Lourdes
Lourdes
I Der Soldat Paul Colin
Der Soldat Paul Colin von den elften Husaren, aus Liart (Ardennen) gebürtig, fuhr am 6. August 1914 zu seinem Truppenteil, der bei Tarbes in Garnison lag. Er traf alle seine Freunde aus der Dienstzeit. Am 15. September hielten dieselben jungen Bauern, Handwerker, Angestellten, als Husaren verkleidet, vor der großen Kirche in Lourdes – zum Abschiedsgottesdienst. Der Bischof von Lourdes und Tarbes, Monseigneur Schoepfer, stand in vollem Ornat auf dem weiten Platz, mit der gesamten Geistlichkeit. Zehn Schritt von ihm entfernt: der Regimentsstab. Armee und Kirche – beide fühlten ihre Zeit gekommen, beide wußten: Autorität gedeiht im Kriege. Sie standen Schulter an Schulter. Da richtete sich der Regimentskommandeur, Herr de la Croix-Laval, vor der Front im Sattel auf und wandte sich erst zu seinen Leuten und dann zum Prälaten. Die Tausende hörten diese Worte:
»Und nun, Priester des ewig lebendigen Jesus Christus, fleh auf uns den Segen des Allmächtigen herab! Er soll mit uns sein und mit [54] denen, die uns teuer sind! Er soll vor allem aber mit unsern Degen sein und uns den Sieg verleihen!« Zum Regiment: »Sabre en mains!«
Und der Bischof von Lourdes und Tarbes segnete die elften Husaren und flehte auf die Streiter Jesu den Segen des Himmels herab.
So schied der Soldat Paul Colin von der Heimaterde, gesegnet von seiner Kirche.
Der Soldat Paul Colin bekam an der belgischen Grenze in einem Wäldchen, dessen Namen er sich niemals merken konnte, einen Schuß in den rechten Oberarm. Anfangs war das eine leichte Wunde, und das erste Feldlazarett behandelte ihn entsprechend. Er wollte seiner Truppe wieder nachgehen, als es im Arm zu zucken begann. Da mußte er bleiben. Und dann transportierten sie ihn in ein größeres Lazarett und von dort in das Asyl von Unsrer Lieben Frau zu Lourdes (Hilfslazarett Nr. 32), und da lag er nun. Das Zucken war längst zum! schneidenden Schmerz geworden, und sie hatten ihm gesagt, daß es ein innerlicher Bluterguß wäre; was sie aber nicht gesagt hatten, war ein kleines Wort, das über sein Schicksal entscheiden konnte. Brand.
Blut und Eiter liefen aus der Wunde, Geruch und Schmerzen waren gleich unerträglich, und weil es damals, wie man weiß, etwas hart herging, so schafften sie den zukünftigen Kadaver in die Leichenhalle, die grade leerstand. Da belästigte der Soldat Paul Colin keinen, und außerdem lag er gleich da, wohin er sicherlich in ein paar Stunden gehörte.
Die Schwester Mathilde, vom Schwesterorden aus Nevers, dem Orden, dem die selige Bernadette angehört hatte, die Schwester Mathilde gab den Mut nicht auf. Sie betete für den Soldaten Paul Colin und tränkte seinen übelriechenden Verband mit dem Wasser aus der Grotte von Lourdes.
Er blieb am Leben.
Ärztliches Attest, Bericht und Krankengeschichte finden sich im großen Werk von Fr.-Xavier Schoepfer, des Bischofs von Tarbes und Lourdes,›Lourdes pendant la Guerre‹, nach vielen Hirtenbriefen für das Wohl Frankreichs, gegen die lutherischen Modernisten Deutschlands, was der Bischof genau wissen muß, denn er ist zu Wettolsheim im Elsaß geboren. Die Kirchenparade in Lourdes ist authentisch, die Beteiligung grade dieses Soldaten ist erfunden.
Und so wurde der Soldat Paul Colin vom Tode gerettet, bewahrt und gesegnet von seiner Kirche.
»Mit Gott, Soldaten!« – »Nimm dieses Wasser, mein Sohn . . . «
Denn die christliche Kirche treibt nicht nur die Gläubigen in die Gräben und segnet die Maschinen, die zum Mord bestimmt sind – sie heilt auch die Wunden, die der Mord geschlagen hat, und ist allemal dabei.
[55] II Ein Tag
In den kleinen schmutzigen Straßen ist noch kein rechtes Leben, da gehen und kommen einzelne Leute, die Pilger schlafen wohl noch, denn mitternachts ist eine Messe, und während der ganzen Nacht knien Betende in der Basilika.
Jedes Haus ist ein Hotel; vom mittlern Gasthof bis zur Ausspannung sind alle Arten vertreten, und in jedem zweiten Haus ist ein Andenkenladen. Aber alles das will ich jetzt gar nicht sehen. Zur Grotte! zur Grotte!
Nun wird das Gewühl stärker, Wagen quetschen sich zwischen den Leuten hindurch, die elektrische Bahn poltert, noch mehr Läden, noch mehr Straßenverkäufer, die da brave Gruppenaufnahmen, Andenken, Kerzen und Vanille feilhalten – die ganze Luft riecht nach Vanille. Da: die Basilika.
Eine moderne hohe graue Kirche, rechts und links mit zwei weitausladenden Rampen, die den Platz wie zwei Arme umfassen. Einzelne Leute gehen durch einen Torbogen der Rampe zur Grotte. Und da sind auch die ersten Kranken.
Sie wanken auf Krücken, sie schleppen sich am Stock, sie werden auf Wagen dorthin gebracht, zweirädrige Sitzstühle, an denen vorn ein blaues Schild hängt: »Schenkung von Fräulein M. P. 1904«. Die Wägelchen werden von Krankenträgern geschoben: das sind Leute, die einen Ledergurt um die Schultern gehängt haben, es ist der Tragriemen, an den sie die Bahren knüpfen. Ich gehe ihnen nach.
Rechts ist eine Hügellandschaft, von einem Eisenbahndamm durchzogen. Links ragt die Längsseite der Kirche auf, Bäume stehen davor, und unter ihnen schallt es. Da stehen die Leute und beten. Und hier sind die Badezellen.
Es sind drei Abteilungen, in denen befinden sich die eingelassenen Wannen mit dem Quellwasser. Davor ist ein eingezäunter Platz, hier steht Krankenwagen an Krankenwagen. Man sieht bleiche, abgezehrte, fiebrige Gesichter. Männer auf der einen Seite, Frauen auf der andern. Vor ihnen ein Geistlicher. Er betet laut. Die Masse unter den Bäumen, an die Gitterstangen gedrückt, spricht die Worte nach. Wie eine Stimme steigt das auf.
Der Priester: »Seigneur, nous vous adorons!«
Die Masse: »Seigneur, nous vous adorons!«
Der Priester. »Seigneur, nous vous adorons!«
Die Masse: »Seigneur, nous vous adorons!«
Der Priester: »Seigneur, si vous voulez, vous pouvez me guérir!«
Die Masse: »Seigneur, si vous voulez, vous pouvez me guérir!«
Jede Formel wird dreimal gesprochen, die Worte hämmern sich ein. »Seigneur, dites seulement une parole et je serai guéri!« Die Pilger, [56] die Angehörigen der Kranken und Fremde wiederholen sorgfältig Satz für Satz. Manche – besonders Frauen – stehen demütig da: ich will ja auch alles tun, wie es vorgeschrieben ist . . . Viele nehmen die Kreuzstellung ein.
Hier hängt alles vom Vorbeter ab. Ist das ein Mann mit schwacher Stimme, der schlecht artikuliert, dann gibt es Vormittage, an denen vierhundert Leute einfach Gebete aufsagen. Steht da aber einer, der, breitschultrig und robust, seine Stimme aufklingen läßt, die Vokale singt und Konsonanten herausschnellt, hat er den Funken: dann rieselt es durch die Menschen, es zündet, und nun ist es da.
»Jesus, Fils de Marie, ayez pitié de nous!«
Der Vorbeter setzt die Worte scharf an, er betont sie auf der ersten Silbe – »piiitié!« sagt er – »piiitié« sagen die Leute. Rings um mich angespannte Lippen, konzentrierte Augen, verhauchende Hingabe. Es ist so viel Wille in ihnen!
Und nun wie ein Schrei, ein Ruf aus tiefster Not, ein Befehl, ein Kommando –!
»Seigneur, faites que je voie!«
»Seigneur, faites que je voie!«
»Seigneur, faites que je voie!«
Hörst du es, Gott! Dein Kind ist blind, wir haben gebetet, geglaubt, sind zur Messe gegangen und stehen nun hier, bittend, heischend, verlangend, befehlend –!
»Seigneur, faites que je marche!«
Jetzt haben sie ihn: Er ist ihr Gott, gewiß, und er kann mit ihnen machen, was ihm beliebt. Aber der Priester hat nun einen roten Kopf bekommen vor Anstrengung und Kraft, mit Klammem hat er die Masse gepackt, und wenn es auch ausgestreckte Hände sind: Fäuste ragen da auf, sie drohen, sie wollen die Gnade vom Himmel herunterreißen, sie haben sie verdient, her damit –!
Die Kranken sitzen bleich in der Mitte. Es ist so wohltuend, Mittelpunkt zu sein! Endlich einmal heraus aus den engen Stuben, wo man sich schon an ihre Leiden gewöhnt hatte, ohne das matte Mitleid der abgestumpften Verwandten, die sanften Zusprüche der Geistlichen und die gleichgültigen Sprüche der Ärzte, die ja doch nicht helfen können . . . Nichts da. Hier wird eine Schlacht geschlagen. Hier sind es die Kranken, die in der Mitte stehen, alle sehen sie an, aller Blicke umfassen sie, das stärkt. Und dann wird einer nach dem andern in den Baderaum geschoben.
Hier soll niemand dabei sein. Die Krankenwärter passen scharf auf, daß keiner während der Bäder den Innenraum betritt. Kein profanes Auge soll das Mysterium sehen.
Schlägt man den Leinenvorhang zurück, der den innern Baderaum von der Außenwelt trennt, so sieht man, wiederum hinter Vorhängen, [57] die eingelassenen Steinwannen. Hier stehen die Kranken an der Wand und entkleiden sich langsam – viele steigen mit dem Hemd hinein, manche, die Schwerkranken, werden nackt ausgezogen. Ununterbrochen schallt das Beten von draußen herein, wie ein dumpfer Marschchor, scharf, rechthaberisch, laut. Auch hier drinnen wird gebetet. Da heben sie einen Krüppel ins Wasser, die Krankenwärter beten dabei und schwenken ihn auf und ab, tauchen ihn bis zum Hals ein. Ein kleiner Junge schreit, er will nicht gebadet werden, nein! Ich befühle das Wasser – es ist eiskalt. Einer nach dem andern steigt hinein, wird hineingehoben, wie ein Wickelkind, und sie beten und beten. Priester stehen dabei und sehen zu.
Sei es, daß sie Furcht haben, die heilige Quelle könne nicht so viel hergeben, sei es aus diesem seltsamen und verständlichen Glauben heraus, Wasser, über das so viele Gebete hingebraust sind, wirke stärker als frisches –: dieses Wasser wird nur zweimal am Tage gewechselt, nachmittags und abends. Hunderte baden also in demselben Bad, und das Wasser ist fettig und bleigrau. Wunden, Eiter, Schorf, alles wird hineingetaucht. Nur wenn sich jemand vergißt, erneuern sie es sofort. Niemand schrickt zurück; vielleicht wissen sie es nicht. Ein völlig Degenerierter zittert nackt auf einem Stuhl, auf den man ihn hingesetzt hat, er hat Beinchen wie ein Kind; vorsichtig wird ein verklebter Verband abgenommen, ein Gesicht verzieht sich. Das eilige, brummelnde Gebete der Badewärter hebt sich vom dunklen Lautteppich des Chors ab.
»Mère du Sauveur, priez pour nous!«
»Mère du Sauveur, priez pour nous!«
Vor Kälte schlotternd ziehen sich alte Männer an, das nasse Hemd unter dem Rock, andere werden angekleidet wie Puppen. Ein Strom von Elend rinnt durch diese Kabinen. Ich war gebeten worden, nicht in die Frauenkabinen zu gehen, und ich habe es nicht getan.
Daneben liegen die Wasserhähne, aus denen man Trinkwasser schöpfen darf, da stehen sie mit Blechkannen und Bechern und Gläsern, manche schöpfen aus der hohlen Hand. Man sieht Bauern, die unglaubliche Mengen Wasser zu sich nehmen – viel hilft viel. Ich drücke mich zur Grotte hindurch.
Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter. ›Entrée‹ und ›Sortie‹ steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift; einen Augenblick lang zieht ein Straßenschild an meinem Auge vorüber . . . Seitlich an der Grotte steht eine Kanzel, auf ihr ein Geistlicher im Ornat, der die Betenden ermahnt, tröstet, anfeuert. Seine Worte hallen über die Köpfe hinweg und zerflattern in der Luft. Es ist sehr schwer, im Freien zu predigen . . . Langsam, unendlich langsam schiebt sich die Menge an der Kanzel vorbei, in die Grotte. Alle halten Kerzen in den Händen, und da flammt ein[58] großer Lichtständer, das Stearin tropft und bildet merkwürdige Figuren. Zwei Meter vom Boden entfernt, in einer Höhlung oben in den Steinen, steht sie: Notre-Dame de Lourdes, Our Lady of Lourdes, Onze Lieve Vrouw van Lourdes, Gospa od Lourda, Nuestra Señora de Lourdes, Miesac Mary i Lourdes, Nossa Senhora de Lourdes – die Jungfrau Marie. Hier ist sie dem kleinen Bauernmädchen aus Lourdes zum erstenmal erschienen und hat Quelle und Heilung vorausgesagt. Vor ihr bekreuzigen sich alle, dann küssen sie den Stein, auf dem sie steht, der Stein ist glatt und speckig von den vielen Händen, die ihn gestreichelt haben. Ich denke an die verzückte, rasche Gebärde, mit der unter der Erde, in den Grotten von Bétharram, in der Nähe von Lourdes, eine Frau jenen Stalaktiten anfaßte, von dem es hieß, er bringe Glück. Sie sprang auf ihn zu, um keinen Augenblick zu versäumen. Nun preßt die Menschenmauer nach vorn. Ein Altar ist aufgerichtet, da brennen die Kerzen, fortwährend klappert Geld in die Kästen, und die Erde ist bedeckt mit Briefen, Kupfermünzen, Bildern, Blumen, Glasperlen, Weihgeschenken. Langsam, langsam werden wir wieder hinausgedrückt. Am Ausgang hängen alte Krücken, die haben die Geheilten aufgehängt, und ein Gipskorsett ist auch dabei.
Vor der Grotte, in Wagen und Bahren: die Kranken. Sie sitzen und liegen da, die Augen zum Himmel aufgerichtet, die Träger, die sie umgeben, beten – die Verwandten beten, manche sind halb bewußtlos und haben die Augen geschlossen und fiebern. Sie halten Rosenkränze in den Fingern. Viele singen.
Neugierige und Touristen stehen unter den Leuten, es wird fotografiert, gesprochen, in Büchern geblättert.
Bahren im Getümmel, Krankenwagen, gestützte Kranke – alles geht leise und freundlich vor sich. An der Kirche, an den Plätzen, überall sind im Freien Kanzeln aufgestellt, da predigen die fremden Priester, die mit den Pilgerzügen gekommen sind, in ihren Sprachen. Und nun ist es Mittag, und dann leert sich langsam der Platz.
So fängt der erste Tag der Pilger an, die in den ›trains blancs‹ ankommen, den großen Krankenzügen, mit Liegevorrichtungen für die Kranken, gestopft voll, mit Krankenschwestern und Pflegern, mit dem Bischof oder Erzbischof der Diözese, dem weltlichen Leiter, der die ermäßigten Billetts besorgt, und mit einem Arzt. Wenn sie ankommen, verteilen sie sich in der Stadt – die großen Unterkunftsbaracken gibt es nicht mehr.
Die Frommen gehen gleich nach der Ankunft zum Gottesdienst, zum Quellenbad, zur ›piscine‹; große Anschläge verkünden überall in der Stadt den Dienst des betreffenden Zugs, alles ist Tradition, alles ist vorausgesehen und eingespielt.
Ich sehe mich in den Hospitälern um: im Krankenhaus Notre-Dame-des-Douleurs, das trägt seinen Namen mit Recht; im Asyl, das nahe [59] der Basilika liegt. Da ist der große Speisesaal mit den langen Tischen, sauber gedeckt; wird die Querwand beiseite geschoben, so sehen die Kranken in eine Kapelle und können so dem Gottesdienst beiwohnen, der für sie abgehalten wird. Im Vorgarten, auf allen Wegen Kranke. Man sieht schreckliche Gesichter.
Bevor es wieder beginnt, gehe ich durch die Kirchen. Die Basilika hoch oben, eine kleinere Kapelle und eine Krypta. Alles blinkt vor Neuheit, die Wände überladen mit Gold, Schmuck und Ornamenten. Votivtafel an Votivtafel. Kriegsorden, Haarlocken – eine Verkrüppelte hat unter Glas und Rahmen die braunen Nägel aufbewahrt, die ihr durch die Hand gewachsen waren und von denen sie nun befreit ist. Auf den Tafeln selten ein voller Name, immer nur die Anfangsbuchstaben. Die Bänke sind jetzt nicht so überfüllt, auch einige Beichtstühle sind leer, was sonst den ganzen Tag nicht vorkommt. Die Gläubigen, die hier umhergehen und alles bewundern, tragen Abzeichen – jeder Pilgerzug hat das seine. Man sieht silbrige Münzen und bunte Bänder aller Farben und Länder. Einmal höre ich deutsch sprechen.
Um drei Uhr nachmittags ist der große Platz gesperrt, hinter den Rändern summt und wimmelt es an den langen Leinen, mit denen er abgegrenzt ist. Hier wird nachher die große Prozession entlanggehen, und obgleich es noch lange nicht halb fünf ist, stehen und sitzen da schon viele Frauen mit Kindern und auch Männer. Sie haben sich Klappstühle mitgebracht, die man für drei Francs kaufen kann, und warten unter den Bäumen. Noch werden viele Kranke an die Grotte gerollt und zum Bad; nachmittags sind es nur die Schwerkranken, die gebadet werden. Wieder stehen alle dichtgedrängt um den Priester, wieder ruhen die Kranken auf den Stühlen, wieder schallen die Gebete. Lauter, lauter.
»Hosanna, hosanna au Fils de David!«
Erst klingt mir das Wort ›Hosianna‹ in der französischen Version fremd, dann bleibt es haften, sie sprechen es mit vielen ›n‹ in der Mitte, wiegen sich im Klang. Und nun kommen schon die ersten Fahnenträger, sie stellen sich an der Grotte auf und singen, die Kranken werden einzeln abgefahren, man stellt sie auf den großen Platz in die erste Reihe. Da liegen sie auf Bahren, sitzen auf ihren Stühlen. Hinter ihnen die Massen.
Halb vier Uhr. Eine riesige Prozession formt sich, die Spitze steht auf der langen Esplanade, alle haben die Basilika im Rücken – denn sie werden erst den. Rasenplatz umschreiten, mit dem Heiligen Sakrament in der Mitte. Oben, die Plattform der Kirche, ist schwarz vor Menschen, die beiden Rampenarme sind frei und leer. Die Träger sperren sie ab. Da kommt die Prozession.
Nach der Augenschätzung mögen es vielleicht zehntausend Menschen sein, die Nachprüfung ergibt annähernd die Richtigkeit. Sie [60] schreiten langsam, Gesang schallt, man kann noch nicht hören, was sie singen.
In der Mitte des Platzes knien jetzt Priester, sie beten, und alle beten nach.
»Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!«
Alle:
»Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!«
Der Platz braust. Spricht der Priester da vorn auf dem Platz lateinisch, so fallen alle ein, und die langen Sätze schnurren unter den Bäumen. Beginnt er zu singen, so singen sie mit.
»Seigneur, nous vous adorons!«
Das ist ein Franzose. Aber da kniet nun ein paar Meter weiter von ihm, schräg, ein Priester der Pilger, und das ist ein Italiener. Und als der seine Stimme erhebt, da verschwindet alles andere neben ihm. Welch ein Tenor!
»Signore –!«
Ah –! Durch Mark und Bein geht diese Stimme, sie peitscht die Leute auf, sie singt ganz allein unter den Tausenden. Jetzt ist die Sache in der richtigen Kehle.
Da naht die Prozession.
Von weitem sieht man die langen Arme schwarzer Priester in der Luft herumfuchteln: sie dirigieren den Gesang, rühren in den Massen. Brennt, Flammen –! Dann kommen sie.
Erst die Marienkinder, junge Mädchen in weißen Schleiern, sie singen mit hellen Stimmen. Man dirigiert sie auf die Freitreppe, da bleiben sie eng gedrängt stehen, und ihre weißen Schleier zieren die geschwungenen Balustraden. Dann die Männer, sie tragen Kerzen in den Händen und singen laut. Das Sakrament. Alles fällt auf die Knie, die Kranken neigen die Köpfe. Der Erzbischof zieht unter dem Baldachin dahin, den ein Mann in Reitstiefeln trägt, davor die Weihrauchkessel, die ununterbrochen geschwungen werden.
Nun macht das Sakrament die Runde, und es ist ganz still auf dem großen Platz. Nur zwei Priesterstimmen sprechen ein Gebet, Der goldne Stab wandelt langsam an den Kranken vorüber, zeigt sich, neigt sich . . . Nasse Augen, wohin ich sehe. Jetzt steht der Bischof unter seiner Geistlichkeit, grade vor dem Haupteingang der Basilika, da fallen die Geistlichen auf die Knie, er hebt die Hand, das Glöckchen klingt . . . totenstill ists unter den Bäumen, Und nun kommt der eindrucksvollste Augenblick des Nachmittags.
Der Gottesdienst hat geendet. Was nun –?
Jetzt brodeln die Leute aufgeregt durcheinander, dies ist der große Moment . . . Hat Maria geholfen –? Sie wollen ihr Wunder, sie suchen danach, sie stecken die Köpfe zusammen, die Luft ist geladen vor Erwartung.
[61] Aus einer Ecke springt es auf, wer hat zuerst gerufen –? »Un miracle! Un miracle!« Alle laufen, da ist kein Halten mehr. Ein Hauchlaut der Verwunderung ertönt, wie beim Chor im Drama, der mit leisem »Ha –« vor einem Helden zurückweicht . . . »Un miracle! Un miracle!« Im Nu ist die Tür des Bureau des Constatations umlagert.
Das liegt in einer Seitenwand der Rampe, die Tür ist zugesperrt, denn die Ärzte drinnen wissen, was sich jetzt ereignen wird. Die Pilger würden die geheilte Kranke zu Boden reißen, sie betasten wollen, ihren Segen wünschen, sich ihre Kleider teilen zum Andenken. Viele Frauen schluchzen.
In den kleinen Zimmerchen des Bureaus warten Priester, fremde Ärzte, die Angehörigen. Die Kranke breitet ihre Zeugnisse aus, die besagen, daß und wie sie erkrankt war, sie wird untersucht, befragt, ausgehorcht . . . Die Kommission ist sehr vorsichtig, sehr skeptisch, sehr behutsam . . . Nun ja, eine Besserung . . . Vorläufig wird die Kranke ins Hospital entlassen. Draußen bilden Tausende Spalier und klatschen ihr zu, jubeln; strahlend durchfährt sie die Hecke der Begeisterten und heimst so etwas wie einen persönlichen Erfolg ein. Die Heilige Jungfrau hat sie ausgewählt, hat sie für würdig befunden, sie und keine andre.
Die andern werden nun in die Krankenhäuser abgefahren. Diesmal war es mit ihnen nichts. Vielleicht aber kommt noch die Heilung . . .
Ein Zug rollt an. Der Krankenträger, der hier die Ordnung aufrechtzuerhalten hat, trennt ihn nach Nationen. »Français?« fragt er. »Italien?« Ein schrecklicher Stumpf von einem Menschen sitzt in einem Stuhl, mit ganz großem Kopf, winzigen Gliedmaßen, eine Masse Fleisch. Das Ding nickt mit dem Kopf. Frauen mit wunderlichen Auswüchsen fahren vorbei, manchen hat man Tücher über das Gesicht gelegt, man ahnt nur das Entstellte darunter. Ein rothaariger junger Mensch wird herangefahren, er klappert mit den Zähnen, er hat Fieber, und seine langen gelben Zähne ragen seltsam aus dem spitzen Gesicht. »Français?« fragt der Krankenträger. »Italien?« Der Fahrer scheint es nicht zu wissen, und der junge Mensch antwortet nicht. Da will der Ordner nach dem Abzeichen sehn. Er lüftet die Decke . . . Aber das ist eine Frau, die darunter liegt! eine junge Frau mit welken Brüsten, und jetzt hat sie die Augen geschlossen und sich hintenübergelegt und sagt überhaupt nichts mehr. Sie verschwindet im Asyl. Und so kommen noch viele.
Die Menge diskutiert die Heilungen, die sich in den Gerüchten minütlich vergrößern, an Zahl, an Schwere, an Kraft des Mirakels. Sehr langsam zerstreuen sich die Massen im Staub der Nachmittagssonne.
Für den Abend ist die große Fackelprozession angesetzt, schon kurz nach dem Abendbrot laufen alle Leute in Lourdes mit kleinen Fackelchen herum, wie man sie uns auf den Kinderfesten in die Hand gesteckt [62] hat. Blaugedruckte Papierschirme mit dem Bildnis der Jungfrau umhüllen die Kerze. Aber bevor das angeht, sehe ich doch noch etwas anderes.
Die Kranken können die Hospitäler nicht verlassen, sie können den Fackelzug nicht verstärken. Wenn der Pilgerzug groß genug ist, dann versammeln sich manchmal die Angehörigen vor dem großen Krankenhaus und ziehen an ihren Kranken vorbei. Und das ist das Erschütterndste, das ich in Lourdes gesehen habe.
Zum Fackelzug wird das ›Ave Maria‹ gesungen. Verfasser und Komponist ist der Abbé Gaignet, ein Geistlicher aus der Vendée, er schuf dieses Lied im Jahre 1874. Es hat unzählige Strophen, einfache Vierzeiler zu einer simpeln Melodie, und als Refrain ist ihm das Ave angesetzt, das in der französischen Liedbetonung ungefähr folgendermaßen klingt:
Es ist so einfach, daß es ein Kind nachsingen kann. Und da stehen sie nun vor dem Hospital de Notre-Dame-des-Douleurs und singen:
Sur cette colline
Marie apparut
Au front qu'elle incline
Rendons le salut:
Avé – Avé –
In den hohen hallenartigen Krankenzimmern ist helles Licht angezündet. Kerzen aller Art, kleine Tische sind aufgebaut mit beleuchtetem Kirchenschmuck, In den Betten liegen die Kranken und sehen mit glänzenden Augen auf den Zug, der da heransingt. Wir ziehen durch alle Gänge, durch die Korridore, in den Höfen sind wir, wir gehen durch alle Zimmer, durch alle, es soll keiner ausgelassen werden. Ave – Ave – Ave Maria . . .
