Jules Verne
Die Familie ohne Namen


1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Einige Thatsachen und einige Daten.

»Man beklagt das arme Menschengeschlecht, das sich um einiger Acker Eisfeld willen abschlachtet,« sagten die Philosophen gegen Ende des 18 Jahrhunderts; [5] sie haben damit aber den besten Ausspruch nicht gethan, so weit er Canada betraf, um dessen Besitz die Franzosen damals mit den Soldaten Englands kämpften.

Zweihundert Jahre früher hatte Franz I. bezüglich dieser, von den Königen von Spanien und Portugal für sich beanspruchten amerikanischen Gebiete ausgerufen: »Ich möchte wohl den Abschnitt in dem Testamente Adams sehen, der jenen diese ungeheure Erbschaft zuspräche!« Der König war übrigens um so mehr berechtigt, auch seine Ansprüche geltend zu machen, als ein Theil dieser Landstrecken bald darauf sogar den Namen Neu-Frankreich erhielt.

Wohl haben die Franzosen diesen herrlichen amerikanischen Colonialbesitz nicht zu behaupten vermocht; dessen Bevölkerung blieb aber nichtsdestoweniger französisch und fühlte sich verbunden mit dem alten Gallien ebenso durch die Bande des Blutes und die Identität der Race, wie durch natürliche Instincte, welche keine internationale Politik auszulöschen vermag.

In der That bilden jene wenigen, so wegwerfend qualificirten »Acker Eisfeld« ein Reich, dessen Bodenfläche der Europas gleichkommt.

Ein Franzose hatte von diesen ausgedehnten Gebieten im Jahre 1534 Besitz ergriffen.

In das Herz dieses Landes richtete Jacques Cartier, gebürtig aus St. Malo, damals seinen kühnen Marsch, indem er dem Laufe des Stromes folgte, der später den Namen St. Lorenzo erhielt. Ein Jahr später gelangte der unerschrockene Malouin, beim noch weiteren Vordringen nach Westen, zu einer Gruppe von Hütten – »Canada« in der Indianersprache – aus der später Quebec hervorgegangen ist, und erreichte von hier aus die Ortschaft Hochelaga, aus der in der Folgezeit Montreal wurde. Zwei Jahrhunderte später legten sich diese beiden Städte im Wettbewerb mit Kingston und Toronto die Bezeichnung als Hauptstadt zu, bis die Stadt Ottawa, um diesen Reibereien ein Ende zu machen, zum Sitze der Regierung dieser amerikanischen Colonie erhoben wurde, welche England heute Dominion of Canada nennt.

Einige Thatsachen und Daten werden genügen zur Kennzeichnung der Fortschritte dieses bedeutsamen Staates von seiner Gründung bis zu der Periode von 1830 bis 1840, während der die mit nachfolgender Erzählung in Verbindung stehenden Ereignisse sich abspielten.

Unter Heinrich IV. kehrt Champlain, ein hervorragender Seemann seiner Zeit, nach Europa zurück von einer ersten Reise, während er den Platz ausgesucht[6] hat, auf dem Quebec gegründet werden sollte. Er betheiligte sich später an der Expedition des Herrn de Mons, Inhaber von Patentbriefen für den ausschließlichen Handel mit Pelzwaaren, die ihm gleichzeitig das Recht zu Landconcessionen in Canada verliehen. Champlain, dessen abenteuerlicher Charakter sich mit einfachen Handelsgeschäften weniger verträgt, zieht allein seines Weges am St. Lorenzo wieder stromaufwärts, und erbaut Quebec im Jahre 1606. Schon zwei Jahre vorher hatten die Engländer den Grundstein zu ihrer ersten Niederlassung in Amerika am Ufer des Virginiaflusses gelegt.

Hieraus entsprossen die Keime nationaler Eifersucht und aus dieser Zeit her stammen die ersten Vorzeichen jener Kämpfe, welche England und Frankreich sich auf dem Boden der Neuen Welt liefern sollten.

Zu Anfange werden die Eingebornen nothwendiger Weise in die verschiedenen Phasen dieses Antagonismus hineingezogen. Algonguins und Huronen erklären sich für Champlain und gegen die Irokesen, welche den Truppen des Vereinigten Königreichs zu Hilfe kommen. Im Jahre 1609 unterliegen Letztere an den Ufern jenes Sees, der noch immer den Namen des französischen Seemannes trägt.

Zwei andere Reisen – 1613 und 1615 – führen Champlain bis in die fast unbekannten Gebiete des Westens an die Ufer des Huronsees. Dann verläßt er Amerika und kehrt noch ein drittes Mal nach Canada zurück. Nachdem er mit Händen und Füßen gegen viele Intriguen angekämpft, erhält er 1620 den Titel eines Gouverneurs von Neu-Frankreich.

Unter diesem Namen tritt nun eine Gesellschaft zusammen, deren Statut von Ludwig XIII. 1628 genehmigt wird. Diese Gesellschaft verpflichtet sich, in einem Zeitraume von fünf Jahren viertausend katholische Franzosen nach Canada überzuführen. Von einigen über den Ocean entsendeten Schiffen fallen die ersten den Engländern in die Hände, welche durch das Thal des St. Lorenzo vordringen und Champlain zur Ergebung auffordern. Der muthige Seemann schlägt das ab, muß aber aus Mangel an Unterstützung und Hilfsquellen bald darauf eine – übrigens ganz ehrenvolle – Capitulation abschließen, welche Quebec in die Gewalt der Engländer bringt. Im Jahre 1632 segelt Champlain mit drei Schiffen von Dieppe ab und erobert wieder Canada, das Frankreich durch den Vertrag vom 13. Juli desselben Jahres zurückgegeben wird; er legt den Grund zu neuen Städten, errichtet das erste canadische Colleg unter Leitung der Jesuiten und stirbt am Weihnachtstage 1635 in dem Lande, welches er durch Willenskraft und Kühnheit erworben hat.

[7] Eine Zeit lang entwickeln sich nun erfreuliche Handelsverbindungen zwischen den französischen Colonisten und denen von Neu-England. Die Ersteren haben jedoch gegen die durch ihre Anzahl gefährlichen Irokesen zu kämpfen, denen eine europäische Bevölkerung von nur zweitausend Seelen gegenübersteht. Die Gesellschaft, deren Verhältnisse eine mißliche Wendung nehmen, wendet sich deshalb selbst an Colbert, der den Marquis de Tracy an der Spitze eines Geschwaders sendet. Die zurückgeworfenen Irokesen gehen doch bald wieder zum Angriff über, da sie sich der Unterstützung der Engländer sicher wissen, und in der Umgegend von Montreal kommt es zu einem entsetzlichen Gemetzel.

Wenn die Bevölkerung sich im Jahre 1665 auch ebenso wie das Gebiet der Colonie verdoppelt hatte, so befanden sich doch nicht mehr als dreizehntausend Franzosen in Canada, während die Engländer in Neu-England schon zweihundertfünfzigtausend Bewohner angelsächsischer Race zählten. Der Krieg beginnt von Neuem. Er wüthet auf dem Boden Acadiens, welches heutzutage Neu-Schottland bildet, und verbreitet sich dann bis Quebec, aus dem die Engländer 1690 vertrieben werden. Endlich sichert der Frieden von Ryswick – 1697 – Frankreich den Besitz aller Gebiete, welche die Kühnheit ihrer Entdecker, der Muth seiner Kinder ihm in Nord-Amerika erworben hatte. Zu gleicher Zeit unterwerfen sich die besiegten Stämme, Irokesen, Huronen u.a. der Oberhoheit Frankreichs durch den Vertrag von Montreal.

Im Jahre 1703 wird der Marquis de Vaudreuil, Sohn eines früheren Gouverneurs dieses Namens, zum General-Gouverneur von Canada ernannt, das jetzt durch die Neutralität der Irokesen leichter in der Lage ist, sich gegen die Angriffe der Colonisten Großbritanniens zu wehren. Der Kampf lodert wieder auf in den Niederlassungen von Neu-Fundland, welche englisch sind, und in Acadien, das 1711 den Händen des Marquis de Vaudreuil entrissen wird. Dieser Umstand gestattet den anglo-amerikanischen Streitkräften, sich zur Eroberung des canadischen Gebietes zu concentriren, wo die im Geheimen bearbeiteten Irokesen wieder zu gefährlichen Feinden werden. Der Vertrag von Utrecht – 1713 – vollendet den Verlust von Acadien, nachdem er dreißig Jahre über den Frieden mit England gesichert hatte.


Die Wahlen veranlaßten sehr ernste Zusammenstöße. (S. 12.)

Während dieser Zeit der Ruhe macht die Colonie erhebliche Fortschritte. Die Franzosen errichten einige Forts, um den Besitz ihren Nachkommen zu sichern. 1721 beläuft sich die Bevölkerung auf fünfundzwanzigtausend und 1744 auf fünfzigtausend Seelen. Man konnte glauben, daß die schweren Zeiten überwunden wären.

[8] Dem ist nicht so. In Folge des österreichischen Erbfolgekrieges gerathen England und Frankreich in Europa wieder in Zwist, der sich in Amerika weiterspinnt. Erfolge wechseln mit Unfällen. Endlich kommt der Friede von Aix-la-Chapelle zu Stande – 1747 – der dieselben Verhältnisse wie der Vertrag von Utrecht festsetzt.

Wenn Acadien nun für die spätere Zeit britisch ist, so ist es in den Gefühlen und Neigungen seiner Bewohner doch französisch geblieben. Das Vereinigte Königreich begünstigt die angelsächsische Einwanderung, um das Uebergewicht [9] der Race in den eroberten Provinzen zu gewinnen. Frankreich beabsichtigt dasselbe in Bezug auf Canada. Es hat damit schlechten Erfolg, und inzwischen bringt die Besetzung der Gebiete von Ohio die Rivalen wieder in Streit.

Da erscheint vor dem, erst unlängst von den Landsleuten des Marquis Vaudreuil errichteten Fort Duquesne Washington an der Spitze einer starken anglo-amerikanischen Colonne. Franklin hatte ja kurz vorher erklärt, daß Canada den Franzosen nicht gehören dürfe. Zwei Geschwader segeln aus Europa ab – eines von der Küste Frankreichs, das andere von der Englands. Nach furchtbaren Metzeleien, welche Acadien und die Gebiete von Ohio mit Blut überschwemmen, erfolgt seitens Großbritanniens am 18. Mai 1756 die officielle Kriegserklärung.

In demselben Monat übernimmt, nach einer dringlichen Bitte um Verstärkung durch Herrn von Vaudreuil, der Marquis de Montcalm den Oberbefehl über die regulären Truppen von Canada – im Ganzen viertausend Mann. Der Minister hatte eine größere Truppenmacht nicht aufbieten können, denn der Kampf in Amerika war in Frankreich nicht populär, und im Vereinigten Königreiche selbst nur in geringem Maße.

Zu Anfang des Feldzuges trug Montcalm einige Erfolge davon. Hierher gehört die Einnahme des Fort William Henry im Süden des Georgsees, der eine Verlängerung des Champlainsees bildet. Trotz dieser glänzenden Waffenthaten kam es doch zur Aufgabe des Fort Duquesne seitens der Franzosen, zum Verluste des von einer zu schwachen Besatzung übergebenen Fort Niagara, dem wegen der Verrätherei der Indianer nicht rechtzeitig genug Hilfe gebracht werden konnte; endlich erfolgte die Einnahme von Quebec, im September 1759 durch General Wolfe an der Spitze von achttausend Mann, welche ausgeschifft worden waren. Trotz einer Schlacht, welche die Franzosen bei Montmorency gewannen, müssen sie schließlich doch unterliegen. Montcalm ist getödtet, Wolfe ist getödtet. Die Engländer sind zum Theil die Herren der Provinzen.

Im nächsten Jahre wird ein Versuch gemacht, Quebec, diesen Schlüssel des St. Lorenzo, wieder zu nehmen. Derselbe schlägt fehl, und bald nachher ist auch Montreal gezwungen zu capituliren.

Endlich am 10. Februar 1763 kommt es zu einem Vertrage. Ludwig XV. verzichtet auf seine Ansprüche auf Acadien zu Gunsten Englands. Er tritt ihm Canada, nebst Allem was dazu gehört, als Eigenthum ab. Neu-Frankreich existirt [10] nur noch in den Herzen seiner Kinder. Die Engländer haben es aber niemals vermocht, sich unterjochte Völker zu assimiliren, sie verstehen nur dieselben zu vernichten. Man vernichtet aber keine Nationalität, wenn die Mehrzahl der Bewohner die Liebe zu dem alten Vaterlande und seine Anhänglichkeit von ehedem bewahrte. Vergeblich errichtet England drei Gouvernements, Quebec, Montreal und Dreiströme; vergeblich versucht es den Canadiern das englische Gesetz aufzuzwängen und sie durch einen Eid der Treue zu fesseln. Zufolge energischen Widerspruches wird im Jahre 1774 eine Bill angenommen, welche die Colonie wieder unter französisches Gesetz stellt.

Wenn England auch ferner nichts mehr von Frankreich zu fürchten hatte, so stand es doch bald den Amerikanern feindlich gegenüber. Nach Ueberschreitung des Champlainsees nehmen diese Carilon, das Fort St. John und Frederik und marschieren mit dem General Montgomery auf Montreal, dessen sie sich bemächtigen, nachher auf Quebec, das sie nicht zu erstürmen vermögen.

Im folgenden Jahre – 4. Juli 1776 – erfolgt die Unabhängigkeitserklärung von Amerika.

Nun kommt eine traurige Zeit für die französischen Canadier; die Engländer sind von einer Befürchtung beherrscht: daß ihnen diese Colonie durch Eintritt in den Staatenbund entgehen und sich unter das Sternenbanner flüchten könnte, welches die Amerikaner am Horizonte entrollen. Das geschieht jedoch nicht – gewiß zum Leidwesen aller Patrioten.

Im Jahre 1791 theilt eine neue Verfassung das Land in zwei Provinzen: Ober-Canada im Westen, Unter-Canada im Osten, mit Quebec als Hauptstadt. Jede Provinz erhält einen von der Krone ernannten gesetzgebenden Körper und eine Volksvertretung, welche von den Freisassen der Städte auf vier Jahre erwählt wird. Die Bevölkerung zählt jetzt hundertfünfunddreißigtausend Köpfe, unter diesen aber nicht mehr als fünfzehntausend englischer Abkunft.

Was die Colonisten zumeist wünschten, als sie von Großbritannien unterjocht waren, findet sich zusammengefaßt in dem zu Quebec 1806 begründeten Journal »Der Canadier«, unter der Ueberschrift: »Unsere Einrichtungen, unsere Sprache und unsere Gesetze«. Sie scheuen nicht den Kampf, um dieses dreifache Verlangen durchzusetzen, und der zu Gent 1814 unterzeichnete Friede beendigt diesen Krieg, in dem Erfolge und Fehlschläge sich auf beiden Seiten etwa aufheben.

Der Kampf beginnt wieder zwischen den beiden Racen, welche Canada zu so ungleichen Theilen bewohnen. Zuerst hält er sich noch auf rein politischem[11] Boden. Die Reformer-Abgeordneten hören, in Gefolgschaft ihres Collegen, des heldenmüthigen Papineau, niemals auf, die Autorität der Hauptstadt nach allen Seiten anzugreifen – in der Frage der Wahlen, in der der Ländereien, welche englischen Colonisten in ungeheurer Ausdehnung zugetheilt werden u.s.w. Die Gouverneure mögen nun die Kammer vertagen oder auflösen – Alles wirkt so gut wie nichts. Die Opponenten lassen sich nicht einen Augenblick entmuthigen.

Die Königlichen – die Loyalisten, wie sie sich nennen – haben den Vorsatz, die Verfassung von 1791 abzuschaffen, Canada wieder zu einer Provinz zu vereinigen, um dem englischen Elemente mehr Einfluß zu sichern, und den Gebrauch der französischen Sprache zu verbieten, obwohl diese bisher die Parlaments-und Gerichtssprache geblieben war. Papineau und seine Freunde widersetzen sich aber mit solcher Energie, daß die Krone darauf verzichtet, das abscheuliche Project auszuführen.

Inzwischen wird der Streit immer hitziger. Die Wahlen veranlaßten sehr ernste Zusammenstöße.

Im Mai 1831 bricht in Montreal ein Aufstand aus, der drei französischen Canadiern das Leben kostet. In vielen Meetings versammelt sich die Bevölkerung der Städte und des platten Landes, und in der ganzen Provinz entwickelt sich eine lebhafte Propaganda. Schließlich zählt ein Manifest in vierundzwanzig Resolutionen die Beschwerden der canadischen Race gegen die englische auf, und fordert die Versetzung des Generalgouverneurs Lord Aylmer in Anklagezustand. Das Manifest wird trotz des Widerspruches einiger Reformer, welche es für unzulänglich erklären, von der Kammer angenommen. Im Jahre 1834 werden Neuwahlen nothwendig. Papineau und seine Parteigänger werden wiedergewählt. Getreu den Forderungen der vorhergehenden Volksvertretung, bestehen sie darauf, den Generalgouverneur anzuklagen. Da wird die Kammer im März 1835 vertagt, und das Ministerium ersetzt den Lord Aylmer durch den königlichen Commissär, Lord Gosford, dem noch zwei Commissäre beigegeben sind, mit dem Auftrage, die Ursache der herrschenden Aufregung zu ergründen. Lord Gosford sichert die friedfertigsten Maßnahmen seitens der Krone gegen ihre Unterthanen jenseits des Weltmeeres zu, ohne etwas anderes zu erreichen, als daß die Abgeordneten sich zur Anerkennung der Vollmachten der Untersuchungscommissionen bereit finden lassen.

Im Laufe der Zeit hat sich nun in Folge von Einwanderungen die englische Partei allmählich verstärkt – sogar in Unter-Canada. In Montreal und [12] Quebec bilden sich constitutionelle Vereinigungen, um die Reformer niederzudrücken. Sieht sich der Gouverneur auch genöthigt, diese Vereinigungen aufzulösen, da sie im Widerspruche gegen das Gesetz zusammengetreten sind, so bleiben dieselben doch jeden Augenblick zu thätigem Eingreifen bereit. Auf beiden Seiten empfindet man es, daß der Angriff ein sehr lebhafter werden wird. Das anglo-amerikanische Element ist herausfordernder als je. Es handelt sich ja darum, Unter-Canada durch alle Mittel und Wege völlig zu englisiren. Die Patrioten sind entschlossen, auf gesetzlichem und ungesetzlichem Wege Widerstand zu leisten. Bei dieser so gespannten Sachlage konnten furchtbare Zusammenstöße nicht ausbleiben. Das Blut beider Racen fließt in Strömen auf dem, einst durch die Kühnheit französischer Entdecker eroberten Boden.

So sah es in Canada im Jahre 1837 zu Anfang die ser Erzählung aus. Es erschien uns wichtig genug, den Antagonismus der Abstammung der französischen und der englischen Elemente zu beleuchten, und ebenso die Lebensfähigkeit der Einen, wie die Zähigkeit der Anderen.

War übrigens dieses Neu-Frankreich nicht ebenso ein Stück des Vaterlandes, wie Elsaß-Lothringen, das uns durch übermächtigen Einfall dreißig Jahre später entrissen werden sollte? Und geben die Anstrengungen der französischen Canadier, jenem mindestens seine Autonomie zurückzuerwerben, nicht ein Beispiel, welches die Franzosen von Elsaß und Lothringen niemals vergessen sollten?

Um ihre Maßnahmen gegenüber einer voraussichtlichen Empörung zu berathen, waren der Gouverneur Lord Gosford, der Oberbefehlshaber Sir John Colborne, der Oberst Gore und der Polizeiminister Gilbert Argall am Abend des 23. August zusammengetroffen.

Die Indianer bezeichnen mit dem Worte »Kebec« jede Verengerung eines Flusses, die durch die plötzliche Annäherung der Ufer eines solchen entsteht. Hiervon ist der Name der Hauptstadt abzuleiten, welche auf einem Vorgebirge, einer Art Gibraltar, flußaufwärts an der Stelle, wo der St. Lorenzo sich gleich einem Meeresarme ausbreitet, erbaut ist. Quebec besteht aus der oberen Stadt auf einem steilen Abhange, der den Lauf des Stromes beherrscht, und aus der längs des Ufers sich hinziehenden unteren Stadt, wo die Magazine und die Docks errichtet sind, mit engen Straßen und hölzernen Fußwegen, meist hölzernen Häusern, den Gebäuden der Post und der Marine, mit wenigen Palästen in großartigerem Style, wie dem Palaste des Gouverneurs, der englischen und [13] französischen Hauptkirche, einer von Spaziergängern sehr belebten Esplanade und einer Citadelle mit ziemlich zahlreicher Besatzung – so sah damals die alte Stadt Champlain aus, die übrigens eine weit malerischere Lage hat, als die neueren Städte Nordamerikas.

Von des Gouverneurs Garten aus erstreckte sich die Aussicht weit hin über den herrlichen Strom, dessen Fluthen sich thalabwärts bei der Insel Orleans gabelförmig theilen. Der Abend war prächtig, die stille Atmosphäre wurde heute nicht durch den rauhen Hauch des Nordwestwindes gestört, der zu jeder Jahreszeit so verderblich ist, wenn er längs des St. Lorenzothales dahinstreicht. Im Schatten eines grünen viereckigen Platzes, dessen eine Seite vom Lichte des Mondes erhellt war, erhob sich die vierseitige Pyramide, die zum Andenken an Wolfe und Montcalm, beide an einem Tage im Tode vereint, errichtet war.

Schon seit einer Stunde unterhielten sich der Gouverneur und die drei anderen hohen Persönlichkeiten von dem Ernste der Lage, der sie nöthigte, unausgesetzt auf der Hut zu sein. Allzu deutlich machten sich bereits die Vorzeichen eines bald ausbrechenden Aufstandes bemerkbar; es erschien also angezeigt, jeder Eventualität gegenüber gerüstet zu sein.

»Ueber wie viel Mann können Sie verfügen? fragte Lord Gosford den Commandanten John Colborne.

– Leider nur über eine sehr beschränkte Anzahl, antwortete dieser, und dazu muß ich immer noch zum Theile die Grafschaft von den Besatzungstruppen entblößen.

– Geben Sie bestimmte Zahlen an, Herr Commandant.

– Ich könnte nur drei Bataillone und sieben Compagnien Infanterie aufstellen, denn es ist unmöglich, die Garnison der Citadellen von Quebec und Montreal zu vermindern.

– Was haben Sie an Artillerie?

– Drei oder vier Feldstücke.

– Und an Reitern?

– Nicht mehr als einen Zug.

– Wenn es nothwendig würde, diese Truppenstärke in den angrenzenden Grafschaften zu zerstreuen, bemerkte Oberst Gore, so ist sie völlig unzureichend. Vielleicht ist es doch zu bedauern, Herr Gouverneur, daß Eure Herrlichkeit die von den Loyalisten gebildeten constitutionellen Vereinigungen aufgelöst haben! Wir hätten da mehrere Hundert freiwillige Schützen, deren Hilfe gar nicht zu verachten wäre.

[14] – Ich durfte diese Verbände sich nicht organisiren lassen, erwiderte Lord Gosford, ihre Berührung mit der Bevölkerung hätte unzweifelhaft täglich Reibereien herbeigeführt, und wir müssen uns vor Allem hüten, was eine Explosion beschleunigen könnte. Wir befinden uns in einer Pulverkammer und dürfen nur in Filzschuhen gehen!«

Der General-Gouverneur übertrieb wirklich nicht. Er war ein Mann von scharfem Verstande und versöhnlichem Gemüthe. Seit seinem Eintreffen in der Colonie hatte er den französischen Ansiedlern gegenüber ziemlich viel Wohlwollen an den Tag gelegt – wie der Geschichtsschreiber Garneau berichtet – ebenso eine leichte Heiterkeit, welche mit dem canadischen Frohsinn gut übereinstimmte.

Wenn der Aufruhr noch nicht ausgebrochen war, so verdankte man das der Umsicht, der Milde und dem Gerechtigkeitssinne, den Lord Gosford in allen Beziehungen zu den Einwohnern des Landes niemals verleugnete. Seiner Natur und seinem Verstande nach war er entschiedener Feind gewaltsamer Maßregeln.

»Die Gewalt, wiederholte er öfter, unterdrückt zwar auf Zeit, doch nicht auf die Dauer. In England vergißt man gänzlich, daß Canada der Nachbar der Vereinigten Staaten ist, und daß diese es durchgesetzt haben, ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen. Ich durchschaue es vollständig, daß das Ministerium in London eine streitbare Politik haben will. Auf Antrag der Commissäre hat auch das Haus der Lords ebenso wie das der Gemeinen mit größerer Stimmenmehrheit einen Vorschlag angenommen, der darauf hinausläuft, die Abgeordneten der Opposition in Anklagezustand zu setzen, die öffentlichen Einkünfte ohne Controle zu verwenden, und die Verfassung dahin abzuändern, daß die Districte eine doppelte Anzahl Wähler englischen Ursprungs aufweisen. Ich halte das nicht eben für staatsklug – es würde auf beiden Seiten Blut kosten.«


Sir John Colborne. Gilbert Argall. Colonel Gore. Lord Gosford.

Das war wirklich zu befürchten. Die letzten vom englischen Parlamente angenommenen Maßnahmen hatten eine Aufregung erweckt, welche nur auf die Gelegenheit wartete, unverhüllt hervorzutreten. Geheime Zusammenkünfte, öffentliche Meetings, erhitzten die Köpfe noch weiter. Von Worten mußte man bald zu Thaten übergehen. Zwischen den Reformern und den Parteigängern der angelsächsischen Herrschaft in Montreal wie in Quebec kam es schon zu aufreizenden Herausforderungen; vorzüglich die Mitglieder der constitutionellen Vereinigungen traten dabei mehr hervor. Der Polizei war es wohl bekannt, daß ein Aufruf zu den Waffen in allen Districten, Grafschaften und Kirchspielen verbreitet worden war. [15] Ja, es ging bereits so weit, daß man den General-Gouverneur in effigie henkte. Es galt also Gegenmaßregeln zu treffen.

»Ist Herr de Vaudreuil in Montreal gesehen worden? fragte Lord Gosford.

– Er scheint seine Wohnung in Montreal verlassen zu haben, antwortete Gilbert Argall. Seine Freunde Farran, Clerc und Vincent Hodge besuchen ihn dagegen häufig und stehen in täglicher Verbindung mit den liberalen Abgeordneten und vorzüglich mit dem Rechtsanwalte Gramont in Quebec.

[16] – Wenn es zu einer Bewegung kommt, meinte Sir John Colborne, so unterliegt es keinem Zweifel, daß diese von den Genannten vorbereitet ist.

– Wenn man sie nun verhaften ließe, ließ sich Oberst Gore vernehmen, vielleicht würden Eure Herrlichkeit damit die Empörung im ersten Keime ersticken?...

– Wenn sie dadurch nicht noch früher zum Ausbruche käme!« antwortete der General-Gouverneur.


Ja, es ging bereits so weit, daß man den General-Gouverneur in effigie henkte. (S. 16.)

Er wandte sich hierauf an den Polizeiminister.

[17] »Wenn ich nicht irre, fragte er, haben Herr de Vaudreuil und seine Freunde schon bei den Aufständen von 1832 und 1835 eine Rolle gespielt?

– Gewiß, bestätigte Sir Gilbert Argall, wenigstens hat man alle Ursache, das zu vermuthen. Freilich fehlt es dafür an directen Beweisen, so daß es unmöglich wurde, jene gerichtlich zu verfolgen, wie das gelegentlich des Complots von 1825 geschehen war.

– Dennoch gilt es, sich diese Beweise um jeden Preis zu beschaffen, sagte Sir John Colborne, und um ein für allemal mit den Schlichen der Reformer fertig zu werden, lassen wir sie erst ein Stück weiter vorwärts gehen. Es gibt nichts schlechteres als einen Bürgerkrieg, das weiß ich recht gut; doch wenn es zu einem solchen kommt, dann werde er auch ohne Schonung geführt und es möge der Kampf zu Gunsten Englands ausgehen!«

In dieser Weise zu sprechen, lag ja ganz in der Rolle des Oberbefehlshabers der englischen Streitkräfte in Canada. Wenn Sir John Colborne der Mann dazu war, eine Empörung mit eiserner Strenge zu unterdrücken, so hätte es doch seinem soldatischen Geiste widersprochen, sich auf geheime Ueberwachungen einzulassen, welche das besondere Gebiet der Polizei sind. Es folgt daraus, daß es schon seit mehreren Monaten ausschließlich den Beamten Gilbert Argall's zufiel, ohne Aufsehen die geheime Thätigkeit der fran co-canadischen Partei zu überwachen.

Die Städte, die Kirchspiele des St. Lorenzothales und vor Allem diejenigen der Grafschaften Verchères, Chambly, Laprairie, Acadien, Terrebonne und Deux Montagnes wurden unaufhörlich von zahlreichen Geheimpolizisten des Ministeriums durchstreift.

In Montreal machte es sich wegen Mangels der constitutionellen Vereinigungen, deren Auflösung der Oberst Gore bedauerte, der Doric-Club – seine Mitglieder zählten zu den waschechtesten Loyalisten – zur besonderen Aufgabe, die Aufständischen auf jede mögliche Weise zu beschränken und zu unterdrücken. Lord Gosford mußte auch wirklich fürchten, daß es in jeder Stunde des Tages oder der Nacht zu einem Ausbruche kommen könnte.

