Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland

Was Harry dem Ersten, Prinz von Preußen, geglückt ist, das haben Frau Inez Seckel, die den ältern Abonnenten vielleicht noch erinnerliche Gräfin Strachwitz, und Madame Aida (Ses Relations Mondaines, Curiosités, 111 rue Grand-Machin, Paris XXI) – das haben sie nicht geschafft: einen solchen Posten von Masochisten wie dieser einzelne junge Mensch haben sie alle zusammen nicht vereinigen können. Was hat dieser in das Goldene Buch des Goldenen Adlers zu Weimar eingetragen? »In fide robur.« So ist es.

Das Buch, das Harry Domela soeben im Malik-Verlag hat erscheinen lassen (›Der falsche Prinz‹) ist ein Kulturdokument ersten Ranges und etwas völlig Einzigartiges. Wer zu lachen liebt und wer sich, nachdenklich geworden, dieses Lachens nachher nicht schämen will –: der lese dieses Buch.

Die Aufzeichnungen sind zunächst einmal sehr sympathisch, der Autor ist es.

Nichts hätte näher gelegen, als in den Manolescu-Ton zu verfallen, Rühmens aus einem lustigen Abenteuer zu machen, die Opfer hinterher noch arg und klobig zu verspotten – davon ist kein Gran in dem Buch. Über ein Drittel des Werkes befaßt sich zunächst überhaupt nicht mit diesem genialen Streich, sondern mit ganz etwas anderm.

Die Erinnerungen, die hier aufgezeichnet stehn, sind erschütternd, [284] so durchaus von unsrer Zeit, so fesselnd, daß man sie auch dann in einem Zuge läse, wenn der Verfasser nicht dieser Republik das schwarz-weiß-rote Hemd aufgehoben hätte.

Domela kommt aus Kurland; seine Jugend hat er in Bauske verlebt. Das ist ein kleines Städtchen mit den üblichen holprigen Sträßchen – ich sehe noch, wie eine kleine Jüdin, die ich um Apfel ansprach, vor dem Rock meines Kaisers zurückschreckte. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, daß ich mich geschämt habe, diesen Rock zu tragen . . . Ja, also aus Bauske kam der Junge dann über Riga in ein ›Erziehungsheim‹. Man weiß, was man von staatlichen und städtischen Asylen im allgemeinen zu halten hat. Bis auf wenige Ausnahmen: Pflanzschulen der übelsten und rohesten Verbrecher, gewöhnlich verantwortungslose und unbegrenzte Herrschaft von Schindern und Feldwebelnaturen – kurz: Ordnung. Von dort trat Domela in die baltische Landeswehr ein.

Es ist das einzige Buch, das ich kenne, in dem die Wahrheit über diese Landeswehr steht. »Wenn wir keine Feinde gehabt hätten, hätten wir uns welche erfunden.« Die Kameraden Domelas wußten eigentlich gar nicht, wofür sie sich schlugen – aber sie schlugen sich gern. Kein Wunder: man denke sich als Dekorum eine deutsche Landschaft von unvorstellbarer Schönheit und Innigkeit, von bezaubernden Farben, mit den herrlichsten alten Wäldern – und dazu ein ungebundenes Leben junger Leute, die in den Tag hineinmarschierten . . . Ja, das versteht sich. (Nur hat es beileibe nichts mit ernsthafter Politik, nur hat es gar nichts mit nationaler Tugend, dieser contradictio in adjecto, zu tun.) Von da hat Domela wohl seine Entschlußfähigkeit, die Raschheit seines Impulses, auch seine Diktion übernommen. (»Ich sah so verheerend aus . . . «)

Folgt eine grausam klare Schilderung des Lebens eines jungen Menschen, der arbeiten will, der hart gearbeitet hat und dem die Gesellschaftsordnung nicht einmal die harte Arbeit, die schlecht bezahlte Arbeit mehr gewährte. Das ist so unsentimental, so durchaus ehrlich geschrieben, daß der innere Kern wahr sein muß, wenn schon vielleicht nicht alle Tatsachen wahr sein sollten, woran zu zweifeln übrigens kein Anlaß vorliegt. Lehrreich: das Schinden der Ziegeleiarbeiter; der Ton auf der Polizei, die Unzulänglichkeit dieser lächerlichen Wohlfahrtseinrichtungen . . . Aber wir haben das gewußt.