Auf den Backenknochen liegt hektisches Rot, die Gesichter sind mit Schweißperlen besetzt, der Ausdruck ist fiebrig, aufgeregt . . . Ein Kind streckt die Hände nach den bunten Lichtem aus . . . Eine alte Frau schluchzt und kann nun gar nichts sehen vor Tränen. Ein Alter liegt mit gekreuzten Händen, ich weiß zufällig, wie sein Körper aussieht – er leidet Schmerzen. Wir steigen die Treppen hinauf, zum ersten Stock, zum zweiten . . . Die Mauern hallen wider vom Chorgesang. Wachsbleiche Frauengesichter sehen uns an, es ist so viel Zärtlichkeit in diesen Augen, kraftlose Hände liegen auf Decken, einmal weint ein ganzer Saal. Mir steigt etwas in der Kehle auf.
Inzwischen haben sie sich vor der Kirche und um die Kirche versammelt. Auf den Rampen stehen sie Kopf an Kopf, die Plattform ist gedrängt voll, der Platz ist leer, aber weit unten, an der Esplanade, tauchen Feuerfünkchen auf . . . Sie fangen an.
[63] Und da leuchtet die Basilika, ihre Konturen sind mit Glühlämpchen nachgezogen, ein Scheinwerfer erhellt die Spitze des Turmes, der liegt in bleichem Licht und sieht aus, als verschwinde er in den Wolken; oben auf dem Pic du Jer, einem Berg in der Nähe von Lourdes, blitzt ein Feuerkreuz. Und nun setzt sich die Prozession in Bewegung.
Hier hört jede Schätzung auf, es ist einfach ein breiter Lichtstrom, der sich dahinbewegt, die Pünktchen ergießen sich glitzernd über den tiefen Abgrund vor der Kirche. Bevor sie sich auf der Esplanade versammeln, gehen sie über die Plattform, sie ziehen an mir vorbei, und ich höre alle einundfünfzig Strophen des Marienliedes. »Espérance« – und »France« kann ich hören, und auch von der Wahrheit wird gesungen . . .
La France l'écoute
Se lève soudain.
Et se met en route
Chantant ce refrain:
Avé – Avé
Avé Maria –!
Aber nun sind die letzten hier oben vorüber, und der große Feuerzug ist auf dem Platz angekommen. Sie marschieren in Schlangenlinie, sie nähern sich auf dem gewundnen Lichtpfad immer mehr der Kirche . . . Und als sie nun alle, alle vor dem Tor der Kirche stehen, wie um Einlaß singend, da zischen einige: Ssss! – es wird einen Augenblick still, und dann steigt unter den Fackeln das Credo zum Himmel.
Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem . . .
Sie singen es, Männer und Frauen, auswendig, alle die schwierigen lateinischen Worte, die sie französisch aussprechen: Spiritüs sanctüm . . . Das steht wie ein Wall da unten. Unerschütterlich, voller Kraft klingt das Credo.
Et exspecto resurrectionem mortuorum.
Et vitam venturi saeculi.
Amen.
Das ist ein Tag in Lourdes.
III Siebenundsechzig Jahre
Vor siebenundsechzig Jahren fing es an. Lourdes war damals »ein Haufe trüber Dächer, von traurigem Bleigrau; so stehen sie da, unterhalb der Straße eng zusammengedrückt«. Taine hat seine Reise im März 1858 abgeschlossen, er kam grade einen Posttag zu früh. Sonst hätte er folgendes beobachten können:
In Lourdes lebte zu dieser Zeit eine kleine Müllerstochter, Bernadette Soubirous, sie war vierzehn Jahre alt. Das Kind war immer krank, es litt an Asthma, an Atemnot, an schweren Hustenanfällen. Die Alten hatten viele Kinder und wenig Brot, es ging ihnen nicht gut. [64] Im Sommer hütete die Kleine die Schafe in Bartrès, in der Nähe von Lourdes, bei einer Frau, die ihr Kind verloren und die kleine Soubirous genährt hatte; diese Frau ist heute noch am Leben. Lesen und schreiben konnte das Kind nicht – an kalten Wintertagen, wenn in den Hütten abends kein Feuer brannte, um zu wärmen, und kein Licht, um zu leuchten, versammelten sich die ärmern Bauernfrauen und ihre Kinder in der kleinen Kirche zu Lourdes, und da erzählte der Curé fromme Geschichten, von göttlichen Erscheinungen, wunderbaren Quellen, Segen und Heilungen der Gebenedeiten. Die Pyrenäen sind reich an solchen Legenden. Ihnen gemeinsam ist die plötzlich auftauchende Erscheinung, meist eine weiße Frau, sie vertraut dem ahnungslosen Hirten ein gutes Geheimnis an, das er nie verraten darf, sie gibt ihm einen Auftrag, sie zeigt ihm eine Quelle, die Quelle heilt Kranke. Um Lourdes wimmelt es: Unsre Liebe Frau in Barbazan, Unsre Liebe Frau von Nestè, Médoux, Bétharram, Garaison Bourisp – so viel Namen, so viel Wundererscheinungen, weiße Frauen, Heilquellen, Geheimnisse. In der abendlichen Kirche, wohlgeborgen vor den Schneestürmen, im Flimmer der Kerzen, die die Schatten im Halbdunkel auf Goldgrund tanzen ließen, saß die Kleine und sog in sich auf, was es da zu hören gab. Manchmal war sie traurig: in ihrer Atemnot hatte sie husten müssen und das Schönste nicht gehört.
Der Bruder ihrer Ziehmutter war ein Priester, er brachte oft bunte Bildchen mit und auch die Bibel und Heiligengeschichten, die das Mädchen nicht lesen konnte . . . Aber die Bilder konnte sie betrachten, die schönen Bilder mit der Heiligen Mutter Maria im weißen Gewande, mit den Rosenornamenten, die ihr fromme Maler zu Häupten gesetzt hatten, und sie sah sich diese Bilder gern an. Das, was ihr die Priester an solchen Winterabenden erzählten, war ihr geistiges Leben; denn sie war noch nicht eingesegnet und wußte nichts von Religion als diese vagen und frömmelnden Historien. Da war von Gott-Vater die Rede, von der Heiligen Jungfrau, von Jesus und von der Dreieinigkeit und wohl auch von der unbefleckten Empfängnis.
Denn drei Jahre vorher, am 8. Dezember 1854, war von Pius IX. das Dogma der conceptio immaculata verkündet worden, das beinah so viel Aufsehen gemacht hat wie das von der Unfehlbarkeit des Papstes. Diese Tatsache wird in der gesamten populären Bernadette-Literatur verschwiegen. Wir werden sehen, warum.
Am Donnerstag, dem 11. Februar 1858, fror es in Lourdes, der Himmel war grau, die Bauern machten, daß sie ihre Arbeit draußen beendigten, und beeilten sich, in die Hütten an den Herd zu kommen, Der Müller Soubirous brauchte sich nicht zu beeilen: es war kein Holz im Hause, Die Kinder sollten Holz holen. Bernadette ging in die Kälte hinaus, ihre jüngere Schwester Toinette und eine Freundin, Jeanne Abadie, begleiteten sie. Die drei stiegen an den Abhängen [65] herum, überquerten den Bach, der jetzt, abgeleitet, am Eisenbahndamm entlangfließt, und kamen schließlich in die Grotte. Winterstille und Geriesel von trocknem Laub. Da hörte Bernadette ein dumpfes Geräusch. Sie hob den Kopf . . .
»Ich konnte nichts mehr sagen, und ich wußte gar nicht, was ich denken sollte, denn als ich den Kopf zur Grotte wendete, sah ich an der Felsöffnung einen Busch, aber nur einen, hin- und herschwanken, wie wenn großer Wind wäre. Beinah zu gleicher Zeit kam innen aus der Grotte eine goldene Wolke und danach eine junge und schöne Dame, so schön, wie ich niemals eine gesehen hatte. Sie stellte sich an der Öffnung auf, oberhalb des Buschs. Sie sah mich an, lächelte und machte mir ein Zeichen, näher zu kommen, grade wie wenn sie meine Mutter wäre.«
Die beiden kleinen Begleiterinnen hatten nichts gesehen, nur Bernadette allein. Erst war es in ihren Berichten ›etwas Weißes‹, dann eine Dame, dann eine wunderschöne Dame, mit weißem Gewand, blauem Gürtel und gelben Rosen zu Füßen – aber die sprach zunächst nicht, sie lächelte, Bernadette ging immer wieder in die Grotte. Die Mutter wollte das nicht. Die Grotte stand in keinem guten Ruf, Liebespaare pflegten sich dort zu verstecken, und wenn man wieder einmal am Morgen leere Flaschen und sonstige schöne Sachen dort gefunden hatte, stießen sich die Bauern in die Rippen und grinsten: »Heute nacht haben sie wieder Dummheiten in der Grotte gemacht!« Aber Bernadette ging wieder und wieder hin. ›Sie‹ erschien ihr achtzehnmal.
Beim drittenmal sprach die Dame. Sie bat die Kleine, während vierzehn Tagen in die Grotte zu kommen. Bernadette versprach das. Und dann: »Trink aus der Quelle und wasch dich in dem Wasser!« Es war aber keine Quelle da, das Kind kratzte die Erde auf, da lief ein dünnes Rinnsal über die Erde. Die Wunderquelle war geboren. Und später: »Sage den Priestern: sie sollen hier eine Kapelle bauen und in Prozessionen hierherkommen!« Und nun auf inständige Fragen, endlich, endlich: »Ich bin die conceptio immaculata.« Die Dame sprach das bäurische Platt. »Qué soy ér' Immaculada Councepsiou.« Und da war Bernadette schon nicht mehr allein.
Die Sache war durchgesickert, die Polizei mischte sich ein, mißtrauisch, liberal, halb aufgeklärt und durchaus dagegen. Der Priester des Orts war vorsichtig, skeptisch, außerordentlich klug. »Ein Wunder!« verlangte er als Bekräftigung, »ein Wunder!« Und vor der Namensgebung: »Sage deiner Dame, daß ich sie nicht kenne – sie solle sich vorstellen.« Sie stellte sich vor, und nach jeder Halluzination wurde das Publikum größer, der Glaube stärker, die Legendenbildung wilder.
Bei alledem hat man sich die kleine Bernadette als ein bescheidenes, artiges, schwächliches Kind zu denken, das kein Wesens aus der Sache [66] machte. Sie hatte einen schweren Stand: der Geistliche wollte nicht heran, die Polizei drohte sie einzusperren, wenn dieser Unfug nicht aufhöre, und das Dorf verlangte seine Wunder. Ein alter Abbé, der als kleiner Junge sie noch gekannt hat, zeigte mir in Lourdes eine Fotografie, die angeblich an der Grotte während der Ekstase aufgenommen sein soll – ein offenbar gestelltes Bild, ohne jeden visionären Zug in dem kleinen Bauerngesicht. Das arme Ding, mit seinen Läusen unter dem Kopftuch, bekam von allen Seiten zugesetzt, es prasselte nur so auf sie herunter: Klagen, Bitten, Beschwörungen, Segenswünsche . . . Schon wollten einige durch Handauflegen von ihr geheilt werden.
Ein Zug, ein einziger in diesen zahllosen Berichten, ist rührend, er zeigt, wie tief sich die Halluzination in das Kind eingefressen hat und beweist ihre wirkliche Herzensunschuld. Sie hatte dem Steuereinnehmer Estrade und seiner Schwester ihre Geschichte erzählt. »Also, die Dame bat mich, vierzehn Tage lang in die Grotte zu kommen.« – »Sag einmal genau, wie sie gesprochen hat!« sagte der Steuereinnehmer. »Die Dame sagte: Wollen Sie so gut sein . . . « Und hier unterbrach sich Bernadette, senkte den Kopf und flüsterte: »Die Madonna hat Sie zu mir gesagt . . . «
Und nun gings los.
Die Presse nahm sich der Affäre an, Artikel für und wider setzten ein ohne Ende, und die Polizei ließ die Grotte mit Brettern versperren. Die Gegend stand auf dem Kopf.
»Ein Wunder! Ein echtes Wunder! Hat sie nicht von der conceptio immaculata gesprochen? Aber das Kind hat das Wort nie gehört, kann es gar nicht gehört haben!« – Die Bernadette-Literatur legt auf diesen Punkt den allergrößten Wert. Man könne nichts als Erinnerungen produzieren, während man halluziniere, sagen sie, was falsch ist – dieses schwierige Wort und der noch kompliziertere Begriff seien dem Kinde unbekannt gewesen. Nein, das waren sie nicht. Man wird nun verstehen, warum die Bernadette-Traktätchen so ängstlich darüber schweigen, daß das Dogma schon drei Jahre, ex cathedra verkündet, vorgelegen hat. Es war also nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß das Kind diesen Ausdruck von den Priestern aufgeschnappt hatte, ohne zu begreifen. Und man weiß, wie Latein auf die wirkt, die es nicht verstehen.