Es erscheint begreiflich, daß die Umgebung des General-Gouverneurs diesen trotz seiner versöhnlichen Neigungen drängte, die Bureaukraten – so nannte man die Anhänger der Autorität der Krone – zu unterstützen gegen die Parteigänger der nationalen Sache. Uebrigens war Sir John Colborne kein Freund von halben Maßregeln, wie er das später bewies, als er Lord Gosford in der [18] Verwaltung der Colonie folgte. Was den Oberst Gore, einen alten, bei Waterloo decorirten Soldaten anging, so verlangte dieser militärische Maßregeln, und zwar ohne Aufschub.

Am 7. Mai des laufenden Jahres hatte eine Versammlung zu St. Ques, einem kleinen Flecken in der Grafschaft Richelieu, die Führer der Reformer vereinigt. Hier berieth man die Beschlüsse, welche das politische Programm der franco-canadischen Opposition bilden sollten.

Unter Anderem verdient davon der folgende Satz hervorgehoben zu werden:

»Canada muß sich wie Irland um einen Mann schaaren, der ebenso von Haß gegen jede Unterdrückung, wie von Liebe zu seinem Vaterlande erfüllt ist, und den nichts, weder Versprechungen noch Drohungen, jemals in seinen Entschlüssen schwankend machen kann.«

Dieser Mann war kein anderer als der Abgeordnete Papineau, dem die öffentliche Meinung mit Recht den Titel eines O'Connell beilegte.

Gleichzeitig beschloß die Versammlung, sich »so viel wie möglich von der Benützung eingeführter Waaren fern zu halten und nur Erzeugnisse des eigenen Landes zu gebrauchen, um der Regierung die Einkünfte aus den, auf die fremden Waaren gelegten Eingangszöllen zu entziehen.«

Auf diese Erklärung mußte Lord Gosford am 15. Juli durch eine Proclamation antworten, welche jede aufreizende Vereinigung verbot und den Behörden und Officiellen der Miliz den Befehl ertheilte, dieselbe unverzüglich aufzulösen.

Die Polizei arbeitete nun mit einem Eifer, der sich kaum zügeln ließ; sie verwendete ihre geriebensten Agenten und schreckte sogar nicht davor zurück, Verräthereien – wie das schon vorgekommen war – durch die Lockspeise beträchtlicher Geldsummen zu provociren.

Doch wenn Papineau der Mann war, der offen hervortrat, so gab es noch einen anderen, der im Dunkeln und so geheimnißvoll wirkte, daß selbst die bedeutendsten Reformer ihn nur bei den seltensten Gelegenheiten von Auge zu Auge kennen gelernt hatten. Um diese Persönlichkeit hatte sich schon eine wirkliche Legende gewoben, die dem Manne einen ganz außergewöhnlichen Erfolg auf den Geist der Massen sicherte: Johann ohne Namen – man kannte ihn eben nur unter dieser räthselhaften Bezeichnung. Es konnte also nicht Wunder nehmen, daß auch von ihm in dem Gespräche des General-Gouverneurs und seiner Gäste die Rede war.

[19] »Und von diesem Johann ohne Namen, fragte Sir John Colborne,... hat man seine Spuren aufgefunden?

– Noch nicht, erwiderte der Polizeiminister; ich habe jedoch alle Ursache zu glauben, daß er in den Grafschaften von Unter-Canada aufgetaucht und neuerdings selbst nach Quebec gekommen ist.

– Wie, und Ihre Leute haben ihn nicht anhalten können? rief Oberst Gore.

– Das ist nicht so leicht, Herr General.

– Besitzt dieser Mann denn wirklich den Einfluß, den man ihm zuschreibt? warf Lord Gosford ein.

– Gewiß, versicherte der Minister, und ich kann Eurer Herrlichkeit nur sagen, daß dieser Einfluß ein sehr großer ist.

– Wer ist überhaupt dieser Mann?

– Darüber hat man eben niemals klar werden können, sagte Sir John Colborne, nicht wahr, lieber Argall?

– Gewiß, Herr General. Man weiß nicht, wer diese Persönlichkeit ist, woher er kommt oder wohin er geht. So hat er, fast unsichtbar, bei den letzten Aufständen die Hand im Spiele gehabt. Es ist auch gar nicht zweifelhaft, daß Leute wie Papineau, Viger, Lacoste, Vaudreuil, Farran, Gramont, überhaupt alle Führer, im gegebenen Augenblicke auf sein Eingreifen rechnen. Dieser Johann ohne Namen ist schon mehr zum übernatürlichen Wesen geworden, vorzüglich in den Landschaften des St. Lorenzo stromaufwärts von Montreal, wie stromabwärts von Quebec. Kann man der Legende Glauben schenken, so hat er völlig das Zeug dazu, um Stadt und Land mit sich fortzureißen: eine außergewöhnliche Kühnheit, einen beispiellosen Muth. Dazu kommt, wie schon erwähnt, das Geheimniß, der Reiz des Unbekannten.

– Sie meinen also, daß er in letzter Zeit einmal nach Quebec gekommen sei? fragte Lord Gosford.

– Die amtlichen Berichte der Polizei lassen das wenigstens vermuthen, antwortete Gilbert Argall. Ich habe übrigens auch einen Mann, und zwar einen der tüchtigsten und feinsten, aufgeboten, jenen Rip, der in der Geschichte mit Simon Morgaz so viel Intelligenz entwickelt hatte.

– Simon Morgaz, wiederholte Sir John Colborne, derselbe, der 1825 zu so gelegener Zeit um Geld seine Genossen der Verschwörung von Chambly verrathen hatte?....

– Derselbe.

[20] – Und weiß man, wo dieser ist?

– Man weiß nur das Eine, erklärte Gilbert Argall, daß er, von allen Genossen seiner Race, von den durch ihn verrathenen französischen Canadiern in die Acht erklärt, völlig verschwunden ist. Vielleicht hat er die Neue Welt ganz verlassen; vielleicht ist er todt...

– Nun, könnte man das Mittel, das sich bei Simon Morgaz wirksam erwies, fragte Sir John Colborne, nicht auch bei einem der Führer jener Reformer in Anwendung bringen?

– Rechnen Sie darauf nicht, General, antwortete Lord Gosford. Solche Patrioten – diese Anerkennung kann ihnen Niemand versagen – sind über jede Bestechung erhaben. Daß sie sich als Feinde der englischen Macht hinstellen und für Canada dieselbe Unabhängigkeit erträumen, welche die Vereinigten Staaten sich England abgerungen, ist leider nur zu wahr; dabei aber zu hoffen, daß man sie erkaufen, sie durch Zusicherungen von Gold oder Ehren bestimmen könnte, einen Verrath zu begehen – niemals. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß Sie keinen Verräther unter ihnen finden werden!

– Dasselbe sagte man von Simon Morgaz, warf dagegen Sir John Colborne ironisch ein, und er hat seine Genossen dennoch ausgeliefert. Und gerade dieser Johann Namenlos, von dem Sie sprechen, wer weiß, ob dieser nicht käuflich ist...

– Ich glaub' es nicht, erwiderte lebhaft der Polizeiminister.

– Jedenfalls, fügte Oberst Gore hinzu, ist, ob es sich nun darum handelt, ihn zu kaufen oder ihn zu henken, die erste Bedingung, daß man ihn auch hat, und da seine Anwesenheit in Quebec gemeldet worden ist...«

In diesem Augenblick erschien an einer der Biegungen der Allee des Gartens ein Mann, der auf zehn Schritte Entfernung stehen blieb.

Der Minister erkannte einen Geheimpolizisten oder vielmehr den »Unternehmer der Polizei«, eine Bezeichnung, die er in jeder Hinsicht verdiente.

Dieser Mann gehörte nämlich nicht zur regulären Brigade Comeau's, des Chefs der anglo-canadischen Agenten.

Gilbert Argall lud ihn durch ein Zeichen ein, näher zu treten.

»Es ist Rip, vom Hause Rip & Compagnie, sagte er, sich an Lord Gosford wendend. Wollen Eure Herrlichkeit erlauben, uns hier seinen Bericht zu erstatten?«

[21] Lord Gosford stimmte durch eine Bewegung des Kopfes zu. Rip näherte sich respectvoll und wartete, bis es Gilbert Argall beliebte, ihn zu fragen, was dieser mit den Worten that:

»Haben Sie darüber Gewißheit erhalten, daß Johann ohne Namen in Quebec gesehen worden ist?

– Ich glaube das Euer Ehren versichern zu können.

– Und wie kam es, daß er da nicht dingfest gemacht wurde? fragte Lord Gosford.

– Eure Herrlichkeit wollen meine Leute und mich gütig entschuldigen, antwortete Rip, wir erhielten aber selbst zu spät Nachricht. Vorgestern war gemeldet worden, daß Johann ohne Namen eines der Häuser der kleinen Champlainstraße besucht haben sollte, und zwar das, welches neben dem Laden des Schneiders Emotand zur Linken liegt, wenn man die Stufen genannter Straße hinaufsteigt. Ich habe das Haus sofort einschließen lassen. Dasselbe bewohnt ein Herr Sebastian Gramont, ein Rechtsanwalt und Abgeordneter, der in der Reformpartei eine hervorragende Stellung einnimmt. Johann ohne Namen hatte sich daselbst aber nicht gezeigt, obwohl der Abgeordnete Gramont unzweifelhaft mit ihm in Verbindung steht. Unsere Haussuchung ist vergeblich gewesen.

– Glauben Sie, daß jener Mann sich noch in Quebec aufhält? fragte Sir John Colborne.

– Das könnte ich Euer Excellenz nicht mit Bestimmtheit sagen, erwiderte Rip.

– Sie kennen ihn nicht?

– Ich habe ihn in der That niemals gesehen, und es gibt überhaupt nur wenige Leute, welche ihn kennen.

– Mag sein, doch welche Richtung dürfte er von Quebec aus eingeschlagen haben?

– Das weiß ich nicht, gestand Rip.

– Und was ist Ihre Meinung? fragte der Polizeiminister.

– Meine Ansicht ist, daß der Mann sich nach der Grafschaft Montreal hingewendet haben dürfte, wo die Agitatoren mit Vorliebe ihr Wesen treiben. Wenn ein Aufstand vorbereitet ist, so wird er wahrscheinlich in diesem Theile Canadas zum Ausbruch kommen. Ich schließe daraus, daß Johann ohne Namen in einem Dorfe nahe den Ufern des St. Lorenzo versteckt sein wird...

[22] – Ganz recht, fiel Gilbert Argall ein, und nach dieser Seite hin werden sich die weiteren Nachforschungen zu bewegen haben.

– So erlassen Sie die betreffenden Befehle, sagte der General-Gouverneur.

– Eure Herrlichkeit wird zufrieden gestellt werden. Sie, Rip, verlassen morgen schon Quebec mit den besten Beamten Ihrer Agentur. Ich selbst werde die Ueberwachung des Herrn de Vaudreuil und seiner Freunde übernehmen, welch' Letztere unzweifelhaft viele Zusammenkünfte mit Johann ohne Namen haben. Suchen Sie seine Spuren wiederzufinden, gleichviel durch welches Mittel. Der Herr General-Gouverneur betraut Sie speciell mit dieser Aufgabe.

– Sie wird treulich erfüllt werden, versicherte der Chef des Hauses Rip & Compagnie. Ich reife morgen ab.

– Wir genehmigen im Voraus, fuhr Gilbert Argall fort, Alles, was Sie zwecks der Gefangennahme des gefährlichen Parteigängers für nothwendig halten. Todt oder lebendig – wir müssen ihn haben, bevor er die französisch-canadische Bevölkerung durch seine Gegenwart zu Gewaltschritten hinzureißen vermag. Sie sind intelligent und geschäftseifrig, Rip, Sie haben das ja vor zwölf Jahren bei dem Falle Morgaz hinlänglich bewiesen. Wir zählen auch hierbei auf Ihren Eifer und Ihren Scharfsinn. Treten Sie ab.«

Rip wollte fortgehen und hatte schon einige Schritte gemacht, als er sich umdrehte.

»Darf ich eine Frage an Euer Ehren richten? sagte er an den Minister gewendet.

– Eine Frage?...

– Ja, Euer Ehren, und deren Entscheidung ist nöthig wegen der wünschenswerthen Richtigkeit der Buchführung des Hauses Rip & Compagnie.

– So sprechen Sie, sagte Gilbert Argall.


Rip, vom Hause Rip & Compagnie. (S. 21.)

– Ist auf den Kopf Johanns ohne Namen schon ein Preis gesetzt?

– Noch nicht.

– Das darf aber nicht unterlassen werden, bemerkte Sir John Colborne.

– Es ist hiermit geschehen, ließ sich Lord Gosford vernehmen.

– Und welcher? fragte Rip.

– Viertausend Piaster. 1

[23] – Er ist aber seine sechstausend werth, antwortete Rip. Ich werde Reise spesen, Auslagen für Specialberichterstatter haben...

– Nun wohl, es sei, sagte Lord Gosford.

– Dieses Geld werden Eure Herrlichkeit nicht zu beklagen haben....

– Wenn es erst verdient ist... warf der Minister dazwischen.

– Das ist so gut wie geschehen, Euer Ehren.«

Und mit dieser, vielleicht etwas gewagten Versicherung zog der Chef der Hauses Rip & Cie. sich zurück.

[24] »Ein Mann, der seiner Sache gewiß zu sein scheint, dieser Rip, bemerkte Oberst Gore.

– Und der unser volles Vertrauen verdient, setzte Gilbert Argall hinzu. Uebrigens ist dieser Preis von sechstausend Piaster ganz geeignet, seine Schlauheit und seinen Eifer anzuregen. Schon der Fall mit der Verschwörung von Chambly hat ihm eine hübsche Summe eingebracht, und wenn er sein Geschäft liebt, so liebt er nicht minder das Geld, welches es ihm abwirft. Man muß dieses Original eben nehmen wie es einmal ist, und ich kenne keinen Mann, [25] der mehr geeignet wäre, sich Johanns ohne Namen zu bemächtigen, wenn Johann ohne Namen überhaupt der Mann dazu ist, sich fangen zu lassen.«


Herr de Vaudreuil. (S. 26.)

Der General, der Minister und der Oberst verabschiedeten sich nun von Lord Gosford. Dann ertheilte Sir John Colborne dem Oberst Gore Befehl, unverzüglich nach Montreal aufzubrechen, wo sein College, der Oberst Witherall, ihn erwartete, der beauftragt war, in den Kirchspielen der Grafschaft jede aufrührerische Bewegung im Keime zu verhindern und zu unterdrücken.

Fußnoten

1 Der Piaster oder Dollar in Canada entspricht 4 Mark 20 Pfennig der Reichswährung = 2 Gulden 10 Kreuzer österreichisch.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Zwölf Jahre vorher.

Simon Morgaz! Ein verabscheuter Name bis hinab in die dürftigsten Hütten der canadischen Provinzen! Ein Mann, auf dem seit langen Jahren der Fluch des Volkes lastet! Ein Simon Morgaz, das ist der Verräther, der seine Brüder ausgeliefert und sein Vaterland verkauft hat!

Vor Allem wird man das in Frankreich verstehen, das »jetzt nicht mehr weiß, wie unversöhnlich der Haß ist, den der Verrath am Vaterland verdient.«

Im Jahre 1825 – zwölf Jahre vor dem Aufstande von 1837 – hatten einige französische Canadier den Grund gelegt zu einer Verschwörung mit dem Endziel, Canada der englischen Herrschaft zu entreißen, die so schwer auf ihm lastete. Unerschrockene, thätige, energische Männer mit weitem Blick, zum größten Theil Abkömmlinge der ersten Einwanderer, welche Neu-Frankreich gegründet hatten, konnten sie sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß der Verlust ihrer Colonie zu Gunsten Englands ein endgiltiger sein sollte. Selbst zugegeben, daß das Land nicht mehr an die Enkel eines Cartier und eines Champlain, die es im 16. Jahrhundert entdeckt hatten, kommen sollte, hatte es nicht wenigstens das Recht, unabhängig zu sein? Ganz gewiß; und um ihm diese Unabhängigkeit zu erwerben, setzten jene Patrioten ihren Kopf auf's Spiel.

Unter ihnen befand sich Herr de Vaudreuil, ein Nachkomme des früheren Gouverneurs von Canada unter Ludwig XIV. – aus einer jener Familien, [26] deren französische Namen zum großen Theil zu geographischen Namen in der canadischen Karthographie geworden sind.

Jener Zeit zählte Vaudreuil fünfunddreißig Jahre, denn er erblickte das Licht der Welt 1790 in der Grafschaft Vaudreuil, zwischen dem St. Lorenzo im Süden und dem Ottawa im Norden, an der Grenze der Provinz Ontario.

Die Freunde des Herrn Vaudreuil waren gleich ihm französischer Abstammung, obwohl vielfache Verbindungen mit anglo-amerikanischen Familien die allmähliche Veränderung ihrer ursprünglichen Namen herbeigeführt hatten. Hierzu gehörten der Professor Robert Farran in Montreal, François Clerc, ein reicher Grundbesitzer von Châteaugay, und einige andere, denen Geburt und Reichthum einen fühlbaren Einfluß auf die Bewohnerschaft der Flecken und Dörfer verlieh.

Der eigentliche Anführer der Verschwörung war Walter Hodge, von amerikanischer Herkunft. Obwohl er schon sechzig Jahre zählte, hatte das Alter die Wärme seines Blutes doch noch nicht zu vermindern vermocht. Während des Unabhängigkeitskrieges gehörte er zu jenen kühnen Freiwilligen, jenen »Skinners« deren etwas zu wilde Gewaltthaten Washington wohl oder übel tadeln mußte, denn ihre Compagnien waren sonst stets bei der Hand, die königliche Armee zu beunruhigen. Bekanntlich haben seit Ende des 18. Jahrhunderts die Vereinigten Staaten Canada mehrfach aufgefordert, sich der amerikanischen Föderation anzuschließen. Damit erklärt es sich, daß ein Amerikaner, wie Walter Hodge, sich an dieser Verschwörung betheiligt hatte und sogar deren Leiter geworden war. Er gehörte zu jenen Männern, welche als Wahlspruch die drei Worte angenommen hatten, welche die ganze Monroe-Doctrin enthalten: »Amerika den Amerikanern!«

Walter Hodge und seine Genossen hatten niemals aufgehört, gegen die Bedrückungen der englischen Verwaltung, welche allmählich unerträglich wurden, Einspruch zu erheben. Im Jahre 1822 fanden sich ihre Namen in dem Proteste gegen die Vereinigung von Ober- und Unter-Canada mit dem der beiden Brüder Sanguinet, welche achtzehn Jahre später neben so vielen anderen Opfern ihren Anschluß an die nationale Partei mit dem Leben büßen sollten. Sie führten den Kampf schriftlich und mündlich, als es sich darum handelte, gegen die ungerechte Vertheilung von Ländereien aufzutreten, welche ausschließlich Bureaukraten zugesprochen worden, um das englische Element zu verstärken. Persönlich kämpften sie ferner gegen die Gouverneure Sherbrooke, Richmond, Monk und[27] Maitland, betheiligten sich an der Verwaltung der Colonie und schlossen sich allen Handlungen der oppositionellen Abgeordneten an.

Uebrigens war die Verschwörung von 1825, welche ganz bestimmte Ziele im Auge hatte, ohne Mitwirkung der Liberalen der canadischen Kammer organisirt worden. Wenn Papineau und seine Collegen Cuvillier, Bédard, Viger, Quesnel und andere auch nichts davon wußten, so konnte Walter Hodge doch auf Jene zählen, um die Erfolge derselben, wenn solche errungen wurden, zu sichern. Vor Allem handelte es sich nämlich darum, sich der Person des Lord Dalhousie zu versichern, der 1820 für das Amt des General-Gouverneurs der canadischen Colonien Amerikas berufen worden war.

Bei seinem Antritt schien Lord Dalhousie eine nachgiebige Politik einhalten zu wollen. Ohne Zweifel verdankte man nur ihm die officielle Anerkennung des römischen Bischofs von Quebec, und Montreal, Rose, Regiopolis wurden bald darauf die Sitze der Bischöfe. Das britische Cabinet verweigerte aber Canada hartnäckig, sich selbst zu regieren. Die von der Krone auf Lebenszeit ernannten Mitglieder des gesetzgebenden Körpers waren alle Engländer von Geburt und legten die vom Volk erwählte Vertretung desselben vollständig lahm. In einer Bevölkerung von sechshunderttausend Seelen, welche damals fünfhundertfünfundzwanzigtausend französische Canadier zählte, wurden Dreiviertel aller Aemter allein von Leuten angelsächsischer Herkunft verwaltet. Endlich war auch von Neuem davon die Rede, den gesetzlichen Gebrauch der französischen Sprache in der ganzen Colonie ein- für allemal zu verbieten.

Um diese Anordnungen zu hintertreiben, bedurfte es nichts geringeren als eines Gewaltactes, und der Plan Walter Hodge's, Robert Farran's, François Clerc's und Vaudreuil's ging denn auch dahin, sich des Lord Dalhousie und der hauptsächlichsten Mitglieder des gesetzgebenden Körpers zu bemächtigen, darauf, wenn dieser Staatsstreich gelungen wäre, eine Volksbewegung in den Grafschaften des St. Lorenzo hervorzurufen, eine provisorische Regierung einzusetzen, bis durch allgemeine Wahlen eine Nationalregierung errichtet wäre, und endlich die canadischen Milizen der regulären Armee entgegenzuwerfen.

Die Verschwörung hätte auch vielleicht Erfolg gehabt, wenn nicht der Verrath eines der Theilnehmer sie zum Scheitern brachte.

Dem Walter Hodge und seinen franco-canadischen Parteigängern hatte sich ein gewisser Simon Morgaz angeschlossen, dessen Lebensverhältnisse und Abkunft wir hier kurz mittheilen müssen.

[28] Im Jahre 1825 zählte Simon Morgaz fünfundvierzig Jahre. Rechtsanwalt in einem Lande, wo es mehr Rechtsanwälte als Klienten gibt, ebenso wie weit mehr Aerzte als Patienten, lebte er in ziemlich dürftigen Verhältnissen zu Chambly, einem kleinen Flecken am rechten Ufer des Richelieu, etwa zehn Lieues (fünf deutsche Meilen) von Montreal, an der anderen Seite des St. Lorenzo.

Simon Morgaz war ein entschlossener Mann, dessen Energie besonders bemerkt wurde, als die Reformer gegen die Handelsweise des englischen Cabinets protestirten. Sein offenes Benehmen, sein ansprechendes Gesicht machten ihn Allen sympathisch. Niemals hätte Jemand geargwohnt, daß die Person eines Verräthers sich dereinst aus diesem verführerischen Aeußern entpuppen sollte.

Simon Morgaz war verheiratet. Seine um acht Jahre jüngere Frau zählte damals achtunddreißig Jahre. Bridget Morgaz, von amerikanischer Herkunft, war die Tochter des Major Allen, dessen Muth man im Unabhängigkeitskriege, wo er zu den persönlichen Adjutanten Washington's gehörte, schätzen gelernt hatte. Der vollendetste Typus der Loyalität in ihrer reinsten Gestalt, hätte er für ein gegebenes Wort mit der Ruhe eines Regulus das Leben geopfert.

In Albani, Staat New-York, war es, wo Simon Morgaz und Bridget sich begegneten und kennen lernten. Der junge Advocat war von franco-canadischer Abstammung, ein Umstand, der bei Major Allen ins Gewicht fiel, da dieser seine Tochter niemals einem Manne von englicher Abkunft gegeben hätte. Obwohl Simon Morgaz kein eigenes Vermögen besaß, war dem jungen Haushalt durch das, was Bridget als mütterliches Erbtheil zukam, wenn auch kein Reichthum, so doch eine gewisse Wohlhabenheit gesichert. Die Ehe wurde in Albany im Jahre 1806 geschlossen.

Das Leben der beiden Neuvermählten hätte ein recht glückliches sein können, war das aber keineswegs. Nicht daß Simon Morgaz die Rücksichten gegen seine Gattin aus den Augen gesetzt hätte, im Gegentheil, er bewahrte für sie eine innige Zuneigung – so verzehrte ihn doch eine Leidenschaft – die Spielwuth. Das Erbtheil Bridgets verschwand binnen wenigen Jahren, und obgleich Simon Morgaz den Ruf eines geschickten Advocaten besaß, reichte seine Thätigkeit als solcher doch nicht hin, um die Lücken in seinem Vermögen wieder auszufüllen. Litt seine Gattin nun zwar nicht geradezu Noth, so ertrug sie doch, und zwar mit einer gewissen Würde, so manche Qualen. Bridget machte ihrem Manne keinerlei Vorwürfe. Da ihre Ermahnungen fruchtlos geblieben waren, nahm [29] sie die ihr zugefallene Prüfung mit Resignation, ja mit rühmenswerthem Muthe hin, wenn die Zukunft auch schwer bewölkt vor ihr lag.

Bridget hatte diese wirklich nicht für sich allein zu fürchten. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie zwei Kindern das Leben gegeben, welche in der Taufe denselben, nur wenig veränderten Vornamen erhielten, was an ihre gleichzeitig französische und amerikanische Abstammung erinnerte. Der Aeltere, Joann, war 1807 geboren; der Jüngere, Johann, 1808. Bridget widmete sich ausschließlich der Erziehung ihrer Söhne; Joann war von sehr sanftem Charakter Johann sehr lebhaften Temperamentes, Beide aber energisch unter ihrer Sanftmuth und ihrer Lebhaftigkeit. Sie hielten sich sichtlich mehr an ihre Mutter, welche ernsten Sinnes und arbeitsfreudig war und eine liebenswürdige Art und Weise hatte, die Umstände und Verhältnisse anzuschauen, welche Simon Morgaz vollständig abging. Ihrem Vater gegenüber bewahrten die Söhne deshalb wohl einen gewissen Respect, zeigten aber nichts von der natürlichen Hingebung, von jenem unbegrenzten Vertrauen, welches sonst ein Ausfluß der nächsten Blutsverwandtschaft ist. Ihrer Mutter hingegen bewiesen sie eine Hingebung ohne Grenzen, eine Liebe, die aus dem Kinderherzen nur überquoll, um das ihrige zu erfüllen. Bridget und ihre Söhne waren verbunden durch das doppelte Band der kindlichen Liebe und der mütterlichen Zärtlichkeit, welches nichts zu zerreißen vermag.

Nach der ersten Periode ihrer Kindheit, traten Joann und Johann in das Colleg zu Chambly ein, in welchem sie mit einer Classe Unterschied einander folgten. Man zählte sie mit Recht zu den ersten Schülern der oberen Abtheilungen. Als sie dann zwölf und dreizehn Jahre alt geworden waren, besuchten sie das Colleg zu Montreal, wo sie sich ebenfalls rühmlich auszeichneten. Noch zwei Jahre, und sie sollten ihre Studien vollendet haben, als die Ereignisse von 1825 eintraten.

Wohnten Simon Morgaz und seine Frau auch nicht in Montreal, wo das Bureau des Advocaten mehr und mehr zurückging, so hatten sie sich doch noch ein kleines Haus in Chambly bewahrt. Dort trafen sich Walter Hodge und seine Freunde, als Simon Morgaz dieser Verschwörung beigetreten war, deren erste Handlung, wenn die Verhaftung des General-Gouverneurs geglückt wäre, in der Errichtung einer provisorischen Regierung zu Quebec bestehen sollte.

In dem Flecken Chambly und unter dem Schutze dieser bescheidenen Wohnung konnten sich die Verschwörer für sicherer halten als in Montreal, [30] wo die Polizei mit äußerster Strenge Alles überwachte. Trotzdem gingen sie stets mit größter Klugheit vor, um jeden Versuch einer Spionage auf falsche Fährte zu leiten.

Sie hatten auch Waffen und Schießbedarf bei Simon Morgaz untergebracht, ohne daß deren Transport je den geringsten Verdacht erregt hätte. In dem Hause zu Chambly also war es, wo die Fäden des Complots zusammenliefen und von wo das Signal zur Erhebung ausgehen sollte.

Indessen hatten der Gouverneur und seine Umgebung doch von dem gegen die Krone geplanten Staatsstreich Wind bekommen, und sie ließen vorzüglich diejenigen Abgeordneten scharf überwachen, welche sich durch ihre anhaltende Opposition gekennzeichnet hatten.

Es muß hier jedoch wiederholt darauf hingewiesen werden, daß Papineau und seine Collegen von dem Plane Walter Hodge's und seiner Parteigänger nichts wußten. Diese hatten den 26. August zur Ergreifung der Waffen bestimmt, welche ebenso ihre Freunde wie ihre Feinde überraschen sollte.

Am Vorabend des Tages wurde das Haus Simon Morgaz' plötzlich von den Agenten der Polizei, letztere unter der Leitung Rip's, gerade in dem Augenblicke gestürmt, wo die Verschworenen darin versammelt waren. Diese fanden nicht mehr Zeit, ihre geheimen Schriftstücke zu vernichten oder die Listen ihrer Anhänger zu verbrennen. Die Beamten bemächtigten sich auch der in den Kellern des Hauses versteckten Waffen. Das Complot war entdeckt; Walter Hodge, Robert Farran, François Clerc, Simon Morgaz, Vaudreuil und noch ein Dutzend anderer Patrioten wurden unter sicherer Bedeckung ins Gefängniß nach Montreal abgeführt.

Die Erklärung hierfür bietet Folgendes:


Die Patrioten, in das Gefängniß von Montreal abgeführt. (S. 31.)

