Die Kollektiven

Ich freue mich auf Berlin.

Ab und zu sehe ich von der Arbeit auf: in den Mälarsee und auf den Kalender. Der See zeigt den Herbst an; der Kalender auch. Noch »eine zwei, drei Wochen«, wie sie in Berlin O sagen, und die Sache ist geschafft. Es wird ein bißchen bunt hergehen; für den, der zu Besuch kommt, konzentriert sich alles viel mehr als für den, der immer da ist – aber das muß wohl so sein. Und dann: Filme, Menschen, Bilder, Theater, Musik . . . ich bin vom Land ein dralles Kind, hier gibts das alles gar nicht. Drüben, in Mariefred, ist ein ›Bio‹, wie die Schweden das getauft haben (welches Wort sie umgekehrt abkürzen wie Autos, das sie, den Dänen gleich, ›Bil‹ nennen) – drüben also ist ein Kino, aber ich bin niemals drin gewesen. Stille Wälder sind die beste Naturaufnahme, der See ists auch. Und nun wird das also alles auf mich hereinstürzen; ich lese schon die Kritiken, die zu mir herüberblinzeln wie die Geburtstagslichte durch eine geschlossene Tür. Wie wird das werden –? Wie wird es zum Beispiel mit dem Theater werden? Alle sechs Monate sehe ich mir das an; wo steht es heute, das berliner Theater? Arbeiten sie nicht heiß? Arbeiten sie nicht sogar kollektiv –?

Und hier darf denn wohl ein Wort über das gesagt werden, was sie in Berlin so großmächtig den ›Kollektivismus‹ nennen. Es ist gar [202] keiner. Es ist der schrankenlos entfesselte Schauspieler und der über alle Seile schlagende Regisseur – Kollektivismus ist es nicht.

Der Hochmut dieser ›Prominenten‹ kennt keine Grenzen. Der Autor? Der ist Vorwand für Kunststücke in einem Spiegelkabinett – im übrigen hat er nichts zu melden. »Es gibt keine guten Theaterstücke!« schreien sie; »wir müssen auf den Proben alles allein machen! Sehen Sie sich nur an, wie so ein Manuskript vorher aussieht!« Ich weiß. Aber wie soll denn eine Generation theaterkundiger Autoren heranwachsen, wenn sie niemals an die Arbeit herangelassen, sondern auf alle Weise beiseite geschoben wird? Ehrfurcht vor einer künstlerischen Vision? Vacat. Ehrfurcht vor dem Wortlaut, bei dem sich ja der Autor schließlich auch etwas gedacht hat? Gibts nicht. Den Text machen wir. Und so sieht er denn auch aus.

Nun wäre nichts gegen wirksame und fachkundig geführte Striche zu sagen – gegen leise Umbiegungen, die immer nötig sind; kein Dramatiker schreibt ein ganz und gar aufführungsreifes Manuskript, das hat es noch niemals gegeben. Ist der Regisseur gebildet und verständig, dann sage ihm der Autor für Kürzungen Dank. Aber was hier getrieben wird, steht auf einem ganz andern Blatt.