Die Grotte gesperrt? Streik der Bauarbeiter, Rumor unter den Bauern, die Grotte mußte wieder geöffnet werden. Bis zum Kaiser drang der Lärm, denn nun war aus den Halluzinationen eines kranken Kindes eine politische Affäre geworden. Kulturkampf? Napoleon III. tat das, was er immer getan hatte: er zögerte. Aber die Kaiserin lag ihm in den Ohren, es war das wohl auch kein casus belli, die innere Politik erheischte Frieden . . . er gab nach. Der Polizeikommissar wurde versetzt, der Präfekt von Tarbes wurde versetzt – das Land hatte sein Wunder. Die ersten Heilungen wurden ausgerufen.
[67] Denn die Quelle war da, das war kein Zweifel. Jetzt war es eine große Quelle geworden: sie gab zwölfhundert Hektoliter am Tage her. Nun glauben sogar die orthodoxesten Katholiken nicht, daß Bernadette dieses Wasser aus dem Nichts gerufen habe. Der Abbé Richard hielt schon im Jahre 1879 dafür, daß nicht das Kind die Quelle erschaffen habe, sondern Gott – die Kleine habe nur durch das Wunder eine bestehende Quelle entdeckt. Leute, die mit einer Wünschelrute umgehen, wissen, wie manche Personen auf Wasser, Metalle und Steinarten reagieren.
Herr Fabisch aus Lyon fabrizierte eine Statue der Jungfrau, eben jene, die heute noch in der Grotte steht. Er ließ sich von Bernadette die Erscheinung beschreiben, war tiefgerührt von der weichen Frömmigkeit der Kleinen und lieferte das Äußerste an Talentlosigkeit. Die Statue hat siebentausend Francs gekostet, genau die gleiche Summe zu viel. Als man Bernadette das Werk zeigte, lief sie zunächst fort, ein beachtliches und gutes Zeichen von Kunstverstand. Dann wurde sie beruhigt, noch einmal an die Figur herangeführt, die aussieht, wie wenn sie aus Seife wäre, und man fragte sie: »Ist das deine Jungfrau, so, wie du sie gesehen hast?« – Und sie: »Keine Spur.« Aber Fabisch kassierte ein, und die Priester aus Lourdes stellten auf.
Bernadette hatte kein Glück mit den Statuen. In der Ordenskapelle der Schwestern von Nevers zu Lourdes steht eine, von der hat sie gesagt: »C'est la moins laide de toutes!«
Diese Madonna steht da, wo die Kleine bei den Schwestern im Klostergarten herumgehüpft ist, und die Oberin zeigte mir Kloster, Säulenhalle, Garten und eben diese Kapelle. Wenn die kluge und energisch aussehende Frau von Bernadette und ihren Wundertaten berichtete, glaubte man, eine Walze rolle ab. Sie sprach wie ein Museumserklärer. Sie hatte das wohl schon so oft erzählt . . . Diesen eingelernten Eindruck machten übrigens viele Geschichten, die ich in Lourdes zu hören bekam.
Bernadette blieb bei ihrer Familie, und als sie es dort nicht mehr ertragen konnte vor Besuchern, Fragen, Verhören, Freunden und Feinden, die sie alle, alle sehen wollten, als sie immer und immer wieder ihren Bericht erzählen mußte, brachte man sie ins Hospital. Das hatte noch einen andern guten Grund: das Mädchen kränkelte. Im Krankenhaus wurde sie zunächst gepflegt, die Besuche wurden ferngehalten, später verrichtete sie Arbeiten in der Küche und machte sich auch sonst nützlich.
Die Kirche rechnet mit Jahrhunderten und in eiligen Fällen mit Jahren. Erst vier Jahre nach diesen Erscheinungen, am 18. Januar 1862, erschien der große Hirtenbrief des Bischofs von Tarbes, des Monseigneur Bertrand-Sévère. »Ja«, sagte der Brief.
Kollekten, Gläubige, Kirchenbauten, Zusammenlauf aus aller Welt. [68] Die Pilgerzüge setzten in voller Stärke ein. Im Jahre 1867 waren es schon 28000 Menschen, die kamen. Das Wunder war im Gang.
Das ging nicht ohne die bösesten Zänkereien ab. Der Curé von Lourdes bekam den Monseigneur-Titel, aber das tröstete ihn wenig, er fühlte sich zurückgesetzt; Prozesse prasselten, die Orden bekriegten sich bis aufs Messer, warfen einander Habsucht, Neid, Mißgunst und übergroße Geschäftstüchtigkeit vor, und auch die Einwohner wüteten umher. Die Kirche hatte in kluger Voraussicht die Grundstücke gekauft, die der Grotte gegenüberlagen, um alle neugierige Nachbarschaft zu vermeiden. Welches Geschäft war den Lourdesen da aus der Nase gegangen! Was wäre das gewesen! ›Hotelzimmer mit direkter Aussicht auf die Wundergrotte und alle Zeremonien! Abends Dancing!‹ Ein Jammer. Es roch nicht gut zum Himmel, was da aufstieg.
Und dann war da diese kleine Bernadette, die der Anstrom der Neugierigen immer noch suchte. Eine unangenehme Konkurrenz, dieses Werkzeug Gottes . . . Sie durfte fernerhin nicht mehr in Lourdes leben, vor allem: unter gar keinen Umständen durfte sie dort begraben liegen. Nur keine Ablenkung! Sie lebte auch nicht mehr da, sie starb nicht da. Man hat sie nach Nevers gebracht, einer kleinen Stadt südöstlich von Orléans, in das Mutterkloster des Ordens des Soeurs de la Charité de Nevers, und dort erlosch sie im Alter von fünfunddreißig Jahren. Sie hat keine Wunder mehr angezeigt und auch keines tun wollen, sie war eine schwächliche Person, die in Ruhe leben und sterben wollte. Sie ist sehr krank gewesen.
Jetzt, zu ihrer Seligsprechung im vorigen Jahr, haben sie sie exhumiert: der Körper war gut erhalten, ihr linkes Auge, das der Erscheinung zugewendet war, soll offen gewesen sein, ihr Grab so nach Blumen geduftet haben, daß, wie in Lourdes erzählt wird, Briefe, die dort gelegen hatten, dufteten . . . Man hat sie in einem Glassarg ausgestellt, es kommen viele Gläubige. Ich habe eine Reliquie geschenkt bekommen, ein Stückchen von ihrem Totengewand.
Eine Heilige –? Noch nicht.
In Lourdes wird ein alter Mann aufbewahrt, es ist ihr Bruder, der einen Andenkenladen gehabt und sich vorzeitig vom Geschäft zurückgezogen hat. Er empfängt viele Besuche, will aber keine haben – er ist ein stiller und ruhiger, etwas bäurischer Mensch. Nein, ich habe sein Ruhebedürfnis geehrt und ihn in Frieden gelassen. Er weiß auch nicht viel von damals zu vermelden – er war sieben Jahre alt, als Bernadette ihre Erscheinungen hatte. Aber wenn er einmal gestorben sein wird und wenn alle persönlichen Erinnerungen verflogen sind, wenn die Gestalt der kleinen Bernadette weit, weit hinten im grauen Nebel der Geschichte verschwindet –: dann wird sie heilig gesprochen werden. Die Kirche ist so klug . . .
Denn über Bernadette Soubirous, die Müllerstochter, kann man [69] heute noch kleine persönliche Bemerkungen machen, sie ist zu nah –. Jeanne d'Arc aber ist heilig und entlockt selbst einem so wilden Spötter wie Bernard Shaw – außen Stacheldraht, innen Gummibonbon – ein schönes Pathos.
Das ist die Geschichte der seligen Bernadette, zu der Hunderttausende in Lourdes beten. Tagaus, tagein . . . Aber immer andere. Denn das ist das Gefährliche an der Sache: tagaus, tagein darf man dergleichen nicht sehen. Der Mechanismus wird sichtbar.
Jede Pèlerinage ist höchstens vier, fünf Tage in Lourdes, und das ist sehr gut eingerichtet. Längerer Aufenthalt geht auf Kosten der Intensität. Man sieht zu viel.
Man sieht:
Die Ausstattung in den Kirchen. »Aber das übersteigt die kühnsten Träume. Mit Kunst, selbst mit Kunst in ihrer niedrigsten Entartung, hat das hier überhaupt nichts zu tun. Das ist nicht einmal schlecht . . . « Nein, es ist grauslich. »Das ist alles so häßlich! Wenn es wenigstens naiv wäre – aber leider: grade das ist es nicht.« Das sagt ein Freigeist? ein frecher Aufklärichtsmann? ein Kerl, der vom Katholischen nichts versteht –? Ach, es ist J.-K. Huysmans, dessen ›À rebours‹ Oscar Wilde zum Dorian Gray angeregt hat; der in den Schoß der Kirche Zurückgekehrte, der reuige Sünder. Und der muß es ja wissen. Er erklärt uns auch den Jammer dieser Geschmacklosigkeiten.
»Unzweifelhaft: solche Attentate können nur den rachsüchtigen Possen des Dämons zugeschrieben werden. Es ist das seine Rache gegen die, die er verabscheut . . . « Sein Buch ›Les Foules de Lourdes‹, eines der interessantesten Dokumente über diese Stadt, ist das Zeichen eines beklagenswerten Geisteszustandes, mit vielen lichten Momenten, Er beobachtet außerordentlich scharf, aber alle seine Schlußfolgerungen sind falsch. Der Teufel –? Hier irrt der Großvater Dorian Grays; es ist nicht der Teufel, der Lourdes so scheußlich gemacht hat. Es ist der Bürger.
Lourdes ist ein einziger Anachronismus.
Diese organisierten Pilgerzüge mit der Eisenbahn und dem ermäßigten Billett, diese elektrisch erleuchtete Kirche, die aussieht wie ein Vergnügungslokal auf dem Montmartre, der grauenhafte Schund, der da vorherrscht, nicht nur in den dummen Läden, sondern in den Kirchen selbst, diese unfromm bestellten Altäre, Schreine, Ornamente, Decken und Beleuchtungskörper –: mit Industriearbeit ist das eben nicht zu machen. In Carcassonne steht in der Kathedrale ein altes Taufbecken, das ist siebenhundert Jahre alt, und man möchte davor knien, so fromm ist es. Aber der, der es gemetzt hat, hat geglaubt, er hat seinen Glauben in den Stein versenkt; er machte ein Geschäft, indem er es lieferte, gewiß – aber es war doch ein Taufbecken, und [70] der Mann wußte sehr wohl, was er da unter den Händen hatte und was es galt. Heute –? ›Und liefern wir Ihnen einen Posten Ia Qualität Taufbecken zu besonders kulanten Bedingungen.‹ Es ist aus. Die kirchliche Kunst kopiert sich selber, und wenns gut geht, sind die Kopien wenigstens anständig. Die Versuche, zu modernisieren, mißlingen kläglich – zwischen Erfrischungsraum im Warenhaus und Bahnhofshalle ist da keine Dummheit ausgelassen. Gefühle kann man nicht fabrizieren.
Sind daran nicht die Juden schuld? Daran sind die Juden schuld. Huysmans: »Die Priester sollten daran denken, wie sehr heutzutage das jüdische Element unter den Verkäufern von frommen Andenken dominiert. Getauft oder nicht: es hat den Anschein, als ob diese Kaufleute neben der Sucht, Geld zu verdienen, nun auch das unfreiwillige Bedürfnis verspüren, den Messias noch einmal zu verraten: indem sie ihn in einer Gestalt verkaufen, die ihnen der Teufel eingeblasen hat.« Da kann man nichts machen.
Solch ein Wunderglaube, dessen Form die absolute Herrschaft der Kirche zur Voraussetzung hat, ihre Herrschaft besonders über die Finanzmächte der Länder – und ihm gegenüber diese Zeit: es ist eine Dissonanz der Epochen, die hier aufeinanderstoßen. Es klingt nicht. Und Kunstwerke bringt so etwas schon gar nicht hervor.
Und weil alles auf der Welt ein greifbares Symbol findet, so leuchtet zwar abends die Basilika, oben strahlt das Kreuz in der Luft auf dem fernen Berge – aber heller als alles andre brennt eine Flammenzeile im dunklen Nachthimmel:
HOTEL ROYAL
Unten klingt das Credo. Keine Zeit hat solche Sehnsucht nach Verkleidung wie die, die keine hat.
Ja, man sieht zu viel. Treibe dich vierzehn Tage in der Stadt herum, und du fühlst nie mehr nasse Augen, aber manchmal ein verdächtiges Zucken im Gesicht. In den Läden klingelt das Ave Maria, das einmal so schön geklungen hat, im Bauch von heiligen Jungfrauen, die man innen erleuchten kann; Ansichtskarten, Bilder, Rosenkränze sind von auserlesener Scheußlichkeit . . . Nebenerscheinungen? Ich weiß doch nicht. Die Pilger fassens nicht so auf. Und während ich mich in Rumänien so oft gefragt habe: »Wo, in aller Welt, kann man nur einen solchen ausgemachten Plunder kaufen?« – jetzt weiß ich es.
Ich sehe:
Die fetten Bischöfe, die hier Gastspiele geben, und die andern, die hier zu Hause sind – man sagt ihnen Schauspielergesichter nach, aber man müßte das differenzieren. Da gibt es ältere Heldenspieler, denen das Tripelkinn tragisch auf das Ornat fällt, da gibt es Bonvivants und Väterrollen, und einer sah aus wie ein listiger, verschmitzter Komiker – es hätte mich keinen Augenblick gewundert, wenn er die Soutane an [71] zwei Zipfel angefaßt und ein Couplet getanzt hätte. Ich gehe durch die Verkäufer am Gitter, wo sich der dürre Gebetlaut von drinnen fortsetzt, aber hier ist es kein Latein, sondern: »Les cierges – les cierges – les cierges –« und »Vanillevanillevanille . . . « Soll ich ihnen etwas abkaufen? Wenn ich sparsam sein will, tue ichs nicht. Denn im Hotel hing eine Tafel.