Ganz besonders wichtig der Teil, in dem Domela seine Erlebnisse bei den Bauern erzählt. Wie da – bei den Kleinbauern und noch viel ärger bei den Großen – Geld gemacht wird – diese maßlose Roheit in der Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft, das Elend der schlechten Unterkünfte, die saumäßige Ernährung, die Unterbezahlung –: aber das wundert sich, wenn »die Arbeiter nicht aufs Land gehen wollen, die Schweine« und holt sich, immer mit Unterstützung der Regierung, [285] in der ja so oft Sozialdemokraten gesessen haben, polnische Landarbeiter herein, um die deutschen Proletarier noch mehr zu drücken – heute noch, in dieser Epoche der Arbeitslosen! Dieser Staat, der das Maul nur Wehrlosen gegenüber aufreißt, wagt nicht und kann es nicht wagen, auch nur einem polnischen Lohndrücker die Grenze zu sperren. Diese armen, ausgenutzten, ausgepowerten Menschen, die es nicht besser wissen, zerstören so die Gesundheit, das Lebensglück und die Arbeitskraft ihrer deutschen Klassengenossen. Es lebe die Republik –!

Nach Irrfahrten und Wartesaal-Nächten; nach kleinen Haftstrafen und nach Gefangenentransporten in der Bahn, von deren barbarischer und sinnloser Grausamkeit heute kaum zehntausend Menschen der Freiheit etwas wissen, eine Barbarei, die aus dem Transportierten einen erstarrten Klotz werden läßt, tagelang ohne Licht, ohne Luft, gefesselt – – danach rutscht Domela unmerklich, und eigentlich, ohne daß er es von vornherein darauf angelegt hat, in eine Hochstaplerkomödie großen Stils. Und hier wird die Sache eminent politisch.


Harry Domela hat als Prinz bei den Saxo-Borussen, Deutschlands exklusivstem Korps, und später als Prinz von Hohenzollern lange in adliger Gesellschaft gelebt. Die schildert er.

Es ist außerordentlich selten, daß ein, sagen wir einmal, Spion in ein gesellschaftlich höher gelegenes Lager dringt. (Der umgekehrte Fall ist schon eher möglich.) Und wenn es gelingt, so haben diese Eindringlinge gewöhnlich alles Interesse zu schweigen, zum mindesten schreiben sie doch das nicht auf, was sie da erlebt haben – und wenn sie es aufschreiben, wirds nicht gedruckt. Bleiben solche homines novi aber, dann assimilieren sie sich, sind für gewöhnlich päpstlicher als der Papst und werden sich auf alle Fälle schwer hüten. Nachteiliges über das neue Milieu auszusagen.

Hier ist der seltene Fall, daß einer von unten die von oben besucht hat, daß er wieder ausgestoßen wurde, natürlich – und daß er nun unbefangen geschildert hat, was er sah. Kein Heinrich Mann kann das erfinden.

Es spricht für den genialen Weitblick des Künstlers, der den ›Untertan‹ geschrieben hat, daß nichts, aber auch nichts, was in diesem Buche steht, so übertrieben ist, wie seine Feinde es gern wahr haben möchten. Man hat mir von rechts her immer wieder, wenn ich das Buch als den Anatomie-Atlas des Reichs rühmte, entgegengehalten: »Das gibt es nicht – das kann es nicht geben! Karikatur! Parodie! Satire! Pamphlet!« Und ich sage: bescheidene Fotografie. Es ist in Wahrheit schlimmer, es ist viel schlimmer.

Die Einzelheiten, die der von der deutschen Republik bezahlte Richter im Domelaprozeß auszubreiten verhindert hat, weil es ihm [286] gegen sein Autoritätsgefühl ging, die gottgewollten Spitzen der Kaste der Lächerlichkeit preiszugeben –: diese Einzelheiten werden im Buche schonungslos aufgezeigt.

Der Literat, der diese Unterhaltungen der Korpsiers erfinden könnte, wäre ein zweiter Sinclair Lewis – aber das kann man nicht erfinden. Es ist nicht anzunehmen, daß Domela ein so begabter Schriftsteller ist, um so viel Glanzlichterchen aufzusetzen; es ist nicht anzunehmen, daß ein andrer so grandios gefälscht haben sollte. Die Dikta des Herrn von Gemsdorf über seine Klitsche; die Tischsitten der Saxo-Borussen; diese Mischung von Stallmanieren und feinen Gebräuchen; der alkoholisierte Humor, manchmal harmlos barock – manchmal widerwärtig, meistens widerwärtig – das gibt eine Schicht, die uns keiner nachmacht. Die völlige Abwesenheit jeden Geistes in diesem Korps; das Niveau dieser Unterhaltungen; das Niveau der Gehirne, die da tonangebend sind –: ich weiß keinen meiner Gesinnungsgenossen, der sich mit so etwas an einen Tisch zusammen setzte.