Tatsächlich ist es so, daß der Autor die große Blutprobe vor dem Publikum meist gar nicht bestehen kann – weil er sie zunächst vor dem höchst zweifelhaften Intellekt der Schauspieler zu bestehen hat. Und da fällt er allemal durch. »Ich mache das so . . . An dieser Stelle werde ich weinen, das wirkt sehr . . . Wissen Sie: ich lasse die zwei Verse einfach weg und stehe statt dessen auf dem Kopf . . . « Wahrlich, ich will lieber vor das böseste und schärfste Publikum der Welt treten als vor die Stühle solcher Kunstrichter. Ihre geistige Fassungskraft ist begrenzt; Polgar spricht einmal sehr gut vom »spezifisch Pappigen des Schauspieler-Esprits«; und woraufhin werfen sich ihre meist mißgelaunten Direktoren zu Textbearbeitern auf? Haben sie damit nichts wie Erfolg? Irren sie sich so selten? Kennen sie ihr Publikum wirklich; mehr als nur seine gröbsten Instinkte? Es ist schon nicht leicht, die stets etwas abgehetzten Berliner abends, und noch dazu vor dem Abendbrot, an ein Kunstwerk zu fesseln; aber was man eigentlich tun muß, um die Galligkeit dieser Theaterpächter, Theaterhändler und Theaterspekulanten, die mitunter im Nebenamt auch Künstler sind, zu besiegen –: das kann ich Ihnen nicht sagen. Meine Knie sind ganz abgeschabt: so oft danke ich Gott auf denselben, daß ich mich nicht des Theaters bedienen muß, um meinen Zeitgenossen das Meinige mitzuteilen. Unsereiner hat wenigstens nur einen Feind, und einen harmlosen dazu: den Druckfehler. Aber wie soll ich zu den Herzen der Hörer gelangen, wenn eine Wehr, ein kompakter Damm davor aufgerichtet ist, der die Wogen erst einmal abfängt und ihre Gewalt fast immer schwächt? Ist dieses Gremium in den Direktorialzimmern zu[203] einer schriftstellerischen Tätigkeit wirklich durch etwas andres legitimiert als durch die juristische Tatsache einer Unterpacht? Ans Publikum kommen die jungen Autoren fast nie so heran, wie sie das beabsichtigen – wenn alles sehr gut geht, nur an die Direktoren. Und da können sie etwas erleben.

Denn wenn die mit ihren frommen Ratschlägen fertig sind, dann sind da noch Regisseur und Schauspieler. Diese Prominenten haben jedes Augenmaß für ihre Arbeit verloren. Sie verstehen kaum, was sie spielen und spielen lassen; sie wollen es auch gar nicht verstehen. Und der Regisseur ist nicht nur ohnmächtig, sie zu bändigen – er tut kräftig mit.

Der Autor sieht die Szene blau – der Regisseur spielt sie rot. Der Autor braucht die dreimalige Erwähnung eines Dobermanns, damit im sechsten Bild die Wirkung um so stärker sei – der Regisseur streicht ihm die Vorerwähnungen, und die Szene am Schluß wirkt nicht: man versteht sie kaum. »Lassen Sie mich nur machen . . . also vom Theater, lieber Freund . . . « Nein, von dem Theater, das da aufgeführt wird, verstehen wir gewiß nichts.

Das Kollektiv! das Kollektiv! Aber diese größenwahnsinnig gewordenen Kommissionäre vergessen alle miteinander, daß ein Kollektiv, das sie den Russen abgeguckt haben, nur unter einer Bedingung möglich ist, unter der es bei jenen auch zustande kommt: Kollektiv ist Lebensgemeinschaft. Eine, in der alle dieselbe Sprache sprechen, eine, deren Mitglieder wirklich zusammenleben, alles zugleich erleben, dieselben Gefühlsskalen durchlaufen; Menschen, die große Erschütterungen ihres Daseins Seite an Seite durchgemacht haben und nun nichts mehr zueinander zu sagen brauchen: sie wissen schon, denn sie fühlen gleich. Solche freilich können einander ergänzen. Was aber kann mir ein Regisseur sein, der mein Stück nur deshalb inszeniert, weil der Direktor grade keinen andern bekommen hat? Ein Spielwart – und mehr soll er auch gar nicht sein. Was er da aber treibt, ist Wahnwitz. »Wissen Sie, was Piscator nächstens machen wird?« fragte ein sehr witziges kleines Cabaret; »ein neues Stück; gar keine Schauspieler mehr – nur Regie –!« Tatsächlich inszeniert der Regisseur sich selber. Und der Schauspieler spielt sich und für sich, meist ohne die leiseste Rücksicht auf den geistigen Inhalt des Werkes – »er hat aus der Rolle etwas gemacht«. Nämlich eine andre Rolle.