Pilger . . . welch altes, schweres Wort. Man denkt an Männer mit Bärten und großen Stöcken, mit einem Bettelsack und einem Heiligenschein um den Kopf . . . »Die Herren Pilger«, stand im Hotel, »die ihre Einkäufe an Andenken im Laden des Hotels machen, erhalten eine Ermäßigung von 50 Prozent.« Hierauf sehn sich freudig an Pilgerin und Pilgersmann.
Und ich sehe: die Brancardiers.
Die Krankenträger leisten eine aufopfernde Arbeit. Es sind sämtlich Freiwillige, sie bekommen keinen Franc Bezahlung. Ihr Dienst ist unendlich ermüdend, er erfordert sehr viel Körperkraft, sehr viel Geduld, sehr viel Hingabe. Ihr Benehmen zu den Kranken ist rührend. Aber der angenehme Umstand, daß in allen Prozessionen und bei allen Veranstaltungen niemals ein Schutzmann zu sehen ist, wird dadurch aufgewogen, daß gewisse Träger sich schlimmer benehmen als acht Polizisten zusammen. Sie teilen ein und ordnen an, sie geben Befehle und sind nervös, lassen die Kranken in Frieden, aber treiben die Gesunden zu Scharen, obgleich das gar nicht nötig wäre – kurz: manche unter ihnen spielen die Rolle des dummen August, der herumwirtschaftet, während andre arbeiten. Da waren so schnurrbartgezwirbelte Gesichter, die krähten – Huysmans hat mal einen sagen hören: »Wir werden jetzt die Heilige Kommunion austeilen!« Mir war sonderbar zumute, als ich sie herumtanzen sah – das hatte ich doch schon einmal im Leben gesehen . . . »Il y a beaucoup d'anciens officiers parmi eux!« sagte mir ein Abbé. In Ordnung.
Über den Eisenbahndamm fahren die Züge, da flattern die weißen Tücher zur Begrüßung und zum Abschied, und die Leute singen, nach dem Wort eines katholischen Dichters, während der Fahrt so schön falsch, nicht als ob es nach Lourdes, sondern als ob es ins Fegefeuer ginge.
Vieles hiervon steht bei Huysmans. Sein Fanatismus hat ihn, den Frischbekehrten und also lächerlich Überhitzten, nicht gehindert, in Lourdes die Augen aufzumachen. Auf einen Teil der schwarzen Flecke hat er mich erst aufmerksam gemacht, und wenn ich zögerte, mir Luft zu machen, so stärkte mich ein Blick in sein Buch. Da stands noch viel schlimmer. Aber freilich: er glaubte an das Wunder.
Sein Resumé sieht so aus:
»Das steht fest: in Lourdes erreichen wir die letzten Niederungen der Frömmigkeit.« Sowie: »Lourdes ist ein riesiges Krankenhaus auf [72] einem Ungeheuern Jahrmarkt. Nirgends sonst gibt es einen solchen Tiefstand von Frömmigkeit, von Fetischismus bis zu postlagernden Briefen an die heilige Jungfrau . . . «
Man darf nicht verweilen. Man sieht zu viel. Doch nirgends Betrunkene, nirgends Leute, die in den Lokalen juchhein.
Tagaus, tagein Prozessionen, Menschenversammlungen, Fackelzüge . . . nach dem achten Mal spürt man die treibende Macht und die Räder.
Und zu allen diesen Prozessionen, Menschenanhäufungen, Fackelzügen ist zu sagen, daß meine Generation den Krieg gesehen hat, wo sich oft Zehntausende auf einem Platz zusammenballten oder im Karree aufgestellt waren – zur Schlachtung. Der Respekt vor der Quantität an sich ist vorbei. Und wenn es nicht meine eigne Sache ist, die da durch eine Menschenmenge gefördert oder bekämpft wird, wenn es mich nicht berührt, was die vielen Lichter aufflammen läßt – dann greift es mir nicht ans Herz, und ich würde lügen, wenn ich mich in den Strom der Begeisterung stürzte. Das Faktum allein, daß dreißig-oder vierzigtausend Menschen zusammenkommen, ist mir gleichgültig. Ja, wenn es der Weltfriede wäre, den sie da mit Gesang und Fackellicht verlangten! Wenn es ein einziger tobender Protest gegen den staatlichen Massenmord wäre, erhoben von Müttern, Witwen, Waisen . . . ich hätte wahrscheinlich geweint wie ein kleines Kind. So aber schlug die Quantität nicht in die Qualität um.
Man sieht zu viel. Man sieht, bei längerm Aufenthalt, wie es gemacht wird, sieht am Häuschen hinter der Basilika die Aufschrift ›Hommes‹ – ›Femmes‹ und ›Cabinets Réservés‹, woraus also zu schließen wäre, daß die Geistlichen, denen man sie reserviert hat, weder Männchen noch Weibchen sind . . . Man sieht die Kinoplakate an den Ecken, Fanale eines unentrinnbaren Zeitalters. Dies ist anders als der Jahrmarkt, der auch im Mittelalter jede religiöse Zeremonie und jede Hinrichtung begleitet hat. Dies hier ist mehr, selbständig richtet es sich neben der Kirche auf. Mady Christians, muß ich hier dich wiederfinden –? Wahrhaftig: da hingst du.
Oh, man hat auch religiöse Filme. Da läuft zum Beispiel ein Bernadette-Film, der in seiner Herstellung, mit seinen Schauspielern und Dekorationen an die dunkeln Filme gemahnt, die man vor dem Kriege in Budapest herzustellen pflegte . . . Es ist über die Maßen schauerlich. Der Vortrag des jungen Abbé aber ist es gar nicht, und die Worte, die er zum Film spricht, stehen an Geschicklichkeit, berechneter Wirkung und Wirksamkeit tausendmal über dem Schund. Man will übrigens einen neuen Bernadette-Film herstellen. Der Abbé läßt es nicht an freundlichen Beschimpfungen derer fehlen, die nicht an Wunder glauben, und fordert jeden auf, ungestört seine gegnerische Meinung hier zum Ausdruck zu bringen. Kenner der Materie entsinnen sich des[73] Geschreis, das es einmal gegeben hat, als die französischen Freimaurer als Demonstration einen ihrer Kongresse in Lourdes abhalten wollten. In solchen Fällen ist ja wohl der Staat nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung zu garantieren . . .
Und wenn man diesen Film hinter sich hat, darf man das ›Römische Museum‹ ansehen, ein Wachsfigurenkabinett mit wilden Löwen, zerrissenen Christen und einem herrlichen Erklärer. Er redete wie eine Gebetmühle. Der Bruder der seligen Bernadette sei zwar kein Römer, aber er kenne ihn sehr gut: der Mann habe seine Schwester niemals richtig geschätzt, nein, nein. Da sagen sie, sie liege in Nevers begraben . . . Er, der Erklärer, wisse mehr – er dürfe nur noch nicht darüber reden. Das ist schade.
Die einzig wirkliche Erholung sieht anders aus. Oben, auf einer Anhöhe, liegt das Schloß und darin das Pyrenäische Museum. Es ist das schönste Museum, das ich in diesen Bergen gesehen habe – weil es klug angelegt ist. Französische Provinzmuseen stehn auf keiner sehr hohen Stufe, sie haben herrliche Kunstwerke, aber die Stücke werden nicht immer gut präsentiert. Hier in Lourdes aber hat ein kunst- und landeskundiger Mann, Herr Le Bondidier, die bäuerlichen Gerätschaften, die Bilder, gute Diapositive, Bücher und Kinderspielzeug, Pilgermünzen und Andenken so fein geordnet und mit einer solchen Liebe aufgebaut, daß einem das Herz im Leibe lacht. Ich konnte mich gar nicht trennen. Die kleinen Burgzimmerchen haben Nummern, die den Besucher ohne Katalog automatisch durch das ganze Schloß führen, und was man sieht, geht einen etwas an, steht hübsch da, langweilt nicht.
Herrn Le Bondidier habe ich in seinem Büro besucht. Er erinnert im Aussehen – o ihr Rassenphysiologen! – an Wilhelm Raabe. Er darf sich rühmen, die schönste Aussicht von ganz Lourdes zu besitzen: sein Arbeitszimmer sieht grade auf die Basilika – drei riesige große Fensterbögen zeigen ihm von hoch oben Kirche, Massen, Prozessionen und Fackelzüge. Die Wände sind mit hellbraun getöntem Holz getäfelt, bunte baskische Bilder hängen da . . . endlich, endlich einmal einer, der nicht im Directoire-Stil sitzt und nicht in Louis I-XVI. Als der hochgewachsene Mann, von dem im Museum eine lustige Karikatur als Bergsteiger, der alles bei sich hat, hängt, das Zimmer einen Augenblick verläßt, sehe ich auf die Bilder an den Wänden und finde etwas. Da reitet ein dunkler Reiter durch blutige Nacht, hinter ihm ballen sich erschreckte Massen, der Reiter hat etwas auf dem Kopf, das ist ein Kürassierhelm, und als ich genauer hinsehe, entdecke ich die zwei Schnurrbartspitzen, ›Kain‹ steht darunter. Es ist immer hübsch, wenn ein Volk durch seine Fürsten gut im Ausland repräsentiert wird.
Und wieder hinunter nach Lourdes.
Da rollt der Betrieb ab, der kirchliche und der kaufmännische. Bei Huysmans habe ich gelernt, daß es Ungläubige und Freimaurer aller [74] Grade sind, die da ihre Geschäfte machen, es soll ganz schrecklich sein. Aber diese wilde Rotte nimmt den Pilger nicht einmal sehr hoch; die Preise sind nirgends unverschämt, wenn auch nicht niedrig. Selbst die Stadt will ihre Position nicht ausnutzen: sie beansprucht keine Beherbergungssteuer (taxe de séjour), verzichtet so auf Millionen und ist nur eine mäßig begüterte Gemeinde. Das hat seinen Grund:
Lourdes ist eine Stadt der kleinen Leute.
Der Tourist ist sofort kenntlich – er gehört meistens, wie Tante Julla das nennt, den ›besser gekleideten Ständen‹ an; in den Pilgerzügen aber dominieren Bauern und Küstenfischer der Bretagne und kleines und kleinstes Kleinbürgertum: Gärtner, Dienstmädchen, Portiers, kleine Beamte, Handwerker. Das sind nicht die Gesichter organisierter Industriearbeiter.
Und wenn die feinen Leute dabei sind, dann in so aufdringlicher und aufreizender Form . . .
Nach dem Allerheiligsten in den Prozessionen gehen sie. Da sah ich den Herrn Grafen und den Herrn Baron und dessen Söhne und so vornehme Herrschaften . . . Sie gingen in einer kleinen Gruppe, für sich: fromm, aber erster Klasse. Vor Gott sind alle gleich, gewiß, doch muß man das nicht übertreiben.
Es sind nun Leute von so vielen Nationen da, aber es ist immer derselbe Typus. Der bäuerliche, der kleinbürgerliche. Besonders die Frauen erinnern an Klatsch im Schlächterladen, an kleine Schneiderinnen, an Hebammen . . . Jede Nation hat ihre Eigenart; jemand beklagt sich über die ›Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten Plätze, die Spitze bei den Prozessionen‹ – und die dann nach ein paar Tagen die ganze Geschichte satt bekommen und Ausflüge in die Umgebung machen. Polen, Italiener, Spanier, Belgier, Holländer, Franzosen vieler Provinzen . . . es ist alles da. Und alle aus derselben Schicht.
Es riecht nach Muff, nach unaufgeräumten Schlafzimmern, nach jenem Typus, der in Europa nicht leben und nicht sterben kann, nach kleinem Mittelstand, der nicht weiß, daß ers ist.
Er bestimmt die Atmosphäre in Lourdes, er gibt das Tempo an, auf ihn sind Vergnügungen, Hotels, Romantik, Prozessionen zugeschnitten. Es ist die Stadt der kleinen Leute.
Aber die Heilung –?
[75] IV Der Sardellenkopf
Man kann auch zum Kopf einer Sardelle beten, es kommt nur auf den Glauben an.
Japanisches Sprichwort
Durch eine Wallfahrt nach Lourdes kann man organische Krankheiten heilen. Das ist der Fundamentalsatz der Gläubigen.
Erklärt wird er nicht. Bewiesen werden soll er durch das Bureau des Constatations Médicales.
Dieses Bureau besteht aus einem Chefarzt sowie mehreren andern Ärzten, die in Kommissionssitzungen die Heilungen prüfen und späterhin beglaubigen. Fremde Ärzte werden mit der größten Bereitwilligkeit zugelassen; sie dürfen an allen Sitzungen teilnehmen und bekommen Einsicht in alle Akten.
Niemand wird gezwungen, sich dem Bureau vorzustellen – wer sich geheilt glaubt, stellt sich selbst vor.
Das Bureau des Constatations ist vorsichtig, die Presse ist es minder. Die klerikalen Blätter, deren Verkäufer auf den Straßen von Lourdes schreien wie die Wilden, sind mit einem Wunder schnell bei der Hand. Die ›Annales de Lourdes‹ und ›La Revue de Lourdes‹ sind ernster zu nehmen, doch strotzen beide von pseudowissenschaftlichem Ernst und zelotischem Eifer gegen die, so nicht glauben.