In Quebec befand sich jener Zeit ein gewisser Rip, von anglo-canadischem Herkommen, der ein Auskunfts- und Nachforschungsbureau für Private leitete, dessen sich aber auch die Regierung zu wiederholten Malen und nicht ohne Nutzen bedient hatte. Sein Geschäft arbeitete unter der Firma Rip & Cie. Eine polizeiliche Angelegenheit war für ihn nichts weiter als eine Geldangelegenheit und er trug dieselbe in die Bücher ein, wie ein Kaufmann, der Geschäfte in Pausch und Bogen abzuschließen pflegt – so viel für eine Auskunft, so viel für eine Verhaftung und so viel für eine Spionage u.s.w. Er war ein sehr verschlagener und daneben unerschrockener Mann und zu Allem zu gebrauchen, der die Hand oder vielmehr die Nase in unendlich vielen Privatangelegenheiten stecken hatte. [31] Ganz frei von jedem Scrupel, besaß er auch nicht einen Schatten von moralischer Empfindung.

Als Rip im Jahre 1825 seine Agentur begründete, zählte er dreißig Jahre. Schon hatte ihm seine bewegliche Physiognomie, sein Geschick sich zu verkleiden, Gelegenheit verschafft, in verschiedenen Verhältnissen unter wechselndem Namen aufzutreten. Seit einigen Jahren kannte er Simon Morgaz, mit dem er in einigen vor Gericht anhängigen Sachen zusammengetroffen war. Gewisse Eigenthümlichkeiten, die jedem Anderen ganz bedeutungslos gewesen wären, erweckten in ihm den Gedanken, daß der Advocat bei der Verschwörung von Chambly betheiligt sein müsse.


Walter Hodge stürzte sich auf Simon Morgaz. (S. 35.)

Er drängte sich nun an jenen mehr heran, suchte seine geheimsten Privatangelegenheiten auszukundschaften und stellte sich wiederholt in seinem Hause ein, obwohl Bridget Morgaz den Widerwillen kaum verbarg, den er ihr einflößte.

Ein auf der Post aufgefangener Brief bewies bald [32] die Betheiligung des Advocaten fast mit aller Bestimmtheit. Der Polizeiminister, der von Rip über das Ergebniß seiner Schritte unterrichtet worden war, empfahl ihm, recht [33] geschickt bezüglich dieses Simon Morgaz vorzugehen, von dem man wußte, daß er immer in drückender Geldverlegenheit schwebte. Da stellte ihm Rip eines Tages diese zwei Alternativen: entweder wegen Landesverraths in Untersuchung genommen zu werden, oder die ungeheuere Summe von hunderttausend Piaster zu erhalten, wenn er sich dazu verstand, seine Genossen zu nennen und die Einzelheiten des Complots von Chambly darzulegen.

Der Advocat schien wie vom Donner gerührt... Seine Gefährten verrathen!... Sie um Geld zu verkaufen!... Sie aufs Schaffot zu bringen!... Und doch, er unterlag, er nahm den Preis für den Verrath an, entschleierte die Geheimnisse der Verschwörung, nachdem ihm die Zusicherung geworden, daß sein gewissenloses Verhalten niemals bekannt würde. Gleichzeitig wurde verabredet, daß die Beamten ihn selbst mit Walter Hodge und seinen Freunden verhaften sollten, daß er von den nämlichen Richtern abgeurtheilt werden und das Urtheil, welches diese träfe – es konnte kein anderes als ein Todesurtheil sein – auch ihn treffen würde. Dann sollte ihm vor Vollstreckung desselben Gelegenheit zur Flucht geboten werden.

Diese verabscheuungswerthe Abmachung sollte also das Geheimniß des Polizeiministers, des Chefs vom Hause Rip & Cie. und des Simon Morgaz bleiben. Alles verlief zunächst wie besprochen. An dem von dem Verräther bezeichneten Tage wurden die Verschwörer ahnungslos in dem Hause von Chambly überrascht. Walter Hodge, Robert Farran, François Clerc, Vaudreuil nebst einigen ihrer Genossen ebenso wie Simon Morgaz selbst erschienen am 25. September 1825 auf der Anklagebank des Gerichtshofes.

Auf die Anschuldigungen, welche der Kronadvocat – der Richteradvocat, wie man ihn damals nannte – gegen sie vorbrachte, antworteten die Angeklagten nur mit ganz gerechten und directen Angriffen gegen das britische Cabinet. Den gesetzlichen Argumenten wollten sie nur Argumente, die ihrem Vaterlandsgefühle entstammten, entgegensetzen. Sie wußten ja, daß sie im Voraus verurtheilt waren und daß Nichts sie zu retten vermochte.

Schon währten die Verhandlungen mehrere Stunden und nahmen bisher ihren regelmäßigen Verlauf, als ein Zwischenfall unerwartetes Licht über das Verhalten Simon Morgaz' verbreitete.

Einer der geladenen Zeugen, ein Herr Turner aus Chambly, erklärte, daß der Advocat mehrmals mit dem Chef des Hauses Rip & Cie. verhandelnd gesehen worden sei. Das wirkte wie ein erlösender Blitz. Walter Hodge und [34] Vaudreuil, welche schon eine Zeit lang aus dem merkwürdigen Benehmen Simon Morgaz' Verdacht geschöpft hatten, sahen diesen jetzt durch die Aussagen des Zeugen Turner bestätigt. Um die mit so vorsichtiger Geheimhaltung vorbereitete Verschwörung so kurzer Hand zu entdecken, mußte ein Verräther die Uebrigen denuncirt haben. Rip wurde nun mit Fragen bestürmt, welche er nicht ohne Verlegenheit beantworten konnte. Simon Morgaz seinerseits sachte sich zu vertheidigen, verwickelte sich aber dermaßen in Widersprüche und gab so eigenthümliche Erklärungen ab, daß die Ansicht der Verschworenen ebenso wie der Richter bald vollkommen feststand. Ein Elender hatte seine Genossen verrathen, und dieser Verräther war Simon Morgaz.

Da entstand eine nicht einzudämmende Bewegung auf der Bank der Angeklagten und verbreitete sich unter die Zuhörer, welche sich im Sitzungssaale drängten.

»Herr Präsident, sagte Walter Hodge, wir verlangen, daß Simon Morgaz von dieser Bank, die durch unsere Gegenwart geehrt, durch die seinige verunglimpft wird, entfernt werde! Wir wollen nicht länger durch die Berührung mit diesem Menschen beschmutzt werden.«

Vaudreuil, Clerc, Farran, wie die Uebrigen schlossen sich Walter Hodge an, der sich nicht zu halten vermocht und sich auf Simon Morgaz gestürzt hatte, welchen die Wachtposten vor seiner Wuth schützen mußten. Die Beisitzer nahmen ebenfalls Partei gegen den Verräther und verlangten entschieden, daß man den Reclamationen der Angeklagten Folge gebe. Der Gerichtspräsident mußte Befehl geben, Simon Morgaz zu entfernen und ihn ins Gefängniß zurückzuführen. Die Flüche, welche ihn begleiteten, die Drohungen, welche so Viele auf ihn schleuderten, bewiesen, daß man ihn für einen Elenden hielt, dessen Verrath den begeistertsten Verfechtern der canadischen Unabhängigkeit das Leben kosten sollte.

Wirklich wurden auch Walter Hodge, François Clerc, Robert Farran, welche man als die Hauptführer oder Leiter der Verschwörer von Chambly erkannte, zum Tode verurtheilt.

Am zweitfolgenden Tage, am 27. September, starben sie nach einem letzten Appell an den Patriotismus ihrer Brüder auf dem Schaffot.

Was die anderen Angeklagten betraf, unter denen sich auch Herr de Vaudreuil befand, so schenkte man diesen, ob sie nun minder belastet erschienen oder die Regierung nur die hervorragendsten Anführer mit der Todesstrafe [35] treffen wollte, noch das Leben. Zu ewiger Kerkerhaft verurtheilt, erhielten sie die Freiheit erst 1829 zurück, als eine Amnestie für alle politischen Verbrecher erlassen wurde.

Was aus Simon Morgaz nach der Urtheilsvollstreckung geworden war? Nachdem ihm ein Freilassungsbefehl gestattet, dem Gefängnisse in Montreal den Rücken zu kehren, beeilte er sich von der Bildfläche zu verschwinden.

Der Fluch der Allgemeinheit lastete aber auf seinem Namen und traf dabei auch die armen Wesen, welche an seiner Verrätherei doch völlig unschuldig waren. Bridget Morgaz wurde mit roher Gewalt aus dem Hause gejagt, das sie in Montreal bewohnte, ebenso aus dem in Chambly, wohin sie sich während der Untersuchung der Angelegenheit zurückgezogen hatte. Sie mußte auch ihre beiden Söhne wieder aufnehmen, welche aus dem Colleg ebenso verdrängt worden waren, wie ihr Vater von der Bank der Angeklagten im Gerichtssaale.

Als seine Frau mit den Kindern wieder mit ihm zusammengetroffen war, suchte Simon Morgaz seine ehrlose Existenz erst in einem entfernten Flecken, dann aber ganz außerhalb des Districts von Montreal zu verbergen.

Bridget hatte jedoch an das Verbrechen ihres Gatten gleichwenig glauben wollen, wie die Söhne an das ihres Vaters. Alle Vier hatten sich nach dem Dorfe Verchères in der Grafschaft dieses Namens am rechten Ufer des St. Lorenzo zurückgezogen. Sie hofften, daß kein Verdacht sie der öffentlichen Mißfälligkeit überliefern werde. Die Unglücklichen lebten hinfort von den letzten Hilfsmitteln, welche ihnen geblieben waren; denn obwohl Simon Morgaz durch Vermittlung des Hauses Rip den ihm für den Verrath zugesicherten Betrag empfangen hatte, hütete er sich doch, davon gegen seine Frau und seine Söhne etwas merken zu lassen. Ihnen gegenüber behauptete er fortwährend seine Unschuld und verdammte die Ungerechtigkeit der Menschen, welche ihn und seine Familie ins Elend gebracht habe. Mußte er denn nicht, wenn er Verrath geübt hatte, beträchtliche Summen zur Verfügung haben, oder würde er es mit angesehen haben, so weit herunterzukommen, wo das schlimmste Elend sich ihm raschen Schrittes näherte?

Bridget Morgaz hielt an dem Glauben fest, daß ihr Mann unschuldig sei. Sie freute sich fast ihrer Armuth, welche seinen Anklägern doch offenbar Unrecht gab. Der Schein war wohl gegen ihn gewesen... Man hatte ihm aber nicht gestattet sich auszusprechen... Er fiel nur einem schrecklichen Zusammentreffen äußerer Umstände zum Opfer... Eines Tages wird er sich schon rechtfertigen... Er war ja schuldlos!

[36] Die beiden Söhne angehend, so hätte man in ihrem Benehmen gegen das Haupt der Familie wohl gewisse Unterschiede wahrnehmen können. Der Aeltere, Joann, hielt sich meist sehr zurück und wagte gar nicht an den Schandfleck zu denken, der in Zukunft auf dem Namen Morgaz haften würde. Die für und wider sprechenden Umstände, welche sich seinem Geiste zuweilen aufdrängten, suchte er möglichst zu verscheuchen, um sie gar nicht mehr abwägen zu müssen. Er wollte über seinen Vater nicht zu Gericht sitzen, so sehr fürchtete er, daß sein Urtheil gegen ihn ausfallen könnte. Er schloß die Augen, schwieg und schlich von dannen, wenn seine Mutter und sein Bruder zu Jenes Gunsten sprachen... Offenbar befürchtete das bedauernswerthe Kind, den Mann, dessen Sohn er war, schuldig zu finden.

Johann dagegen nahm eine ganz abweichende Stellung ein. Er glaubte wirklich an die Unschuld des Genossen eines Walter Hodge, Farran und de Clerc, soviel Momente denselben auch zu belasten schienen. Erregbarer als Joann und minder Herr des eigenen Urtheiles, ließ er sich von den Instincten der Kindesliebe willenlos hinreißen. Er blieb eben gefesselt durch jene Bande des Blutes, welche die Natur so schwer löslich gemacht hat. Er wollte seinen Vater öffentlich vertheidigen. Als er die über Simon Morgaz geführten üblen Nachreden vernahm, drohte ihm das Herz zu zerspringen, und seine Mutter mußte ihn zurückhalten, um einen Scandal zu verhüten. So lebte die unglückliche Familie unter einem angenommenen Namen in Verchères – aber in tiefem moralischen und materiellen Elende, und man weiß nicht, zu welchen Excessen sich die Einwohnerschaft des Fleckens hätte hinreißen lassen, wenn ihre Vergangenheit zufällig entschleiert worden wäre.

So war in ganz Canada, in den Städten wie in den erbärmlichsten Dörfern, der Name Simon Morgaz zum entehrenden Schimpfworte geworden. Man stellte ihn ohne Bedenken mit dem eines Judas zusammen oder speciell mit den Namen Black's und Deins' de Vitré, welche in der Sprache der französischen Canadier schon längst mit der Bezeichnung Verräther gleichbedeutend waren.

Im Jahre 1759 nämlich hatte dieser Deins de Vitré, ein Franzose, die Infamie begangen, der englischen Flotte nach Quebec hinein als Lootse zu dienen und Frankreich dadurch diese Hauptstadt zu entreißen, und 1757 hatte jener Black, ein Engländer, den proscribirten Amerikaner Mac Long, der sich ihm anvertraut und der an der Bewegung der Canadier theilgenommen hatte, seinen [37] Feinden ausgeliefert. Der edle Patriot war gehenkt worden, und dann schnitt man ihm noch den Kopf ab und verbrannte seine Eingeweide, die aus dem Cadaver gerissen worden waren.

Wie man nun früher Black und Vitré gesagt hatte, so sagte man jetzt auch Simon Morgaz – drei Namen, welche dem öffentlichen Fluche verfallen waren.

In Verchères fingen die Bewohner jedoch bald an, sich über die Anwesenheit dieser Familie, deren Herkunft Niemand kannte, über deren geheimnißvolles Leben, über das Incognito, welches sie zu bewahren liebte, ernsthafter zu beunruhigen. Allmählich häufte sich gegen dieselbe ein gewisser Verdacht an, und eines Nachts wurde der Name Black an die Hausthüre Simon Morgaz' geschrieben.

Am folgenden Tage hatten seine Frau, die beiden Söhne und er Verchères verlassen. Nach Ueberschreitung des St. Lorenzo ließen sie sich einige Tage in einem der Dörfer des linken Stromufers nieder; dann als die Aufmerksamkeit der Leute sich mehr auf sie lenkte, vertauschten sie dieses mit einem anderen. Es war nur noch eine umherirrende Familie, an deren Sohlen sich die allgemeine Verwünschung heftete. Man hätte sagen können, daß die Göttin der Rache, eine lodernde Flamme in der Hand, sie ebenso verfolgte, wie in der biblischen Legende den Mörder Abel's. Da Simon Morgaz und die Seinigen nirgends festen Fuß zu fassen vermochten, durchzogen sie nacheinander die Grafschaften Assomption, Terrebonne, Deux Montagnes und Vaudreuil und gelangten so immer weiter nach Westen, in dünner bevölkerte Gegenden, wo ihnen endlich aber doch der wahre Name ins Gesicht geschleudert wurde.

Zwei Monate nach dem Urtheilsspruche vom 25. September hatten der Vater, die Mutter, Joann und Johann bis in die Gebiete von Ontario flüchten müssen. Von Kingston, wo sie in dem Gasthause, das ihnen Unterkunft gewährt hatte, erkannt wurden, mußten sie auf der Stelle weiter wandern. Simon Morgaz gewann kaum Zeit, unter dem Schutze der Nacht zu flüchten. Vergebens hatten Bridget und Johann sich bemüht, ihn zu vertheidigen. Sogar sie selbst konnten sich nur mit Mühe einer schlechten Behandlung entziehen, und Joann, der ihren Rückzug deckte, wäre dabei fast noch getödtet worden.

Alle Vier fanden sich am Rande des Sees, einige Meilen von Kingston, wieder zusammen. Sie beschlossen hier, dem Nordrande desselben zu folgen, um die Vereinigten Staaten zu erreichen, da sie selbst in Ober-Canada, welches eigentlich außerhalb des Einflusses der Reformer lag, keinen Schlupfwinkel mehr [38] fanden. Und doch erwartete sie jenseits der Grenze wahrscheinlich der nämliche Empfang, in einem Lande, wo man dem Verrathe eines Black gegen einen Bürger der amerikanischen Föderation nach immer fluchte.

Am besten wäre es also gewesen, ein unbekanntes Land zu finden, sich selbst inmitten eines Indianerstammes niederzulassen, bis wohin der Name eines Simon Morgaz jedenfalls noch nicht gedrungen war. Vergeblich. Der Elende wurde überall zurückgestoßen. Ueberall kannte man ihn, als ob er ein Kainszeichen an der Stirn trüge, das ihn der allgemeinen Verachtung bezeichnete.

Inzwischen nahte sich der November seinem Ende. Welch' mühselige Wanderschaft, wenn es nun galt, der schlechten Witterung, dem eisigen Winde, der schrecklichen Kälte Trotz zu bieten, welche den Winter in diesem Lande der Seen begleiten! Beim Durchzuge durch die Dörfer kauften die Söhne dann einige Lebensmittel, während der Vater sich außerhalb jener aufhielt. Sie schliefen, wenn es möglich war, im Grunde verlassener Hütten, sonst aber in Aushöhlungen von Felsen oder unter den Bäumen jener grenzenlosen Wälder, welche das Land bedecken.

Simon Morgaz wurde mit der Zeit immer düsterer und menschenscheuer; er hörte nicht auf, sich vor den Seinigen zu entschuldigen, als ob ein unsichtbarer Verfolger sich an seine Fersen geheftet und immer gerufen hätte: Verräther!... Verräther! Bald schien es, als wagte er gar nicht mehr seiner Frau und seinen Kindern ins Gesicht zu sehen. Bridget tröstete ihn wohl mit zärtlichen Worten, und wenn Joann noch immer Stillschweigen bewahrte, so hörte doch Johann nicht auf, sich auszusprechen.

»Vater!... Vater!... rief er wiederholt, lass' Dich nicht niederdrücken! Die Zeit wird die Verleumder noch entlarven!... Man wird erkennen, daß man sich geirrt... daß gegen Dich weiter nichts als der Schein spricht. Du, Vater, Du sollst Deine Freunde, Deine Heimat verrathen haben!...

– Nein!... Nein!... antwortete Simon Morgaz«, doch mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte.

Von Dorf zu Dorf irrend, gelangte die Familie so bis zum nördlichen Ende des Sees, einige Meilen vom Fort Toronto. Folgte sie von hier aus dem Ufer weiter, so galt es nur bis zum Niagaraflusse hinunter zu gehen und diesen an der Stelle, wo er sich in den See ergießt, zu überschreiten, um endlich am amerikanischen Ufer zu sein.

[39] Wollte Simon Morgaz hier wohl Halt machen oder schien es nicht rathsamer, weit tiefer nach Westen hinaus zu ziehen, um eine so entfernte Gegend zu erreichen, daß das Gerücht von seiner Infamie noch nicht bis dahin gedrungen sein konnte? Doch welchen Ort würde er dann wählen? Seine Frau und seine Kinder wußten darüber nichts, da er immer schweigend vor sich hinwanderte und sie ihm nur zu folgen hatten.

Am 3. December gegen Abend machten die Unglücklichen von Hunger und Anstrengung erschöpft in einer Höhle Halt, welche von Buschwerk und Dornen halb verdeckt war – wahrscheinlich ein zur Zeit verlassener Schlupfwinkel eines Raubthieres. Die wenigen ihnen noch verbliebenen Nahrungsmittel waren auf dem Sande ausgebreitet worden. Bridget brach unter der Bürde der physischen und moralischen Anstrengungen fast zusammen. Jedenfalls war es unumgänglich, daß die Familie Morgaz im nächsten Dorfe einige Tage die Gastfreundschaft eines Indianerstammes genießen mußte – ein Wunsch, den auch die Canadier jenen niemals abschlugen.

Vom Hunger zernagt, genossen Joann und Johann ein wenig kaltes Wild. An diesem Abend aber wollten oder konnten Simon Morgaz und Bridget nichts zu sich nehmen.

»Vater, Du mußt Deine Kräfte erhalten!« bat Johann.

Simon Morgaz antwortete nicht.

»Mein Vater, sagte da Joann – und das war das erste und einzige Mal, daß er seit dem Fortgange aus Cambly das Wort an ihn richtete – mein Vater, wir können nicht mehr weiter... Unsere Mutter würde jeder ferneren Anstrengung unterliegen. Jetzt befinden wir uns ja nahe der amerikanischen Grenze; willst Du auch noch über diese hinausgehen?«

Simon Morgaz blickte seinen älteren Sohn an und seine Augen senkten sich fast sogleich wieder. Joann fuhr fort:

»Sieh doch, in welchem Zustand unsere Mutter sich befindet! Sie kann kaum noch eine Bewegung machen! Diese Erschöpfung raubt ihr auch noch den letzten Rest von Willenskraft, der ihr vielleicht geblieben... Morgen wird es ihr unmöglich sein, sich zu erheben. Mein Bruder und ich, wir werden sie natürlich tragen... Doch müssen wir nun wissen, wohin Du ziehen willst, und das darf auch nicht allzufern sein. Hast Du darüber einen Entschluß gefaßt, Vater?«


Die Straße Petit-Champlain in Quebec.

Simon Morgaz antwortete nicht; er beugte den Kopf herab und zog sich in den Hintergrund der Höhle zurück.

[40] [43]Die Nacht war hereingebrochen. Kein Geräusch störte die Einsamkeit, dicke Wolken bedeckten den Himmel und drohten sich in einen gleichmäßigen Nebel umzuwandeln. Kein Windhauch strich durch die Luft, nur dann und wann unterbrach ein entferntes Geräusch das Todesschweigen dieser Einöde. Bald begann ein dichter Schnee zu fallen.

Da es ziemlich kalt war, sammelte Johann etwas dürres Holz, das er in einer Ecke nahe dem Eingang in Brand setzte, so daß der Rauch einen Abzug nach außen finden konnte.

Auf einem Lager von trockenem Laub, das Joann zusammengetragen, hingestreckt, blieb Bridget völlig unbeweglich. Das schwache Leben, welches noch in ihr wohnte, verrieth sich nur durch mühsame, von langen und schmerzlichen Seufzern unterbrochene Athemzüge. Während Joann ihre Hand gefaßt hielt, beschäftigte sich Johann, das Feuer zu schüren, um die Temperatur wenigstens auf erträglichem Grade zu halten.

Simon Morgaz, der sich halb liegend im Hintergrunde befand und dessen Züge die reinste Verzweiflung widerspiegelten, als habe er Abscheu vor sich selbst, machte ebenfalls keine Bewegung, während der Widerschein der Flammen sein krampfhaft zuckendes Gesicht beleuchtete.

Der Schein des Feuers verdüsterte sich allmählich und Johann fühlte, daß ihm die Augen wider Willen zufielen.

Er hätte nicht sagen können, wie viel Stunden er in dieser halben Betäubung verharrte, doch kaum erwacht, sah er, daß die letzten Kohlen eben verglimmen wollten.

Johann erhob sich, er warf einen Arm voll Zweige auf den Herd, den er durch Anblasen wieder in Brand setzte, und in der Höhle ward es wieder hell.

Bridget und Joann befanden sich nebeneinander wie vorher und verhielten sich noch immer regungslos. Simon Morgaz war nicht mehr da, ohne daß Jemand ahnte, wie er die Stelle verlassen habe, wo seine Frau und seine Söhne ruhten.

Von trübem Vorgefühl erfüllt, eilte Johann aus der Höhle, als ein scharfer Knall erfolgte.

Bridget und Joann richteten sich schnell auf; Beide hatten den Schuß vernommen, der offenbar nur in ganz geringer Entfernung abgefeuert wurde. Bridget stieß einen Schreckensschrei aus, sie erhob sich und trat, gestützt von ihren Söhnen, aus der Höhle.

[43] Alle Drei hatten noch keine zwanzig Schritte gemacht, als sie einen auf dem Schnee ausgestreckten Körper entdeckten.

Es war der des Simon Morgaz. Der Unglückliche hatte sich eine Pistolenkugel ins Herz geschossen.

Er war todt.

Joann und Johann wichen entsetzt zurück. Die Vergangenheit trat ihnen vor die Augen. Sollte es doch richtig sein, daß ihr Vater schuldig war, oder hatte er nur in einem Anfall von Verzweiflung diesem Leben, das er nicht mehr zu ertragen vermochte, ein Ende machen wollen?

Bridget hatte sich auf den Leichnam ihres Gatten geworfen, den sie in die Arme schloß... Sie wollte nicht an die Ehrlosigkeit des Mannes glauben, dessen Namen sie trug.

Joann hob seine Mutter auf und führte sie in die Höhle zurück, wo sein Bruder und er den Körper seines Vaters an derselben Stelle niederlegten, den dieser vor wenigen Stunden eingenommen hatte.

Eine Brieftafel war seiner Tasche entfallen; Joann hob sie auf, und beim Oeffnen derselben quoll ein starkes Packet Banknoten aus derselben hervor.

Das war der Preis, um den Simon Morgaz die Häupter der Verschwornen von Chambly verrathen hatte! – Die Mutter und die beiden Söhne konnten jetzt daran nicht mehr zweifeln.

Joann und Johann knieten neben Bridget nieder.

Jetzt gab es, angesichts der Leiche des Verräthers, der an sich selbst Gerechtigkeit geübt, nur noch eine gebrandmarkte Familie, deren Namen mit dem, der ihn entehrt, verschwinden sollte.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Ein Huronen-Notar.

Es hatte sehr triftige Gründe gehabt, daß der General-Gouverneur, Sir John Gosford, der Polizeiminister und der Oberst Gore im Palaste zu Quebec verhandelten, um die Maßregeln zu berathen, welche am geeignetsten schienen, [44] die Schliche der Patrioten aufzudecken und unwirksam zu machen, denn es lag auf der Hand, daß in kurzer Zeit eine Empörung der Bevölkerung französisch-canadischen Blutes ausbrechen würde.

Wenn aber Lord Gosford und seine Umgebung sich mit vollem Recht beunruhigt fühlten, schien das nicht der Fall zu sein mit einem jüngeren Manne, der am Morgen des 3. September in der Expedition des Herrn Nick, am Markte Bon-Secours in Montreal, mit einer Schreiberei beschäftigt war.

»Schreiberei« ist vielleicht nicht das richtige Wort, welches die fesselnde Arbeit verdiente, der sich der zweite Schreiber Lionel Restigouche in diesem Augenblick – gegen 9 Uhr morgens – hingab. Eine Reihenfolge ungleich langer Linien mit seinen Schriftzügen entstand da auf einem schönen Bogen bläulichen Papiers, das mit dem meist groben Actenpapier gar keine Aehnlichkeit zeigte. Zuweilen, wenn Lionel die Hand still hielt, um einen unklaren Gedanken erst zu überdenken, blickten seine Augen fast ziellos durch das halboffene Fenster und irrten dann nach dem auf dem Jacques Cartier-Platze zu Ehren des Admiral Nelson errichteten Denkmal. Dann belebte sich sein Auge, die Stirn erheiterte sich und die Feder eilte wieder weiter, während er den Kopf leise hin- und herwiegte, als schlüge er damit den Tact unter dem Einflusse eines regelmäßigen Rhythmus.

Lionel zählte kaum siebzehn Jahre. Sein fast weibliches Gesicht von ganz französischem Typus erschien recht hübsch; die blonden Haare waren vielleicht etwas lang, die blauen Augen erinnerten aber lebhaft an die Farbe der canadischen Seen. Hatte er keinen Vater und keine Mutter mehr, so ersetzte ihm der Notar Nick sozusagen Beide, denn er liebte den jungen Mann, als wäre er sein leiblicher Sohn.

Lionel befand sich allein in der Expedition; zu dieser Stunde kam Niemand, weder einer der Schreiber, welche meist noch einige Geschäftswege zu besorgen hatten, noch auch ein Client, obwohl das Bureau des Herrn Nick eines der besuchtesten der Stadt war. Lionel glaubte sich völlig sicher, jetzt nicht gestört zu werden, und benutzte fleißig diese Muße, bis er endlich seinen Namen mit einem wundervollen Schnörkel unter die letzte Zeile der Seite gesetzt hatte, als er sich plötzlich rufen hörte:

»Ah, was machst Du denn da, mein Junge?«

Es war Herr Nick, dessen Eintritt der junge Schreiber ganz überhört hatte, da ihn seine Contrebande-Arbeit völlig in Anspruch nahm.

[45] Lionels erste Bewegungen gingen dahin, einen Schubkasten zu öffnen, um das fragliche Papier darin verschwinden zu lassen. Der Notar hatte aber mit raschem Griffe das Schriftstück gefaßt, trotz des jungen Mannes, der dasselbe vergeblich wieder zu erlangen suchte.

»Was ist denn das, Lionel? Ein Entwurf... Eine Abschrift... Die Copie einer Urkunde?...

– Herr Nick, Sie dürfen mir glauben...«

Der Notar hatte die Brille aufgesetzt und mit Stirnrunzeln las er höchst erstaunt die beschriebene Seite.

»Was sehe ich denn da? rief er. Verschieden lange Linien!... Weiße Stellen auf der einen, weiße Stellen auf der anderen Seite. Wie viel Tinte ist hier verloren gegangen, wie viel seines Papier durch unnütze Ränder verschwendet worden!

