Herr Konferenzrat Andersen

Das war ein merkwürdiger Koffer. Sobald man an das Schloß drückte, konnte der Koffer fliegen. Er drückte, und wips! flog er mit ihm hoch über die Wolken hinauf . . .

Andersen: ›Der fliegende Koffer‹


Freundlicher Mann im Reisebüro zu Kopenhagen! Du hast mir zwar verboten, nach Odense zu fahren, wo der Märchenerzähler und spätere Staatsrat H. C. Andersen geboren ist – aber ich bin doch seinem Leben nachgeklettert, so gut ich konnte. Sei mir nicht böse, Reisemann – das ist die Liebe, die dumme Liebe.

Es ist ja immerhin der, der die schönsten Märchengeschichten der Welt erzählt hat – gesungen hat – hörst du den leisen Pfeifenton, in dem er sie sang? Perlmuttmatt spiegelt sich seine Ironie in der Abendsonne – einmal: »Sein Bart war eher rot als weiß – denn, er war rot«, von einem Mops: »Er ist gleichsam ein Mitglied der Familie, anhänglich und wütend«; und wenn gar die Gegenstände, die der Tor als ›tot‹ anzusprechen gewohnt ist, zu reden beginnen, dann nicken wir allesamt mit dem Kopf – denn so, genau so reden natürlich Halskragen, Zinnsoldaten und Teekessel. Und weil es nicht selten vorgekommen ist, daß Leute aus Japan nach Dänemark gekommen sind, nur, um zu sehen, wie denn der Dichter von›Des Kaisers neue Kleider‹ gewohnt hat – so darf ich es auch.

Geboren also in Odense, wo in einem Häuschen, das nicht einmal authentisch das Geburtshaus ist, Bilder, Zeichnungen, Stiche und Erinnerungen aufgebaut sind – viele davon waren wohl auch in Berlin, als dort vor zwei Jahren eine Andersen-Ausstellung stattfand. Aus Odense nach Kopenhagen – und dann an die Lateinschule. In die Lateinschule von Slagelse, wo er ins Tagebuch schrieb: »Unglücklicher! Ich habe im Latein elend abgeschnitten. Handwerker oder eine Leiche ist deine Bestimmung!« Das waren Andersens Leiden, und es ist überhaupt reizvoll zu lesen, wie dieser leise, bescheidene und feine Schriftsteller im Leben ein recht betriebsamer und fast aufdringlich zu nennender Herr gewesen ist, der sein Stammbuch mit allerlei Berühmtheiten zu füllen eifrig bestrebt war; der, von innerer Unruhe getrieben, reiste und reiste und sich in der Spiegelgalerie seiner Eitelkeit nicht oft genug sehen konnte, dieser unermüdliche Vorleser seiner selbst. Zugegeben: er kam ganz von unten herauf, und der Weg nach oben war weit. Das knatterte unterwegs von törichten Ratschlägen der Wohlmeinenden. »Können Sie nicht tun, worum ich Sie so oft gebeten habe: nicht so viel an sich selbst zu denken? Sie müssen doch begreifen, daß [278] auf diese Art nie etwas anderes aus Ihnen wird als Sie selber.« Und dies Schreckliche ist ja denn auch eingetreten.

Merkwürdig, daß er sofort mit dem Allerstärksten begann: ›Die Prinzessin auf der Erbse‹ findet sich bereits im ersten Märchenbändchen, auch ›Der große und der kleine Klaus‹ und ›Das Feuerzeug‹. Vorher waren da allerlei Versuche (»Gott bewahre uns!« würden seine Kobolde sagen) – und ich weiß nicht, ob Sie wissen, was ich nicht gewußt habe, daß nämlich ›Es geht bei gedämpfter Trommel Klang‹ die Übersetzung eines Andersenschen Gedichtes durch Chamisso ist. Und dann kam also die Berühmtheit. Aber bis es soweit war . . .