Sämtliche persönlichen Anwürfe gegen die Mitglieder des Bureaus halte ich für falsch. Der törichte Vorwurf, sie seien bestochen, wird ja heutzutage kaum noch erhoben. Ganz abgesehen davon, daß die Ärzte, die dort tätig sind, den Eindruck rechtlicher und anständiger Männer machen und es sicherlich auch sind: bestechen . . . ! Die katholische Kirche ist viel zu klug dazu. Nur der Unbegabte stiehlt, der Kluge macht Geldgeschäfte.
Es darf auch nicht gesagt werden, daß diese Ärzte etwa zu gutgläubig wären – die sehr kluge Praxis des Bureaus ist vielmehr Skepsis. Mächtige Waffe der katholischen Kirche gegen die Zweifler: dieses Bureau ist so streng in seiner Nachprüfung, daß die Kranken ihm den Spitznamen ›Bureau des Contestations‹ gegeben haben: Bestreitungsbüro. Und hat nicht eine Frau nach langem ärztlichem Examen aufgeschrien: »Dieser Mensch, der mir da gegenübersitzt, ist sicherlich ein Freidenker – er glaubt nichts!« Der Mann war der verstorbene Chefarzt, Herr Boissarie, ein frommer Katholik.
»Lourdes . . . wer glaubt denn das schon –!« Die Sache ist wohl nicht damit abgetan, daß man durch die Nase bläst, ein in Norddeutschland sehr beliebtes Argument. »Ich kenne keinen Menschen, der noch solches Zeug . . . « Du kennst keinen? Aber du vergißt, daß es nicht [76] die andern sind, die die Ausnahme bilden, sondern du, du selbst, Freigeist oder Faulgeist oder wirklich Überlegner – du bist es, der auf einer großen Insel sitzt. Nach Lourdes sind gewallfahrt:
1873140000
1883213000
190840100
nach dem Kriege jährlich etwa 500000–800000 Menschen.
Das sind die Zahlen der offiziellen Wallfahrer; Einzelpilger, Touristen, Neugierige sind nicht einbegriffen. Bisher mögen etwa zwölf Millionen Pilger dort gewesen sein. Das ist ein Welterfolg.
Kommen nun in Lourdes übernatürliche Heilungen vor –?
Ich behaupte:
Das Bureau des Constatations ist in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht in der Lage, eine Heilung festzustellen.
Die Konstatierung einer Heilung ist eine Vergleichung: die des Zustandes vor dem Wunder mit dem Zustand nach dem Wunder.
Nun: das Bureau kennt den Zustand vor dem Wunder gar nicht.
Da es undurchführbar wäre, die Hunderttausende von Kranken vor dem Bad in den ›piscines‹ zu untersuchen, so stellt sich der angeblich Geheilte, den das Bureau jetzt zum ersten Mal zu sehen bekommt, mit einem Attest vor. Der Geheilte kommt also mit dem Zeugnis fremder Ärzte, die besagen, was ihm gefehlt hat. Nun untersucht das Bureau den Kranken nach der Heilung, es kennt also nur die eine Seite des Waagebalkens.
Denn wer sind diese attestierenden Ärzte? Professoren? Kleine Landdoktoren? Welchen wissenschaftlichen Wert haben ihre Gutachten? Wann sind diese Atteste ausgestellt?
Diese Atteste sind wochenlang vor der Heilung ausgestellt, in den seltensten Fällen eine Woche vorher. Aber jeder Kurpfuscher sieht seine Kranken vor und nach seinen Praktiken und ist wenigstens in den Zeitangaben gedeckt, wenn er sich bescheinigen läßt: »Nach Ihrer Behandlung fühle ich mich bedeutend besser.« Und die behandelnden Ärzte zu Hause sehen den Kranken erst nach Wochen wieder, frühestens nach einer – sie vermögen also wenig über eine exakte und sofortige Wirkung der Wallfahrt auszusagen.
Die Statistik ist so minutiös: sorgfältig gibt das Bureau des Constatations an, wieviel fremde und wieviel französische Ärzte dort gewesen sind . . . Aber das besagt gar nichts, denn sie können ja nichts sehen. Man öffnet ihnen alle Türen – aber es gibt wenig zu beobachten. Was sie untersuchen, sind kranke Männer und Frauen in einem bestimmten Zustand – was vorher war, wissen sie aus eigenem Augenschein nicht. Die populäre Literatur wimmelt von Fotografien der Geheilten, eine Beweisführung, die etwa an die plattdeutschen Märchen denken läßt,[77] in denen jemand vom Gnomenfürsten träumt, der da auf dem morschen Ast ritt und dann herunterpurzelte. »Und zum Beweis dessen, daß die Geschichte wahr ist – hier ist der Ast.«
Natürlich kämpfen die Lourdes-Leute wie die Mamelucken für ihre Sache. Und das ist nun ausnahmsweise kein Wunder. »Ce que l'amoureux fait pour sa maitresse«, sagt Sighele einmal, »l'artiste le fait pour son art, le savant pour sa science, le sectaire pour la secte.« Und sie passen auf –! Ein kleiner Irrtum des Zweifelnden, ein Versehen des Kritikers im winzigsten Nebenumstand, und es erfolgt ein allgemeines Schütteln des Kopfes. Da seht ihrs! Der Mann ist nicht exakt, also nicht glaubwürdig, also haben wir recht. So wird hier gekämpft.
Worum wird gekämpft –?
Die offiziellen Zahlen der Heilungen sind verhältnismäßig klein.
gänzlich unkontrolliert.
Das Bureau besteht erst seit 1884
Die Zahl für 1924 wurde mit 22 angegeben. Im Jahre 1925 wird sie aller Voraussicht nach noch geringer sein.
Unter den Propagandaberichten finden sich ein paar besonders schöne Fälle.
Da ist Herr Gargam, der im Dezember 1899 bei einem Eisenbahnzusammenstoß böse verletzt wurde: Fleischwunden, Schlüsselbeinbruch, Lähmung und Muskelsteife des gesamten Unterkörpers vom Gürtel an. Man hat große Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu ernähren. Die Schadensersatzklage gegen die Eisenbahngesellschaft Paris-Orléans führt zum obsiegenden Urteil: 3000 Francs jährliche Rente, die später auf 6000 erhöht wurde, sowie eine einmalige Auszahlung von 6000 Francs. Am 12. August 1901 verzichtet die Gesellschaft auf weitere Rechtsmittel und erklärt sich bereit, zu zahlen. Acht Tage später, am 20. August, ist Herr Gargam in Lourdes unter den Geheilten.
Da ist Frau Rouchel aus Metz, einer der bösesten Fälle von Lourdes. Die alte Frau litt an einem Lupus; ihr Gesicht war entsetzlich entstellt, es bestand aus einer einzigen Wunde. Sie kam am 4. September 1903 nach Lourdes; eine grauenhafte Qual, sie anzusehen, eine Plage für die Nachbarn. Die Wunde roch stark und eiterte. Sie wußte, daß sie allen lästig fiel und wollte nicht im Menschengetümmel bleiben, das stets vor ihr zurückwich; sie flüchtete sich in eine kleine Seitenkapelle der Kirche. Als das heilige Sakrament an ihr vorbeikam, fiel ihr Verband, mit Blut und Eiter getränkt, auf ihr Gebetbuch. Als sie ins Hospital zurückkam, war sie geheilt. Mirakel –!
Nachschrift: Frau Rouchel starb im Krankenhaus zu Bondecours mit [78] völlig zerfressenem Gesicht. Und das war kein Lupus. Es war das tertiäre Stadium der Syphilis, von der ihr Arzt in dem Attest aus Gefälligkeit nichts gesagt hatte. Sie hatte beide Krankheiten. Die Geschichte machte in Metz einen Höllenspektakel, der Arzt wurde von seinen Kollegen fallen gelassen, die alle sehr wohl wußten, daß solche Erscheinungen des tertiären Stadiums oft ebenso rasch verschwinden, wie sie gekommen sind.
Und so gibt es noch viele schöne Fälle.
Die Kirche verlangt nun von einem Wunder, damit sie es als Wunder ansähe:
Es darf sich um keine nervöse Erkrankung handeln. Unmittelbarkeit der Heilung.
Der Ausschluß der Hysterischen . . . das ist nicht immer so gewesen. Denn es ist ja unzweifelhaft, daß der größte Teil der Wunderheilungen im Mittelalter Neurastheniker, Hysteriker, Hysterische, Nervöse betroffen hat – gaben die sich für geheilt aus, so sah man sie als begnadet, ausersehen und durch Gott und die Jungfrau geheilt an. Seit die Wissenschaft dieses Feld besetzt hat, hat es die Kirche geräumt. Sehr früh schon – etwa um 1734 – hat der Kardinal Prospero Lambertini, der spätere Papst Benedikt XIV., davor gewarnt, Nervöse in die Wundergeschichten einzubeziehen. Was aber wäre, wenn die Psychologie und die Psychiatrie den nervösen Krankheiten nicht so nahegerückt wäre? Die Kirche nähme diese Kranken noch heute für sich in Anspruch.
Vorläufig schwerer angreifbar steht sie auf dem kleinem Feld, das ihr geblieben ist: auf der wunderbaren Heilung organisch Kranker. Da läßt sie sich nichts abhandeln. Sie verlangt nur die Unmittelbarkeit der Heilung.
Von einer Unmittelbarkeit kann nun zunächst in keinem Fall die Rede sein. Bechterew sagt einmal, als er in seiner ›Bedeutung der Suggestion für das soziale Leben‹ von Wunderheilungen spricht: »Der Boden für zukünftige Heilungen beginnt sich bereits in dem Augenblick vorzubereiten, wo der Kranke zum erstenmal das Gerücht von der Wunderkraft des Heiligtums vernimmt und in seiner Seele der erste Hoffnungsfunke entfacht ist.« Reißt also ein aufgegebener und scheinbar unheilbarer Kranker seine letzte Willensreserve zusammen und beschließt, nach Lourdes zu gehen, so beginnt der seelische Prozeß in diesem Augenblick: wochen–, vielleicht monatelang vor der Reise. Das später ausgestellte Attest besagt wenig.
Nun tagt die Kommission in Lourdes. Aber was sind denn das für Ärzte –! Ich habe mehr als hundert Befunde und Bescheinigungen dieser Leute gelesen, und ich muß sagen, daß mir so etwas noch niemals unter die Finger gekommen ist. Sie haben eine Heilung unter den Augen, sie sehen sie, sie können die neu funktionierenden Organe befühlen,[79] radiographieren – und sie setzen an den Schluß aller ihrer Zeugnisse: »Solche Heilungen kommen in der Medizin nicht vor – sie haben also übernatürlichen, keinen medizinischen Charakter.«
Das unglückselige Wort Richets von der Unwandelbarkeit der physikalisch-chemischen Gesetze, so recht ein Zeugnis von Kurzatmigkeit des Verstandes, flachstem Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und leiser Überheblichkeit, dieses noch dazu aus seinem Zusammenhang gerissene Wort hat denen in Lourdes grade noch gefehlt.
Und hierin gleicht Richet zu seinem Nachteil gar nicht den Theologen, und Rousseau hat allen Orthodoxen der Ratio dies ins Stammbuch geschrieben: »Tout au contraire des théologiens, les médicins et les philosophes n'admettent pour vrai que ce qu'ils peuvent expliquer, et font de leur intelligence la mesure des possibles.«
»Dieses Rückenmarksleiden wird niemals von uns geheilt – also ist es nicht heilbar. Ein Wunder! Ein Wunder!«
Ein Wunder von Ärzten.
Aber dann macht doch die Augen auf, wenn ihr dergleichen seht! Ihr habt solche Heilungen noch nie beobachtet? Dann steckt die Nase in die Bücher, lernt etwas und denkt nach, warum dennoch geheilt worden ist, auf welchem Wege, durch welche Einwirkungen . . . Zu grobfingrig, um diese Gewebe aufzudröseln, transponieren sie Kräfte, die sie nicht kennen, nach außen, und die Mutter Maria steht in aller Pracht vor ihnen.
»Kräfte, die sie nicht kennen . . . « Ach, dieses Wort darf man in Lourdes gar nicht aussprechen, ohne daß man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht kennen! Das wäre ja noch schöner! Schwatzt nicht von unbekannten Kräften! Eben die sind Gott.
Nun habens ihnen die Gegner nicht so schwer gemacht.
Wundt: »Es hat keinen Sinn, alle seelischen Erscheinungen, von der normalen Assoziation und Assimilation an bis zu mehr oder minder phantastischen Illusionen und Sinnestäuschungen, unter dem Begriff der Suggestion zu vereinigen und diesen so zu einem Allerweltsbegriff zu machen, der, weil er alles bedeuten soll, in Wahrheit nichts mehr bedeutet. Das Wort ›Suggestion‹ erklärt ja überhaupt nichts. Es gewinnt erst einen psychologischen Wert, wenn man die elementaren psychischen Prozesse aufzeigt, deren besondere Verbindung in diesem Ort zusammengefaßt wird.« Und weil das die Gegner so oft schuldig bleiben – deshalb haben es die Wundergläubigen so leicht.