– Herr Nick, antwortete Lionel bis zu den Ohren erröthend, das ist... rein aus Zufall... so gekommen.

– Was ist Dir aus Zufall gekommen?

– Verse...

– Verse!... Du ergehst Dich in Versen?... Alle Wetter, genügt Dir denn die ehrliche Prosa nicht mehr, eine Urkunde aufzusetzen?

– Es handelt sich hier nicht um eine Urkunde, wenn Sie erlauben, Herr Nick.

– Um was handelt es sich denn?

– Um ein Gedicht, welches ich für einen Wettbewerb in der »Freundes-Lyra« gemacht habe.

– Die Freundes-Lyra! rief der Notar. Bildest Du Dir vielleicht ein, ich hätte Dich in meine Expedition aufgenommen, um Dich als Mitbewerber in der Freundes-Lyra oder irgend einer anderen parnassischen Gesellschaft auftreten zu lassen? Hab' ich Dich deshalb zu meinem zweiten Schreiber erhoben, damit Du Dich Deiner verseschmiedenden Hitze hingeben solltest? Da könntest Du ja Deine Zeit ebenso gut verbringen, auf dem St. Lorenzo herumzugondeln oder als Stutzer in den Alleen von Montreal oder im St. Helenen-Parke einherzustolzieren! Wahrhaftig ein Poet im Notariat!... Der Kopf eines Schreibers in einer Weihrauchwolke!... Damit könnte man seine Kundenschon in die Flucht jagen.

– Zürnen Sie nicht, Herr Notar, antwortete Lionel bittenden Tones. Wenn Sie nur wüßten, wie vortrefflich sich unsere melodiöse französische Sprache zur[46] Poesie eignet! Sie bietet sich fast von allein an für jeden Rhythmus, jede Cadenz und den schönsten Wohlklang!... Unsere Dichter Lemay, Elzéar Labelle, François Mons, Chapemann, Octave Crémazie...

– Herr Crémazie, Chapemann, Mons, Labelle, Lemay versehen auch, so viel ich weiß, nicht die wichtigen Functionen eines zweiten Schreibers. Sie werden nicht, von Tisch und Wohnung ganz zu schweigen, mit sechs Piastern monatlich bezahlt, setzte Herr Nick hinzu. Sie haben keine Kaufcontracte, keine Testamente aufzusetzen und können also leicht nach Belieben pindarisiren.

– Herr Nick... nur ein einziges Mal...

– Schon gut, es mag ja sein... Du hast ein einziges Mal Laureat in der Freundes-Lyra werden wollen?

– Ja, Herr Nick, ich hatte diese thörichte Anmaßung.

– Und könnte ich erfahren, was Dein Gedicht eigentlich behandelt?... Gewiß eine dithyrambische Anrufung der Tabellionoppe, der Muse des vollkommenen Notars?

– O! stieß Lionel mit einer abwehrenden Handbewegung hervor.

– Nun also, wie betitelt es sich denn, Dein Reimgeklingel?

– »Das Irrlicht!«

– Das Irrlicht, rief Herr Nick; was, Du singst Irrlichter an?«

Der Notar schwebte schon in Gefahr, sich mit Poltergeistern, Elfen, Dämonen, mit Kobolden, Wassernixen, Asen, Gnomen und allen poetischen Gestalten der skandinavischen Mythologie umherschlagen zu müssen, als der Briefträger an der Thür klopfte und auch schon auf der Schwelle erschien.

»Ah, Sie sind es, guter Freund, sagte Herr Nick, ich hätte Sie bald für ein Irrlicht gehalten.


Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit. (S. 48.)

– Für ein Irrlicht, Herr Notar? antwortete der Briefträger. Sehe ich denn etwa aus wie...

– Nein!... Nein!... Sie sehen ganz aus wie ein Postbote, der mir einen Brief bringt.

– Hier ist er, Herr Notar.

– Ich danke, guter Freund.«

Der Briefträger zog sich in demselben Augenblicke zurück, wo der Notar nach einem Blick auf die Adresse das Schreiben hastig erbrach.

Lionel konnte jetzt sein Papier zurücknehmen und steckte es in die Tasche.

[47] Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit und drehte dann das Couvert noch einmal um, um den Stempel und das Datum nachzusehen. Der Umschlag trug den Stempel des Postamtes von Saint Charles, einem kleinen Flecken in der Grafschaft Verchères, und das Datum des 2. September, also des Vortages. Nachdem er wenige Augenblicke überlegt, kam der Notar auf seine Brandrede gegen die Dichter wieder zurück.

»Ah, Du huldigst den Musen, Lionel... Nun, zur Strafe wirst Du mich nach Leval begleiten und wirst unterwegs genügende Zeit haben, weitere Verse zu drechseln.

[48] – Drechseln, Herr Notar...

– Wir müssen binnen einer Stunde aufgebrochen sein, und wenn wir draußen auf dem Lande etwa Irrlichtern begegnen, so wirst Du denselben Dein Compliment machen.«

Hiermit begab sich der Notar in sein Cabinet, während Lionel sich zu dem kleinen Ausfluge vorbereitete, der ihm übrigens gar nicht mißfiel.


Einer der unzähligen Vettern des Meister Nick war Chef der Rothhäute. (S. 50.)

Vielleicht gelang es ihm dabei, seinen Herrn Principal auf wohlwollende Gedanken gegen die Poesie im Allgemeinen und auf die Schooßkinder Apollo's zu bringen, selbst [49] wenn diese Schreiber bei einem Notar waren. Im Grunde war dieser Herr Nick ein vortrefflicher Mann und hochgeschätzt wegen der Sicherheit seines Urtheils und der Verläßlichkeit seiner Rathschläge. Er zählte jetzt fünfzig Jahre. Seine einnehmenden Züge, das breite, meist strahlende Gesicht zwischen dem Wellenrahmen lockigen, früher sehr schwarzen, jetzt etwas mit Grau durchsetzten Haares, seine lebhaften freundlichen Augen, der Mund mit ausgezeichneten Zähnen, die lächelnden Lippen, das liebenswürdige Benehmen, endlich seine gute und als solche ansteckende Laune – alles das zusammen machte ihn zu einer allgemein beliebten Persönlichkeit. Als besondere Kennzeichen erwähnen wir die etwas düstre, ins Röthliche spielende Hautfarbe des Herrn Nick, welche die Vermuthung nahe legte, daß ein Theil Indianerblut in seinen Adern rollen möchte.

Das war wirklich der Fall und der Notar machte auch gar kein Hehl daraus. Er entstammte den ältesten Völkerschaften des Landes – denen, die hier ansäßig waren, ehe noch Europäer den Ocean überschritten hatten, um das Land einzunehmen. Jener Zeit wurden zwischen Abkömmlingen der französischen und solchen der eingeborenen Race viele Ehen geschlossen. Die St. Eastin, die Enaud, die Népifigny, die Entremont und Andere wurden zu Stammvätern neuer Geschlechter und stiegen sogar zu Häuptlingen wilder Stämme empor.

Herr Nick war durch seine Vorfahren also Hurone, d.h. er stammte aus einer der vier großen Familien des indianischen Zweiges ab. Obwohl er den Namen Nicolas Sagamore zu führen berechtigt gewesen wäre, nannte man ihn doch nur einfach Herr oder auch Meister Nick – er gab sich damit zufrieden und machte keine höheren Ansprüche.

Es war übrigens bekannt, daß seine Race keineswegs erloschen war. In der That herrschte einer seiner unzähligen Vettern als Häuptling der Rothhäute über eine der Huronensippen, welche sich meist im Norden der Grafschaft Laprairie, westlich des Districts von Montreal, aufhielt.

Man braucht sich nicht im Geringsten zu verwundern, daß solche Eigenthümlichkeiten noch immer in Canada angetroffen werden. Quebec hatte erst unlängst einen ehrenwerthen Amtsschreiber, der seiner Herkunft nach berechtigt gewesen wäre, den Tomahawk zu schwingen und den Kriegsschrei an der Spitze einer Irokesentruppe auszustoßen. Zum Glück gehörte Meister Nick nicht zu jenem Stamme treuloser Indianer, welche sich meist mit den Unterdrückern verbanden. Er hätte das gewiß auch sorgsam verhehlt. Nein, er als Sprößling der Huronen, welche mit den französischen Canadiern fast stets Freundschaft hielten, [50] hatte keine Ursache zu erröthen. Auch Lionel war stolz auf seinen Brotherrn, als unzweifelhaften Sprossen der großen Häuptlinge Amerikas, und er sehnte nur die Gelegenheit herbei, deren hohe Thaten in seinen Versen zu preisen.

In Montreal hatte Herr Nick fortwährend eine kluge Neutralität zwischen den beiden politischen Parteien bewahrt, da er ja weder französischer Canadier, noch Anglo-Amerikaner war. So schätzten ihn Alle, Alle holten sich bei ihm Rath, mit dem er nicht knauserisch feilschte. Man hätte fast glauben können, daß die angeerbten Instincte in ihm einer Veränderung unterlegen waren, denn bisher hatte er niemals etwas von den kriegerischen Neigungen seiner Race in sich aufkeimen gespürt. Er war eben nur Notar – ein vollkommener, gefälliger und gerne Frieden stiftender Notar. Uebrigens schien er nie das Verlangen empfunden zu haben, den Namen der Sagamores fortzupflanzen, denn er hatte sich bisher kein Weib erwählt, noch dachte er je an einen solchen Schritt.

Wie erwähnt, machte Herr Nick sich fertig, die Expedition in Begleitung seines zweiten Schreibers zu verlassen. Es handelte sich nur um einen Ausflug von wenigen Stunden, und seine alte Haushälterin Dolly sollte ihn zum Mittagessen erwarten.

Die Stadt Montreal ist auf der Südküste einer der Inseln des St. Lorenzo erbaut. Diese zehn bis elf Lieues lange und fünf bis sechs Lieues breite Insel nimmt einen ziemlich großen Raum in einer Ausweitung des Stromes, ein wenig thalaufwärts von der Einmündung des Ottawaflusses ein. Hier war es, wo Jacques Cartier das Indianerdorf Hochelaga entdeckte, welches 1646 durch den König von Frankreich der Congregation des heiligen Sulpiz eingeräumt wurde. Die Stadt, die ihren Namen von dem Mont-Royal, der sie beherrscht, herleitet, zählte, dank ihrer der Entwicklung des Handels sehr günstigen Lage, bereits im Jahre 1760 sechstausend Einwohner. Sie dehnt sich am Fuße des malerischen Hügels aus, aus dem man einen prächtigen Park geschaffen hat, welcher mit einem anderen auf dem Eilande St. Helena gelegenen Parke den Vorzug theilt, die größte Menge von Spaziergängern aus Montreal anzulocken. Eine schöne, drei Kilometer lange – 1837 aber noch nicht vorhandene – Röhrenbrücke verbindet die Stadt mit dem rechten Stromufer.

Montreal ist eine große Stadt geworden und zeigt einen moderneren Anstrich als Quebec, wodurch es gleichzeitig an malerischem Reiz einbüßen mußte. Eines Besuches werth sind daselbst entschieden die beiden Hauptkirchen, die amerikanische wie die katholische, ferner die Bank, die Börse, das allgemeine[51] Krankenhaus, das Theater, das Kloster Notre-Dame, die protestantische Universität Mac Gill's und das Seminar des heiligen Sulpiz. Die Stadt ist nicht zu groß für die hundertvierzigtausend Einwohner, welche sie augenblicklich zählt und unter denen das amerikanische Element auch heute nur den dritten Theil bildet – immerhin ein Verhältniß, welches das in anderen canadischen Städten noch übertrifft.

Im Westen erhebt sich das englische oder vielmehr schottische Quartier, welches die alten Bewohner des Landes »Die kleinen Röckchen« zu nennen pflegten, im Osten das französische. Die beiden Racen vermischten sich um so weniger, weil Alles, was mit Handel, Gewerbe oder Bankwesen zusammenhing – mindestens gegen das Jahr 1837 – einzig in den Händen von Banquiers, Gewerbetreibenden und Kaufleuten englischen Ursprungs vereinigt war.

Die herrliche Wasserstraße des St. Lorenzo trägt wesentlich bei zur Blüthe dieser Stadt, da sie diese nicht nur mit den Grafschaften von Canada, sondern auch mit Europa in Verbindung setzt, ohne daß in New-York eine Umladung zu Gunsten der Frachtschiffe der Alten Welt nothwendig wäre.

Nach dem Beispiele der reichen Handelsherren Londons trennen auch die Montreals gerne die Familienwohnung von dem Geschäftshause. Nach dem Schlusse des letzteren begeben sie sich nach den nördlichen Stadttheilen, nach den Abhängen des Mont-Royal oder der kreisförmigen Allee, welche seinen Fuß umrahmt. Hier erheben sich Privatgebäude, die zuweilen das Aussehen von Palästen haben, neben in lauschigem Grün versteckten Villen. Außerhalb dieser wohlhabenden Quartiere sind die Irländer sozusagen in ihren Ghetto der St. Anna, an der Mündung des Canals von Lachine, am linken Ufer des St. Lorenzo eingezwängt.

Herr Nick besaß recht ansehnliches Vermögen. Wie es die Vornehmen der Handelswelt thun, hätte auch er sich leicht wohl jeden Abend in eine der aristokratischen Wohnungen der oberen Stadt unter dem dichten Schatten von St. Antoine zurückziehen können. Er gehörte aber zu den Notaren alten Schlages, deren Horizont mit den Mauern ihrer Schreibstube zusammenfällt, und welche ihren Namen ganz besonders rechtfertigen, da sie Tag und Nacht Contracte, Urkunden und ihnen anvertraute Familienpapiere überwachen. Der Nachkomme der Sagamores wohnte also in seinem alten Hause des Marktplatzes Bon-Secours. Aus diesem trat er auch am Morgen des 3. September in Begleitung seines zweiten Schreibers, um den Wagen zu benützen, der regelmäßig den Dienst zwischen [52] der Insel Montreal und der Insel Jesus versieht, welche beide durch einen Mittelarm des St. Lorenzo getrennt sind.

Vorher begab Herr Nick sich nach dem Bankgebäude, wobei er breite, mit reichen Magazinen ausgestattete und von der Stadtverwaltung Montreals sorgsam gepflegte Straßen durchschritt. Vor dem Hotel der Bank angelangt, beorderte er Lionel, im Vorraume desselben zu warten, begab sich nach der Hauptcasse, kam nach Verlauf einer Viertelstunde wieder heraus und wendete sich nun nach dem Bureau des öffentlichen Fuhrwesens.

Der betreffende Wagen war eines jener mit einem Zweigespann ausgerüsteten Gefährte, welche man in canadischer Sprache »Buggies« nannte. Diese Art Wurstwagen mit vielleicht weichen, jedenfalls haltbaren Federn, sind darauf eingerichtet, die sehr harten Landstraßen ohne Schaden auszuhalten. Sie können etwa ein halbes Dutzend Fahrgäste aufnehmen.

»Ah, da ist ja unser Herr Nick! rief der Kutscher, als er von ferne den Notar bemerkte, der immer und überall mit dieser halb vertraulichen Anrede begrüßt wurde.

– In eigener Person und in Begleitung meines Schreibers, antwortete Nick in dem ihm geläufigen gutmüthigen Tone.

– Sie befinden sich doch wohl, Herr Nick?

– Gewiß, Tom. Achtet nur darauf, Euch ebenso wohl zu befinden wie ich. Richtet Euch nicht durch Arzneimittelchen zu Grunde!...

– Und auch nicht durch Aerzte, setzte Tom hinzu.

– Wann fahren wir ab? fragte Herr Nick.

– Sogleich.

– Haben wir noch Gesellschaft im Wagen?

– Bis jetzt nicht, erwiderte Tom, vielleicht aber kommt noch Jemand im letzten Augenblick.

– Ich wünschte es... Ja, ich wünschte es, Tom! Ich plaudere gerne ein wenig unterwegs, und habe die Bemerkung gemacht, daß man, um plaudern zu können, nicht allein sein darf.«

Aller Wahrscheinlichkeit nach sollte dieser so naiv ausgedrückte Wunsch des Herrn Nick aber unerfüllt bleiben. Die Pferde waren schon angespannt. Tom klatschte laut mit seiner Peitsche, doch kein Fahrgast fand sich im Bureau ein.

Der Notar nahm also im Wagen auf der hinteren Bank Platz und Lionel setzte sich schnell neben ihn. Einen letzten Blick warf Tom nach beiden Richtungen [53] der Straße hin, dann bestieg er seinen Sitz, ergriff die Zügel, pfiff seinen Thieren, und die rasselnde Maschine kam in Bewegung gerade zur Zeit, als einige Vorübergehende, welche Nick kannten – und wer kannte den vortrefflichen Mann auch nicht! – ihm noch glückliche Reise wünschten, was er durch eine dankende Handbewegung erwiderte.

Der Wagen klomm nach den oberen Stadttheilen hinan in der Richtung nach dem Mont-Royal; der Notar schaute ebenso aufmerksam wie der Rosselenker nach rechts und nach links hinaus, wenn beide auch verschiedene Gründe dafür hatten. Es schien aber, als ob gerade an diesem Morgen kein Mensch das Bedürfniß habe, sich nach dem Norden der Insel befördern zu lassen, noch Herrn Nick gesprächsweise Antwort zu geben. Nein, nicht ein einziger Gesellschafter, und doch hatte der Wagen bereits die Ringpromenade erreicht, welche zu dieser Tageszeit noch menschenleer zu sein pflegte, und bewegte sich unter mäßigem Trabe seines Gespanns längs derselben weiter.

Da rannte ein Individuum auf den Wagen zu und machte dem Kutscher Zeichen, die Pferde anzuhalten.

»Habt Ihr noch einen Platz? fragte er.

– Einen und auch »dree«, antwortete Tom, der seiner Gewohnheit nach diese Silbe nach canadischer Mundart aussprach, wie der gewöhnliche Mann für zwei bei uns »zwee« sagt.

Der Reisende nahm auf der Bank vor Lionel Platz, nachdem er Herrn Nick und dessen Schreiber gegrüßt hatte. Der Wagen rollte in langsamem Trabe weiter, und wenige Minuten später bei der Straßenbiegung am Mont-Royal verschwanden die mit Weißblech bedeckten Dächer der Stadt, welche in der Sonne wie ebenso viele silberne Spiegel erglänzten.

Der Notar hatte den neuen Ankömmling nicht ohne innere Befriedigung einsteigen sehen; so konnte man während der vier Lieues, welche Montreal vom oberen Arme des St. Lorenzo trennen, doch ein wenig plaudern. Es schien aber nicht, daß der Fahrgast in der Stimmung sei, sich in ein solches Gelegenheitsgespräch verwickeln zu lassen. Nachdem er sich Herrn Nick und Lionel kurz betrachtet, machte er es sich in seiner Ecke bequem und schien mit halb geschlossenen Augen seinen eigenen Gedanken nachhängen zu wollen.

Es war ein junger Mann von kaum neunundzwanzig Jahren. Der hohe Wuchs, die energischen Züge, der kräftige Körperbau, der männliche Ausdruck des Gesichtes mit der hohen Stirne und schwarzen Haaren darüber, stempelten [54] ihn zum vollständigen Typus der franco-canadischen Race. Wer er war, woher er komme – das wußte Meister Nick, der doch fast alle Welt kannte, nicht; jedenfalls hatte er ihn noch niemals gesehen. Betrachtete er den jungen Mann jedoch mit mehr Aufmerksamkeit, so schien es, daß derselbe trotz seiner jungen Jahre wohl schon manche harte Prüfung bestanden und sich durch die Schule des Unglücks hindurchgerungen habe.

Daß der Unbekannte der Partei angehörte, welche für die nationale Unabhängigkeit kämpfte, zeigte sich schon an seiner Kleidung. Er trug sich beinahe wie jene unerschrockenen Abenteurer, welche man noch jetzt mit dem Namen »Waldläufer« bezeichnet; den Kopf bedeckte eine blaue »Tuque«, und seine Kleider – eine Art über der Brust sich kreuzender Mantel, Beinkleider von grobem grauen Gewebe und an der Taille durch einen rothen Gürtel gehalten – bestanden einzig aus »Stoffen des Landes«.

Man erinnere sich hierbei, daß diese einheimischen Stoffe einem politischen Proteste gleichkamen, welcher die aus England eingeführten Manufacturwaaren ausschloß. Es war das einer der tausend Kniffe, um der Autorität der Hauptstadt zu trotzen, und dieses Beispiel war schon vor längerer Zeit einmal gegeben gewesen.

Hundertfünfzig Jahre früher hatten die Bostoner ja aus Haß gegen Großbritannien den Genuß des Thees in die Acht erklärt. Und so wie damals sich nur die Loyalisten nicht daran kehrten, so versagten sich jetzt die Canadier die Benutzung der im Vereinigten Königreich hergestellten Stoffe. Herr Nick in seiner Eigenschaft als Neutraler trug freilich Beinkleider von canadischer und einen Ueberrock von englischer Herkunft. In das patriotische Costüm Lionels hatte sich indeß kein Fädchen verirrt, das jenseits des Atlantischen Oceans gesponnen gewesen wäre.

Das Gefährt rollte indessen ziemlich schnell über die holprigen Wege der Ebenen, welche die Insel Montreal bis zum Mittellaufe des St. Lorenzo einnehmen. Wie schlich die Zeit langsam hin für Herrn Nick mit seiner plauderseligen Natur! Da der junge Mann aber nicht geneigt schien, das Wort zu ergreifen, mußte er sich schon auf Lionel beschränken, und that das in der Hoffnung, daß ihr Reisegefährte sich schon zuletzt in das Gespräch mischen werde.

»Nun also, Lionel, Dein Irrlicht? fragte er.

– Mein Irrlicht?... antwortete der junge Schreiber betroffen.

– Ja, ich sehe mir die Augen müde, kann aber auf der ganzen Ebene keines entdecken.


Tom klaschte laut mit seiner Peitsche. (S. 53.)

[55]

– Das liegt an der Helligkeit des Tages, Herr Nick, erklärte Lionel, entschlossen auf diesen scherzenden Ton einzugehen.

– Wenn wir vielleicht das alte Lied anstimmten:

Vorwärts, lustig, Bruder Kobold,

Vorwärts, lustig, Nachbar mein!...

Doch nein, der »Bruder« gibt keine Antwort. – Ei, Lionel, Du kennst doch wohl das Mittel, sich vor den Neckereien der Irrlichter zu schützen?

[56] – Gewiß, Herr Nick. Man braucht sie nur zu fragen, der wievielste Tag nach Weihnachten ist, und da sie das nicht gleich wissen, hat man Zeit, sich zu retten, während sie auf eine Antwort sinnen.

– Ich sehe, daß Du in den Ueberlieferungen bewandert bist. Nun vielleicht zeigt sich uns doch eines im Laufe der Fahrt, wenn wir ein wenig von dem plaudern, das Du in der Tasche eingesperrt hast«

Lionel erröthete leicht.

»Sie wollten... Herr Nick?... versetzte er.

[57] – Natürlich, mein Junge, das wird uns immerhin eine oder zwei Viertelstunden vertreiben.«

Dann wandte sich der Notar direct an den jungen Mann:

»Einige Verse werden Sie nicht belästigen, mein Herr? fragte er lächelnd.

– Nicht im mindesten! versetzte der Reisende.

– Es handelt sich um ein Gedicht, welches mein Schreiber angefertigt hat, um an einem Wettbewerbe in der Freundes-Lyra theilzunehmen. Diese jungen Bursche halten sich zu Allem fähig... Vorwärts denn, junger Poet; schieße los... wie die Artilleristen sagen!«


»Habt Ihr noch einen Platz?« (S. 54.)

Lionel, aufs höchste befriedigt einen Zuhörer zu haben, der vielleicht etwas nachsichtiger war, als Herr Nick, zog das bläuliche Papier hervor und las wie folgt:

Das Irrlicht.

Der unfaßbare Geisterlichschein,

Der Abends leuchtend sich erhebt,

Und der in tiefen nächt'gen Schatten,

Nicht auf dem Meer, nicht auf dem Land

Die schwächsten Spuren hinterläßt...


Dies Licht, bereit stets zu verlöschen,

Hier bläulichen, dort fahlen Scheins...

Um zu erloschen, was es wäre,

Müßt' Einer er erst fangen können,

Doch fangt mir nur ein Irrlicht ein!


– Ja, fiel Herr Nick ein, fange es nur und ziehe es auf Flaschen. Na, fahre nur fort, Lionel.

Man sagt – wer mag genau es wissen?

Der Wasserstoff des Bodens sei's;

Ich glaube eh'r, daß es im Fluge

Von himmelweiten Sternen herkommt

Von Vega, Lyra, von Algol.


– Das sieht Dir ähnlich, mein Junge, sagte Meister Nick kopfnickend. Ja, das ist so Deine Sache!
Lionel fuhr fort:

Doch ist's nicht einer Sylphe Athem,

Nicht eines Kobolds glüh'nder Hauch,

Der leuchtend aufzieht und verschwindet,

Wenn sich verhüllt die weite Eb'ne

Im Dämmerlicht des Morgenscheins?


[58]

Ist es etwa von Geisterfackeln

Ein feiner Strahl, der sich auf's Stroh

Des Kelterhauses niedersenkte,

Sobald der Mond mit fahlem Glanze

Am Abendhorizont sich hebt?


Vielleicht die leuchtend reine Seele

Von einer Fee, die Frieden sucht

Weit außerhalb der bösen Erde,

Und gleich der Sammlerin von Aehren,

Die furchtlos suchend weiter zieht?


– Vortrefflich, fiel Herr Nick ein. Bist Du zu Ende mit Deinen beschreibenden Vergleichen?
– O nein, Herr Nick«, antwortete der junge Schreiber.
Dann fuhr er mit folgenden Worten fort:

Wär's nur die Wirkung eines Spiegels,

Die Folge von bewegter Luft

Am minder hellen Horizonte,

Wär' es nach tobendem Gewitter

Der letzte Schein von einem Blitz?


Stammt es von einer Feuerkugel,

Von einem Himmelsmeteor,

Das bei dem Fluge durch die Lüfte

Ein glüh'nder Körper erst gewesen,

Von dem nun gar nichts übrig blieb?


Ach, oder ist es auf dem Felde,

Dess' Furchen es so schwach bescheint,

Aus fernen Nordlichts Farbenkranze

Verirrt nur eine Strahlenlanze,

Gleich einem nächt'gen Schmetterling?


»Was denken Sie wohl über diesen Troubadour-Wortschwall, mein Herr? fragte Meister Nick hier den Reisenden.

– Ich denke, mein Herr, erwiderte dieser, daß Ihr junger Schreiber mit nicht geringer Phantasie begabt ist, und bin wirklich neugierig, womit er sein Irrlicht noch weiter vergleichen könnte.

– Lies weiter, Lionel!«

Lionel hatte leise erröthend den Lobspruch des jungen Mannes angehört, und mit schwach zitternder Stimme fuhr er fort:


[59]

Wär' es in diesen Todesstunden,

Wo, was da lebt, ermattet schläft,

Ein Banner mit gebroch'nen Falten,

Das hier ein Engel zum Gedächtniß

Der Hingeschied'nen flattern läßt?


»Brr!...« machte Herr Nick.

Ach, oder ist's in dunklen Nächten,

Wenn die bestimmte Stunde kam,

Ein deutungsvolles Flammenzeichen,

Das uns're Erde aus dem Schatten

Zum unbekannten Himmel schickt?


Das wie ein Leuchtthurm am Gestande

Den Geistern, die die Weltenräume

Verirrt durchwandern, hilflos suchend,

Die fernen, weiten Himmelsthore,

Den Hafen alles Ird'schen zeigt?


»Sehr gut, junger Dichter! sagte der Fremde.

– Ja, ja, nicht gerade schlecht, fügte Herr Nick hinzu. Wo der Teufel, Lionel, wo nimmst Du denn das Alles her?... Es ist nun wohl zu Ende?

– Nein, Herr Nick, entgegnete Lionel, und mit mehr gehobener Stimme las er:


Doch wär's die Liebe, junge Dirne,

Die deine Augen blendensoll – –

Beeile dich, um zu entfliehen,

Behüt' das Herze dein – das Feuer

Des Irrlicht's glänzt, doch wärmt es nicht!


»Da hätten wir sie ja, die jungen Mädels! rief Herr Nick; es hätte mich auch schier verwundert, wenn in diesen anakreontischen Accorden ganz und gar nicht von Liebe die Rede gewesen wäre. Nun freilich, bei seinen Jahren!... Was denken Sie darüber, mein Herr?

– Nun, in der That, antwortete der Reisende, ich hege die Ueberzeugung...«

Der junge Mann unterbrach sich beim Anblick einer Gruppe an der Böschung der Straße stehender Männer, von denen einer dem Kutscher ein Zeichen gab, anzuhalten.

Dieser parirte die Pferde und die Männer näherten sich dem Wagen.

»Ah, da ist ja Herr Nick, wenn ich nicht irre, rief einer der Leute, höflich den Hut ziehend.

[60] – Und da der Herr Rip!« erwiderte der Notar, der heimlich hinzu setzte:

»Alle Teufel, jetzt heißt's sich in Acht nehmen!«

Zum Glück bemerkten weder Herr Nick noch sein Schreiber oder der Führer des Wagens die Veränderung, welche in der Physiognomie des Unbekannten vor sich ging, als der Name Rip ausgesprochen wurde. Sein Gesicht war blaß geworden, zeigte aber nicht die Blässe des Schreckens, sondern die, welche durch einen entsetzlichen Abscheu erzeugt wird. Augenscheinlich durchzuckte ihn der Gedanke, sich auf den Mann zu stürzen. – Er wandte aber den Kopf ab, und so gelang es ihm, sich zu beherrschen.

