Berliner Theater

Der Unterschied zwischen dem Satz »Heute abend geh ich ins Theater!«, gesprochen von einem Zweiundzwanzigjährigen im Jahre 1912, und demselben Satz, gesprochen von demselben Mann im Jahre 1929 –: diesen Unterschied möchte ich Theater spielen.

Da streiten sich die Leut herum, wie Komödie gespielt werden soll: Schauspieler, prominente Chargen und wildgewordene Spezialtalente . . . Regisseure . . . Dramaturgen . . . Oberspielleiter . . . in der Ecke steht ein bescheidener Mann, der Autor, was! Autor! wenns gut geht: der Bearbeiter der Übersetzung – das Theaterstück ist Vorwand und Anlaß geworden.

Weil es aber das Geistige ist, das uns ins Theater lockt, ein Geistiges, das dialektisch zerlegt ward, Kampf zwischen Engel und Teufel, zwischen Hell und Dunkel, zwischen Ja und Nein, so entfällt heute ein gut Teil des Interesses, weil das ganze Orchester spielt, aber kein Notenblatt liegt vor den Herren, der Dirigent rudert mit den Armen in der Luft herum, und es ist ein schöner Anblick, eine kunstreiche Veranstaltung, ein herrlicher, ein bestaunter, ein leerer Lärm. Anmerkung fürs Regiebuch: (strahlend) »Heute abend geh ich ins Theater!« – und: (stumpf, trocken) »Heute abend geh ich ins Theater!« – Wer oder was ist schuld?


Der erste Theaterabend fand mittags statt: in der berliner Volksbühne haben sie die›Unüberwindlichen‹ von Karl Kraus gegeben. Als die Wogen des Beifalls durch das Theater rollten, trat Kraus vor die Gardine und dankte. Er täuschte sich nicht: er hat kein Publikum erobert. Er hat ein erobertes Publikum erobert.

Es war der Idealfall von ›Theater‹; so muß griechisches Theater gewesen sein, das Publikum der mittelalterlichen Passionsspiele oder das der japanischen Schauspiele – an diesem Vormittag hatte Kraus etwas, was in den Gefilden der Kunst so selten ist: ein homogen zusammengesetztes Publikum.

Sie hatten alle die ›Fackel‹ gelesen; sie hatten ihr Pensum gelernt; sie wußten, wer Bekessy ist und wer Schober; sie wußten, daß jene Anspielung dies bedeutet und diese jenes – schlug der oben einen Ton an, so klangen unten dieselben Akkorde wieder, dieselben Assoziationen tauchten auf, dieselben ausgeschliffenen Gedankenbahnen – und hier liegt die Schwäche des Stücks. Kraus setzt voraus, er gestaltet nicht. Was ist uns Bekessy?

Unsere Korruption sieht anders aus; unsere Journalisten haben andere Fehler und andere Untugenden, hierzulande sind die Leute billiger und schwerer zu bestechen, beeinflußt wird hier, nicht gezahlt – wenn einer von uns Geld nähme, verfiele er einfach der [242] Lächerlichkeit; hier ist es gar nicht pikant, bestochen zu sein – es ist nur dumm. Hier lassen sie sich zum Abendbrot einladen; wenn sie dreimal durch Dahlem getrudelt sind, sind sie nicht mehr dieselben – hier arrangieren sie ihre Buchbesprechungen: »Für die ›Literarische Welt‹ fehlt mir noch einer, im›Tageblatt‹ schreibt Langer, in der ›Voß‹ Sochaczewer, . . . Stefan Zweig . . . ich werde es mit Pantern versuchen . . . « hier knistert kein Schein und kein Scheck . . . Lobst du meinen Juden, lob ich deinen Juden . . . und wenn die französischen Presseschieber zum Schluß eine Villa haben: bei uns zulande können sie sich aus dem Ertrag ihrer jahrelangen Gefälligkeiten ein Weekend machen. Nein, hier gibt es wohl keine Bekessys.

Um so schwerer hatte es Kraus, uns seinen Bekessy zu servieren. Der wird von Peter Lorre als ein fetter Unsympath gespielt, ein lärmendes Goulasch – warum nur haben die deutschen Schauspieler diese fatale Neigung zum Gebrüll! Dieser Bekessy hat unrecht, immerzu unrecht . . .