Die katholische Wundererklärung, auch die durch die Ärzte, grade die durch die Ärzte, ist scholastisch durchgearbeitet. Bleibt zum Beispiel eine kleine Narbe vom alten Leiden übrig, so scheut sich doch ein erwachsener Mann nicht, das als ›Signatur Gottes‹ anzusehen, gewissermaßen ein Fabrikzeichen: ›Nur echt mit . . . ‹
[80] Die Anschauungen, denen man in dieser katholischen Ärzteliteratur über Suggestion begegnet, sind zum Teil wahrhaft kindlich. Bertrin nimmt allen Ernstes das Diktum eines Laienhypnotiseurs auf, der ihm in Lourdes sagte: »In Lourdes gibt es überhaupt keine Suggestion. Die Priester, die die religiösen Beschwörungen vornehmen, denen die Menge respondiert, beten anstatt zu befehlen. So suggeriert man nichts.« Ich weiß nicht, wo der betreffende Herr hypnotisieren gelernt hat – aber ich möchte mich nicht von ihm behandeln lassen.
Eine der exaktesten Definitionen der Suggestion steht bei Bechterew. »Suggestion beruht auf unmittelbarer Überimpfung bestimmter Seelenzustände von Person auf Person mit Umgehung des Willens, ja, nicht selten auch des Bewußtseins des Aufnehmenden.« Und: »Nicht durch den Haupteingang, sondern sozusagen von der Hintertreppe aus gelangt der Eindruck . . . unmittelbar in die innern Gemächer der Seele.« Die Definitionen von Liébault, Löwenfeld, Forel, Wundt, Binet und den großen Franzosen erreichen das nicht an Klarheit – wetteifern kann nur noch Moll, bei dem es etwa heißt, Suggestion sei der Fall, wo eine Wirkung dadurch bedingt wird, daß man die Vorstellung ihres Eintretens erweckt. Und das ist der Fall Lourdes.
Wird nun hier ›ohne Mithilfe von Logik‹ suggeriert, wie Bechterew das als typisch angibt –? Viel klüger: es wird mit einer Scheinlogik gearbeitet. Die Legende der seligen Bernadette, die Geschichte der Wunderheilungen, ihre etwas mystische Theorie, die da auf Erklärung verzichtet, wo man Erklärungen wünscht, und so das schöne Halbdunkel erzeugt, in dem der Glaube gedeiht – das alles greift ineinander wie die Zähne eines Räderwerks, und diese Wissenschaft für die kleinen Leute geht denen ein wie öl. Die Kleriker haben auf alle Angriffe einen Einwand, für jeden Beweis einen Gegenbeweis, und es ist wie mit den Juristen: folgt man ihnen erst einmal auf diesen Morastboden der Klopffechterei, dann ist alles verloren. Sie nennen das beide – Kirche und Rechtswissenschaft –: die Gesetze der Vernunft. Und vergessen nur, daß sie stets herausinterpretieren, was sie vorher stillschweigend hineininterpretiert haben.
Nun ist aber Suggestion kein krankhafter Vorgang, sondern etwas dem menschlichen Leben durchaus Natürliches, eine Sache, mit der die Gesellschaft steht und fällt; ohne Suggestion ist kein Zusammenleben denkbar. Diese Spezialsuggestion von Lourdes setzt zunächst die Behauptung in die Voraussetzung, supponiert den Gott, den sie ja grade beweisen will, und appelliert außerdem an viel tiefere Instinkte.
»Unser ganzes Bestreben geht danach, geliebt, bewundert, beneidet oder wenigstens bemitleidet zu werden, . . . die Gedankenwelt andrer zu bevölkern, die uns lieb sind oder die uns imponieren.« (Gleichen-Rußwurm.) Das ist es. Es ist der Geltungsdrang.
Ich habe im Bureau des Constatations ein junges Mädchen gesehen, [81] das wollte sich eine Wunderheilung attestieren lassen. Die Unterhaltung war der Typus eines Kuhhandels. »Tun Sies doch, Herr Doktor!« – »Eine gewöhnliche Besserung von Sodbrennen – das genügt nicht, Fräulein!« Die Augen des Mädchens glänzten, sie hatte einen puterroten Kopf und kämpfte um ihr Leben. Draußen hatten sie eben eine scheinbar Geheilte vorbeigetragen, das Klatschen und die begeisterten Zurufe lagen noch in der Luft . . . sie auch! sie auch! Eine Rolle spielen, bewundert werden, auserlesen sein unter Tausenden . . . sie auch! Sie entfernte sich, enttäuscht, gekränkt, in ihren tiefsten religiösen Gefühlen getroffen, wie nach einem verlornen Gefecht.
Aber suggeriert der behandelnde Arzt nicht auch? Hypnotisiert er nicht? Ist nicht ein Teil seiner Wirkung eingestandenermaßen in seiner persönlichen Suggestion zu suchen?
Und hier scheint mir Zola, der mitgedacht wird, wenn Lourdes gedacht wird (was nach einem Raabeschen Wort ›Ruhm‹ bedeutet) – hier scheint mir dieser tapfere und wirkungsvollste Vorkämpfer, dessen Roman in Deutschland berühmter ist als bekannt, einen Schuß nicht abgefeuert zu haben. Wie haben sie ihn bespien! Wer erinnert sich nicht noch des Unflats, der bei den Frommen aufdampfte, als er tödlich verunglückte! Sie haben ihm sogar vorgeworfen, er habe in ›Lourdes‹ die Geistlichen beschimpft, wofür es keine Stelle als Beleg gibt . . . Nein, es sitzt anderswo. Das Wort ›Suggestion‹ reicht in der Tat nicht aus.
Die Literatur über das Individuum in der Masse ist klein. Ganz zu schweigen von Experimentalpsychologen, deren lächerlichste Vertreter an Apparaten herumhantieren und Versuchsreihen aufstellen, die so lang sind wie ihr Instinkt kurz – es ist auch grundfalsch, die Natur der Massenerscheinungen am Individuum zu studieren und in verkehrter Gründlichkeit bei ihm anzufangen. Das Wesen des Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich, Lourdes ist ein Massenphänomen und nichts als das.
»In eine Menge zu gehen, ist, wie in ein Choleradorf gehen«, hat ein englischer Soziologe gesagt. Der Gedanke, daß eine Versammlungsrede in kleinem Kreise leicht komisch wirkt, ist nicht neu, aber viel zu wenig ausgearbeitet. Denn hier sitzt der Kern. Was tut nun Lourdes mit den Massen –?
Es versetzt zunächst die fernen Kranken durch seinen Ruf, der künstlich genährt und gesteigert wird, in sanften Schwindel. Die Wallfahrten sind ja nicht spontan, sondern sorgfältig organisiert, die Beteiligung an ihnen ist häufig unter mehr oder minder starker Beeinflussung erfolgt. Die Millionen strömen zusammen, nicht nur von individuellem Willensimpuls getrieben, die Reisen rühren nicht aus lauter voneinander unabhängigen Einzelentschlüssen her, sondern sie sind kollektiv zustande gekommen. Die Disposition für die große Massensuggestion, die da einsetzt, ist also denkbar günstig. Kommt [82] die manchmal ungenügende ärztliche Pflege hinzu, das Mißlingen von ärztlichen Kuren, die scheinbare oder wirkliche Unmöglichkeit, geheilt zu werden – so wird sich der Kranke um so eher dem neuen Hoffnungsstern hingeben.
Nun reist er nach Lourdes.
In dem Augenblick, wo der Patient den Zug betritt, kommt er aus der Masse nicht mehr heraus. Er ist nie mehr allein. In den Hospitälern liegen sie zu zwanzig, dreißig. Er ist fast ständig unter Tausenden, meist unter Hunderten, die Leidensgefährten sprechen miteinander. Die Ärzte unter meinen Lesern kennen die ›Wartezimmer-Gespräche‹ in den Polikliniken, wo Frau Knautschke Fräulein Lindemüller von ihrem großen Ding am Knie erzählt, und was der Doktor gesagt hat, und was man da tun müsse, und was man nicht tun dürfe . . . Jeder gibt seinen Senf dazu, Schauergeschichten steigen zur Decke, und alle sind schwere Fälle, und alle wollen bemitleidet und sehr ernst genommen werden. An guten Ratschlägen fehlts nicht. Das, genau das, ist die Luft von Lourdes. Ich habe die Unterhaltungen alter Frauen auf dem großen Platz während der Prozession mitangehört: kein Komma war anders als in der berliner Charité vor der allgemeinen Sprechstunde. »Un denn, Frau Millern, ick hab mein Mann imma heiße Linsen hinten ruffjepackt – das hatn ja sehr jut jetan . . . « Auf die Art.
Gruppen sind ein Leib. Aber das ist überall so. Ein Soldat wurde bei einer Besichtigung gefragt: »Sie stehen im Feuergefecht mit dem Gegner, der energisch vordringt. Ein Schütze neben Ihnen ruft, daß man sich nicht mehr halten könne, man müsse zurückgehen. Was tun Sie?« – »Ich gehe zurück!« sagte der Soldat. – »Warum?« – »Weil wir uns nicht mehr halten können.« Ganz Lourdes in einem Satz.
Man betrachte ja nicht die Massen in Lourdes als einen Haufen Ekstatischer und religiös Verzückter. Im Gegenteil: die Atmosphäre ist recht kleinbürgerlich; es sind Bauern und kleine Bürger, die da zur Heilung kommen, und tobende Ausbrüche sind recht selten. Als Hellpach noch Nervenarzt war, hat er einmal davon gesprochen, daß »nicht jede Epidemie, in der ein paar Hysterische sich herumtreiben, eine hysterische Epidemie ist; von den wirklichen hysterischen Epidemien ist die große Menge der bloß mit hysterischen Zügen Geschmückten sorgfältig zu sondern«. So auch hier. Nein, es ist ganz etwas anderes als Hysterie.
Es ist das Beispiel. Es ist die Nachahmung. Es ist die Geste.
Man falte einer Hysterischen in der Hypnose die Hände – und ihr Gesicht nimmt einen flehenden Ausdruck an. Man versetze sie mit zornigen Gesten in einen zunächst fingierten Zustand der Raserei, und das Blut steigt ihr langsam zu Kopf. (Der Schauspieler sei hier ausgenommen.) Espinas, der französische Tierpsychologe, erklärt so die geistige Ansteckung unter Tieren. Vom Gesumm der Wespen: »Die andern Wespen hören dieses Geräusch, können es sich aber nur vorstellen, [83] indem diejenigen Nervenfasern, die es gewöhnlich auslösen, gleichzeitig mehr oder minder erregt werden . . . Wir denken nicht nur mit unserm Gehirn, sondern mit unserm ganzen Nervensystem.« Nun, hier in Lourdes wird nicht nur gesummt. Hier wird der Heilwille angespannt.
»Die Wunden der Sieger schließen sich schneller als die der Besiegten«; das gilt auch körperlich. Die Seelenheiterkeit, die gute Stimmung, der Wille, gesund zu werden – wer kennt das nicht! Und der wird hier aufgereizt, angespannt, hochgepeitscht . . .
Ein besonders schönes Beispiel von Massensuggestion sind die Lungenkranken aus der Heilanstalt zu Villepinte, deren Belegschaft jedes Jahr wiederkam. 1896 werden acht von vierzehn Personen geheilt; 1897 acht von zwanzig, darunter nur vorübergehende Besserungen, 1898: vierzehn von vierundzwanzig. Unnötig, auszumalen, was sich das ganze Jahr hindurch in der Lungenheilanstalt abgespielt hat – die Gespräche, die gegenseitigen Ermunterungen, die ununterbrochenen Wach-Suggestionen, die Zeitungsartikel . . . Einen günstigeren Boden gibt es nicht.
Nun könnte man sagen: aber wie verhält es sich mit der Heilung von Kindern, die kaum oder noch gar nicht sprechen können, auf die also die Wirkung einer normalen Wort- und Bildsuggestion nicht in Frage kommen kann? Der Professor Bertrin führt eine große Anzahl an: 1897 ein Kind von knapp drei Jahren, 1896 ein Kind von zwei Jahren, er geht sogar bis auf das Jahr 1858 zurück . . . Aber grade bei Kindern erscheint mir die Sache besonders zweifelhaft: denn da sind es die Krankheitsberichte der Eltern, die ihr Kind geheilt haben wollen, und die nicht wissen, daß es grade bei Kinderkrankheiten verblüffende Fälle von raschen Zustandsveränderungen gibt.
Liest man die kirchlichen Bücher, so hat man den Eindruck, wie wenn sich dergleichen noch nie ereignet hätte. Damals, als der Präfekt von Tarbes die Grotte schließen wollte, erhob sich die ganze Gegend. »Von dem Tage an, als die Gendarmen erschienen und die Leute von Strafe hörten, war die Aufregung so stark, daß sich die ganze Gemeinde und auch die Nachbargemeinden, wie vom Widerspruchsgeist getrieben, für diese Neuerung begeisterten.« Aber das ist nicht Lourdes, sondern stammt aus einer Wundergeschichte, die in Trennfeld im Jahre 1892 spielte. Es kommt alles wieder, auch die Wunder, grade die Wunder. Sie haben ihre Gesetze.
Dergleichen ist ja nicht neu. Der Doktor Vachet aus Paris, der übrigens eine sehr verdienstvolle Aufklärungsschrift über Lourdes geschrieben hat, zeigt genau dieselben Methoden bei einem Mann auf, der sogar in Paris einen Saal knüppeldick voller Menschen hatte: Herr Béziat, ein Landwirt, der die Leute durch Zuspruch heilte. Und der sagte offen, was es ist: es ist der Wille. Wobei er die Bemerkung macht, [84] daß der Kranke durch den fremden Appell an die ›Lebensquelle‹, die sich nun gegen die Krankheit aufbäumt, zunächst noch mehr leide – eine sehr feine und treffende Beobachtung.