»Sie sind wohl auf dem Wege nach Laval, Herr Notar? nahm Rip wieder das Wort.

– Wie Sie sehen, Herr Rip; Geschäfte, die mich dort wenige Stunden aufhalten werden, doch hoff' ich, noch diesen Abend in Montreal zurück zu sein.

– Das liegt ja ganz bei Ihnen.

– Und was machen Sie da mit Ihren Leuten? fragte Meister Nick. Immer auf der Lauer zum Besten der Regierung! Hatten Sie etwa Missethäter verhaftet? Bah, da ist leicht verhaften, wenn diese sich wie das Unkraut vermehren! Wahrlich, diese Sorte thäte besser, sich einmal zu achtbaren Leuten zu verwandeln...

– Ganz recht, mein Herr Nick, doch dazu fehlt ihnen der Beruf.

– Der Beruf! Immer der alte Witzbold, der Herr Rip. Sind Sie vielleicht aber auf der Spur eines Staatsverbrechers?

– Verbrecher für die Einen und Held für die Anderen, erklärte Rip, das kommt auf den Gesichtspunkt an.

– Was haben Sie denn läuten hören?

– Man hat von der Insel aus die Anwesenheit des berüchtigten Johann ohne Namen gemeldet...

– Ah, der berühmte Johann ohne Namen! Ja, die Patrioten haben ihn zum Helden gestempelt, und das mit gutem Grunde. Es scheint jedoch, Ihre allergnädigste Majestät ist nicht derselben Ansicht, da der Minister Gilbert Argall Sie auf die Suche nach ihm geschickt hat.

– Ganz richtig, Herr Nick.

– Und Sie sagen, man habe ihn, den geheimnißvollen Agitator, auf der Insel Montreal gesehen?

[61] – Man behauptet das wenigstens, antwortete Herr Rip, obwohl ich anfange daran zu zweifeln.

– O, wenn er dahin gekommen ist, wird er auch schon wieder über alle Berge sein, versetzte Meister Nick; oder wenn er noch da wäre, wird er sich nicht mehr lange aufhalten. Johann ohne Namen ist nicht so leicht zu haschen!

– Ein wahres Irrlicht, fiel hier der Reisende ein, sich an den jungen Schreiber wendend.

– Ah, gut, sehr gut! rief Herr Nick; bedanke Dich, Lionel! – Doch was ich sagen wollte, Herr Rip, wenn Sie auf ein Irrlicht treffen sollten, so suchen Sie es am Kragen zu nehmen, um es meinem Schreiber zu überbringen. Es müßte einer solchen wandelnden Flamme einen Heidenspaß machen, zu hören, wie ein solcher Schüler Apoll's sie behandelt.

– Das würde mit Vergnügen geschehen, antwortete Rip, wenn wir nicht verpflichtet wären, ohne Verzug nach Montreal zurückzukehren, wo ich neue Instructionen erwarte.«

Dann wandte er sich an den jungen Mann.

»Und dieser Herr begleitet Sie?...

– Bis nach Laval, sagte der Unbekannte.

– Wohin zu kommen, ich große Eile habe, setzte der Notar hinzu. Auf Wiedersehen, Herr Rip; wenn es mir unmöglich ist, Ihnen guten Erfolg zu wünschen, denn die Gefangennahme Johanns ohne Namen würde den Patrioten zu viel Schmerz bereiten, so wünsch' ich Ihnen wenigstens guten Tag.

– Und ich Ihnen glückliche Reise, Herr Nick!«

Die Pferde setzten sich wieder in Trab; Rip und seine Leute verschwanden hinter der Biegung der Straße.

Einige Augenblicke später sagte der Notar zu seinem Gefährten, der sich wieder in die Ecke des Wagens geworfen hatte:

»Ja, ich hoffe wirklich, daß sich jener Johann ohne Namen nicht fangen läßt! Seit der langen Zeit, da man ihn sacht...

– Man soll ihn nur suchen! rief Lionel. Dieser vermaledeite Rip wird schon noch den Ruf seiner Gewandtheit zu Markte tragen!

– Mund halten, Lionel, so etwas geht Dich nichts an.

– Dieser Johann ohne Namen ist ohne Zweifel gewöhnt, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen? fragte der Reisende.

[62] – Wie Sie sagen, mein Herr. Wenn er sich fangen ließe, wäre es ein großer Verlust für die franco-canadische Partei...

– Thatkräftige Leute werden ihm nicht fehlen, Herr Nick.

– Mag sein, antwortete der Notar. Ich habe mir indeß sagen lassen, daß das sehr bedauerlich wäre. Uebrigens bekümmere ich mich nicht mehr um Politik als Lionel, und es ist am besten, von diesem Thema nicht zu reden.

– Doch, nahm der junge Mann das Wort, wir sind in dem Augenblick unterbrochen worden, wo Ihr junger Schreiber sich seiner poetischen Begeisterung ganz überließ...

– Er wird mit seiner Begeisterung hoffentlich zu Ende sein, denke ich?...

– Nein, Herr Nick, erwiderte Lionel, dem wohlwollenden Zuhörer durch ein Lächeln dankend.

– Was, Du hast Dich damit ganz außer Athem gelaufen?... rief der Notar. Da haben wir ein Irrlicht, das nach und nach Sylphide, Kobold, Fee, Gespenst, leuchtende Seele, Spiegel, Blitz, Feuerkugel, Strahl, Banner, Leuchtfeuer, Liebesfunken geworden ist; ist das noch nicht genug? Wahrlich, ich frage mich vergeblich, was es dann noch werden könnte.

– Ich wäre begierig, das zu hören, bemerkte der Reisende.

– Na, so fahre denn fort, Lionel, fahre fort und höre auf, wenn diese Nomenclatur überhaupt einmal ein Ende findet.«

An die Scherzreden seines Principals gewöhnt, fühlte sich Lionel hiervon nicht besonders getroffen und las weiter wie folgt:


Was du auch seist, Blitz, Windhauch, Seele,

Um dein Geheimniß aufzuhell'n,

Du Wunderfeuer, würd' ich gerne

Aufgehen ganz in deiner Flamme,

Um dir zu folgen allerwärts...


Ob du nun klimmst zur Bäumekrone,

Mit deiner Flügelstirn sie schmückst,

Ob du, geheimem Winke folgend,

Den kalten Marmor still umschmeichelst,

Der auf verlass'nem Friedhof steht,


»Traurig! Traurig!« murmelte der Notar.

Ob du nun längst der Raaen kletterst,

Auf Schiffen, die der Welle Sturm,

Der heulende, zum Wrack geschlagen,

Und ob du durch das Tauwerk huschest,

fast einer glüh'nden Möve gleich...


[63]

Doch ganz würd' ich mich erst vereinen

Mit dir, wär' mir das Schicksal hold,

Und könnte ich, so wie ich's wünschte

Mit dir entsteh'n, du Wandelflamme,

Mit dir vergeh'n, du irrend Licht!


»Was sagen Sie dazu, mein Herr?

– Mein Herr, erwiderte der Reisende, ich mache dem jungen Poeten mein Compliment und wünsche, daß ihm der Lorbeerkranz in der Freundes-Lyra zufalle. Doch, wie dem auch sei, seine Verse haben uns ein Stündchen angenehm hinweggetäuscht, und ich erinnere mich kaum der Fahrt, die mir, mein' ich, nie so kurz vorgekommen wäre.«

Höchst geschmeichelt, steckte Lionel die Lobsprüche, die der junge Fremde ihm ertheilte, mit großer Selbstzufriedenheit ein. Im Grunde war auch Herr Nick recht zufrieden mit den Erfolgen, die seinem jungen Schreiber zutheil wurden.

Während dessen war der Wagen ziemlich schnell vorwärts gekommen, und es schlug kaum elf Uhr, als er den nördlichen Arm des Stromes erreichte.

Zu jener Zeit waren schon die ersten Dampfschiffe auf dem St. Lorenzo erschienen.

Sie waren weder stark noch besonders schnell und erinnerten mit ihren beschränkten Größenverhältnissen mehr an die Dampfschaluppen, die man in Canada heutzutage mit dem Namen »Tug-boat« oder kurz mit dem Worte »Toc« bezeichnet.

Binnen wenigen Minuten hatte ein solcher Toc Herrn Nick nebst seinem Schreiber und den Fremdling über den Mittellauf des Stromes befördert, dessen grünliches Wasser sich noch mit den mehr schwärzlichen Fluthen des Ottawa vermengte. Hier trennte man sich nach Austausch einiger höflicher Redensarten und warmer Händedrücke. Während der Reisende sich geraden Wegs nach den Straßen von Laval wandte, umschritten Herr Nick und Lionel die Stadt und begaben sich nach dem Osten der Insel Jesus.


Clary de Vaudreuil.
[64]
4. Capitel
Viertes Capitel.
Die Villa Montcalm.

Die Insel Jesus, zwischen den beiden oberen Armen des St. Lorenzo gelegen und minder umfangreich als die Insel Montreal, enthält immerhin mehrere Kirchspiele. Sie umfaßt die Grafschaft Laval – deren Namen auch [65] die große katholische Universität von Quebec, und zwar zur Erinnerung an ihren ersten, im canadischen Lande eingesetzten Bischof, trägt.

Laval ist ebenso der Name der Hauptortschaft der Insel Jesus und liegt an deren südlichem Ufer. Die Wohnung des Herrn de Vaudreuil gehörte zwar zu demselben Kirchspiele, lag aber eine Lieue am St. Lorenzo stromaufwärts.

Es war das ein Haus von freundlichem Aussehen, umgeben mit einer Parkanlage von etwa fünfzig Acker 1 Ausdehnung und bedeckt mit Wiesengründen und hohem Baumbestande, dessen Grenze das Ufer des Stromes selbst bildete. Durch seine architektonische Anordnung wie durch die Einzelheiten der Ausschmückung unterschied es sich deutlich von jener angelsächsischen Gothik, welche einst vielfach zu Ehren Großbritanniens beliebt war. Hier war der französische Geschmack vorherrschend, und wäre nicht der rasche gurgelnde Wasserlauf gewesen, der zu ihren Füßen hintoste, so hätte man glauben können, daß die Villa Montcalm – so hieß das Gebäude – sich an den Ufern der Loire, in der Nachbarschaft von Chenonceaux oder von Amboise erhebe.

Stark betheiligt bei den letzten reformatorischen Erhebungen in Canada, hatte Herr de Vaudreuil auch zu dem Complot gehört, dem der Verrath jenes Simon Morgaz ein so tragisches Ende bereitete, indem dadurch Walter Hodge, Robert Farran, François Clerc das Leben und die übrigen Verschworenen die Freiheit einbüßten.

Einige Jahre später wurden den Letzteren übrigens in Folge eines allgemeinen Gnadenerlasses die Kerkerthüren wieder geöffnet, und Herr de Vaudreuil war nach seiner Besitzung auf der Insel zurückgekehrt.

Die Villa Montcalm war am Ufer des Stromes erbaut. In den Wellen der Ebbe und Flut badeten sich die ersten Stufen der vorderen Terrasse, welche eine elegante Veranda vor der Front des eigentlichen Wohnhauses überdeckte. Weiter rückwärts unter dem stillen Schatten des Parkes unterhielt der Luftzug vom Flusse her eine erquickende Frische, welche die heißen Tage des canadischen Sommers erträglicher machte. Wer Liebhaber der Jagd oder des Fischfanges war, hätte diesen Zerstreuungen hier vom Morgen bis zum Abend nachgehen können. An Wild gab es Ueberfluß auf den Ebenen der Insel, ebenso wie an Fischen in den Buchten des St. Lorenzo, der auf den langen Wellenlinien der Laurentidenkette am linken Ufer von einem breiten grünen Rahmen eingefaßt war.

[66] Diesen noch so echt französisch gebliebenen Landstrich hätten die Franco-Canadier recht wohl noch Neu-Frankreich nennen können. Sitten und Gebräuche waren hier noch dieselben wie im 17. Jahrhundert. Ein englischer Schriftsteller, Russel, konnte mit Recht sagen: »Unter-Canada gleicht weit mehr einem Frankreich aus alter Zeit, über dem das Lilienbanner flatterte.« Ein französischer Autor, Eugène Réveillaud schrieb: »Hier ist die Zufluchtstätte der alten Herrschaft. Es ist eine Bretagne oder eine Vendée von vor sechzig Jahren, die sich jenseits des Oceans ausdehnt. Auf dem Festlande Amerikas hat der Bewohner hier mit besonders vorsichtiger Sorgfalt ebenso die geistigen Anschauungen und den naiven Glauben, wie den Aberglauben seiner Väter zu bewahren gewußt.« – Dieses Urtheil ist auch noch für die Jetztzeit zutreffend, wie es gleichfalls wahr ist, daß die französische Race sich in Canada sehr rein und ohne Vermischung mit fremdem Blute erhalten hat.

Bei seiner Heimkehr nach der Villa Montcalm, gegen 1829, befand sich Herr de Vaudreuil in Verhältnissen, welche ihm ein glückliches Leben gewährleisteten. Obwohl sein Vermögen nicht beträchtlich war, sicherte es ihm doch ein bequemes Auskommen, das er hätte in Ruhe genießen können, wenn ihn sein glühender Patriotismus nicht immer wieder in den Bannkreis der politischen Agitation gedrängt hätte. Wo diese Erzählung beginnt, zählte Herr de Vaudreuil siebenundvierzig Jahre. Sein grau melirtes Haar ließ ihn vielleicht etwas älter erscheinen; der lebhafte Blick, die glänzenden tiefblauen Augen, die mächtige Gestalt, die kräftige Constitution, die ihm eine unerschütterliche Gesundheit verbürgte, die ansprechende wohlwollende Physiognomie und das wohl etwas stolze, aber keineswegs hochmüthige Auftreten machten ihn zum unverkennbaren Typus eines französischen Edelmannes. Er war sozusagen der leibhaftige Nachkomme jener unternehmenden Adelsgeschlechter, welche im 15. Jahrhundert den Atlantischen Ocean überschritten, der Sohn jener Gründer der schönsten überseeischen Colonien welche die verächtliche Gleichgiltigkeit Ludwigs XV. auf die Ansprüche Großbritanniens hin abgetreten hatte.

Seit zehn Jahren schon war Herr de Vaudreuil Witwer; der Tod seiner Gattin, die er mit tiefer Zärtlichkeit liebte, ließ in seinem Leben eine stets schmerzlich empfundene Lücke zurück. Jetzt widmete er seine Sorgfalt ausschließlich seiner einzigen Tochter, in der die muthige edle Seele der Mutter wieder aufs neue auflebte.

Zu jener Zeit war Clary de Vaudreuil zwanzig Jahre alt. Ihre zierliche Gestalt, das dichte, fast schwarze Haar, die großen brennenden Augen, der trotz [67] seiner Blässe noch warme Teint und das etwas ernsthafte Aussehen machten sie weniger schön als hübsch, mehr imponirend als anziehend, wie verschiedene Heroinen Fennimore Cooper's. Gewöhnlich bewahrte sie eine kühle Zurückhaltung, oder richtiger, ihr ganzes Sein und Wesen concentrirte sich nur in der einen Liebe, die sie bis jetzt gefühlt, in der Liebe zu ihrem Vaterlande.

In der That, Clary de Vaudreuil war eine echte Patriotin. Während der Bewegungen, die sich 1832 und 1834 abspielten, verfolgte sie die verschiedenen Phasen des Aufstandes mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Führer der Opposition betrachteten sie auch als die entschlossenste der zahlreichen jungen Mädchen, die mit Leib und Seele der nationalen Sache ergeben waren, und als die politischen Freunde des Herrn de Vaudreuil sich in der Villa Montcalm zusammenfanden, nahm Clary an den Verhandlungen stets theil, und wenn sie sich mit dem Worte nur sehr bescheiden einmischte, so hörte sie und beobachtete sie doch Alles und widmete ihre Kräfte dem Schriftwechsel der Reformer-Comités. Alle französischen Canadier hatten zu ihr das festeste Vertrauen, weil sie solches verdiente, und bewahrten ihr die achtungsvollste Freundschaft, weil sie derselben würdig war.

In diesem leidenschaftlichen Herzen war indessen neben der Liebe zum Vaterlande noch eine andere Liebe aufgelodert – eine ideale und eigentlich gegenstandslose Liebe, denn sie kannte nicht einmal den, dem dieselbe galt.

Sowohl 1831 wie 1834 hatte eine geheimnißvolle Persönlichkeit eine hervorragende Rolle in den Aufstandsversuchen jener Zeit gespielt. Derselbe hatte seinen Kopf mit einer Kühnheit, einem Muthe und einer Entschlossenheit zu Markte getragen, welche auf empfindsame Naturen ihren Eindruck nicht verfehlen konnten. In der ganzen Provinz Canada nannte man seinen Namen mit heller Begeisterung – oder vielmehr eine ihm allein verbliebene Bezeichnung, denn man nannte ihn nicht anders als Johann ohne Namen. An den Tagen des Kampfes stand er gewiß im dichtesten Gewühle; nach Beendigung desselben war er spurlos verschwunden. Man empfand es jedoch, daß er auch im Dunklen weiter wirkte, daß seine Hand niemals ruhte, die Zukunft vorzubereiten. Vergebens hatten die Behörden sich bemüht, seinen Zufluchtsort auszuspähen; selbst das Haus Rip & Cie. holte sich bei den Nachsuchungen nach ihm nur beschämende Schlappen. Uebrigens wußte man nichts von der Herkunft dieses Mannes, so wenig wie von seinem dermaligen als auch von seinem früheren Leben. Nichtsdestoweniger ließ sich gar nicht verkennen, daß er auf die französisch-canadische [68] Bevölkerung einen geradezu mächtigen Einfluß ausübte. So hatte sich um seine Person eine wirkliche Legende gewebt, und die Patrioten harrten immerfort darauf, ihn erscheinen und die Fahne der Unabhängigkeit entfalten zu sehen.

Die Thaten dieses namenlosen Helden hatten auf den Geist Clary de Vaudreuil's einen höchst lebhaften und tiefreichenden Eindruck gemacht. Ihre geheimsten Gedanken flüchteten immer und immer nur zu ihm. Sie verehrte ihn gleich einem überirdischen Wesen; sie lebte vollständig in dieser mystischen Gemeinschaft, und indem sie Johann ohne Namen mit der edelsten Liebe anhing, schien es ihr, als ob sie damit ihr Vaterland nur noch mehr liebte. Diese Empfindung verschloß sie jedoch sorgfältig in ihrem Herzen. Wenn ihr Vater sie durch die Baumgänge des Parkes wandeln und ihren Gedanken nachhängen sah, so konnte er gar nicht auf den Gedanken kommen, daß sie von dem jungen Patrioten träumte, in dem sich in ihren Augen die canadische Revolution verkörperte.

Unter den politischen Freunden, welche sich am häufigsten in der Villa Montcalm versammelten, trafen sich zu friedlichem Meinungsaustausch auch einige derjenigen, deren Eltern oder Verwandte mit Herrn de Vaudreuil an dem so schlimm endenden Complot von 1825 theilgenommen hatten.

Aus diesem Freundeskreise haben wir vor Allem André Farran und William Clerc zu erwähnen, deren Brüder, Robert und François, am 26. September 1825 das Schaffot bestiegen hatten; ferner Vincent Hodge, den Sohn Walter Hodge's, jenes amerikanischen Patrioten, der für die Sache Canadas gestorben war, als Simon Morgaz an ihm und seinen Genossen jenen schändlichen Verrath begangen hatte. Außer diesen stellte sich auch ein Advokat aus Quebec – derselbe, in dessen Haus sich Johann ohne Namen hatte aufhalten sollen, welche falsche Nachricht dem Agenten Rip zugegangen war – zuweilen bei Herrn de Vaudreuil ein.

Der heftigste Widersacher der Unterdrücker war ohne Zweifel Vincent Hodge, damals zweiunddreißig Jahre alt. Von Vaters Seite her amerikanischen Blutes, hatte er von seiner Mutter, die nach dem Tode ihres Gatten bald aus Kummer starb, auch französisches Blut in den Adern. Vincent Hodge hatte nicht lange in der Nähe Clary Vaudreuil's sein können, ohne sie erst bewundern, dann aber lieben zu lernen, was Herrn Vaudreuil gar nicht zu mißfallen schien. Vincent Hodge war ein vornehmer junger Mann, der überall gern gesehen wurde wegen seines angenehmen Wesens, wenn dieses auch zuweilen von den etwas derben Zügen des Yankees von der Grenze durchbrochen wurde. Soweit [69] die Ausdauer der Empfindung, die Ehrlichkeit seiner Neigung und sein persönlicher Muth in Frage kamen, hätte Clary de Vaudreuil gar keinen ihrer mehr würdigen Gatten erwählen können. Das junge Mädchen hatte jedoch gar nicht bemerkt, daß sie das Ziel seines Strebens sei. Zwischen Vincent Hodge und ihr konnte es nur ein Band geben – das der Vaterlandsliebe. Sie schätzte wohl seine Eigenschaften – lieben konnte sie ihn nicht. Ihre Gedanken und Wünsche gehörten ja einem Andern, jenem Unbekannten, auf den sie wartete und der schon eines Tages vor ihr erscheinen werde.

Inzwischen beobachteten Herr de Vaudreuil und seine Freunde mit Aufmerksamkeit die Bewegung der Geister in den canadischen Provinzen. Bezüglich der Loyalisten hatte sich die öffentliche Meinung zum Glühen erhitzt. Sie ging jetzt nicht mehr auf ein sogenanntes Complot allein hinaus wie 1825, wo es sich nur um einen Gewaltstreich gegen den Gouverneur handelte – jetzt hatte sich noch, unter dem Schleier verhüllt, eine allgemeine Verschwörung herausgebildet. Zum Losbrechen derselben fehlte nur noch, daß ein Anführer der Rebellion in den verschiedenen Kirchspielen zu den Waffen rief; auch unterlag es keinem Zweifel, daß Herr de Vaudreuil und seine Freunde dann sofort in die vorderen Reihen der Insurgenten einspringen würden.

Wirklich waren die Umstände fast nie so günstig gewesen. Die Reformer, welche sich kaum noch zu halten vermochten, schleuderten die heftigsten Worte gegen die Verfügungen der Colonialregierung, welche sich durch das englische Cabinet für befugt hielt, ohne Zustimmung der Volksvertretung über die öffentlichen Einkünfte zu verfügen. Die Zeitungen – darunter der schon 1806 gegründete »Canadier« und der erst später erschienene »Vindicator« – donnerten gegen die Krone und die von ihr ernannten Beamten. Sie veröffentlichten die Verhandlungen der Kammer ebenso wie die in öffentlichen Versammlungen gehaltenen Reden eines Papineau, Viges Quesnel, St. Real, Bourdages und vieler Anderer, welche an Talent und Kühnheit in ihren patriotischen Auslassungen und Forderungen mit einander um die Palme stritten. Unter diesen Verhältnissen mußte ein Funke hinreichen, die Explosion im Volke herbeizuführen. Das wußte Lord Gosford sehr gut, nicht minder gut wie die Parteigänger der Reformbestrebungen selbst.

So war die Lage der Sachen, als am 3. September in der Villa Montcalm ein Brief eintraf. Dieser am Vortage auf dem Postamte zu Montreal eingelieferte Brief meldete Herrn de Vaudreuil, daß seine Freunde Vincent Hodge, [70] André Farran und William Clerc eingeladen seien, sich am Abend genannten Tages bei ihm einzufinden. Herr de Vaudreuil erkannte nicht die Hand, welche diese Zeilen geschrieben und dieselbe mit der Unterschrift »ein Sohn der Freiheit« unterzeichnet hatte.

Herr de Vaudreuil war über diese Mittheilung nicht wenig erstaunt, und nicht weniger über die Art und Weise, wie sie ihm gemacht wurde. Am Abend vorher hatte er seine Freunde in Montreal gesehen und man hatte sich da getrennt, ohne ein Wiederzusammentreffen für den folgenden Tag zu verabreden. Wahrscheinlich mußten also Vincent Hodge, Farran und Clerc einen ähnlich lautenden Brief erhalten haben, der sie erst nach der Villa Montcalm einlud; doch lag die Befürchtung nahe, daß hierhinter vielleicht ein Angriff der Polizei zu suchen war. Ein solches Mißtrauen schien seit der Geschichte mit Simon Morgaz vollständig gerechtfertigt.

Herrn de Vaudreuil blieb auf jeden Fall nichts übrig, als der Dinge zu warten, die da kommen sollten. Waren Vincent Hodge, Farran und Clerc in der Villa eingetroffen – wenn sie überhaupt dahin kamen – so würden sie ihm ohne Zweifel erklären, was ihm bei dieser seltsamen Zusammenkunft noch unerklärlich blieb. Dahin ging der Rath Clarys, als sie von jenem Briefe Kenntniß erhalten hatte.

Die Augen auf das geheimnißvolle Schreiben geheftet, prüfte sie dasselbe mit größter Aufmerksamkeit. Wunderbar! Wo ihr Vater eine seinen politischen Freunden und ihm gestellte Falle witterte, schien sie vielmehr an einen bevorstehenden mächtigen Eingriff in die nationale Sache zu glauben. Vielleicht zeigte sich jetzt endlich die Hand, welche die Fäden einer neuen Bewegung hielt, welche diese leiten und zu Ende führen sollte.

»Lieber Vater, sagte sie, ich habe volles Vertrauen!«

Da die Versammlung indeß erst für den Abend bestimmt war, wollte Herr de Vaudreuil sich vorher noch nach Laval begeben. Vielleicht vernahm er dort eine Nachricht, welche die Dringlichkeit der geplanten Versammlung erklärte. Gleichzeitig konnte er daselbst Vincent Hodge und dessen beide Freunde empfangen, wenn diese an der Landungsbrücke der Insel Jesus ausstiegen. In der Minute aber, wo er Auftrag geben wollte, anzuspannen, meldete ihm ein Diener, daß soeben ein Besucher der Villa Montcalm eingetroffen sei.

»Wer ist es? fragte Herr de Vaudreuil lebhaft.

– Hier seine Karte,« antwortete der Diener.

[71] Herr de Vaudreuil nahm die Karte in Empfang, las den Namen derselben und rief sogleich:

»Ah, der vortreffliche Meister Nick?... Er ist stets willkommen. Lass' ihn eintreten.«

Einen Augenblick später stand der Notar Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter gegenüber.

»Sie, Herr Nick? sagte Herr de Vaudreuil.

– In Person, und bereit, Ihnen ebenso wie dem Fräulein Clary zu dienen!« antwortete der Notar verbindlich.

Er drückte die Hand des Herrn de Vaudreuil, nachdem er das junge Mädchen mit einer mehr förmlichen Verbeugung begrüßt, wie sie die früheren Geschichtschreiber nach alter Ueberlieferung bewahrt hatten.

»Das ist ja ein recht unerwarteter, doch deshalb um so angenehmerer Besuch, Herr Nick, nahm Herr de Vaudreuil wieder das Wort.

– Angenehm, vorzüglich für mich, antwortete Herr Nick. Und wie befinden Sie sich, mein Fräulein?... Und Sie, Herr de Vaudreuil?... Sie haben Beide ein blühendes Aussehen. – Nun ja, in der Villa Montcalm mag sich's ja gut leben. Ich möchte in mein Haus am Bon-Secours-Markte wohl etwas von der Luft, wie man sie hier athmet, mitnehmen.

– Jede beliebige Menge davon steht Ihnen zur Verfügung, Herr Nick. Besuchen Sie uns nur öfter...

– Und bleiben Sie gleich einige Tage hier, setzte Clary hinzu.

– Und meine Expedition... meine Acten! rief der zungenfertige Notar. Ach, die lassen mir keine Zeit zu einem angenehmen Landaufenthalt... Die Testamente wären daran weniger Schuld. Die Leute in Canada werden so schrecklich alt, daß ich fürchte, sie hören überhaupt einmal auf zu sterben. Was haben wir an Achtzigjährigen und sogar an Hundertjährigen!... Das überschreitet die gewohnten Grenzen der Statistik.... Die Heiratscontracte dagegen, ja, die machen mir mehr zu schaffen! – Doch halt, in sechs Wochen habe ich in Laprairie zu thun bei einem meiner Klienten – einem meiner guten Klienten, das dürfen Sie glauben – wo der Contract seines neunzehnten Sprößlings aufgesetzt werden soll.

– Das muß ja, ich möchte darauf wetten, mein Pächter Thomas Harcher sein, antwortete Herr de Vaudreuil.

– Ganz recht, und in Ihrem Pachthofe zu Chipogan ist es, wo ich erwartet werde.

[72] [75]– Eine recht hübsche Familie, Herr Nick!

– Ohne Zweifel, Herr de Vaudreuil, und bedenken Sie, daß ich mit den, dieselbe betreffenden Urkunden immer noch nicht zu Ende bin.

– Nun, Herr Nick, fiel Clary ein, es ist nicht unmöglich, daß wir Sie im Pachthofe von Chipogan treffen. Thomas Harcher bestand so dringlich darauf, uns der Vermählung seiner Tochter beiwohnen zu sehen, daß wir, mein Vater und ich, wenn uns nichts Besonderes zurückhält, uns das kleine Vergnügen gern machen werden.