Castiglioni hingegen ist nur ein Flammeri der Angst und nichts als das. Siehst du näher hin, so stehen da – wie bei Molière – kaum noch Menschen sondern nur Eigenschaften . . . und daher hat auch diese Komödie von Kraus etwas Starres, Unbewegtes: hie Welf, hie Waiblingen! Waiblingen ist Kraus selber, ein durch und durch taktvoller, ruhiger und moralischer Mann. Er vernünftelt durch das Stück; anders als der Herr Grabbe, der mehr Scherz, Satire und Selbstironie verstand; der geistert durch das seine und wird nicht schlecht angefahren. »Kommt mir der Kerl noch spät in der Nacht durch den Wald, um uns den Punsch aussaufen zu helfen! Das ist der vermaledeite Grabbe, oder wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergigte Krabbe, der Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wie ein Kuhfuß, schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat verrenkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht! Schließen Sie vor ihm die Tür zu, Herr Baron, schließen Sie vor ihm die Tür zu!« Nicht so Kraus. Der hat in diesem Stück recht, immerzu hat er recht . . .

Nicht recht tut er daran, einen der stärksten dramatischen Momente seit Barlach zerlaufen zu lassen. Seine beiden Konzeptsbeamten Hinsichtl und Rücksichtl sagen die Wahrheit auf wie die Papageien . . . sie sind Werkzeuge der Wahrheit . . . In der Kunst gibt es nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Man hat es, oder man hat es nicht. Dieser Augenblick hatte es. Der sowie eine bescheiden starke Leistung Hans Pepplers. Und ein spitz-frecher Redakteur von Paul Nikolaus. Der Rest war Mathematik. Das Stück hörte auf, die Begeisterung zerlief, die Leute hatten im Theater getobt, sie riefen den Namen unseres Schober: »Zörgiebel!« riefen sie und: »Erster Mai!« – und dann war alles wieder still, und das Stück war zu Ende, und da stand Karl Kraus und hatte einen Sieg erfochten, der keiner war: über und unter Literaten.[243] Mein zweiter Abend war ein abendlicher Abend: Auf dem Zettel des Staatstheaters stand ›Don Carlos‹ – aber gegeben wurde ›Der Kaufmann von Madrid‹. Soll man, um Zuschauer und Dichter einander nahe zu bringen, das Publikum heben oder den Dichter popularisieden? Jeßner hat seinen Schiller nach Berlin W 50 versetzt.

»Nicht aus Willkür«, belehrt mich das Programmheft, »sondern aus der Erkenntnis und der Resonanz zweier Aufführungen heraus entstand diese dritte Inszenierung.« Ich mag die Regisseure nicht, die die Stücke zuschneiden wie die Wintermäntel. Wenn Jeßner den Carlos anders sieht als Schiller, dann möge er uns ein neues Stück schreiben – den Schiller lasse er so, wie er da ist. Resonanz? Das heißt auf deutsch: Angst. Jeßner wills allen recht machen – er machts keinem mehr recht. Vor wem hat er Angst?

Das berliner Theater ist eine Klubangelegenheit von etwa zweitausend Menschen; das Publikum ist gut genug, die Ränge zu füllen, zahlen soll es auch – aber eigentlich stört es. Es versteht ja doch nichts. Wichtig ist die Kritik.