Von den zahllosen Analogien und Kopien von Lourdes nur zwei.
Die schwindsüchtige Maria Bashkirtseff war im Jahre 1881 in Kiew. Ihr Tagebuch ist heute mausetot – aber es bleibt doch das rührende Zeugnis eines armen Vögelchens. Da betete man für sie, ihre Eltern beteten, sie auch; aber sie glaubte nicht an die Heilung. Und so wurde es denn auch nichts. Ihre kleine Schilderung von Kiew, die unter dem 21. Juli eingetragen ist, wirkt wie ein dünnes Abziehbild von Lourdes.
Und da ist das Heiligtum von Oostakker in Belgien, eine gradezu barocke Geschichte. Die Marquise von Courtebourne hatte sich in ihrem Schloß, wie es um 1870 Mode war, ein ›Aquarium‹ anlegen lassen, mit Teichen und Wasserkunst und allem übrigen. Ihr Abbé zeigt ihr ein Bild der Grotte von Lourdes – das möchte sie auch haben. Es wird eine Nachbildung bestellt und ausgeführt, mit der Statue der Madonna und allem, was dazu gehört, auch dem exportierten Wasser aus Lourdes. Und nun fangen doch wahrhaftig die Gläubigen an, hierher zu wallfahrten –! Unter den Geheilten strahlt das Glanzstück: de Rudder. Der Mann war ein Bettler, dem ein Sturz vom Baum sein Bein zerschmettert hatte. Bruch des Schienen- und des Wadenbeins, Operation ohne Asepsis: schwere Eiterung, in der Wunde sollen die Knochenenden deutlich zu sehen gewesen sein. Diesem Mann wuchsen am 7. April 1875 die verkürzten Knochen zusammen, und wenn man sieht, daß der Metallabguß dieses Mirakels im Bureau des Constatations hängt, so wird man füglich nicht mehr zweifeln. Wenn man nicht wüßte, daß der Abguß ein Jahr nach dem Tode von dem exhumierten Leichnam abgenommen worden ist, abgenommen worden sein soll . . . So ungefähr sieht das wissenschaftliche Material der Kirche aus.
Lourdes ist lediglich ein Phänomen der Massensuggestion.
Es gibt einen klaren Beweis von der Richtigkeit dieser These, einen Beweis e contrario. Das ist der Winter.
Im Winter finden keine Wallfahrten statt, weder die großen französischen noch die internationalen. Im Winter kommen lediglich ein paar versprengte Touristen, Neugierige, Hochzeitsreisende, die gelobt haben, nach ihrer Verbindung dorthin zu pilgern – es kommen aber auch Kranke.
Die Kirchen sind geöffnet, die Grotte ist geöffnet, man kann beichten und beten, wie im Sommer, man darf baden, wie im Sommer; man darf das heilige Wasser trinken, wie im Sommer.
Und es gibt keinen Fall der Heilung im Winter – keinen einzigen!
Es kann keinen geben, weil die Masse fehlt, die brodelnde, Gebete plappernde, dahinziehende, sich pressende, chorsingende Masse. Der Pilger ist mit seinem Gott und seiner Grotte allein.
[85] Und da langt es nicht. Da springt kein Funke über, da bäumt sich nichts auf, da peitscht nichts auf den Willen ein, da raunt nichts: Gesunde! da ruft nichts: Gesunde! da brüllt nichts: Steh auf und wandle! Im Winter geschlossen.
Der Arzt mit seinen Hilfsmitteln: Persönlichkeit, Wartezimmer, Operationssaal, weißer Mantel, Assistenten – er reicht Lourdes nicht das Zauberwasser. Er ist allein, der Kranke im Winter ist allein. Lourdes ohne die Masse ist nicht Lourdes.
Und nicht nur zeitlich ist das Wunder begrenzt – auch örtlich. Es gibt in den letzten vierzig Jahren keinen Fall, daß jemand aus Lourdes selbst geheilt worden wäre. »Wir sind zu nah«, sagte mir einer. Die Kirche läßt die Pilger nur wenige Tage zur Grotte wallfahren – frisch sollen die Eindrücke sein, gewaltig die Intensität, mit der gewollt und gebetet wird; Gewöhnung ist der Tod. Ein klarerer Beweis ist nicht möglich.
Am tiefsten hat hier, wie immer, Freud sondiert. In seiner Untersuchung über ›Totem und Tabu‹ findet sich das finstre Loch aufgerissen. »Mit der Zeit verschiebt sich der psychische Akzent von den Motiven der magischen Handlung auf deren Mittel, auf die Handlung selbst . . . Nun hat es den Anschein, als wäre es nichts andres als die magische Handlung . . . die das Geschehen erzwingt.« Die magische Handlung in Lourdes ist das Bad.
Die Quelle hat, wie die Kleriker triumphierend feststellen, nachgewiesenermaßen nicht den geringsten therapeutischen Wert, sie ist eine Gebirgsquelle wie hundert andre auch. Aber das symbolhafte Bad, das an Heilbäder erinnert, gemahnt den Kranken, daß hier etwas zu seiner Gesundung vorbereitet wird, er kennt das, ja, ja, es ist ein Bad, gewiß, er ist in einem Kurort. In einem seelischen.
Um sich herum Kranke . . . »Man fühlt sich nicht so allein in seinem Malheur«, hat einmal ein Krüppel gesagt – Leidensgefährten, Bemitleidende und das Höchste: das Allerheiligste mit dem Erzbischof selbst dem Kranken zu Ehren! Hier wird das Ich groß geschrieben. Mit der äußersten Konzentration kehrt sich der Heilwille nach innen, ringt mit der Krankheit, kämpft: du oder ich!
Und nun ist die große Frage:
Wie weit reicht dieser Heilwille –?
Sieht man von allen Schauergeschichten, von allen Übertreibungen, von allen liederlichen Dokumenten ab, von den Luftblasen, die da aus dem Sumpf hochgurgeln – ein einziger Fall genügte. Ich nehme ihn an.
Und damit wäre eben nur erwiesen, daß der Wille des Menschen, dieser allmächtige Wille, dem so viele Weise so verschiedne Namen gegeben haben, daß dieser Wille fähig ist, Veränderungen im Gewebe hervorzubringen. Die Kirche, die sich seit Marx mit dem Sozialismus [86] beschäftigt wie eine Hausfrau mit Wanzenpulver, hat auch Medizin studiert und unterscheidet in ihrer medizinischen Scholastik sehr scharf. »Eine Hysterie kann nur eine Funktion hervorrufen, niemals ein krankes Organ ersetzen.«
Wenn aber ein Fall, ein einziger erwiesen wäre, von demselben Arzt unmittelbar vor und nach der Heilung beobachtet, attestiert, radiographiert –: wenn der erwiesen wäre, dann sind eben die Theorien falsch, denn es ist die Naturerscheinung, nach der die sich zu richten haben, nicht, wie der Theoretiker gern möchte, umgekehrt.
Also doch Unsre Liebe Frau von Lourdes –?
Nein.
Sie ist die Personifikation des menschlichen Willens, dem die Kirche das genommen hat, was sie der Gottheit gab. Innen sitzt es – nicht außen.
So ist es immer gewesen.
Da ziehen sie hin, die Schafe – Walter Mehring hat sie gesehn.
Durch die Jahrtausende geht ihr Zug
Mondhell leuchtenden Steißes –
Immer ein schwarzes, ein weißes –
Heiliger Nepomuk!
Da ziehn sie hin.
Ich weiß nicht, ob schon wieder deutsche Katholiken nach Lourdes wallfahrten. In großen Zügen tun sie das meines Wissens noch nicht. Sie werden keinen leichten Stand haben. Die französischen Katholiken sind, im Gegensatz zu den deutschen, die wildesten Nationalisten; es gibt zwar keine Pan-Franzosen, und selbst die ›Action Française‹ will keinem andern Volk etwas fortnehmen – aber wenn Kat holos erdballumspannend heißt, so ist das ein Erdball mit Hindernissen. Es ist mir nie klar gewesen, wie ein frommer Katholik dem andern ein Bajonett in den Leib jagen kann – fühlt er nicht, daß es die eklatanteste Religionsverletzung ist, die es gibt? Dafür zum selben Gott gebetet, dasselbe Sakrament verehrt, dieselben Bitten gesprochen, dafür . . . ? Mir sind sämtliche Kunstgriffe der Kriegstheologen bekannt, man kann ja alles beweisen. ›Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist‹ und ›Gehorchet der Obrigkeit‹ – aber in der deutschen Kriegsliteratur zum Beispiel ist doch den Katholiken bei Aufstellung dieser kümmerlichen Sätze nicht so kannibalisch wohl gewesen wie der protestantischen Konkurrenz. Die jungen pazifistischen Katholiken in Deutschland, etwa die Leute um Vitus Heller, werden jedenfalls noch eine schwere Arbeit haben, wenn sie mit diesen französischen Glaubensgenossen zusammentreffen wollen. Denn da katholische Deutsche vor dem Kriege in [87] Lourdes gewesen sind, zum Beispiel Bayern, so ist es theoretisch nicht ausgeschlossen und praktisch mehr als wahrscheinlich, daß Männer, die gemeinsam vor der Kirche das Credo gesungen haben, sich späterhin bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt haben, als Soldaten, die sich damit noch brüsten, zum Beispiel Bayern.
Ich weiß sehr wohl, daß im allgemeinen dem deutschen Publikum nicht sehr wohl ist, wenn es gegen die Übergriffe der katholischen Kirche geht. Der Katholik ist dagegen; der Protestant hat Furcht, daß das Feuer auf sein Haupt übergreife, und der Jude sagt: politische Rücksichten und meint: Angst vor dem Antisemitismus. Mit einem kämpferischen freien Geist ist es bei allen dreien nicht weit her.
Die Aufgabe wird einem doppelt schwer gemacht: durch die wanzenplatten Monisten und die unzweifelhaften Verdienste des deutschen Zentrums in der Außenpolitik bis zum Jahre 1924. Aber das soll uns nicht hindern, die Wahrheit zu sagen.
Und sie kann um so leichter gesagt werden, als nur Renegaten und Angsthasen katholischer sind als die Katholiken selbst. Die verlangen nicht, daß man an Lourdes glaube; ich kenne katholische Franzosen, die mit Feuer und Schwert gegen die Trennung von Kirche und Staat kämpfen und über Lourdes mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergehen. Furcht vor dem Kulturkampf ist noch keine Toleranz.
Toleranz! Aber ich habe noch nie erlebt, daß die andern auf unsere Gefühle Rücksicht genommen hätten, etwa, wenn von der Wehrpflicht die Rede ist. Ihnen ist die Sache so selbstverständlich . . . Weicht nicht immer zurück, falsche Taktiker, Taktiker eurer Niederlagen. Und setzt auch einmal dem, der zugreift, die alte Formel der kirchlichen Druckerlaubnis aufs Heft: Nihil obstat. Imprimatur.
Hier soll kein Wort der persönlichen Verunglimpfung Geistlicher stehen. Die Tatsache bleibt, daß Lourdes Hunderttausenden eine Tröstung und eine Herzstärkung bedeutet. »Aber wenn nun die Leute ungeheilt zurückkommen«, fragte ich einen Abbé, »sind sie da nicht enttäuscht?« – »Im Gegenteil!« sagte er. »Es ist auf alle Fälle eine kräftigende Reise.«
Auf der manche sterben. Denn der Transport so schwer Kranker, die zum Teil gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte reisen und noch stolz darauf sind, ist anstrengend, qualvoll, trotz allem gefährlich. Von der öffentlichen Hygiene dieser nicht immer sauber zu haltenden Massentransporte gar nicht zu reden. Also Schließung? Es gibt keine Regierung, die das wagen dürfte. Es ist zu spät.
Und ich will nun den Frommen zum Schluß alles einräumen: daß es wundertätige Heilungen gibt, daß diese Heilungen von einem Wesen ausgehen, das Jungfrau Maria heißt . . . Was beweist das –?
Wunder sind eine Reklame. Wunder beweisen nichts für die Richtigkeit eines ethischen Systems.
[88] Und wenn einer aus Feuerland daherkäme und mir das Abbild seines Gottes zeigte und sagte: »Sieh! Er tut Wunder! Er gibt Regen und Sonnenschein! Er heilt die Kranken und fördert die Gesunden! Er schließt die Wunden und trocknet Tränen, er erweckt Tote und trifft mit dem Blitz das Haupt unsrer Feinde! Er ist ein großer Gott!« – spräche er also, so prüfte ich das Gebäude und die Untermauerung seines Glaubens und seiner Metaphysik, seiner Lehren und seiner Sittengesetze.
Und fände ich dann etwa, daß es eine Religion ist, die von ihrem Schöpfer gute Lehren auf den Weg bekommen hat, diesen Schöpfer aber verraten hat um irdischer Güter willen; daß sie die Reichen begünstigt und die Armen mit leeren Tröstungen im Elend geduckt hält; fände ich, daß sie die Tiere nicht miteinbezieht in den Kreis des Lebens, und daß sie klüger ist als fromm, gerissener als weise, politischer als wahrhaftig; daß sie das gute Heidnische im Menschen tötet und den Verkrüppelten sorgfältig bewacht; daß sie gottlose Fahnen in ihren Tempeln aufhängt und segnet, die da töten, und verflucht, die den Staatsmord verhindern wollen – fände ich das alles:
ich schickte den Mann aus Feuerland zurück und pfiffe auf seine Wunder.