Kollektiv? In Wahrheit gibt es nach der Premiere ein wildes Durcheinander, bei dem im Falle des Mißlingens der eine die Verantwortung auf den andern schiebt und bei dem im Falle des Erfolgs jeder das ganze Verdienst für sich in Anspruch nimmt. Von Korpsgeist ist da wenig zu spüren.

Wenn Kollektiv das ist, was sie da als Kollektiv ausschrein –: dann ist dieses Wort in Berlin ein Euphemismus für Überheblichkeit und Unordnung. Piscator rühmt sich in einem Buch, das er über sein Theater [204] geschrieben hat, er habe noch eine Stunde vor der Premiere zwei seiner Mitarbeiter im Keller angetroffen, wo sie einen Film zurechtschnitten, der nachher laufen sollte. Ist das amerikanisches Tempo? Das ist einfach Mangel an Dispositionsfähigkeit; denn man kann sich denken, von welchen Zufälligkeiten es abhing, was diese abgehetzten und aufgeregten Menschen da zusammengeschnitten haben . . . Das ist kein Kollektivismus. Und ich glaube auch nicht, daß so Stücke zustande kommen, die mehr sind als vage Unterlagen für Maschinenkunststücke und Vorwände für Starlaunen. Man kann eben nicht auf das Kommando »In Gruppen links schwenkt – dichten!« produzieren; das wird nichts. Oder das da.

Was besonders Piscator angeht, so macht er sich die Sache etwas leicht. Hier gilt jede Kritik als ›Verrat‹ an einer heiligen und guten Sache – und seine Nachbeter stempeln jeden, der darauf hinweist, daß sich sein Betrieb von dem der bürgerlichen Theater nicht sehr stark unterscheidet, als Bourgeois, Trottel, Vertreter einer alten Zeit und wie dieses Vokabularium heißt. Aber das stimmt gar nicht. Wollen die Genossen wissen, was ein echtes Kollektiv ist, dann mögen sie sich zu den modernen Russen im Film und Theater bemühn, die in Rußland wohl so etwas haben. Wir haben es nicht. Das da ist kein Kollektiv; es ist wildgewordener, recht bürgerlicher Individualismus.

Aber abgesehn von diesem Sonderfall tötet der entfesselte Schauspieler das Theater. Das Theater dem Theater? Das ist ein guter Ruf, wenn er gegen Buchdramen geht; es ist ein schlechter Ruf, wenn er bedeuten soll: wir spielen nicht nur, wir inszenieren nicht nur – wir spielen, inszenieren, dichten, färben um, geben die Tönung, bestimmen den Text, schalten mit ihm frei, befehlen, was gesprochen wird, diktieren, was nicht gesprochen werden darf und was in die Versenkung fällt . . . Aber sagt doch die Wahrheit! Sie geben ihrem Affen Zucker; man muß sich ja schon schämen, ein Chanson aus der Hand zu geben, will man hinterher nicht vor Schreck darüber ins Parkett fallen, was aus dem Ding geworden ist. Unterordnung? Echte Mitarbeit? Vermittlung einer Vision, die der Textautor gehabt hat und die es zu verwirklichen gilt? Zurechtgebogen, vergewaltigt, von oben bis unten zusammengehauen – so erscheint das nachher, und was als Gelispel einer Elfe im Gezweig gedacht ist, wird im Männerchor herausgebrüllt. »Lassen Sie nur – so wirkts.« Sicher: auf Nilpferde.