Die Kritik der Tageszeitungen wird vom Publikum gelesen wie ein Vergnügungsanzeiger, daher wir denn nur mit einem einzigen Wort wirklich abschrecken können: nämlich mit dem Wort ›langweilig‹. Alles andere kümmert Herrn Wendriner und Frau Generaldirektor Gasteinicke überhaupt nicht. Wohl aber kümmert es seltsamerweise die Theaterdirektoren. Die engagieren einen Künstler nicht wieder, weil Kerr ihn nicht mag, und reißen sich nach einem, den Ihering gelobt hat, und nach der Premiere fiebert der ganze Klub: »Was hat Monty Jacobs gesagt? was Norbert Falk? Wissen Sie, daß Hollaender . . . ? Na, Pinthus wird doch nicht . . . « Ein Wunder, daß die Besatzung nicht samt und sonders größenwahnsinnig wird – Anlaß dazu hätte sie reichlich. Am Ende werden wir noch erleben, daß eine Schauspielerin nach der Premiere bei drei Kritikern anrufen läßt, die lachen den Anrufer nicht aus sondern geben ihm wirklich ihre Kritiken vor dem Erscheinen, die Schauspielerin liest, atmet auf, wird mit Kamillentee zu Bett gebracht . . . es geht nirgends so komisch zu wie auf der Welt. Und wenn der Intendant des Staatstheaters nicht nur vor dem lächerlichen Apparat kuscht, der ihm etatsmäßig aufgebürdet ist (welch Winter seines Mißvergnügens!) – wenn er nicht nur mit diesen gehobenen Obersekretären paktieren muß, von denen eine Mandel so viel leistet wie zwei geschickte Sekretärinnen eines Privattheaters – wenn er nun auch noch ängstlich prüft, ob Fritz Engel von seinem Platz alle Versatzstücke gut sieht und was wohl dieser Kritiker zu seiner Inszenierung sagen wird und jener –: so spricht daraus nicht etwa das Bestreben, aus den Kritiken zu lernen – es ist und bleibt Furcht. Was entsteht so? So entstehen Kompromißlösungen. Die deutsche Rechte, deren Angriffe auf Jeßner dem Mann bisher viel Rücksichtnahme [244] von links her eingetragen haben, die Rechte, die nicht weiß, wo Gott wohnt, hat den Intendanten in einem falschen Verdacht: der sitzt brav in der Mitte, wie der Generalsekretär eines großen Verbandes, der mit ›realen Gegebenheiten rechnet.‹ Keine Sorge: dieses Staatstheater kostet uns zwar viel Geld, aber es repräsentiert wenigstens aufs beste die Regierung, die ihrerseits kein besseres Theater spielt.

Dieser ›Carlos‹ hatte einen Schillerschen Darsteller – einen einzigen.

Da war kein König. Der da als König Kaftan der Erste durch die Szenen ging: Kortner, ist ein Schauspieler von großer Kraft, ein ganzer Kerl, eine Potenz, aber nie, niemals ein König. Er steht in Reiterstiefeln – seine Beine können nicht reiten. Er gibt seine Befehle wie einer, der bisher hat gehorchen müssen und nun ängstlich wartet, ob sie auch tun werden, was er sagt. Er brüllt – aus Unsicherheit. Er trumpft auf – aus Schwäche. Er ist kein König. Man hat es, oder man hat es nicht. Er sehe bei Werner Krauß, was das ist: ein Herrscher; wie man noch im zweireihigen Jackett, mit Packard und Radio, ein König sein kann.

Das Stück hatte keinen Carlos. Es hatte keinen Posa. Es hatte keinen Domingo – es hatte keinen Kardinal, nur einen Schauspieler, der einen Kardinal zu geben hatte, es hatte keine geistige Spannung, und es konnte sie nicht haben – denn es hatte vor allem einmal keinen, der die Sprache dieses Stücks sprach, keinen, der sie sprechen konnte. Außer einem.

Dieser eine war der alte Kraußneck. Das ist ein Schauspieler, über den ich vor zwanzig Jahren bestimmt einen kleinen Witz gemacht hätte – wegen seines zu dick aufgetragenen, edeln Bibbers, wegen der Theaterallüren einer schon damals versunkenen Zeit . . . das ist gewiß wahr. Aber wenn er heute, inmitten dieser Stimmen in Zivil, seinen Mund aufmacht, so tönen aus diesem Mund Verse – gewichtige, echte und volle Schillersche Verse, Kraußneck hat das nämlich gelernt; er weiß, was ein Vers ist – es ›stimmt‹.

Bei den andern stimmt es gar nicht. In diesem Haus saß einst auf seinem angestammten Parkettplatz der alte Fontane und schrieb schon damals ein paar entzückende Sätze über die »märkischen Kommandostimmen«, die so gar nicht zum Pathos passen wollten. Verse –? Bei Jeßner wird eine etwas verwickelte Prosa gesprochen, denn sehn Sie mal, man spricht doch auch an der Börse nicht in Versen, immer hübsch vernünftig – was heißt hier: Verse! Die Königin zu Carlos, vom König: »Der Ihnen das größte Reich zu Erben gibt!« Carlos: »Und Sie zur Mutter.« Er will sagen: Ja, er gibt mir ein großes Reich. Er gibt sogar noch mehr: dich, meine Geliebte, gibt er mir. Und nun, die beiden Worte, die alles töten: zur Mutter. »Und Sie zur Mutter« sprach Herr Doktor Carlos so, wie etwa Hans Waßmann eine Pointe fallen läßt, in einem [245] Wort, schnell, nebenbei hingenuschelt. So spielt man keinen Schiller.

