Wahlunrecht

Die deutschen Soldaten dürfen dieses Mal nicht mitwählen. Sie haben noch nie gedurft, und diese alte und unrechtmäßige Verkürzung von Staatsbürgerrechten hat sich, wie manches andre, von der Monarchie auf die Königlich Preußische Republik vererbt. Die Politik soll nicht ins Heer getragen werden . . . sagen sie. Aber wenn sie noch lange machen, so wird sich das Heer in die Politik tragen.

Die Begründung zu der Vorschrift des Reichstagswahlgesetzes, nach der das Wahlrecht der Soldaten während der Dauer ihrer Zugehörigkeit zur Wehrmacht ruht, ist keine Begründung, sondern ein Vorwand. Der Grund ist Angst. Was die Regierung eigentlich fürchtet, ist nicht ganz einzusehen; nur das Faktum der vollen Hosen steht fest. Die Vorschrift ist praktisch überflüssig, und wir haben ein krasses Beispiel ihrer Unvernünftigkeit gleich bei der Hand: das Wahlrecht der Sicherheitswehren.

Die Mannschaften der Sicherheitswehren dürfen wählen. Sie wählen, treiben Propaganda, unterliegen der politischen Propaganda, und der Staat geht nicht unter. Daß diese Militärs ›Landesbeamte‹ und nicht Soldaten genannt werden, ist eine preußische Verlogenheit. Wen täuscht man damit? Es sind Soldaten. (Die Draperie der Beamtenschaft wurde seinerzeit von dem Sozialdemokraten Wolfgang Heine in die Welt gesetzt; der Papa von das Kind ist der Hauptmann von Pabst, später Hochverräter.) Die Mannschaften und Offiziere der Sicherheitswehr wählen also – und können übrigens auch gewählt werden –, und es ist uns bekannt, wie stark der Staat auf diese Sicherheitswehren zählt. Nach den Informationen aus dem Reich scheint es, als seien wenigstens die Mannschaften dieser Formationen durchaus nicht alle so umgefallen wie ihre Offiziere.

Während diese also ohne Schaden wählen dürfen, bestimmt das Wahlunrecht, daß hunderttausend erwachsene Männer zwölf Jahre lang eine Regierung schützen müssen, bei deren Zusammensetzung sie nichts zu sagen haben. Wenn also das Volk am sechsten Juni eine ultrareaktionäre Mehrheit wählte und sich aus dieser eine Regierung bildete, und wenn Herr Ebert verschwände und Herrn Hindenburg Platz machte, so hätten dieselben Hunderttausend, die eben noch einer demokratischen Regierung Treue geschworen haben, mit derselben unwandelbaren Treue hinter der neuen reaktionären Regierung zu stehen. Das ist der neudeutsche Eid: der Eid mit dem auswechselbaren Boden.

Denn das Heer steht ja nur für Ruhe und Ordnung, nicht wahr? Aber Ruhe und Ordnung sind sehr dehnbare Begriffe, und was dem einen ein staatsrechtlicher Vorgang erscheint und ein geschichtlicher dazu, wird von dem andern mit zehn Jahren Zuchthaus bewertet, [348] wobei es allerdings darauf ankommt, ob man Ludendorff oder Leviné heißt.

Ob es nicht schon ratsam wäre, jedem Soldaten den Austritt aus der Wehrmacht zu ermöglichen, wenn er seine Zugehörigkeit zu ihr nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren kann, steht dahin. Daß man ihm aber Gelegenheit geben muß, auch seine Stimme zu der wichtigsten deutschen Wahl zu geben, ist gewiß.

Die politisch mundtot gemachten und wie die unmündigen Kinder behandelten deutschen Soldaten werden sich bei der Regierung zu bedanken haben.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1920. Wahlunrecht. Wahlunrecht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6B3A-2