Sie haben vergessen, was das heißt: in eine Rolle schlüpfen wie in einen Handschuh. Mozart? Nein, Kleiber. Shylock? Nein, Kortner. Julia? Nein, die Bergner. Und immer das Gelingen auf eine Nadelspitze gestellt wie eine Börsenspekulation – wie armselig sind sie in den nicht zu vermeidenden Niederlagen, als ob nicht grade diese Stadt für echten Wert immer etwas übrig gehabt hat! Ein einziger Mißerfolg dieser falschen Individualitäten: und ›alles ist aus‹. Das [205] macht: sie wissen nicht mehr, daß man erst einmal dienen muß, wenn man herrschen will, und einem wahren Dichter zu dienen, ist allemal Gewinn. Aber wer dient auch nur Shakespeare? »Harald Paulsen als . . . « die Rolle hat sich beim Schauspieler zu bedanken. Es sind tobsüchtig gewordene Vermittler.

Dieses Rezept der Souveränität von Kommissionären mag seine Geltung haben für Feerien, wie sie etwa Schanzer und Welisch schreiben – hier arbeitet Charell, der ein ehrlicher Theaterkaufmann und ein Künstler ist, in seiner Art schöpferisch. (Schanzer ist viel zu klug, um nicht zu wissen, was er liefert.) Hat man es aber mit Kunstwerken und nicht mit der Textunterlage für die Entfaltung einer bunten Ausstattung zu tun, dann sind Verfasser, Regisseur und Schauspieler gleichberechtigt: der eine hat sich zu fügen, wo er den Gesetzen der Bühne nicht Genüge getan hat – die andern haben die künstlerische Vision des Autors zu respektieren. Und wenn keine da ist, dann sollen sie den Kram nicht aufführen.

Was heute in Berlin getrieben wird, ist die schrankenlose Herrschaft der Stars. Der muß ihnen gestochen werden – um so mehr, als es oft nur Stärchen sind. Und die Bühnenliteratur geht dabei langsam, aber sicher in die Binsen – schlimmer: sie kommt gar nicht erst hoch. Da holen sie sich ihre mittelmäßige Ware aus dem Ausland, weil in Deutschland nichts da sei – aber sie töten jeden deutschen Autor, bevor der auch nur einen Fuß ins Theater gesetzt hat. Sie nehmen Filme, Romane, Tagesereignisse, die schneidern sie zurecht: alles, damit Herr Albers tanzen, damit Frau Straub weinen, damit Herr Klöpfer dröhnen kann. Was das noch mit dramatischer Kunst zu tun hat, ahnen die Götter.

Diese Abwehr des ebenso überschätzten wie überzahlten Schauspielers wird nicht pro domo vorgenommen. Unsereiner hat stets zwei Vorwürfe zu hören, wenn er dem andern ins Fettnäpfchen tritt: a) »Davon verstehen Sie nichts – Laie.« b) »Aha. – Partei.« Lassen wir es bei a bewenden. Ich schreibe keine Theaterstücke; in keinem dramaturgischen Büro liegt eines von mir, ich will vom Theater nichts. Hier spricht ein Zuschauer, und ein dankbarer Zuschauer. Von unserm S. J. habe ich sicherlich nicht seine kritischen Talente, wohl aber seine ganze Freude, seine Begeisterungsfähigkeit und seine Ehrfurcht vor schauspielerischer Arbeit geerbt. Ich stehe zu dem guten Schauspieler – gegen die entfesselten. Kein Direktor kann die mehr halten, kein Regisseur; der eine nicht, weil er keine pekuniäre Macht in Händen hat, sondern die Hosen voller Konkurrenzangst; der andre nicht, weil er selber mittut und selbstgefällig vergewaltigt, was er pflegen sollte. Es ist ein Kreuz.

Das muß nicht so sein. Hätten wir ein paar wirklich starke Bühnenautoren, die sich gegen dies Theater im Theater durchsetzen können –: [206] ich wünsche ihnen, daß sie sich Respekt verschaffen, damit wir statt eines Jahrmarkts der Eitelkeiten wieder einmal Aufführungen erleben, die uns das zeigen, was der Autor gestaltet hat: ein Theaterstück, ein Kunstwerk und eine Dichtung.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Tucholsky, Kurt. Werke. 1929. Die Kollektiven. Die Kollektiven. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6D9E-7