Und diese Horde von dumpfen, versoffenen Burschen, diese Box voll alkoholisierten und nichtsnutzigen Erben –: das ist die Führerschicht des deutschen Volkes. Noch heute ist sie es. Ganz selten, daß in diesen Schilderungen einmal jemand auftaucht, der wirklich das ist, was man ›vornehm‹ nennen darf, ohne falsch verstanden zu werden; ganz selten einmal ein wirklicher Hofmann, so etwas wie ein Seigneur – sehr selten ist das. Der Durchschnitt ist genau das, was sie so zu verachten vorgeben: Koofmichs mit Schmissen.

Die Prinzenzeit des Verfassers ist noch aufschlußreicher.

Daß diese Kreise, die in Opposition zu einer Republik stehen, die ihnen niemals etwas getan hat, die ihnen nie etwas tun wird; immer in Opposition zu einem Staat, dessen kümmerliche Ansätze zur Demokratie oder was er schon so nennt, ihnen noch viel zu weit gehen –, daß diese Kreise vor ihren Idolen auf dem Bauch herumrutschen, wußten wir. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß man sich so im Staube wälzen kann.

Die ›Umgangsformen‹ sehen so aus: »Jeder, über den ich meinen Blick dahingleiten ließ, nahm sofort die Zigarre aus dem Munde oder die Hand aus der Hosentasche.« Ist das nicht der geprügelte Muschkot, wie er im Instruktionsbuch steht? Das ist ihre Hochachtung – das sind ihre feinen Sitten.

Diese Schilderung ist ja deshalb so schrecklich, weil die Tatsache, daß es sich um einen falschen und nicht um den richtigen Prinzen handelt, gar nichts an der Beurteilung dieser Großbourgeoisie, dieser Adligen, dieser Hoteldirektoren ändert. Daß sie einen richtigen Prinzen so und eben so empfangen hätten und natürlich heute noch empfangen, ist das Niederdrückende. Daß die Beamten dabei nicht fehlen, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Der Eisenbahnbeamte im Fundbüro [287] des Anhalter Bahnhofs gehört dahin. (Schade, daß so einer nicht klagt; man würde sonst dem Patron begreiflich machen, daß er sich bei dem Verlust der Brieftasche Seiner Königlichen Hoheit eines schweren Amtsvergehens schuldig gemacht hat – er hatte ›dienstlich‹ auf der Leitung nach Halle nichts zu suchen.) Aber man lese selbst nach, wie der staatliche Apparat der Republik ungestraft vor einem Prinzen auf dem Bauche liegt. Wir zahlens ja.

Das Buch ist ein einwandfreier Beweis jener These, die hier seit neun Jahren verfochten wird: In Deutschland hat sich in der herrschenden Klasse so gut wie nichts geändert. Diese Revolution war keine. Es war eines der schlimmsten Verbrechen, es war die dumpfe Dummheit Eberts und seiner Parteigenossen, sich über die ersten Voraussetzungen einer wirklichen Revolution niemals im klaren gewesen zu sein. Sie haben für diese da gearbeitet – gegen ihre Klassengenossen, die sie verraten haben.