– Und mir bereiten Sie damit ein wohl noch größeres, antwortete Meister Nick. Ist es nicht stets eine Freude für mich, Sie zu sehen?... Ihnen, Fräulein Clary, habe ich nur einen einzigen Vorwurf zu ma chen.

– Einen Vorwurf, Herr Nick?

– Gewiß, nämlich den, daß Sie mich hier stets nur als Freund, und gar nicht einmal als Notar empfangen.«


Der Marktplatz Bon-Secours in Montreal.

Das junge Mädchen lächelte bei dieser Andeutung, doch nahmen ihre Züge sofort den gewohnten ernsten Ausdruck an.

»Und dennoch, bemerkte Herr de Vaudreuil, sind Sie, mein lieber Nick, heute nicht als Freund, sondern als Notar nach der Villa Montcalm gekommen?

– Freilich!... freilich!... antwortete Meister Nick. Doch das hat mit Fräulein Clary leider nichts zu thun... Nun, auch das wird nicht ausbleiben!... Es kommt ja Alles einmal!... Ich muß Ihnen, Herr de Vaudreuil, übrigens gleich bemerken, daß ich nicht allein gekommen bin.

– Wie, Herr Nick, Sie haben einen Reisegefährten und lassen ihn auf dem Vorsaale warten? – Ich werde sofort Befehl geben, ihn herein zu führen...

– Nein,... nein,... das lohnt sich nicht der Mühe! Es ist ganz einfach mein zweiter Schreiber... ein Kerlchen, der Verse schmiedet... Hat man je so etwas gesehen?... Und den Irrlichtern nachläuft! Stellen Sie sich nur einmal vor, ein Schreiber-Poet oder ein Poeten-Schreiber, Fräulein Clary! Da ich Sie allein zu sprechen wünschte, Herr de Vaudreuil, hab' ich ihn beordert, einstweilen im Park spazieren zu gehen...

– Ganz recht von Ihnen, Meister Nick... Man wird dem jungen Dichter jedoch einige Erquickungen anbieten müssen.

– Das wäre vergebliche Liebesmühe! Der trinkt blos Nektar; doch sollten Sie von der letzten Ernte her noch davon etwas übrig haben...«

[75] Herr de Vaudreuil mußte über den Scherz des vortrefflichen Mannes lachen, den er von längerer Zeit her kannte und dessen Rathschläge ihm bei seinen persönlichen Geschäften stets werthvoll und nutzbringend gewesen waren.

»Ich werde Sie mit meinem Vater allein lassen, Herr Nick, sagte da Clary.

– O bitte, bitte, bleiben Sie, mein Fräulein! erwiderte der Notar. Ich weiß, daß ich in Ihrer Gegenwart auch noch von Sachen reden kann, die sogar vielleicht etwas mit der Politik zusammenhängen... Ich vermuthe das wenigstens, denn wie Ihnen bekannt ist, mische ich mich selbst niemals...

– Schon gut, schon gut, fiel ihm Herr de Vaudreuil ins Wort. Clary wird unserer Verhandlung beiwohnen. Doch erst wollen wir uns setzen, und dann sprechen Sie nach Belieben.«

Der Notar nahm einen der Rohrlehnstühle, welche sich im Salon befanden, während Herr de Vaudreuil sich mit seiner Tochter auf einem Sofa ihm gegenüber niederließ.

»Und nun, mein lieber Herr Nick, fragte Herr de Vaudreuil, welcher Grund hat Sie denn eigentlich nach der Villa Montcalm geführt?

– Ich hatte Ihnen das hier zu übergeben«, antwortete der Notar.

Er zog dabei ein Bündel Banknoten aus der Tasche.

»Wie? Geld?... sagte Herr de Vaudreuil, der sein größtes Erstaunen nicht zu verbergen wußte.

– Jawohl, Geld... gutes Geld, und – es mag Ihnen das nun gefallen oder nicht – eine recht schöne Summe!...

– Eine schöne Summe?...

– Urtheilen Sie selbst!... Fünfzigtausend Piaster in tadellosen, cursfähigen Bankscheinen.

– Und dieses Geld wäre für mich bestimmt?...

– Gewiß für Sie... allein für Sie!

– Wer sendet es mir?

– Das kann ich Ihnen aus sehr triftigem Grunde nicht sagen, ich weiß es nämlich selbst nicht.

– Wozu soll dieses Geld dienen?

– Das weiß ich ebenso wenig.

– Und wie kommen Sie zu dem Auftrage, mir eine so große Summe auszuhändigen?

– Hier, lesen Sie.«

[76] Der Notar hielt ihm einen Brief von nur wenigen Zeilen hin.


»Herr Nick, Notar zu Montreal, wird ersucht, dem Vorsitzenden des Reform-Comités zu Laval, in der Villa Montcalm, den Rest der Summe, welchen unsere Abrechnung in der Expedition noch ergibt, auszuhändigen.«

2. September 1837.

»J. B. J.«


Herr de Vaudreuil sah den Notar an, ohne diese an ihn gerichtete Sendung näher zu verstehen.

»Wo ist dieses Schreiben zur Post gegeben gewesen, Herr Nick? fragte er.

– In St. Charles, Grafschaft Verchéres.«

Clary hatte den Brief ergriffen. Sie prüfte sorgsam die Handschrift; vielleicht rührte er von der nämlichen her, welche Herrn de Vaudreuil den Besuch seiner Freunde Vincent Hodge, Clerc und Farran ankündigte... Das war nicht der Fall; die Schriftzüge beider Briefe ließen keine Aehnlichkeit erkennen – was Fräulein de Vaudreuil ihrem Vater erklärte.

»Sie haben auch keine Muthmaßung, Herr Nick, fragte sie, wer der Unterzeichner dieses Briefes, der sich unter den einfachen Buchstaben »J. B. J.« verbirgt, sein könnte?

– Gar keine, liebes Fräulein Clary.

– Und doch kann es nicht das erste Mal sein, daß Sie mit dieser Persönlichkeit in Beziehung treten?

– Offenbar nicht.

– Oder vielmehr mit diesen Personen, denn der Brief spricht nicht von »meiner« sondern von »unserer« Abrechnung – was darauf schließen läßt, daß jene drei Anfangsbuchstaben drei verschiedenen Namen angehören.

– So scheint es, bestätigte Meister Nick.

– Ich möchte auch bemerken, sagte Herr de Vaudreuil, daß Sie, da ja von einer Abrechnung die Rede ist, schon früher über Geldmittel derselben Personen verfügt haben dürften...

– Herr de Vaudreuil, versetzte der Notar, hören Sie kurz, was ich Ihnen hierauf sagen kann und, wie mir scheint, hierüber sagen darf.«

Er nahm sich ein wenig Zeit, ehe er zu weiterer Erklärung kam, und da berichtete Meister Nick dann Folgendes:

»Im Jahre 1825, einen Monat nach dem Todesurtheil, welches einigen Ihrer vertrautesten Freunde das Leben, und Ihnen, Herr de Vaudreuil, die [77] Freiheit raubte, erhielt ich einen großen Brief mit Wertheinlage, der die ungeheure Summe von hunderttausend Piastern enthielt. Der betreffende Brief war in Quebec zur Post gegeben und enthielt noch ein zweites Schreiben folgenden Wortlautes:

Der Betrag von hunderttausend Piastern wird hiermit in die Hand des Meisters Nick, Notars in Montreal, niedergelegt, am davon den Gebrauch zu machen, über den ihm später weitere Bestimmungen zugehen werden. Man rechnet auf seine Discretion, Niemandem von dem in seine Verwahrung gegebenen Dépot, noch von dem Gebrauch zu sprechen, der in Zukunft davon gemacht werden könnte.«

– Und die Unterschrift? fragte Clary.

– Die Unterschrift lautete ebenfalls J. B. J., antwortete Meister Nick.

– Dieselben Anfangsbuchstaben?... sagte Herr de Vaudreuil.

– Genau dieselben? wiederholte Clary.

– Ja, mein Fräulein. Wie Sie sich leicht vorstellen können, fuhr der Notar fort, war ich im höchsten Maße erstaunt über die geheimnißvolle Seite dieser Hinterlegung. Da ich die Summe dem mir unbekannten Clienten, der sie mir geschickt, doch nicht zurücksenden konnte, und ich andererseits Anstand nahm, den Behörden von der Sache Mittheilung zu machen, so hinterlegte ich wieder jene hunderttausend Piaster bei der Bank von Montreal und beschloß ruhig zu warten.«

Clary und ihr Vater hörten dem Meister Nick mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Der Notar hatte ja gesagt, daß dieses Geld seiner Meinung nach eine politische Bestimmung haben könne. Wie der Leser bald sehen wird, sollte er sich auch nicht getäuscht haben.

»Sechs Jahre später, fuhr er fort, wurde von mir durch einen, mit denselben räthselhaften Buchstaben unterschriebenen Brief die Summe von zweiundzwanzigtausend Piastern verlangt, und das Ersuchen ausgesprochen, dieselben nach dem Flecken Berthier, in der Grafschaft gleichen Namens, zu adressiren.

– Ja, aber an wen?... fragte Herr de Vaudreuil.

– An den Vorsitzenden des Reformer-Comités, und nach kurzer Zeit brach die Revolte aus, die Sie ja kennen. Vier Jahre gingen dahin, da traf ein gleicher Brief ein, welcher die Summe von achtzehntausend Piastern nach St. Martine, dieses Mal an den Vorsitzenden des Comités von Châteaugay, verlangte. Nur wenig später entstand die heftige Bewegung, welche bei den [78] Wahlen von 1834 zu Tage trat, die Vertagung der Kammer zur Folge hatte, und der das Verlangen, den Gouverneur Lord Aylmer in Anklagestand zu versetzen, auf dem Fuße folgte.«

Herr de Vaudreuil überdachte einige Augenblicke das, was er von dem Notar hörte, und wandte sich dann an diesen mit den Worten:

»Sie erkennen also, mein lieber Nick, sagte er, einen inneren Zusammenhang zwischen jenen verschiedenen Ereignissen und der Absendung des Geldes an die Reformer-Comités?...

– Ich, Herr de Vaudreuil, erwiderte Meister Nick, ich erkenne nicht das Geringste! Ich bin ja kein Politiker!... Nichts weiter, als ein einfacher, rechtskundiger Diener Jedermanns, der meine Hilfe in Anspruch nimmt. Ich habe nichts Anderes gethan, als die Summe, die mir in Verwahrung gegeben war, entsprechend den mir ertheilten Weisungen zurückerstattet. Ich erzähle Ihnen den Thatbestand, wie er ist, und muß es Ihnen überlassen, daraus Ihre Schlußfolgerungen zu ziehen.

– Sehr gut, mein weiser Freund, antwortete ihm Herr de Vaudreuil lächelnd. Wir werden Sie nicht compromittiren. Doch wenn Sie heute nur nach der Villa Montcalm gekommen sind...

– So geschah es, Herr de Vaudreuil, um zum dritten Male zu thun, was ich schon zweimal gethan habe. Am heutigen Morgen, dem des 3. Septembers, erhielt ich Auftrag: 1. den Rest der mir einst übergebenen Summe, d. h. fünfzigtausend Piaster, abzugeben; 2. dieselbe in die Hand des Vorsitzenden des Comités von Laval auszuliefern. Das ist die Veranlassung, Herr de Vaudreuil, daß, da Sie doch Vorsitzender des bekannten Comités sind, ich mich eingestellt habe, um die erwähnte Summe als Cassen-Bilanz hierher zu bringen. Ich weiß weder, noch wünsch' ich zu wissen, welchem Zwecke dieselbe dienen soll. Ich habe die Ausschüttung der Masse in die Hand des durch jenen Brief bezeichneten Vorsitzenden besorgt, und wenn ich den Betrag nicht durch die Post sandte, sondern es vorzog, ihn selbst zu überbringen, so geschah das, weil es mir willkommene Gelegenheit bot, meinen werthen Freund, Herrn de Vaudreuil, und Fräulein Clary, seine Tochter, einmal wieder zu sehen.«

Ohne unterbrochen zu werden, hatte Meister Nick seine Erklärung vollenden können. Nachdem er nun gesagt, was er nur zu sagen hatte, erhob er sich, näherte sich der, der Terrasse zu liegenden Fensteröffnung und betrachtete die Fahrzeuge, welche auf dem Strom in Berg- oder Thalfahrt begriffen waren.


Herr Nick zog aus seiner Tasche einen Pack Banknoten. (S. 76.)

In Nachsinnen versunken, verhielt sich Herr de Vaudreuil völlig still. Die Gedanken seiner Tochter [79] waren ganz in derselben Richtung beschäftigt. Es war ja gar nicht zweifelhaft, daß dieses so geheimnißvoll geschickte und Meister Nick in Verwahrung gegebene Geld zu den Bedürfnissen der Parteisache verwendet worden war, und nicht weniger zweifellos war es, daß ihm angesichts einer bevorstehenden Erhebung dieselbe Anwendung vorbehalten war. Diese Sendung traf übrigens an demselben Tage ein, wo ein »Sohn der Freiheit« die vertrauten Freunde des Herrn de Vaudreuil nach der Villa Montcalm berufen hatte; deutete das nicht auf einen mindestens eigenartigen Zusammenhang?

[80] Die Unterhaltung dauerte noch eine Weile lang fort, was bei der Plauderseligkeit des Herrn Nick nicht zu verwundern war. Er unterhielt dabei Herrn de Vaudreuil von dem, was dieser ebenso gut und noch besser als er selbst wußte, von der politischen Lage, vorzüglich in Unter-Canada. Und diese Dinge, er wiederholte das öfter – berichtete er nur mit der allergrößten Reserve, da er keineswegs die Neigung habe, sich in Sachen einzumischen, die ihn nichts [81] angingen. Sein Ziel schien nur das zu sein, Herrn de Vaudreuil möglichst Vorsicht zu empfehlen, denn sicherlich verdoppelte die Polizei ihre Aufmerksamkeit in den Kirchspielen der Grafschaft Montreal.

Das veranlaßte den ehrenwerthen Herrn Nick noch zu den Worten:

»Offenbar befürchten die Behörden ganz besonders, daß sich ein Führer an die Spitze der Volksbewegung setzen könne, und daß jener Führer der berühmte oder berüchtigte Johann ohne Namen sein werde.«


Der Notar wurde mit einem herzlichen »Guten Tag, Herr Nick,« begrüßt. (S. 84.)

Bei diesen Worten erhob sich Clary und lehnte sich an das nach dem Park zu gelegene Fenster.

»Kennen Sie denn diesen kühnen Agitator, lieber Nick? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ich kenne ihn nicht, habe ihn niemals gesehen und sogar noch keinen Menschen getroffen, der ihn gekannt hätte. Daß er aber leibhaftig vorhanden ist, erleidet entschieden keinen Zweifel... Ich stelle mir ihn mit Vorliebe in der Erscheinung eines Romanhelden vor, eines jungen, hochgewachsenen Mannes mit vornehmer Erscheinung, sympathischem Gesicht und mit einnehmender Stimme – wenn es nicht eben ein braver Patriarch an der Schwelle des Greisenalters, mit tiefgerunzeltem Gesicht und entkräfteten Gliedern ist!... Ja, bei solchen Leuten weiß man nie vorher, woran man ist.

– Wer er auch sei, antwortete Herr de Vaudreuil, gebe Gott, daß er bald auf den Gedanken kommt, sich an unsere Spitze zu setzen, und wir werden ihm ebenso weit folgen, wie es ihm belieben wird, uns zu führen.

– O, Herr de Vaudreuil, das könnte vielleicht binnen Kurzem geschehen! rief Meister Nick.

– Was sagen Sie?... fragte Clary, welche raschen Schrittes nach der Mitte des Salons zurückkam.

– Ich sage, Fräulein Clary... oder vielmehr, ich sage lieber nichts, das ist wohl klüger.

– Ich bestehe aber darauf! erwiderte das junge Mädchen. Reden Sie!... Reden Sie! Ich bitte darum; was wissen Sie?

– Wohl nur, was auch Andere wissen, antwortete Meister Nick, das nämlich, daß Johann ohne Namen in der Grafschaft Montreal aufgetaucht sein soll. Wenigstens macht eben ein solches Gerücht die Runde... unglücklicher Weise...

– Unglücklicher Weise?... wiederholte Clary.

[82] – Ja; denn wenn es sich bewahrheitet, dürfte unser Held schwerlich den Nachstellungen der Polizei entgehen. Heute, als ich über die Insel Montreal fuhr, habe ich selbst die Häscher gesehen, welche der Minister Gilbert Argall auf die Spuren Johanns ohne Namen losgelassen hat, unter diesen auch den Chef des Hauses Rip & Cie.

– Wie?... Rip?... stieß Herr de Vaudreuil hervor.

– Ihn selbst, versicherte der Notar. Das ist ein gewandter Mann, dem für seine Mitwirkung gewiß ein hoher Preis zugesichert wurde. Gelingt es ihm, sich Johanns ohne Namen zu bemächtigen, so ist die Verurtheilung dieses jungen Mannes – ja wohl, er muß noch jung sein – entschieden, und die nationale Partei wird ein Opfer mehr zu zählen haben.«

Trotz ihrer Selbstbeherrschung erbleichte Clary urplötzlich, ihre Augen schlossen sich und kaum vermochte sie das Klopfen ihres Herzens zu verbergen. Herr de Vaudreuil ging nachsinnend im Salon auf und ab.

Um den peinlichen Eindruck seiner letzten Worte zu verwischen, setzte Meister Nick hinzu:

»Allem Anschein nach ist er ein Mann von ungewöhnlicher Kühnheit, dieser unauffindbare Johann ohne Namen!... Bisher ist es ihm ja gelungen, sich den angestrengtesten Nachforschungen zu entziehen. Im Falle man ihm zu dicht auf den Fersen wäre, würde jedes Haus der Grafschaft ihm Zuflucht gewähren, würden alle Thüren sich vor ihm öffnen – sogar die Thür der Expedition des Meister Nick, wenn er bei diesem eine Zuflucht suchte... obwohl Meister Nick sich auf keine Weise in politische Angelegenheiten zu mischen wünschte.«

Hiermit verabschiedete sich der Notar von Herrn und Fräulein de Vaudreuil. Er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er zur Essensstunde in Montreal zurück sein wollte – zu jener regelmäßig eingehaltenen und ihm stets willkommenen Stunde, in der er sich einer der wichtigsten Beschäftigungen seines Lebens hingab.

Herr de Vaudreuil wollte anspannen lassen, um Meister Nick nach Laval zurückzubringen. Als kluger Mann lehnte dieser das freundliche Angebot ab; es schien ihm besser, daß Niemand von seinem Besuche in der Villa Montcalm erfuhr. Er hatte ja, Gott sei Dank, gute Beine, und eine Lieue mehr oder weniger, das setzte einen der besten Fußgänger des canadischen Notariats nicht in Verlegenheit. Außerdem hatte er ja Sagamoren-Blut in den Adern, er, der Abkömmling jener kraftvollen indianischen Völkerschaften, deren Angehörige gleich ganze Monate lang auf dem Kriegspfade wandelten.

[83] Kurz, Meister Nick rief seinen Lionel, der in den Alleen des Parkes jedenfalls dem heiligen Bataillon der Musen nachjagte, und Beide begaben sich am linken Ufer des St. Lorenzo hin nach Laval zurück.

Nach dreiviertelstündigem Wege gelangten sie gerade in dem Augenblicke an die dortige Landungsbrücke, als Vincent Hodge, Clerc und Farran ans Land stiegen, um sich nach der Villa Montcalm zu begeben.

Im Vorüberkommen an denselben wurde er mit einem jener unentweichbaren und vertrauten »Ei, guten Tag, Meister Nick!« begrüßt. Nach Ueberschreitung des Stromes kletterte er dann wieder in den Wagen und traf in seinem Hause am Bon-Secours-Markte gerade ein, als seine alte Dienerin, Mistreß Dolly, die dampfende Suppe auf den Tisch setzte.

Meister Nick ließ sich sogleich in seinen bequemen Lehnstuhl nieder und Lionel nahm ihm gegenüber Platz, während er vor sich hinträllerte:


Mit Dir entstehn, Du Wandelflamme,

Mit Dir vergeh'n, Du irrend Licht!


»Na, na, bemerkte der Notar, wenn Du während des Essens auch noch Verse kanst, dann nimm Dich wenigstens vor den Gräten in Acht!«

Fußnoten

1 Gegen zwanzig Hektar.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Der Unbekannte.

Als Vincent Hodge, William Clerc und André Farran nach der Villa kamen, wurden sie daselbst von Herrn de Vaudreuil empfangen.

Clary hatte sich nach ihrem Zimmer zurückgezogen. Durch das nach dem Parke zu offene Fenster ließ sie die Blicke in die Ferne schweifen, welche die Wellenlinien der Laurentiden am fernen Horizonte abschlossen. Der Gedanke an das geheimnißvolle Wesen, an das sie so lebhaft erinnert worden war, beschäftigte sie ganz ausschließlich. Die Leute behaupteten, daß er sich im Lande befände, ja, man sachte ihn thatsächlich auf der Insel Montreal!... Um auf der Insel Jesus Zuflucht zu finden, brauchte er ja nur über einen Arm des Stromes zu setzen.

[84] Sollte er nicht in der Villa Montcalm Unterkunft suchen? Er konnte darüber nicht unklar sein, daß er dort Freunde besaß, die ihn mit offenen Armen aufnehmen würden. Und doch setzte er sich wohl zu großer Gefahr aus, wenn er sich gerade unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil, des Vorsitzenden eines der Reformer-Comités, verbergen wollte, denn die Villa mochte besonders scharf überwacht sein. Trotzdem hatte Clary aber das Vorgefühl, daß Johann ohne Namen hierher kommen müsse, und wärs nur für einen Tag, nur für eine Stunde! Bei der Erregung ihrer Phantasie und mit dem Wunsche allein zu sein, hatte sie den Salon verlassen, ehe die Freunde des Herrn de Vaudreuil in diesen eingeführt wurden.

William Clerc und André Farran – etwa in gleichem Alter wie Herr de Vaudreuil stehend – waren zwei ehemalige Officiere der canadischen Miliz. Nach dem Urtheilsspruche vom 25. September, der ihre Brüder aufs Schaffot gebracht und sie selbst zu lebenslänglichem Gefängniß verdammt hatte, ihrer Grade für verlustig erklärt, hatten sie die Freiheit auch nicht eher wieder erlangt, als mit Erlaß jener Amnestie, welche auch Herrn de Vaudreuil zu Gute gekommen war. Die nationale Partei erblickte in ihnen zwei Männer der That, welche nichts sehnlicher wünschten, als ein zweites Mal ihr Leben durch eine neue Ergreifung der Waffen in die Schanze zu schlagen. Sie waren energisch und an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden in den Wäldern und Ebenen der Grafschaft Trois-Rivières, wo sie ausgedehnte Ländereien besaßen.

Sobald Vincent Hodge Herrn de Vaudreuil die Hand gedrückt hatte, stellte er ihm die Frage:

»Waret Ihr davon unterrichtet, daß Farran, Clerc und Ihr selbst durch speciellen Brief zusammen berufen worden waren?

– Ja, antwortete Herr de Vaudreuil, und gewiß war der Brief, den Du in dieser Angelegenheit erhalten hast, ebenso wie der, welcher mir die erste Meldung brachte, gleichmäßig unterzeichnet: »Ein Sohn der Freiheit.«

– Ganz recht, bestätigte Farran.

– Du fürchtest hierin keine Falle? fragte William Clerc, sich an Herrn de Vaudreuil wendend. Durch Veranlassung dieses Stelldicheins wird man doch nicht die ganze Gesellschaft auf frischer That überraschen wollen?

– Der gesetzgebende Körper, erklärte Herr de Vaudreuil, hat, so viel ich weiß, den Canadiern bisher noch nicht das Recht geraubt, einander bei dem Einen oder dem Andern zu treffen.

[85] – Nein, das nicht, meinte Farran; doch wer ist der Unterzeichner des Briefes, der doch mindestens ebenso verdächtig erscheint, wie ein ganz anonymes Schreiben; wer ist es und warum hat er nicht seinen wahren Namen darunter gesetzt?

– Das ist offenbar auffallend, stimmte Herr de Vaudreuil zu, und zwar desto mehr, weil dieser Mann, sei es wer da wolle, nicht einmal ausspricht, daß er selbst die Absicht habe, sich bei der Zusammenkunft einzustellen. Der mir zugegangene Brief unterrichtet mich nur einfach, daß Ihr alle Drei heute Abend nach der Villa Montcalm kommen würdet...

– Und der unsrige enthält ebenfalls keine weitere Aufklärung, setzte William Clerc hinzu.

– Doch wenn man's recht überlegt, ließ Vincent Hodge sich vernehmen, weshalb sollte uns der Unbekannte diese Aufforderung haben zugehen lassen, wenn er unserer Verhandlung nicht auch selbst beizuwohnen gedächte? Ich meine, er wird schon kommen.

– Nun gut, er möge kommen, fiel Farran ein. Wir werden ja sehen, was für ein Mann es ist, und hören, welche Mittheilungen er zu machen hat; paßt es uns nicht, mit ihm in Verbindung zu treten, so können wir ihn immer noch abweisen.

– Vaudreuil, fragte William Clerc, Deine Tochter hat ja Kenntniß von diesem Brief genommen? Was denkt sie darüber?

– Sie findet keine Ursache zu einem Verdacht, William.

– Warten wir die Entwickelung ab!« äußerte Vincent Hodge.

Wenn der Unterzeichner des Briefes zu der Zusammenkunft sich einstellte, so hatte er gewiß einige Vorsicht walten lassen wollen, denn es sollte Nacht werden, ehe er in der Villa Montcalm eintraf – unter den obwaltenden Verhältnissen gewiß ganz richtig gehandelt.

Das Gespräch des Herrn de Vaudreuil mit seinen Freunden kam bald auf die politische Lage, welche in Folge der Unterdrückungsmaßregeln seitens des englischen Parlaments ziemlich hochgespannt geworden war. Auch sie fühlten, daß dieser Zustand der Dinge nicht andauern konnte. Und hierzu theilte Herr de Vaudreuil den Anderen mit, daß er als Vorsitzender des Comités von Laval durch Vermittelung des Notars Nick eine beträchtliche Summe erhalten habe, welche gewiß bestimmt war, die Unkosten ihrer Sache zu decken.

[86] Während Alle im Parke spazieren gingen und die Essensstunde erwarteten, bestätigten Vincent Hodge, William Clerc und André Farran dem Herrn de Vaudreuil, was Meister Nick diesem gesagt hatte.

Die Beamten Gilbert Argall's waren auf dem Anstand. Nicht allein das Personal des Hauses Rip, sondern auch die Mannschaft der regulären Polizei durchstreifte das platte Land und die Kirchspiele der Grafschaft, Alles aufbietend, um die Spuren Johanns ohne Namen zu entdecken. Offenbar mußte ihrer Meinung nach das Erscheinen dieses Mannes hinreichen, eine Erhebung zum Ausbruch zu bringen. Es schien deshalb nicht unmöglich, daß der Unbekannte vielleicht die Absicht hegte, Herrn de Vaudreuil die nöthige Auskunft zu ertheilen.

Gegen sechs Uhr kamen Herr de Vaudreuil und seine Freunde nach dem Salon zurück, in dem sich auch Clary wieder eingefunden hatte. William Clerc und Farran entboten ihr einen väterlichen Gruß, wozu ihr Alter und ihre vertraute Bekanntschaft sie ermächtigte. Vincent Hodge, der etwas zurückhaltender war, ergriff achtungsvoll die Hand, welche das junge Mädchen ihm entgegenstreckte. Dann bot er ihr den Arm und Alle begaben sich nach dem Speisezimmer.

Hier stand eine sehr reichliche Mahlzeit aufgetragen, wie das jenerzeit in den bescheidensten und in den reichsten Wohnungen Canadas Sitte war. Sie setzte sich aus Flußfischen, Wild aus den benachbarten Wäldern und aus Gemüsen und Früchten, den Erzeugnissen des Küchengartens der Villa, zusammen.

Während der Tafel wurde von dem so ungeduldig erwarteten Eintreffen des Unbekannten nicht gesprochen. Es erschien ja rathsamer, davon nichts in Gegenwart der Dienerschaft des Hauses verlauten zu lassen, obwohl diese aus verläßlichen und schon lange im Dienste der Familie de Vaudreuil befindlichen Leuten bestand.

Nach der Tafel war der Abend so schön, die Temperatur so mild, daß Clary unter der Veranda Platz nahm. Der St. Lorenzo bespülte die untersten Stufen der Terrasse, indem er sie in seinen Wellen badete, welche die steigende Fluth in der Dunkelheit fast auf der Stelle hielt. Herr de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc und Farran standen rauchend längs der Balustrade; sie wechselten kaum ein Wort und höchstens nur mit ganz leiser Stimme.


Sie waren an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden. (S. 85.)

Es war jetzt ein wenig über sieben Uhr. Die Nacht begann die tiefen Theile des Thales zu verhüllen, und während die lange Dämmerung sich nach den Ebenen des Westens zurückzog, begannen schon die Sterne an der entgegengesetzten Seite des Himmelsgewölbes aufzuflammen.

[87] Clary schaute den St. Lorenzo stromauf und stromab, da es ihr wahrscheinlich war, daß der Fremde, wenn er keine Spuren hinterlassen wollte, den Wasserweg benützen würde. Für ein leichtes Boot war es ja keine besondere Aufgabe, längs des Ufers hinzugleiten und durch das Gesträuch und das Schilf des Strandes zu schleichen. Erst an der Terrasse gelandet, konnte jene geheimnißvolle Person nach der Villa gelangen, ohne gesehen worden zu sein, und sie auch verlassen, ehe einer von den Leuten des Hauses nur den geringsten Verdacht schöpfen konnte.