Andersen ist durch Mäzene unterstützt worden – und für einen so eminent unpolitischen Menschen war das ja nur ein Glück. Gibt es eigentlich heute noch Mäzene? Musiker bedürfen ihrer und dürfen annehmen, ohne daß ihre Seele Schaden erleidet – bei uns andern ist es ja eine doppelschneidige Sache; denn man weiß doch nie genau, was der Herr Großkaufmann für die Rente erwarten: an Geschriebenem und noch mehr an zu Verschweigendem . . . Andersen bekam, nahm, wuchs . . . Was war das für ein Mensch?

Sieht man das Bild Grahls an, das aus dem Jahre 1846 stammt (und auch in Berlin hing), so ist da der Kopf eines Literaten der Zeit, weich, monoman, nicht angenehm – wen hat dieser Mensch geliebt? Was hat er geliebt? Es gibt da die überlieferten romantischen Frauenverehrungen, das ist wahr – aber es ist etwas Verkümmertes in diesem Kopf, etwas nicht Gereiftes, Heruntergeschlucktes . . . Nachher, im Alter, das gefaltete Gesicht eines Rezitators – später die Idylle des Greises . . .

Gewohnt hat er als ganz junger Mensch, damals, als er noch zum Theater gehen wollte, in der Holmensgade Nr. 8 zu Kopenhagen, und das Haus steht noch. Das war im Jahre 1821 – aber das schmiedeeiserne Geländer des Treppenhauses ist noch gut erhalten . . . Auch die dicken Damen, die das Haus von oben bis unten lächelnd erfüllen, scheinen noch aus der Zeit zu stammen – sie sind ›de l'époque‹, sozusagen. Sehr fett sind sie alle, auf dem Kopf superoxydblond gefärbt, und im Papierladen gegenüber kann man ›Erlebnisse aus der Hochzeitsnacht‹ kaufen, Gott bewahre uns! Die Straße war schon damals nicht sehr fein, und heute ist sie es erst recht nicht, obgleich sie nur ein paar hundert Meter von der kopenhagener Börse entfernt liegt, an ganz respektabeln Straßen. Und keine Prinzessinnen auf der Erbse wohnen da.

Das Haus, in dem der arrivierte Andersen wohnte, liegt Nyhavn 20, an einem der Kanäle, wo die Masten ragen – und keine Tafel kündet, daß einer der größten dänischen Künstler dort gewohnt hat. Im Hof liegen Speicher mit den Rollen der Krane – verachtungsvoll sah eine Katze auf mich herab . . . Ich sprach sie auf katzisch an, aber sie hatte wohl Andersen nicht gelesen, und sie verstand mich nicht.

Ja, das war der, der den ›fliegenden Koffer‹ geschrieben hat . . . Das [279] war sicherlich eine romantische Sache: denn Koffer, die fliegen, gab es nicht. Und dem jungen Kaufmann, der da im Koffer herumflog und sich der Prinzessin als Türkengott vorstellte, war recht unwohl, als er da so durch die Lüfte flog und der Boden des Koffers leise knackte . . . Wir flogen in unserm Koffer zu vier – von Kopenhagen nach Hamburg –, und es war so ziemlich das Gegenteil von Romantik. Einer schnarchte, einer reinigte sich die ganze Zeit die Nägel, einer las, und ich sah hinaus: wie wir über Dänemark durch das gute Wetter flogen, über den Wolken, und in Deutschland durch graues Wetter, unter den Wolken, und ich verkniff mir jede Allegorie. Und auf der Erde sah ich keine Türken, die da hüpften, daß ihnen zur Freude die Pantoffeln um die Ohren flogen – und keine türkische Prinzessin stand auf dem flachen Dach ihres Hauses und wartete auf uns . . . Oh, Andersen – wie hat sich das alles geändert! Keine Elfen tanzen mehr, und keine Kobolde laufen durchs Gras, und wenn du einen Teekessel reden hören willst, mußt du schon ins Parlament gehen – ach, Andersen!

Du hast so nach Anerkennung gelechzt, dein Leben lang! Wenn Herr Konferenzrat erlauben und wenn es Herrn Konferenzrat Freude macht: Herr Konferenzrat sind unser Aller-Allerbester! In diesem Sinne, Herr Konferenzrat, mit einem Gläschen Fliederblütentee: Skal –!


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Herr Konferenzrat Andersen. Herr Konferenzrat Andersen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6B2C-2