Die Anhängewagen
Ich sage: »Sagen Sie mal«, sage ich, »was schreiben Sie denn jetzt so –?« »I«, sagt er, »wir schreiben doch heute nicht mehr«, sagt er. »Wo die andern schon alles geschrieben haben – wozu sollen wir noch mal –?«
Es ist Bert Brecht nachgewiesen worden, daß er bei einer Übertragung aus dem Französischen einen Übersetzer bestohlen hat. Er hat darauf geantwortet: das beruhe auf seiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums. Das soll sehr rebellisch klingen – es ist aber nur dumm.
Brecht, der es nicht nötig hat zu stehlen, weiß natürlich genau, daß auch andre so lax sein könnten wie er; wenn ihm ferner heute etwa bewiesen würde, daß seine schönsten Gedichte nicht von ihm, sondern von dem Gelegenheitsdichter Ewald Bornhacke aus der Großen Frankfurter Allee stammten, so wäre es aus mit der Laxheit. Es scheint da auf die Quantität anzukommen: als kleinen Entschuldigungsgrund führt Brecht an, er habe von 625 Versen nur 25 von Herrn Ammer übernommen, wobei denn zu fragen wäre, wo die Kriminalität anfängt.
Brecht ist ein großes lyrisches Talent. Daneben ist er ein Schludrian, der sich mächtig amerikanisch vorkommt, wenn er die Unbildung seiner Kritiker dazu benutzt, um Geld zu machen. Ermöglicht wird ihm das durch die Überschätzung der Nachdichterei.
Wenn die Bäume alt werden, schlingt sich Efeu um die Aste. In besonders [69] schlimmen Fällen sind es Moos oder andre Parasiten, die Saft und Kraft aus den alten Bäumen ziehen – ohne sie vergingen die Schmarotzer. Die halbe Literatur ›bearbeitet‹, ›überträgt‹, ›richtet ein‹ – es gibt da eine schöne Terminologie, um die eigne Einfallslosigkeit zu übertünchen. Wenn man das so alles mit ansieht, kommt man sich reichlich töricht vor, daß man sich seinen Kram noch allein ausdenkt. »Die andern haben schon – wozu sollen wir noch mal?«
Die Technik dieser Nachfühler ist, in den guten Fällen, unmerklich raffiniert. Sie kriechen in das Vorbild, saugen es ganz auf und schmücken sich mit fremder Kraft.
Das fängt bei den Biographien an. Der Biograph läßt fremde Muskeln schwellen. Und wenn er eine Weile damit herumgelaufen ist, dann macht er uns glauben, es seien seine eignen. Er beginnt, uns den großen Mann verständlich zu machen, was meistens auf Konto des Beschriebenen vor sich geht, und zum Schluß verwechselt der eingeschläferte Leser den Beschriebenen und den Beschreibenden. Damit es keine Mißverständnisse gibt: ich finde diesen Trick nicht in den Ludwigschen Biographien, aber in sehr vielen andern, besonders bei Stefan Zweig. Es ist da eine Schwäche, die sich als Stärke gibt, jener nicht unähnlich, mit der unfähige Dramatiker ihren Helden einen genialen Maler sein lassen; sie habens dann leichter. Aber dieser Fall ist noch harmlos gegen die Bearbeiter.
Es ist bei der Bearbeitung eines alten Stücks sehr schwer zu kontrollieren, was vom Verfasser und was vom Bearbeiter stammt. Der Fall Shakespeare gehört nicht hierher; erstens waren damals die Auffassungen vom geistigen Eigentum nicht lax, sondern kaum ausgebildet, und zweitens hat der nun wirklich die alten Stoffe nur zum Anlaß genommen.
Bei den Heutigen ist es Faulheit, Phantasielosigkeit, Wichtigtuerei und Abwälzung der Verantwortung auf einen, der sich nicht mehr wehren kann. »Was gut ist, stammt natürlich von mir – den Rest mußte ich übernehmen.«
Die maßlose Überschätzung einer solchen Arbeit wie des Zweigschen ›Volpone‹ beruht auf der Unkenntnis alter Literatur und auf jener Halbbildung, die sich nicht getraut zu kritisieren . . . sie hat auch kaum noch ein Recht dazu. Diese Dünnblütler zecken sich an die alte, verschollene Kraft, vielleicht bearbeiten sie wirklich ganz gut – aber sie sollen sich doch erst einmal hinsetzen und selber so etwas erfinden! Sie können es nicht.
Ein Film nach einem Stück; ein Stück nach einem Roman; ein Roman nach einer Biographie . . . der jämmerliche Lauf immer hinter der Konjunktur her verdirbt die Besten. Was Remarque kann, kann ich auch – und nun kommen sie alle gelaufen. Und weil man so schnell nicht dichten kann, wie die Verleger und Theaterdirektoren telefonieren, [70] deshalb machen sie sich das Leben angenehm und dichten nach. Anhängewagen.
Brecht hat bereits seinen Fall Rimbaud hinter sich, wo die Sache ähnlich lag. Ich bin kein Plagiatschnüffler; ich weiß, wie halb verwehte Klänge haften, wie einem Erinnerungen aufsitzen, wie man unbewußt plagiieren kann, aber weil ich es weiß, passe ich auf. Zu denken, daß sich unsereiner quält, wegläßt, weil vielleicht diese Zeile zu sehr an eine von Mehring erinnert . . . ich habe den größten Respekt vor geistigem Eigentum und eine ebenso große Verachtung für literarische Einbrecher.
Wir sollten der Verschmutzung unsrer Literatur vorbeugen. Wenn Bert Brecht die Pose des literarischen Diebs annimmt, so muß er sich gefallen lassen, daß man ihn danach bewertet und bei jedem seiner nächsten Verse fragt: »Von wem ist das?« Es ist im tiefsten unehrlich, was er da treibt.
Auf den ersten Theaterzetteln der›Dreigroschenoper‹ hieß es noch, ganz hinten, da, wo Inszenierung und Dekoration standen: »Bearbeitung: Brecht.« Das war ein bißchen kokett, mochte aber angehen. Schließlich ist das Stück ja nicht von ihm. Das war, als man noch nicht wußte, ob es ein Erfolg werden würde.
Nun, da das alte englische Stück, aufgeputzt mit Versen, die gleichfalls nicht alle von Brecht stammen, ein Erfolg geworden ist, hat er die Kühnheit, ein Heft herauszugeben, auf dem zu lesen steht: »Brecht, ›Die Songs der Dreigroschen-Oper‹«. Auch diese sind nicht alle von ihm. Es ist mehr als eine Kühnheit – es ist eine literarische Lüge.
»Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr. In Bälde erfriert es schon von selbst . . . « Das wollen wir hoffen. Und langsam wieder die alte Bezeichnung einführen, die um 1890 Mode war: »Originalroman von . . . «
Lasset uns in Zukunft Dichter loben, die sich ihr Werk allein schreiben.