[88] Da es aber doch möglich war, daß der Erwartete nicht auf dem St. Lorenzo kam, hatte Herr de Vaudreuil Befehl ertheilt, Jedermann, der sich in der Villa zeigen würde, ohne Zögern einzuführen. Eine im Salon brennende Lampe ließ durch die dichten Vorhänge der Fenster nur ein schwaches Licht dringen und jene selbst noch wurden durch die Veranda den Blicken ganz entzogen. Von außen konnte mithin Niemand sehen, was im Innern des Salons vorging.

Wenn auf der Seite des Parkes aber Alles ruhig war, so ließ sich das von der des Stromes nicht sagen. Von Zeit zu Zeit erschienen einige Boote, welche [89] bald an dem rechten, bald an dem linken Ufer hinglitten. Sie stießen manchmal sogar ganz an das Land, worauf zwischen deren Insassen einige Worte gewechselt wurden, und dann entfernten sie sich wieder in verschiedenen Richtungen.


Der Sohn der Freiheit, der an Sie geschrieben hat, meine Herren! (S. 90.)

Herr de Vaudreuil und seine Freunde beobachteten aufmerksam diese Bewegungen, deren Veranlassung sie recht wohl durchschauten.

»Das sind Beamte der Polizei, sagte William Clerc.

– Jawohl, antwortete Vincent Hodge; sie überwachen den Strom jetzt schärfer, als es bisher geschehen...

– Und auch vielleicht die Villa Montcalm.«

Diese letzten Worte waren von einer leisen Stimme gemurmelt worden, doch nicht von der des Herrn de Vaudreuil oder seiner Tochter, auch nicht von einem der Gäste.

Gleichzeitig erhob sich aus dem ihn bisher verbergenden Gebüsche vor der Balustrade auf der rechten Seite der Treppe ein Mann, der die Stufen emporstieg, schnellen Schrittes über die Terrasse ging, seine Tuque lüftete und mit einer leichten Verbeugung sagte:

»Der Sohn der Freiheit, der an Sie geschrieben hatte, meine Herren.«

Herr de Vaudreuil, Clary, Clerc und Farran suchten, erstaunt über das plötzliche Erscheinen, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der sich auf so eigenartige Weise in der Villa eingeführt hatte. Seine Stimme erschien ihnen übrigens ebenso unbekannt, wie seine Person.

»Sie werden mir verzeihen, Herr de Vaudreuil, mich unter diesen Verhältnissen Ihnen vorzustellen. Es lag mir aber viel daran, mich beim Eintreten in die Villa Montcalm nicht sehen zu lassen, wie es auch von Wichtigkeit sein wird, dieselbe wieder ungesehen zu verlassen.

– Bitte, treten Sie ein, mein Herr«, antwortete Herr de Vaudreuil.

Damit begaben sich Alle in den Salon, dessen Thür hinter ihnen geschlossen wurde.

Der eben in der Villa Montcalm eingetroffene Mann war der junge Reisende, in dessen Gesellschaft Meister Nick die Fahrt von Montreal bis zur Insel Jesus zurückgelegt hatte. Herr de Vaudreuil und seine Freunde bemerkten ebenso, wie es auch der Notar schon bemerkte, daß er der französisch-canadischen Race angehörte.

Nach seinem Abschiede von Meister Nick und nach dem Betreten der Straßen von Laval hatte er Folgendes gethan:

[90] Ganz zuerst begab er sich nach einem bescheidenen Gasthaus in den unteren Quartieren der Stadt. Daselbst hatte er, in eine Ecke des Gastzimmers zurückgezogen, die Essensstunde abgewartet und die ihm zugänglichen Zeitungen durchflogen. Sein jetzt gleichgiltig erscheinendes Gesicht ließ nichts von den ihn bei der Lectüre bestürmenden Empfindungen ahnen, obwohl die damaligen Blätter alle in schärfster Weise für oder gegen die Krone Partei nahmen. Die Königin Victoria war ihrem Oheim Wilhelm IV. auf dem Throne gefolgt, und von beiden Seiten wurden eben lebhaft die Veränderungen besprochen, welche die neue Staatsregierung der Verwaltung der canadischen Provinzen aufnöthigen würde. Doch obwohl es nur die Hand einer Frau war, welche das Scepter des Vereinigten Königreichs führte, mußte man doch fürchten, daß dieselbe gleichschwer wie die früheren auf der überseeischen Colonie lasten würde.

Bis sechs Uhr Abends hatte der junge Mann in der Gaststube verweilt; dann wurde das Essen aufgetragen. Um acht Uhr hatte er sich wieder auf den Weg gemacht.

Wäre ihm da ein Spion gefolgt, so hätte er gesehen, wie jener sich nach dem steilen Flußufer wandte und unter demselben hinschlich, bis er dreiviertel Stunden später die Villa Montcalm erreichte. Dort hatte der Unbekannte einen geeigneten Augenblick abgewartet, um die Terrasse hinanzugehen, und der Leser weiß ja, wie er mitten in der Unterhaltung des Herrn de Vaudreuil und seiner Freunde eingetreten war.

Jetzt konnten Alle in dem Salon, dessen Fenster und Thüren verwahrt worden waren, sich ohne Scheu aussprechen.

»Mein Herr, begann da Herr de Vaudreuil, sich an den neuen Gast wendend, Sie werden es entschuldbar finden, wenn ich vor Allem frage, wer Sie sind...

– Das hab' ich bei der Ankunft gesagt, Herr de Vaudreuil. Ich bin – wie Sie Alle das sind – ein Sohn der Freiheit!«

Clary machte unwillkürlich ein Zeichen der Enttäuschung. Vielleicht erwartete sie einen anderen Namen, als diese unbestimmte Bezeichnung, welche jenerzeit übrigens unter den Anhängern der franco-canadischen Sache sehr verbreitet war. Sie begriff nicht, warum der junge Mann auch in der Villa Montcalm sein Incognito noch länger aufrecht erhalten wollte.

»Wenn Sie uns, mein Herr, sagte jetzt André Farran, zu einer Zusammenkunft bei Herrn de Vaudreuil veranlaßt haben, so geschah das doch gewiß, [91] um hier über eine wichtige Angelegenheit zu verhandeln. Ehe wir uns aber offen erklären, werden Sie es ganz natürlich finden, daß wir zu wissen wünschen, mit wem wir es zu thun haben.

– Sie würden unklug gewesen sein, meine Herren, wenn Sie diese Frage an mich unterlassen hätten, erwiderte der junge Mann, und von mir wäre es unverzeihlich, dieselbe nicht zu beantworten.«

Bei diesen Worten legte er ihnen einen Brief vor.

Dieser Brief unterrichtete Herrn de Vaudreuil von dem Besuche des Unbekannten, dem er und seine Gesinnungsgenossen unbedingtes Vertrauen schenken könnten, »auch wenn er seinen Namen nicht nannte«.

Unterzeichnet war das Schreiben von einem der Hauptopponenten im Parlamente, von dem Advocaten Grammont, dem Abgeordneten für Quebec, einem Manne, der mit Herrn de Vaudreuil in politischen Dingen ganz eines Sinnes war. Der Advocat Grammont fügte noch hinzu, daß Herr de Vaudreuil, im Falle jener Gast ihn um Unterkommen während einiger Tage ersuchen sollte, das im vollen Vertrauen und im Interesse ihrer Sache gewähren möge.

Herr de Vaudreuil übergab diesen Brief seiner Tochter, Clerc und Farran, dann sagte er:

»Mein Herr, Sie sind hier ganz zu Hause und können in der Villa Montcalm so lange bleiben, wie es Ihnen beliebt.

– Höchstens zwei Tage, Herr de Vaudreuil, erwiderte der junge Mann. In vier Tagen muß ich wieder mit meinen Genossen an der Mündung des St. Lorenzo zusammengetroffen sein; ich danke Ihnen jedoch für den wohlwollenden Empfang, und nun, meine Herren, bitte ich Sie, mich gefälligst anzuhören.«

Der Unbekannte nahm das Wort. Er sprach mit Sicherheit über den damaligen Zustand der Gemüther in den canadischen Provinzen, er zeigte, daß das Land bereit sei, sich gegen die Bedrückung seitens der Loyalisten und der Kronbeamten zu erheben. Diese Ueberzeugung schöpfte er aus eigener Erfahrung, als er zur Verbreitung reformatorischer Ideen während mehrerer Wochen die Grafschaften des oberen St. Lorenzo und des Ottawa durchzogen hatte. Nach wenigen Tagen beabsichtigte er zum letzten Male durch die Grafschaften des Ostens zu reisen, um die Elemente zur demnächstigen Empörung zu sammeln, einer Empörung, welche gleichzeitig von der Mündung des Stromes bis zum Gebiete von Ontario hin auflodern sollte. Einem solchen Massenaufstande würden weder [92] Lord Gosford mit den Vertretern der Staatsgewalt, noch der General Colborne mit wenigen tausend Rothröcken – dem ganzen Truppenbestand in Canada – hinreichende Kräfte entgegensetzen können, und Canada – daran zweifelte er nicht – mußte sich endlich vom Joche seiner Unterdrücker befreien.

»Eine ihrer Heimat entrissene Provinz, setzte er hinzu, gleicht dem Kinde, das seiner Mutter geraubt ist. Das muß der Gegenstand der Zurückforderung ohne Waffenstillstand, des Kampfes ohne Gnade sein! So etwas läßt sich niemals vergessen!« Als er diese Verhältnisse erwähnte, sprach der Unbekannte mit einer Kaltblütigkeit, welche bewies, daß er stets und überall die Herrschaft über sich behielt. Dennoch fühlte man es, daß ein Feuer in seiner Seele lohte, daß seine Gedanken vom brennendsten Patriotismus erfüllt waren. Während er noch mehrere Einzelheiten über das, was er noch thun wollte, mittheilte, wandte Clary kein Auge von dem jungen Manne. Alles sagte ihr, daß hier ein Held vor ihr stehe, der in seinem Gedankenfluge die canadische Revolution verkörperte. Als die Herren de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc und Farran so über seine Schritte unterrichtet waren, setzte er hinzu:

»Alle jene Parteigänger unserer Unabhängigkeit, meine Herren, brauchen aber einen Führer, und dieser Führer wird auferstehen, wenn die Stunde gekommen, an deren Spitze zu treten. Bis dahin erscheint es nothwendig, daß sich ein Actionscomité bildet, um die Einzelkräfte zusammenzufassen. Nehmen Sie, Herr de Vaudreuil, und Ihre Freunde es an, sich an diesem Comité zu betheiligen? Sie Alle haben ja schon in Ihren Familien oder persönlich für die nationale Sache gelitten. Diese Sache hat unseren besten Patrioten, Ihrem Vater, Vincent Hodge, wie Ihren Brüdern, William Clerc und André Farran, das Leben gekostet...

– In Folge des Verrathes eines Schurken, mein Herr! antwortete Vincent Hodge.

– Ja... eines Schurken«... wiederholte der junge Mann langsam.

Clary glaubte dabei eine eigenthümliche Wandlung seiner bis dahin so klaren Stimme zu bemerken.

»Indeß, fügte er hinzu, dieser Mann ist todt.

– Wissen Sie das bestimmt? fragte William Clerc.

– Er ist todt, erwiderte der Unbekannte, der nicht zögerte, bestätigend bezüglich einer Thatsache zu antworten, welche bisher noch Keiner zu beweisen vermocht hatte.

[93] – Todt!... Jener Simon Morgaz!... Und ich... ich habe an ihm nicht Vergeltung üben können! rief Vincent Hodge.

– Sprechen wir nicht mehr von jenem Verräther, liebe Freunde, mischte sich Herr de Vaudreuil wieder ein, und überlaßt es mir, auf den eben gehörten Vorschlag zu antworten. Mein Herr, fuhr er fort, sich an seinen Gast wendend, was die Unsrigen einst gethan, das sind wir bereit auch noch einmal zu thun. Wir werden unser Leben wagen, wie sie das ihrige gewagt haben. Sie können also über uns verfügen, und wir übernehmen die Aufgabe, den Anstrengungen, welche Sie bereits gemacht haben, in der Villa Montcalm ein Ziel, einen Mittelpunkt zu geben. Wir stehen in täglicher Verbindung mit den verschiedensten Comités des Bezirks, und auf das erste Signal hin werden wir mit unserer Person eintreten. Ihre Absicht, wie Sie sagten, ist es, nach zwei Tagen weiter zu reisen, um die Kirchspiele des Ostens zu besuchen? Nun gut! Bei Ihrer Rückkehr werden Sie uns bereit finden, dem Führer – sei er wer es will – zu folgen, der die Fahne der Unabhängigkeit entfalten wird.

– Vaudreuil hat für uns gesprochen, fügte Vincent Hodge hinzu. Wir haben nur den einen Gedanken, unser Land von der Unterdrückung zu befreien und ihm das Recht, frei zu sein, wieder zu geben!

– Ein Recht, welches es diesmal zu erlangen wissen wird,« sagte Clary de Vaudreuil, während sie auf den jungen Mann zuging.

Dieser wandte sich aber schon nach der Thür des Salons, die zur Terrasse führte.

»Horchen Sie, meine Herren,« flüsterte er.

Ein unbestimmtes Geräusch ließ sich in der Richtung von Laval her vernehmen, ein entferntes Getöse, dessen Art und Ursache kaum zu erkennen war.

»Was bedeutet das? fragte William Clerc.

– Sollte es schon zu einem vereinzelten Aufstand gekommen sein?... bemerkte André Farran.

– Gott gebe, daß das nicht der Fall ist, murmelte Clary. Das wäre vorzeitig gehandelt!

– Ja... zu zeitig! erklärte auch der junge Mann.

– Was kann das aber zu bedeuten haben? fragte Herr de Vaudreuil. Hören Sie nur, das Geräusch kommt näher...

– Es klingt wie der Ton von Signalhörnern,« meinte André Farran.

[94] Wirklich drangen jetzt deutlich metallische Töne in die Luft, welche in regelmäßigen Zwischenräumen bis zur Villa Montcalm hin hörbar wurden. Handelte es sich etwa um eine Abtheilung Bewaffneter, welche nach der Villa des Herrn de Vaudreuil vordrang?

Dieser hatte die Thür des Salons geöffnet, und seine Freunde folgten ihm auf die Terrasse.

Alle sahen scharf nach Westen hinaus, doch ließ sich nach dieser Richtung hin kein verdächtiges Licht wahrnehmen. Offenbar rührte dieses Geräusch nicht von den Ebenen der Insel Jesus her, und doch drang ein jetzt näher erscheinendes Getöse bis zur Villa, und gleichzeitig hörte man die Töne von Trompeten.

»Da... da ist es...« sagte Vincent Hodge.

Er wies mit dem Finger nach dem Laufe des St. Lorenzo gegen Laval hin. In dieser Richtung bemerkte man jetzt wirklich das Flackern einzelner Flammen, welche sich in dem von seinem Nebel bedeckten Wasser des Stromes schwach widerspiegelten.

Zwei oder drei Minuten verstrichen.

Ein Boot, welches mit der Ebbe herabfloß, schnitt eben in die Wirbel des Stromes nahe dem Ufer und etwa eine Viertelmeile aufwärts ein. Dieses Boot trug gegen zehn Personen, deren Uniform man beim Scheine der Fackeln leicht erkennen konnte. Es waren das ein Constabler und eine Abtheilung der Polizei.

Von Zeit zu Zeit hielt die Barke an. Sofort erhob sich gleich nach einem Hornsignal eine laute Stimme, doch war es in der Villa Montcalm noch unmöglich, die Worte zu verstehen.

»Das muß sich um eine Proclamation handeln, sagte William Clerc.

– Und zwar um eine von hervorragender Wichtigkeit, setzte André Farran hinzu, da sie seitens der Behörde zu so ungewöhnlicher Stunde bekannt gegeben wird.

– Warten wir es ab, meinte Herr de Vaudreuil, das wird sich ja bald zeigen... Wäre es nicht rathsam, in den Salon zurückzukehren? ließ sich da Clary an den jungen Mann gewendet, vernehmen.


Es erscholl ein Trompetenstoß. (S. 96.)

– Warum sollten wir uns verstecken, Fräulein de Vaudreuil? antwortete dieser Was die Behörde bekannt zu machen für angezeigt hält, das müssen wir doch auch hören.«

[95] Inzwischen war die Barke, welcher einige kleinere Kähne folgten, gegenüber der Terrasse angelangt.

Wieder erscholl ein Trompetenstoß, und jetzt konnten Herr de Vaudreuil und seine Freunde deutlich die Stimme vernehmen.


Johann betrieb auffällig das Gewerbe eines Fischers. (S. 103.)
Bekanntmachung des Lord-General-Gouverneurs der canadischen Provinzen
Am 3. September 1837.

»Es wird hiermit ein Preis ausgesetzt auf den Kopf des Johann ohne Namen, der in den Grafschaften des oberen St. Lorenzo sichtbar gewesen ist. [96] [99]Sechstausend Piaster werden Demjenigen zugesichert, der ihn verhaftet oder seine Verhaftung herbeiführt.

Im Namen des Lord Gosford

der Polizeiminister

Gilbert Argall.«


Hierauf setzte das Boot seine Fahrt fort und ließ sich von der Strömung des Flusses hinabtreiben.

Die Herren de Vaudreuil, Farran, Clerc, Vincent Hodge waren unbeweglich auf der Terrasse stehen geblieben, welche schon die tiefe Nacht umhüllte. Keine Bewegung entschlüpfte auch dem jungen Unbekannten, während die Stimme des Constablers jenen Inhalt der Bekanntmachung wiedergab. Nur das junge Mädchen hatte fast unbewußt sich ihm mit einigen Schritten genähert.

Herr de Vaudreuil war es, der zuerst wieder das Wort nahm.

»Wiederum ein Preis, der feilen Verräthern geboten wird! sagte er. Dieses Mal hoff' ich, wird es nutzlos sein, dieses Mal wird sich der gute Ruf der canadischen Franzosen nicht wieder einen Schandfleck holen!

– Ja, es ist genug, es ist zuviel, daß man schon einmal einen Simon Morgaz gefunden hat! rief Vincent Hodge.

– Gott beschütze Johann ohne Namen!« flehte Clary mit tieferregter Stimme.

Jetzt trat einige Augenblicke Stillschweigen ein.

»Treten wir ein und begeben wir uns nach unseren Zimmern, sagte Herr de Vaudreuil. – Ich werde Ihnen ein solches zur Verfügung stellen, setzte er an den jungen Mann gewendet hinzu.

– Ich danke Ihnen, Herr de Baudreuil, antwortete der Unbekannte, doch es ist mir unmöglich, noch länger in diesem Hause zu bleiben...

– Und warum?...

– Als ich vor einer Stunde die mir von Ihnen gebotene Gastfreundschaft der Villa Montcalm annahm, befand ich mich nicht in der Lage, in welche mich jene öffentliche Bekanntmachung versetzt hat.

– Was wollen Sie damit sagen, mein Herr?

– Daß meine Anwesenheit Ihnen jetzt nur große Verlegenheiten bereiten könne, weil der General-Gouverneur einen Preis auf meinen Kopf gesetzt hat. Ich bin Johann ohne Namen!«

[99] Nachdem der junge Mann sich verneigt, wendete er sich schon nach dem Steilufer zu, als Clary ihn noch an der Hand faßte.

»Bleiben Sie hier!« bat sie.

6. Capitel
Sechstes Capitel
Der St. Lorenzo.

Das Thal des St. Lorenzo ist vielleicht eines der ausgedehntesten, welches geologische Vorgänge jemals in die Oberfläche der Erdkugel eingegraben haben. Humboldt schreibt ihm eine Größe von zweihundertsiebzigtausend (franz.) Quadratmeilen zu – d. h. eine solche, welche der von ganz Europa gleichkommt.

Der in seinem Verlaufe sehr launenhafte, mit Inseln besäte, von Stromschnellen unterbrochene und von Wasserfällen quer durchschnittene Strom zieht sich durch das ganze Thal hin, welches im eigentlichen Sinne das französische Canada bildet. Dieses Gebiet, in dem sich zuerst die Söhne des auswandernden Adels niederließen, ist heutzutage in Grafschaften und Bezirke eingetheilt. An der Mündung des St. Lorenzo, in der breiten Bai jenseits seiner Verzweigung, erheben sich der Madelaine-Archipel, die Insel des Cap Breton und des Prinzen Eduard, die große Insel Anticosti, welche die dem Aussehen nach so verschiedenen Küsten von Labrador, Neufundland, Acadien oder Neu-Schottland gegen die furchtbaren Stürme des Atlantischen Weltmeers schützen.

Erst Mitte April erfolgt hier gewöhnlich der Abgang des Eises, das sich während der langen und strengen Winterperiode des canadischen Klimas angesammelt hatte. Dann wird der St. Lorenzo schiffbar. Selbst Schiffe von großem Tonnengehalt können hinauf gelangen bis in die Gegend der Seen, jener Süßwassermeere, deren Kette sich durch das sagenumwobene Land hinzieht, das man so bezeichnend »Das Land Coopers« genannt hat. Zu dieser Jahreszeit belebt sich der Strom, in dem Ebbe und Fluth weit eindringen, wie eine Rhede, deren Blokade durch einen Friedensschluß aufgehoben wurde. Segelboote, große und kleinere Dampfschiffe, Holzflöße, Lootsenboote, Küstenfahrer, Fischerbarken, Lustyachten [100] und Canots jeder Art gleiten über die Oberfläche seiner Gewässer, die endlich von ihrer dicken Eisdecke befreit sind. Nach einem halben Jahr des Todesschlafes beginnt für ein halbes Jahr das Leben.

Am 13. September gegen sechs Uhr Morgens verließ ein als Kutter getakeltes Fahrzeug den kleinen Hafen von St. Anna an der Mündung des St. Lorenzo und an dem südlichen, nach dem Golfe zu sich abrundenden Ufer desselben. In diesem Fahrzeuge saßen fünf bis sechs Fischer, welche ihr einträgliches Gewerbe von den Stromschnellen bei Montreal bis zur Ausmündung des Flusses hin betrieben. Nachdem sie ihre Netze und Schnüre an den Stellen ausgeworfen, welche sie aus Erfahrung als ergiebig kennen, bringen sie die Salz- und Süßwasserfische von Ortschaft zu Ortschaft zum Verkauf – richtiger müßte es heißen, von Haus zu Haus, denn die beiderseitigen Ufer begrenzt eine fast ununterbrochene Reihe von Wohnstätten bis hinauf zur Westgrenze der Provinz.

Diese Fischer stammten aus Acadien. Ein Fremder würde das schon aus ihrer Sprachbildung und an dem in Neu-Schottland so rein gebliebenen Typus erkennen, da sich hier die französische Race ganz besonders gedeihlich entwickelt hat. Verfolgt man die Reihe ihrer Vorfahren, so wird man unter diesen fast sicherlich einige jener Proscribirten antreffen, welche vor einem Jahrhundert durch die königlichen Truppen decimirt wurden und deren Unglück Longfellow so schön in seinem ergreifenden Gedichte »Evangeline« geschildert hat.

Das Gewerbe eines Fischers ist vielleicht das angesehenste in Canada, mindestens in den Küstengemeinden, wo man zehn- bis fünfzehntausend Fischerboote zählt, und mehr als dreißigtausend Mann die Gewässer des Stromes und seiner Zuflüsse ausbeuten.

Der Kutter trug noch einen sechsten Passagier, der ebenso wie die übrigen Insassen gekleidet war, von einem Fischer aber weiter nichts als eben das Costüm hatte. Man hätte sich hierüber gewiß täuschen lassen, und es wäre sehr schwierig gewesen, in ihm den jungen Mann zu vermuthen, dem die Villa Montcalm achtundvierzig Stunden lang Unterkunft gewährt hatte.

Es war in der That Johann ohne Namen.

Während seines Verweilens in der Villa hatte er über das Incognito betreffs seiner Person und seiner Familie keinerlei Aufschluß gegeben. – Johann – das war der einzige Name, den Herr und Fräulein de Vaudreuil ihm gaben.

[101] Nach Beendigung ihrer Verhandlung am 3. September hatten Vincent Hodge, William Clerc und André Farran sich wieder nach Montreal heimbegeben, und schon zwei Tage nach seinem Eintreffen in der Villa nahm Johann Abschied von Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter.

Wie viele Stunden während dieses kurzen Aufenthaltes waren da verbracht worden im Gespräch über das neue Unternehmen, welches gewagt werden sollte, um Canada der englischen Herrschaft zu entreißen! Mit welch' hoher Genugthuung hörte Clary den jungen Verbannten die Sache preisen, die ihnen ja beiden so theuer war! Er selbst hatte inzwischen etwas von der Kälte abgestreift, die er zuerst zeigte, und welche mehr vorbedacht erschien. Vielleicht unterlag er schon dem Einflusse der empfindsamen Seele des jungen Mädchens, deren Liebe zum Vaterlande sich der seinigen so innig anschloß.

Am Abend des 5. September war es gewesen, als Johann Herrn und Fräulein de Vaudreuil verließ, um seine Irrfahrten wieder zu beginnen und den Feldzug reformatorischer Propaganda in den Grafschaften Unter-Canadas zu vollenden.

Vor der Trennung hatten alle Drei verabredet, sich im Pachthofe zu Chipogan bei Thomas Harcher wieder zu treffen, dessen Familie, wie sich zeigen wird, die Familie des jungen Patrioten geworden war. Und doch, wie unbestimmt blieb es, ob er und das junge Mädchen sich jemals wiedersehen würden, da seinen Kopf so viele Gefahren bedrohten.

Jedenfalls war Niemand auf die Vermuthung gekommen, daß es Johann ohne Namen war, dem die Villa Montcalm Zuflucht gewährt hatte. Der Chef des Hauses Rip & Cie. hatte, auf falsche Fährte geleitet, seinen dermaligen Aufenthalt nicht aufzuspüren vermocht. Johann hatte die Villa ebenso unbemerkt verlassen können, wie er dahin gekommen; dann überschritt er im Fährboote den St. Lorenzo am Ende der Insel Jesus und verlor sich in die Landschaft des Inneren nach der amerikanischen Grenze hin, um diese zu überschreiten, wenn es seiner Sicherheit wegen nothwendig erschien. Da man ihn – und mit Recht, denn Johann kam daher – inmitten der Kirchspiele des oberen Stromes suchte, hatte er, ohne erkannt oder verfolgt zu werden, den Fluß St. Jean erreichen können, dessen Lauf theilweise die Grenze von Neu-Braunschweig bildet. Dort, im kleinen Hafen von St. Anna, erwarteten ihn seine muthigen Gefährten, die sich demselben Werke widmeten und auf deren Ergebung er ohne jeden Rückhalt bauen konnte.

[102] Es waren das fünf Brüder – die Aeltesten ein Zwillingspaar, Pierre und Remy, dreißig Jahre alt, und die drei anderen, Michel, Tony und Jacques, neunundzwanzig, achtundzwanzig und siebenundzwanzig zählend. – fünf der zahlreichen Kinder Harcher's und seiner Gattin Catharina aus der Grafschaft Laprairie, der Pächter von Chipogan.

Einige Jahre früher, bei Gelegenheit des Aufstandes von 1831, hatte Johann ohne Namen, dem die Polizei dicht an den Fersen war, in jenem Pachthofe Zuflucht gefunden; doch wußte er damals nicht, daß dieser Herrn de Vaudreuil gehörte. Thomas Harcher nahm den Flüchtling auf und betrachtete ihn, als ob er zu seiner Familie gehörte. Wenn er auch wußte, daß es einer der Patrioten war, dem er ein Asyl gewährte, so wußte er mindestens nicht, daß das Johann ohne Namen war.

Während der Zeit seines Verweilens auf dem Pachthofe knüpfte Johann – nur unter diesem Namen hatte er sich vorgestellt – ein festes Freundschaftsband mit dem älteren Sohne Thomas Harcher's. Was sie empfanden, das fand in seinem Herzen Widerhall. Es waren unerschrockene Anhänger der Reform, mit jenem eingefleischten Haß gegen Alles, was angelsächsischer Race war, »was nach England roch,« wie man jener Zeit in Canada sagte.

Als Johann Chipogan verließ, geschah das an Bord des Kutters der fünf Brüder, welcher vom April bis zum September den Strom besuchte. Er betrieb auffällig das Gewerbe eines Fischers, was ihm in alle Häuser der Uferkirchspiele Eingang verschaffte. So hatte er den Nachforschungen aus dem Wege gehen und eine neue aufständische Bewegung vorbereiten können. Vor seinem Eintreffen in der Villa Montcalm waren es die Grafschaften am Ottawa gewesen, die er in der Provinz Ontario besuchte. Und während er jetzt den Strom von dessen Mündung bis Montreal hinausging, wollte er an die Bewohner der Grafschaften Unter-Canadas die letzte Parole ausgeben, jener Bewohner, welche so gern in Erinnerung an die Franzosen von ehedem fragten: »Wann werden wir unsere braven Leute wiedersehen?«

Das Fahrzeug hatte eben den Hafen von St. Anna verlassen. Trotz der abfallenden Flut gestattete eine aus Osten wehende frische Brise ihr entgegen zu laufen, als Pierre Harcher, der Führer des »Champlain«, das Segel und die Klüver hatte hissen lassen; »Champlain« war der Name des Kutters.