Man spiele ihn meinethalben gar nicht, wenn man ihn, was er nicht ist, für überholt hält. Kann man aber die geistige Spannung zwischen diesen funkengeladenen Personen nicht herstellen, dann lasse man die Hände von einem gebändigten Vulkan wie diesem. Die berühmte Stelle »Der König hat geweint« war keine Stelle – und welch ein Augenblick ist das! Das, Leopold Jeßner, ist Theater! Und was haben Sie daraus gemacht? Vier Worte – nichts, nichts. Früher lief der Schauspieler auf der Straße wie ein gekränkter Napoleon herum; heute spielt er den Napoleon wie einen gekränkten Stationsvorsteher. Aber wenn einer böse ist, so ist er noch lange nicht königlich. Und welche Sprachtechnik! Bei uns wird auf der Bühne gemauschelt oder berlinert – nun laßt uns einmal hochdeutsch hören. Und wo sonst, wenn nicht an einem Staatstheater?


Der dritte Abend war eine richtige, besmokingte Premiere ›Seltsames Zwischenspiel‹ von O'Neill im Deutschen Künstlertheater.

Es waren alle da, die da glauben, wenn sie da seien, seien alle da – und die Türen klappten in die ersten hundertundzwanzig Takte dieses Spiels, denn der Berliner kann gar nicht eilig genug zu spät kommen, und dann fing es an und entpuppte sich als ein seltsames Zwischending: außen Psychoanalyse und innen Lavendel. Und noch dazu eine ›jewish science‹, für den Salon der feineren Leute präpariert: – »Ich hasse meine Mutter« ist so ziemlich der Höhepunkt dessen, was jene bis auf die Seelenlosigkeit entkleideten Gesellschaftsmenschen auszudenken wagen. Eine sauber shampoonierte Psychoanalyse. Und das uns, in Europa? Nächstens wollen wir deutschen Kaugummi nach den Vereinigten Staaten ausführen. Lags an der Übersetzung? An der nur braven Regie lags gewiß.

Den herrlichen Forster hatten sie auf einen falschen Platz gestellt – er war fehl am Ort: was da herumging, war weder Forster noch die Figur, die er zu spielen hatte. Er wuchs von Szene zu Szene – aber nicht zu sich. Haben diese Regisseure keinen Instinkt?

Aber da ist die Elisabeth Bergner. Die war langsam auf dem Wege gewesen, Parodie ihrer selbst zu werden – dabei hat sie Nachahmerinnen genug. Bei diesem Leerlauf, dem sie zu verfallen drohte, traten leichte und dann schwere Mängel auf: Monotonie des Gemaunzes, Hysterie zum Hausgebrauch und ein ganz leichter Buckel. Nichts mehr davon. Eine Schaumgeborene, nein: eine Erdgeborene stieg aus den Wellen. Und sie riskierte etwas.

Wie sie den ersten Satz dieser dummen ›innern Monologe‹ spricht, die in Wahrheit alte biedere Theatermonologe sind; wie sie starr dasteht, auf ihren schwatzhaften Vater sieht und sagt: »Er soll nicht so viel reden«; wie sie liebt und haßt, ihr Kind und ihre Liebe austrägt; [246] wie das Einfachste und Gleichgültigste in ihrem Mund zum Ausdruck eines Schicksals wird –: das hat uns wieder gezeigt, daß das Theater nicht tot ist. Es ist nur blutarm, dabei überfüttert mit Kunstpräparaten, aber es lebt. Noch . . . ?

Was am Theater ›schon‹ ist, steht dahin; sein Publikum ist zum großen Teil ›noch‹.

In die Untiefen O'Neills wurde oft und zu wiederholten Malen hineingelacht. Was ist es mit diesem Publikum?