Denn es kommt auf die Änderung der kleinsten Zelle an – nicht der größten allein. Und an diese kleinsten Zellen, an die Individuen, kommt man im guten nicht heran. Daß heute noch und grade wieder heute jeder zweite Personalchef, fast jeder Bankdirektor, jeder ›Chef‹, jeder Kuhbauer großen und kleinen Formats genau dem Typus des Seligen entspricht – jeder Zoll ein ›Herr im Betriebe‹, durchaus erfüllt von den ihm zustehenden Rechten, durchaus abgewandt von den Pflichten, die ein Führer hat –: das zeigt, wie sehr man von vorn anfangen kann und muß. Und eben so naturnotwendig, wie dieser Typus den großen Krieg im Jahre 1914 hat mitentfesseln helfen, so wird er das zum zweiten Male tun. Lüge die Mär von der Republikanisierung Deutschlands, wenn man darunter auch nur irgend etwas verstehen will, was mit echter Demokratie, mit Pazifismus, mit Sozialismus auch nur das leiseste zu tun hat; Lüge die Meldungen von der langsamen Besserung, Lüge und schlimmer als das: Blindheit. Man sage doch nicht, daß ›Deutschland den Krieg nicht wolle‹! Erstens gibt es genug Leute, die die Erneuerung dieses Verbrechens wünschen – und zweitens ist es ja grade jener »unpolitische« Typus, der so gefährlich ist. Diese ›Unpolitischen‹ (»Wissen Se – ich kümmer mich nich um Politik! Ich will Ordnung und Ruhe, und jeder soll haben, was ihm zukommt, und bei mir im Geschäft soll alles klappen!«) – grade diese sind Mitläufer, Handlanger und Bejaher der schlimmsten Untaten, wenn sie nur reglementsmäßig geschehen. Und sie geschehen. Wir werden das, zum zweiten Mal, erleben.


Daß die Beamten wie Leim zusammenhalten, um die Veröffentlichungen solcher Blamagen zu verhindern, ist klar. So hats man ja auch im Falle Kolomak getan. Es wird ihnen nicht viel helfen.

Was aber den falschen Prinzen angeht, so wollen wir hoffen, daß [288] er in richtiges Fahrwasser kommt, damit sein junges Leben nicht wieder abwärts rutscht. Es wäre schade.

Ein Fälscher? Ein Hochstapler? Zunächst einer mit sehr viel Witz: ferner einer, der wenig Geld von seinen Fahrten hat mitbringen wollen, auch wenig oder gar nichts mitgebracht hat . . . Also sind die andern freizusprechen? Ich weiß nicht.

Laßt uns einmal überlegen, ob es denn ebenso leicht möglich ist, auch uns andre zu hintergehen. Was geschähe denn, wenn zum Beispiel ein Spanier sich als Ibáñez oder ein Norweger als Hamsun ausgäbe? Zunächst lägen wir vor ihm nicht auf dem Bauch, sondern behandelten ihn mit Hochachtung, sehr höflich, aber wohl nicht mehr. Es würde sich des fernem bei einer Unterhaltung immerhin herausstellen, ob man es mit einem wahrhaft gebildeten und kultivierten Menschen zu tun hat – und wäre der Fälscher so ein Mann, so hätte ers doch nicht lange so leicht: lebte er etwa in Deutschland, so müßte er doch etwas schreiben, und dann wäre wahrscheinlich alles aus. Vor allem aber wären in keinem saubern Milieu solche Folgen eines Schwindels denkbar. Denn was an diesen Handwerkern, Hofdamen, Oberforstmeistern, Hoteldirektoren und Offizieren so anwidert, ist ihre unbedingte Ergebenheit, die sich – wie Domela sehr fein beobachtet hat – sofort in Verachtung derer umsetzt, die sich nicht im gleichen Staube wälzen dürfen. Ein falscher Adliger könnte etwa in einer französischen Gesellschaft sehr viel Amüsantes berichten: wie er von den Royalisten stürmisch begrüßt wurde; wie man ihm Diners gegeben habe; wie man von ihm entzückt gewesen sei – vielleicht sogar, wie man ihm Geld anvertraut habe, für die Monarchie –: aber eines wird er niemals berichten können. Daß ihm die Leute in den Dickdarm gekrochen seien. Denn diese Wanderung ist Deutschland zu eigen, wo es (verzeihen Sie das harte Wort) am dunkelsten ist.

Man muß hören, wie bei uns der Oberkellner mit dem Unterkellner spricht, um zu ermessen, was noch zu tun bleibt. Den niedrigsten Drang, den es im Menschen gibt, nämlich verantwortungslos zu herrschen, fördert der Patriotismus. Patrioten? Gute Deutsche? Diese Sorte ist nichts als verhinderte Unteroffiziere.

Und weil in Deutschland immer einer tritt und der andre getreten wird, verachten wir die Taktik der braven Sozialisten, die da warten, daß der Mann mit dem Stiefelabsatz einmal aufhören wird. Da bin ich mehr der Meinung:

Wenn schon überhaupt getreten werden muß, dann wir.


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TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1927. Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland. Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6CE4-F