichtlich überzeugt, daß er heute gar nichts Besseres tun könnte. Die Ironie rechts sieht und hört er nicht; flammend reckt er sich nach links und gegen den Umsturz. Die Wollust, positiv und erhaltend zu sein, macht ihm Kongestionen, er weiß nichts mehr. Und der Mann ist Jude. Sein Leben ist sicher nicht vergangen, ohne daß er die Feindseligkeit des christlich geschminkten Feudalstaates erfahren hat. Wenn er den Kopf wenden wollte, auf wie viele Blicke würde er dort rechts treffen, worin nicht freche Geringschätzung läge? Gleichviel, er sieht nicht hin, und für einen Augenblick ist auch er ein Herr, ein Machthaber, der zum Volk vom Pferd spricht (bevor es ihn wieder abwirft) und hinter sich Edelleute und Priester hat. Die Instinktverlassenheit dieses Bürgertums ist vollständig.« Da steht von dem Deutschen und seinen vorgesetzten Behörden: »Was er über die Diplomaten vorbringt, klingt flau; man hört die Demut, die sich einen Stoß gibt, um Ungezogenheit zu werden. Überlegenheit wird sie nicht. Die ›Herren dort oben‹ bleiben oben, noch im tiefsten Sumpf. Der Bürger läßt es ohne Widerspruch geschehen, daß auf alle seine Beschwerden der Staatssekretär als Antwort einen Witz macht. Warum sollte der Staatssekretär es sich schwerer machen? Seine wahre, ach, so schlecht weggekommene Gestalt kennt nur Europa. Hier drinnen sieht man nicht ihn bloß in gelber Weste, man sieht ihn gepanzert. Alle seinesgleichen, die sich draußen ducken müssen, in ihrem geistigen Elend, ihrem trüben Mangel an Weitläufigkeit und Kenntnis der Geschäfte: sooft sie zurückkehren aus den Niederlagen, die englische Kaufleute und französische Literatur ihnen beigebracht haben. Aha! welch ein Prunken vor den verschüchterten Landsleuten, welch Auftreten, welche furchteinflößende Autorität – zwischen den Niederlagen!« Auch nach der Niederlage noch.

[360] Und es befindet sich in dem Buch ein Meisterstück der Geschichtsschreibung: der Abschnitt ›Kaiserreich und Republik‹. Anilinglanz, Rutsch in die Katastrophe und die falsche Revolution – sie sind alle drei noch nie markanter in Sätze deutscher Sprache eingefangen worden. Die hohle Natur des deutschen Kaisers, sein begeistertes Volk, dessen Blüte er war, der Krach im heißen Sommer Vierzehn und das Gleiten in einen Abgrund, dessen Tiefe selbst jene nicht ermessen hatten, die, mit den laschen Händen am Steuer, damals vorn und obenauf saßen – das ist hier zu finden. Und diese Abhandlung ist deshalb so groß, weil sie en bloc ablehnt. Weil sie nicht ›gerecht‹ wägt und dem Kaiser läßt, was des Kaisers ist, sondern weil sie einfach sagt: Nein. Nun kann nur Nein sagen, wer das Ja tief in sich fühlt und dieser weiß, was das ist: Demokratie. Dieser hat begriffen, daß sie nichts ist, was nun in den politischen Kegelklubs zu Hause ist und überhaupt etwa nur in den traurigen Parlamenten – sondern daß sie eine Sache des Herzens ist. Daß sie nichts ist als das tiefe Gefühl: Es gibt etwas auch außerhalb der Berufe und der sozialen Positionen, das uns alle gleich macht, soweit Menschen gleich sein können. Und sie können gleich sein. Mütter fühlen das. Männer können es auch. Wir spielen Rollen – aber wir sind eines Stammes, Und nur so kommen wir weiter, wenn wir das menschliche Niveau erhöhen, »Seine großen Männer! Hat man je ermessen, was sie dies Volk schon gekostet haben? Wieviel Talent, Entschließungskraft und adliger Sinn unterdrückt worden ist, was an Demut, Neid, Selbstverachtung gezüchtet ward, und was versäumt ward in hundert Jahren an der Nivellierung, der moralischen Höherlegung der Nation, damit in unermeßlichen Abständen je ein Manneswunder und Ausbund aller Herrlichkeit erscheinen konnte, übermästet von der Entsagung ganzer Geschlechter und dem lebenden Dünger der Nation entsprossen wie eine tierisch fette Zauberblume. Nun liegt und betet an!« Und sie beten an. Es ist so schön, anzubeten – die Macht anzubeten, einfach: die Macht.

Und es zeigt sich des weitem in den literarischen Aufsätzen des Buches, in jenen, die scheinbar nur über Zola oder über Voltaire sprechen, aber in Wirklichkeit doch nur über dies: wie die Macht den Menschen tötet – es zeigt sich auch in ihnen, daß der schlimmste Götzenglaube feuerländischer Insulaner Mathematik ist gegen diesen europäischen Glauben: den Glauben an die Macht.

Muß noch gesagt werden, daß dieses Buch, wie alles von Heinrich Mann in einem Kristallklaren Deutsch geschrieben ist, daß die Sätze springen, sich jagen, daß der Hieb sitzt, und daß die herrlichste Stilisierung nicht zuläßt, an der einmal erkannten Wahrheit zugunsten des Ornaments zu drehen? Ein Zivilisationsliterat? Ein großer deutscher Schriftsteller.

Werner Mahrholz hat neulich in der ›Vossischen Zeitung‹ das Ethos [361] Manns bemängelt – es käme nicht aus dem Herzen, er sei selbst ein Mann des wilhelminischen Zeitalters, ein Jongleur, ein Spezialist des Gefühls, Virtuos . . .

In den Romanen ist etwas davon, vielleicht hier und da ein Quentchen. In den Romanen ist die Liebe zur leuchtenden Verwesung, zum bunten Lärm und zur überheblichen Absonderung. Aber nicht im Ethos, grade da nicht. Der Künstler muß sich mit seinen Gestalten identifizieren – aber nicht mit ihrem Ethos so, daß neben dem einen kein andres Geltung haben sollte. Der Roman ist – wie Mann in dem Essay›Zola‹ aufzeigt – das Produkt der Demokratie. Alle – aber alle nebeneinander. Der ist kein Schauspieler. Und wären die ›Armen‹ noch mißglückter –: es ist kein Beweis gegen den Politiker. Der zuerst aus dem Wege räumen muß, was uns alle am Atmen und Leben gehindert hat und noch hindert. Haß reinigt. Man muß also nicht für Heinrich Mann eintreten, wie Mahrholz meint, soweit es allein ums Artistische ginge – das ist eine Sünde –, sondern man muß grade für ihn eintreten, wenns ums Politische geht. Und wenn jener fragt: »Soll er Führer einer Jugend sein?« so weiß ich, daß ich nicht für die Schlechtesten meiner Altersgenossen und der Jüngeren spreche, wenn ich sage: Wir folgen ihm.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Macht und Mensch. Macht und Mensch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-69C6-5