Das berliner Publikum kommt sich sehr skeptisch vor; es ist aber in seinen großen Teilen nicht einmal naiv. Sieht man von dem ›Klub der Dazugehörigen‹ ab, so gibt es für die Majorität der Galerie im Parkett eherne Gesetze der Wirkung. Zum Beispiel diese:

Worte, die tags zuvor in der ›B. Z.‹ gestanden haben, sind komisch. Das Wort ›Aspirin‹ darf in keinem tragischen Satz vorkommen – es wird gelacht (wie früher bei ›Dackel‹, ›Schwiegermutter‹ und ›Synagoge‹ gelacht worden ist). Dazu kommt, daß der Berliner – und insbesondere der berliner Jude – Pathos nur noch verträgt, wenn es ihm, wie Arnheim das hier einmal ausgedrückt hat, durch einen hinterher fallenden Witz belohnt wird. Ja, Pathos dient auf vielen Bühnen überhaupt nur dazu, eine trockne Schlußbemerkung einzuleiten, wobei wiederum ein niedriger Begriff von Schadenfreude die Hauptrolle spielt. Es ist in den deutschen Umgangsformen so vieles besser geworden, die Leute sind glatter und höflicher, sogar viele Beamte sind es, wenn es sich nicht grade um verschwiegene Polizeireviere handelt . . . aber unausrottbar sitzt in diesen Köpfen der Grundsatz: Um etwas zu gelten, behandele den andern wie Reis am Absatz. Nichts hatte an dem O'Neill-Abend so viel Erfolg wie jene als gedachte Randglossen gesprochenen Sätze, die den Gegner heimlich beschimpfen. »Wie geht es Ihnen gnädige Frau?« (beiseite): »Alte Schraube!« – Das ist kein Bühnenscherz – das ist eine Weltanschauung.

Das berliner Publikum sieht in jedem Stück, neben allem andern, auch noch eine deutsche Posse, eine, wie sie etwa Guido Thielscher um Weihnachten herum zu spielen pflegt, mit: »Himmel, meine Frau!« – und: »Schnell in den Kleiderschrank!« – es ist für einen Bühnenautor beinahe unmöglich, ja es ist für ihn ungeheuer gefährlich, diesem Parkett Dinge des Alltags tragisch zu servieren. Hierzu gehört eine erhebliche Rückversicherung an Ironie, sonst geht das schief.

Sie lachen wie Schulkinder, wenn der Lehrer (der vorigen Generation) von einem Nachttopf spricht. Sie lachen, wenn da oben gesamt wird: »Wir haben zur Zeit eine erhebliche Hausse«, denn, hihi, jeder Mensch weiß doch, daß Kunstseide und Oberbedarf . . . haben Sie heute abend gelesen . . . ? Sie lassen sich nicht gern bezaubern, sie bringen ihr eigenes Leben mit und wenig Bereitwilligkeit für das fremde, und sie messen, was ihnen geboten wird, nur an ihrem kleinen [247] Privatdasein. Wie stark muß ein Dramatiker sein, um diese zu unterwerfen!

O'Neill, geborener Joyce, geschiedener Ibsen, verwitweter Sudermann ist solch ein Dramatiker nicht. Wenigstens nicht in diesem Stück, dessen aufgeklebte moderne Fassade über den Grundriß nicht täuschen kann. Den Berliner schon gar nicht, der seine ihm unangenehmen Gefühle dem Pathos gegenüber gern mit einem Stoßseufzer durch die Nase abzureagieren pflegt. Nur der Respekt vor Frau Bergner verhinderte ein Malheur; wunderbar geduldig hörten sich tausend erwachsene Menschen eine ausgewachsene Kinderei an.


Die erste Theaterstadt der Welt? Sie hat alle Anlagen, es zu sein, sie war es, und sie kann es wieder werden, wenn man davon absieht, daß anderswo nur schlechter und nicht besser Theater gespielt wird: sie hat ein Publikum, das sich auf die Dauer nichts vormachen läßt; sie hat eine verklüngelte und beeinflußbare aber auf die Dauer unbestechliche Kritik – und sie hat eine Fülle von Schauspielern, die ein beachtliches Niveau sichern, ein Niveau, das hier wesentlich höher liegt als etwa in Paris. Berlins große Schauspieler kann man an den Händen aufzählen.

Lasset uns applaudieren, wenn sie gut gespielt haben – und auf den Fingern pfeifen, wenn sie statt in unserer Zeit in einer Aktualität von Schlagzeilen leben.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1929. Berliner Theater. Berliner Theater. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6CD9-9