Das Klima von Canada ist minder gemäßigt als das der Vereinigten Staaten und im Sommer sehr heiß, im Winter sehr kalt, obgleich das Land [103] etwa mit Frank reich in gleicher Breite liegt. Es rührt das wahrscheinlich daher, daß die warmen Gewässer des von seinen Küsten abgelenkten Golfstromes diese Excesse seiner Temperatur nicht abmindern.

Während der ersten Hälfte des Monats September war die Wärme noch sehr hoch gewesen und die Segel des »Champlain« blähten sich nur unter einer glühenden Brise.

»Das wird einen harten Tag geben, meinte Pierre, vorzüglich, wenn der Wind nach Süden umspringen sollte.

– Ja, und der Teufel fricassire die Schnaken und Muskitos, von denen es hier am Strande von St. Anna wahrlich Myriaden gibt.

– O, diese Hitze wird schon aufhören und bald erfreuen wir uns der Milde des echten Indianersommers, liebe Brüder!«

Es war Johann gewesen, der seinen Gefährten diesen, ihrer würdigen brüderlichen Namen gegeben hatte; und er hatte auch Recht, die Schönheit des »Indianersommers« von Canada zu preisen, der speciell die Monate September und October umfaßt.

»Fischen wir noch heute Vormittag? fragte ihn Peter Harcher, oder segeln wir noch weiter den Strom hinauf?

– Ich denke, wir werfen die Schnuren bis zehn Uhr aus, antwortete Johann, und verkaufen unsere Beute dann gleich in Matane.

– Dann wollen wir nach der Monts-Spitze hinüber segeln, erklärte der Führer des »Champlain«. Dort ist das Wasser ergiebiger und wir kommen nach Matane mit dem Stillstand der Gezeiten.«

Die Schoten wurden angezogen, das Fahrzeug lufte an, und unterstützt durch die Brise glitt es, trotz entgegengesetzter Unterströmung, schräg auf, genannter Landspitze zu, welche an dem nördlichen Ufer des an dieser Stelle neun bis zehn Lieues (352/3 bis 40 Kilometer) breiten Stromes vorspringt.

Nach einstündiger Fahrt legte der »Champlain », dessen Focksegel gelöst war, bei, und man begann unter wenig Segeldruck und mäßiger Bewegung zu fischen.

Er befand sich hier inmitten einer prächtigen, von sorgfältig bebauten Feldern eingerahmten Bucht. Das cultivirte Land aber erstreckte sich nach Norden zu bis nach den ersten Wellenlinien der Laurentidenkette, und im Süden bis zu den Notre-Dame-Bergen, deren höchste Spitzen 1300 Fuß über die Meeresfläche aufragen.

[104] Pierre Harcher und seine Brüder waren sehr geschickt in ihrer Arbeit, die sie stets auf dem Flusse übten. Inmitten der Stromschnellen und Barren von Montreal singen sie stets mittels Reißbündeln eine Menge Alsen (Maifische). In der Umgebung von Quebec dagegen erbeuteten sie Lachse und Forellen, welche zur Laichzeit die oberen, mehr süßen Gewässer aufsuchen. Es war nur sehr selten, daß ihre Fischzüge nicht recht ergiebig ausgefallen wären.


Johann gab mehr Geld zurück. (S. 106.)

An diesem Vormittage wimmelte es geradezu von Seeforellen, so daß die Netze mehrmals zu reißen drohten. Gegen zehn Uhr entfaltete der [105] »Champlain« denn auch wieder seine Segel und steuerte nach Matane in südwestlicher Richtung dahin.

Es empfahl sich auch mehr, nach dem südlichen Ufer des Flusses zu gehen, im Norden sind nämlich Flecken und Dörfer sehr dünn gesät und die Bevölkerung der öden Gegenden nur sehr spärlich. Das Gelände hier besteht eigentlich nur aus einer Anhäufung chaotischer Felsenmassen. Mit Ausnahme des Saguenay-Thales, durch welches der St. Jean-See abfließt und das wirklichen Alluvialboden hat, ist der Boden sehr unfruchtbar, abgesehen von den reichen Wäldern, welche das Land in großem Umfange bedecken.

Im Süden des Flusses dehnt sich dagegen ein gesegneter Landstrich aus, der reiche Ernten liefert. Hier finden sich blühende Dorfschaften und wie schon erwähnt ein wirkliches Panorama von Wohnstätten, das von der Mündung des St. Lorenzo bis nach Quebec hinaufreicht. Fühlen sich Lustreisende auch von den malerischen Reizen des Saguenay-Thales oder von der Malbaie angelockt, so besuchen die canadischen und amerikanischen Badereisenden – vorzüglich diejenigen, welche die brennende Hitze Neu-Englands nach der frischeren Gegend des großen Stromes verjagt – mit Vorliebe dessen südliche Ufer.

Hier, und zwar zuerst auf dem Markte von Matane, war es, wo der »Champlain« seine Ausbeute von Fischen zum Verkauf bot. Johann und zwei der Brüder Harcher, Michel und Tony, gingen von Thür zu Thür, um ihren Fang anzubieten. Niemand konnte es da auffallen, wenn Johann in einem Hause länger verweilte, als es ein derartiger Handel wohl bedingte; daß er in die Wohnungen eintrat und einige Worte, nicht mit den Dienstleuten, sondern mit dem Hausherrn wechselte. Ebenso konnte es ja kein Mensch bemerken, daß er in mancher mehr bescheidenen Wohnung zuweilen mehr Geld zurückgab, als seine Kameraden für ihre Waare lösen konnten.

So ging das mehrere Tage fort inmitten der Flecken des südlichen Ufers, in Rimouski, in Bic und Trois-Pistoles, wie auf dem Strand bei Caconna, einem damals bevorzugten Badeorte am St. Lorenzo.

In Rivière-Du-Loup – einer kleinen Stadt, wo Johann am Morgen des 17. September verweilte – untersuchten die mit der Ueberwachung des Stromes besonders beauftragten Beamten auch den »Champlain«, doch verlief Alles aufs Beste. Schon seit mehreren Jahren war Johanns Name in die Schiffspapiere des Kutters eingetragen, so als wäre er einer der Söhne Harcher's. Niemals vermuthete deshalb auch die Polizei, daß sich in der Kleidung eines [106] canadischen Fischers der Verbannte verbarg, dessen Kopf für jeden, der ihn einlieferte, sechstausend Piaster werth war.

Als die Beamten ihre Untersuchung beendet hatten, begann Pierre Harcher:

»Vielleicht thun wir gut, am jenseitigen Stromufer Zuflucht zu suchen.

– Dahin geht auch mein Rath, bemerkte Michel.

– Doch weshalb? fragte Johann. Ist unser Fahrzeug jenen Leuten verdächtig vorgekommen? Ist etwa nicht Alles verlaufen wie gewöhnlich? Kann Jemand auf den Gedanken kommen, ich gehörte nicht zur Familie Harcher's wie Deine Brüder und Du selbst?

– O, ich meine, das ist sogar in der That der Fall, rief Jacques, der Jüngste der fünf, der immer lustig und guter Dinge war. Unser braver Vater hat so viel Kinder, daß eins mehr oder weniger auch nichts ausmacht, und er sich in dieser Hinsicht selbst einmal täuschen könnte.

– Und übrigens, fügte Tony hinzu, liebt er Dich wie einen Sohn, und wir lieben Dich, als wenn wir Alle desselben Blutes wären.

– Wir gehören ja, ebenso wie Du, Johann, der französischen Race an, bemerkte Remy.

– Ja, gewiß, antwortete Johann. Ich glaube aber nicht, daß wir von der Polizei etwas zu fürchten haben.

– Man bereut es niemals, zu vorsichtig gewesen zu sein, ließ sich Tony vernehmen.

– Nein, das gewiß nicht, entgegnete Johann, und wenn es nur aus Klugheit geschieht, daß Pierre vorschlägt, über den Fluß hin zu segeln...

– Aus Klugheit, ja, unterbrach ihn der Führer des »Champlain«, denn das Wetter scheint umzuschlagen.

– Das ist ein ander Ding, erwiderte Johann.

– Sieh, fuhr Pierre fort, es muß sehr bald ein Nordost einsetzen, und ich habe eine Ahnung, daß dieser sehr stark werden wird... So etwas fühle ich vorher!... Oh, wir haben schon manchem anderen Sturm getrotzt, dennoch müssen wir an unser Schiff denken, und ich möchte es nicht auf mich nehmen, dasselbe an den Felsen von Rivière-du-Loup oder von Kamuraska zerschellen zu sehen.

– Ganz richtig, bestätigte Johann. Begeben wir uns also nach dem Nordufer, womöglich nach der Gegend von Tadoussac, von da können wir den Lauf [107] des Stroms bis Chicoutimi hinaufsegeln, und damit würden wir weder Zeit noch Mühe verlieren.

– Hurtig also, rief Michel, Pierre hat Recht. Der Schurke von Nordost ist nicht mehr fern. Wenn er den »Champlain« von der Seite packte, würden wir nach Quebec den zwanzigfachen Weg gegenüber dem nach Tadoussac zurückzulegen haben.«

Die Segel des »Champlain« wurden also scharf angezogen, und der Kutter begann, den Bug nach oben gerichtet, gegen den mehr und mehr abfallenden Wind anzulaufen.

Diese Nordoststürme sind hier leider nicht selten, selbst im Sommer. Ob sie dann nur zwei bis drei Stunden wüthen oder eine ganze Woche über anhalten, allemal überwölken sie den Golf mit eisigem Nebel und überschwemmen das Thal mit den furchtbarsten Regengüssen.

Es war jetzt acht Uhr Abends. Pierre Harcher hatte sich beim Erblicken gewisser, wie Pfeile einherfliegender Wolken, den Vorboten des Sturmwindes, nicht getäuscht, und es erschien die höchste Zeit, an der Nordküste Schutz zu suchen.

Fünf bis sechs Lieues (21 bis 25 Kilometer) trennen Rivière-du-Loup von der Mündung des Saguenay, es machte aber große Schwierigkeiten, dieselben zurückzulegen. Einer Windhose gleich packte der Sturm den »Champlain«, als dieser auf dem ersten Drittel des Weges war. Die Segel mußten bis zum Aeußersten gerefft werden, und dennoch wurde der Kutter so stark vom Wind gedrückt, daß man fürchten konnte, das Mastwerk glatt am Verdeck wegbrechen zu sehen. Die Oberfläche des Flusses, gleich aufgeregt wie jedenfalls das Meer im Golfe, erhob sich in gewaltigen Wogen, welche gegen den Steven des »Champlain« donnerten und im rauschenden Schwall über diesen hereinbrachen. Die Lage erschien für ein Fahrzeug von höchstens zwölf Tonnen recht ernstlich. Die Besatzung des Fahrzeuges hatte aber ebenso kaltes Blut, wie Geschick in den nöthigen Manövern. Schon mehr als einmal hatte diese noch schlimmeren Stürmen getrotzt, wenn sich der Kutter auf das offene Meer zwischen Neufundland und die Insel Cap Breton hinauswagte. Auch jetzt war also auf dessen gute nautische Eigenschaften und auf die Haltbarkeit seines Rumpfes zu bauen.

Pierre Harcher hatte viele Mühe, die Mündung des Saguenay zu erreichen und mußte drei lange Stunden hindurch gegen das Unwetter kämpfen. Als die Ebbe wieder eintrat, begünstigte diese zwar das Fortkommen des Kutters, machte [108] den Anprall der Wellen aber noch stärker. Wer einen solchen Nordoststurm nicht selbst mit erlebt hat, wenn derselbe durch das weit offene Thal des St. Lorenzo braust, der kann sich von seiner Heftigkeit kaum eine Vorstellung machen. Er ist eine wirkliche Geißel für die stromabwärts von Quebec liegenden Grafschaften.

Zum Glück konnte der »Champlain«, nachdem er unter dem nördlichen Ufer Schutz gefunden, sich noch vor Anbruch der Nacht in die Mündung des Saguenay flüchten.

Der Sturm hatte nur wenige Stunden angehalten. Am folgenden Tag, am 19. September, konnte Johann schon frühzeitig seinen Zug fortsetzen, wobei er dem Saguenay folgte, dessen Bett zwischen den hohen Felsmassen der Caps der Dreieinigkeit und der Ewigkeit einschneidet. Die genannten Caps erreichen übrigens eine Höhe von achtzehnhundert Fuß. Hier in diesem malerischen Landstriche finden sich die herrlichsten Gegenden und bieten sich dem Auge die eigenthümlichsten Bilder der ganzen Provinz Canada, und darunter die prächtige Bai Ha-ha – eine onomatopoetische Bezeichnung, welche die Bewunderung der Lustreisenden für dieselbe erfand. Der »Champlain« erreichte Chicoutimi, wo Johann sich mit den Mitgliedern des Reformer-Comités in Verbindung setzen konnte, und am nächsten Tage schlug er, die nächtliche Fluth benutzend, wieder die Richtung nach Quebec ein.

Inzwischen vergaßen Pierre Harcher und seine Brüder keinen Augenblick, daß sie von Beruf Fischer waren. Jeden Abend legten sie ihre Netze und Leinen aus. Zeitig des Morgens liefen sie dann die zahlreichen Dörfer an beiden Ufern an. So besuchten sie an dem fast wild erscheinenden Nordufer, das sich längs der Grafschaft Charlevoix von Tadoussac bis zur Bai St. Paul ausdehnt, Maibaie, St. Irénée und Notre-Dame-des-Eboulements, dessen bezeichnender Name durch seine Lage inmitten chaotischen Felsgewirrs gerechtfertigt wird. Weiter konnte Johann an den Küsten von Beauport und Beaupré für seine Sache wirken, wobei er zuerst bei Chateau Richer und dann an der Insel Orleans stromabwärts von Quebec aus Land ging.

Am südlichen Ufer hielt der »Champlain« unter Anderem bei St. Michel an der Levisspitze. Hier galt es einigermaßen vorsichtig zu sein, denn gerade dieser Theil des Flusses wurde scharf überwacht. Vielleicht wäre es rathsam gewesen, bei Quebec gar nicht anzulegen, wo der Kutter am Abend des 22. September eintraf. Johann hatte aber hier ein Stelldichein mit dem Advocaten [109] Sebastian Grammont, einem der entschiedensten Abgeordneten der canadischen Opposition, verabredet.

Da es ganz finster war, schlich sich Johann nach dem oberen Theil der Stadt, wo er in der Straße Petit Champlain das Haus Simon Grammont's erreichte.

Die Beziehung zwischen dem Advocaten und Johann bestand schon mehrere Jahre. Sebastian Grammont, jetzt sechsunddreißig Jahre alt, hatte sich an allen politischen Kundgebungen der letzten Jahre betheiligt – vorzüglich 1835, wo er kühn mit seiner Person eingetreten war. Von daher schrieb sich seine enge Verbindung mit Johann ohne Namen, der ihm übrigens nichts über seine Herkunft und seine Familie gesagt hatte. Sebastian Grammont wußte nur das Eine, daß der junge Patriot, wenn die Stunde gekommen war, sich an die Spitze des Aufstandes setzen werde. Jetzt, wo er diesen seit dem mißlungenen Versuch von 1835 noch nicht wieder gesehen, erwartete er ihn mit lebhafter Ungeduld.

Als Johann eintrat, ward ihm der herzlichste Empfang zutheil.

»Ich kann Ihnen nur wenig Stunden widmen, begann er.

– Nun wohl, antwortete der Advocat, so wollen wir sie verwenden, von der Vergangenheit und von der Gegenwart zu sprechen.

– Von der Vergangenheit... nein! erwiderte Johann. Von der Gegenwart... von der Zukunft... vor Allem von der Zukunft.«

Seit seinem Bekanntwerden mit ihm fühlte Sebastian Grammont heraus, daß Johann im früheren Leben von einem bedrückenden Leide heimgesucht worden sein müsse, dessen Ursache er nicht zu errathen vermochte. Selbst ihm gegenüber bewahrte Johann stets eine so scheue Zurückhaltung, daß er es vermied, seine Hand selbst darzubieten. Sebastian Grammont unterließ es auch, weiter in ihn zu dringen. Wenn es seinem Freunde sonst passend erschien, seine Geheimnisse zu entschleiern, würde er bereit sein, ihn zu hören.

Während der wenigen Stunden ihres Beisammenseins sprachen sie Beide über die politische Lage. Einerseits unterrichtete der Advocat Johann über die Stimmung im Parlamente; andererseits klärte Johann wieder Sebastian Grammont bezüglich der Maßregeln auf, welche in Erwartung einer bevorstehenden Erhebung schon getroffen waren, und vorzüglich über die Bildung einer Art Central-Comités in der Villa Montcalm, sowie über die Erfolge seiner Fahrt durch Ober-und Unter-Canada. Zur Vollendung der letzteren hatte er jetzt nur noch den Bezirk von Montreal zu bereisen.

[110] Der Advocat lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit und sah eine gute Vorbedeutung in dem Fortschritte, welchen die nationale Sache binnen wenigen Wochen gemacht hatte. Gab es doch keinen Flecken, kein Dorf mehr, wo nicht Geld zum Ankauf von Waffen und Munition vertheilt worden wäre und das nicht mit Ungeduld auf das Zeichen zum Losschlagen geharrt hätte.

Johann erfuhr hier auch von den letzten, seitens der Behörde in Quebec beliebten Maßnahmen.

»Zunächst, lieber Johann, sagte Sebastian Grammont, hier ging das Gerücht, daß Sie vor etwa einem Monat hier gewesen wären. Verschiedene Haussuchungen wurden angestellt, Ihr Versteck zu entdecken, und selbst in meinem eigenen Hause, wo Sie sich, einer falschen Angabe nach, aufhalten sollten. Da suchten mich verschiedene Beamte und Agenten auf, unter Andern auch ein gewisser Rip...

– Rip! rief Johann mit halb erstickter Stimme, als ob dieser Name ihm die Lippen verbrannt hätte.

– Ja, der Chef des Hauses Rip & Cie., antwortete Sebastian Grammont. Vergessen Sie nicht, daß dieser Geheimagent ein höchst gefährlicher Mann ist.

– Gefährlich! murmelte Johann.

– Dem Sie vor allen Anderen zu mißtrauen haben, fuhr Sebastian Grammont fort.

– Zu mißtrauen! wiederholte Johann. Ja, ihm zu mißtrauen wie einem elenden Schurken!

– Kennen Sie ihn schon?

– Ich kenne ihn wohl, bestätigte Johann, der seine Aufregung wieder bemeistert hatte, doch er kennt mich noch nicht!...

– Das ist von Wichtigkeit,« sagte Sebastian Grammont, etwas betroffen über das Benehmen seines Gastes.

Johann gab dem Gespräch bald eine andere Richtung und fragte den Advocaten über die Politik des Parlaments in den letzten Wochen.

»In der Kammer, antwortete Sebastian Grammont, ist die Opposition jetzt ganz besonders heftig. Papineau und Cuvillier, Viger, Quesnel, Bourdages und Andere unterlassen es nie, die Maßnahmen der Regierung anzugreifen. Lord Gosford würde die Kammer jedenfalls gern vertagen; er fühlt aber recht wohl, daß das nur das Land zum Aufstand drängen hieße...

[111] – Gott gebe, daß er es nicht eher thut, als bis wir bereit dazu sind, fiel Johann ein. Wenn nur die Einzelführer die Entwickelung der Dinge nicht etwa überstürzen!...


Der Kutter traf vor Quebec ein. (S. 109.)

– Sie werden Meldung erhalten, Johann, und werden gewiß nichts unternehmen, was Ihre Pläne durchkreuzen könnte. Jedenfalls sind indeß, in Erwartung einer möglichen Erhebung, welche binnen kurzer Frist ausbrechen könnte, seitens des General-Gouverneurs gewisse Maßregeln getroffen. Sir John Colborne hat die ihm zur Verfügung stehenden Truppen zusammengezogen, um sie gegebenen Falls schnell nach den wichtigsten Punkten der Grafschaften des St. Lorenzo werfen zu können, wo der Kampf, wie man meint, zuerst entbrennen müsse.


Die Leute in den Canots gehörten der indianischen Race an. (S. 116.)

– Da, aber gleichzeitig an zwanzig anderen Punk [112] ten – so hoffe ich wenigstens, antwortete Johann. Es kommt wesentlich darauf an, daß die ganze canadische Bevölkerung sich an dem nämlichen Tage und zu gleicher Stunde erhebt, und daß die Bureaukraten gleich durch die Masse erdrückt werden. Käme es nur zu einem örtlichen Aufstande, so würde dieser schon im [113] Anfange erstickt werden. Gerade um diesen allgemein zu machen, hab' ich die Kirchspiele im Westen und im Osten besucht und will ich noch nach denen in der Mitte des Landes gehen. Noch diese Nacht denke ich weiter zu reisen.

– Reisen Sie ab, Johann, vergessen Sie aber nicht, daß die Soldaten und die Freiwilligen Sir John Colborne's in der Hauptsache rings um Montreal, unter dem Commando der Obersten Gore und Witherall, verstreut liegen. Daselbst wird es gewiß zum schrecklichsten Zusammenstoß kommen...

– Dafür wird auch Alles darauf zugeschnitten sein, gleich mit dem ersten Knattern der Gewehre einen bestimmten Vortheil zu erringen, antwortete Johann. Gerade das Comité in der Villa Montcalm ist am besten in der Lage, eine gemeinsame Action zu erzielen, und ich kenne die Thatkraft des Herrn de Vaudreuil, der jenes leitet. Außerdem haben die glühendsten Söhne der Freiheit den Städten, Flecken und Dörfern der Grafschaften Verchéres, St. Hyazinthe und Laprairie, welche Montreal benachbart sind, das Feuer ihrer Begeisterung mitgetheilt...

– Und von allen Seiten wird dasselbe noch angefacht, versicherte Sebastian Grammont. Oeffentlich und unter vier Augen, in ihren Predigten wie in jedem Gespräche, geben selbst unsere Geistlichen ihrer Entrüstung über die englische Tyrannei Ausdruck. In der Cathedrale zu Quebec selbst hat sich ein junger Prediger nicht gescheut, das Nationalgefühl wachzurufen, und seine Worte fanden einen so lauten Widerhall, daß der Polizeiminister jenen verhaften lassen wollte. Lord Gosford hingegen, der mit den canadischen Geistlichen behutsam umgegangen zu sehen wünschte, hat sich dieser Gewaltmaßregel widersetzt und nur durch den Bischof bewirkt, daß jener die Stadt verlassen mußte, so daß dieser der Mission jetzt in der Grafschaft Montreal obliegt. Er ist ein wirklicher Volkstribun der Kanzel von hinreißender Beredsamkeit, der keine Rücksichtnahme auf die eigene Person kennt und der sich keinen Augenblick überlegen würde, unserer Sache Freiheit und Leben zu opfern.

– Er ist noch jung, sagten Sie, dieser Geistliche? fragte Johann.

– Kaum dreißig Jahre alt.

– Zu welchem Orden gehört er?

– Zu dem des heiligen Sulpice.

– Und sein Name?

– Der Abbé Joann.«

[114] Sebastian Grammont hätte glauben mögen, daß dieser Name in Johanns Geiste eine Erinnerung wachrief, denn der junge Mann verhielt sich einige Augenblicke schweigend. Dann nahm er Abschied von dem Advocaten, obgleich ihm dieser anbot, bis zum nächsten Tage unter seinem Dache zu rasten.

»Ich danke Ihnen, mein lieber Grammont, sagte er, es liegt mir aber daran, meine Genossen vor Mitternacht wieder zu treffen. Wir müssen mit steigender Fluth abfahren.

– So gehen Sie mit Gott, Johann, antwortete der Advocat. Ob Ihr Unternehmen nun gelingt oder nicht, in jedem Fall sind und bleiben Sie einer Derjenigen, die für unser Land das Meiste gethan haben!

– Nichts werde ich gethan haben, so lange dieses noch unter dem Joche Englands seufzt, rief der junge Patriot, und wenn mir dessen Befreiung, selbst mit dem Opfer meines Lebens, nicht gelingen sollte...

– So würden Sie doch dessen ewige Dankbarkeit verdienen, fiel ihm Sebastian Grammont ins Wort.

– Nein, dann würde ich gar nichts verdienen!«

Hiermit trennten sich die beiden Freunde. Nachdem Johann den eine Kabellänge vom Ufer verankerten »Champlain« wieder erreicht hatte, segelte dieser mit der Strömung nach Montreal zu weiter.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Von Quebec nach Montreal.

Um Mitternacht hatte der Kutter bereits einige Meilen stromaufwärts zurückgelegt. In dieser vom Scheine des Vollmonds erhellten Nacht steuerte Pierre Harcher mit voller Sicherheit daher, obwohl er von einem Ufer zum anderen laviren mußte, denn der Wind wehte als frische Brise genau aus Westen.

Der »Champlain« hielt erst kurz vor Anbruch des Morgenroths an. Leichte Dunstmassen huschten da über die Wasserfläche der beiden Ufer. Bald tauchten[115] dann im Hintergrunde stehende Bäume aus diesem Nebelschleier auf, den die Sonne aufzulösen begann, und der Lauf des Stromes wurde wieder sichtbar.

Schon waren viele Fischer bei der Arbeit, indem sie Netze und Angelschnuren hinter ihren kleinen Booten her schleppten, welche nur den Oberlauf des St. Lorenzo und seine Nebenflüsse zur Rechten und zur Linken befahren. Der »Champlain« verlor sich bald unter dieser Flottille, welche ihrer nationalen Beschäftigung zwischen den Ufern der Grafschaften Port-Neuf und Lotbinière nachging. Auch die Brüder Harcher begannen sofort ihre Arbeit, nachdem sie an der Nordseite den Anker versenkt hatten. Sie brauchten noch einige Körbe Fische, um diese in den Dörfern zu verkaufen, sobald die Fluth gestatten würde, trotz des Gegenwindes den Strom wieder hinauf zu gelangen.

Während des Fischfanges legten mehrere Rindenboote am »Champlain« an. Es waren zwei oder drei jener leichten »Skifs«, die man auf die Schulter nehmen kann, wenn es sich darum handelt, Untiefen, also Stellen, an denen der Fluß nicht schiffbar ist oder wo ihn Felsen sperren, ebenso längs der Stromschnellen und Wasserfälle, welche ihn da und dort unterbrechen, zu passiren.

Die Leute in den Canots gehörten meist der indianischen Race an. Sie kamen, um Fische zu kaufen, welche sie dann sogleich nach den Flecken und Dörfern des Inneren beförderten, wohin, auf den kleinen Wasserläufen des Landes, nur ihre leichten Boote vordringen konnten. Zu wiederholten Malen legten auch Canadier an den »Champlain« an. Einige Minuten unterhielten sie sich mit Johann und steuerten dann wieder zum Ufer zurück, um die ihnen gegebenen Aufträge auszuführen.

Hätten die Brüder Harcher an diesem Morgen geschäftsmäßig oder nur zum Vergnügen gefischt, so wäre ihnen eine reiche Beute zugefallen. In den Netzen und an den Schnuren fing sich eine große Menge Hechte, Barsche und jener in den canadischen Gewässern so zahlreich vorkommenden Maskinongis und Turadis, welche von den Feinschmeckern Nordamerikas so hochgeschätzt werden.

Daneben singen sie auch viele »Weißfische«, welche ihres zarten vortrefflichen Fleisches wegen ebenfalls allgemein beliebt sind. Die Leute vom »Champlain« durften also in den Uferwohnungen auf den besten Empfang rechnen, und dieser ward ihnen denn auch zutheil.

Uebrigens waren sie durch ein prächtiges Wetter ungemein begünstigt – ein Wetter, wie es dem glücklichen und unvergleichlichen Thale des St. Lorenzo[116] eigenthümlich ist. Welch' wunderbar schönen Anblick boten da die benachbarten Gelände vom Ufer des Stromes bis zum Fuße der Laurentidenkette! Nach der poetischen Schilderung Fenimore Cooper's zeigten sie sich in ihrem Herbstschmuck – dem gelben und grünen Gewand der letzten schönen Tage – ganz besonders schön.

Der »Champlain« richtete seinen Lauf zunächst nach dem Strande der Grafschaft Port-Neuf am linken Ufer. Im Flecken gleichen Namens wie in den Dörfern St. Anna und St. Stanislaus wurden recht gute Geschäfte gemacht. Vielfach ließ der »Champlain« daselbst freilich mehr an Geld zurück, als er für die Producte der Fischerei vereinnahmte. Die Brüder Harcher dachten jedoch gar nicht daran, sich darüber zu beklagen.

Während der beiden folgenden Tage besuchte Johann abwechselnd beide Stromufer. In der Grafschaft Lotbinière auf dem rechten Ufer, in Lotbinière selbst, in St. Pierre-les-Bosquets – in der Grafschaft Champlain am entgegengesetzten Ufer in Batiscan – ferner wieder auf der Gegenseite in Gentilli und Doucette, erhielten die hervorragendsten Reformer seinen Besuch. Sogar eine der einflußreichsten Persönlichkeiten von Nicolet, in der Grafschaft gleichen Namens, ein gewisser Aubineau, Friedensrichter und Gerichtscommissär für die geringfügigeren Angelegenheiten, setzte sich in Verbindung mit ihm. Hier wie in Quebec hörte Johann, daß der Abbé Joann die Kirchspiele durchwanderte und daß seine Predigten die Geister aufgerüttelt hatten. Aubineau hatte ihm vertraut, daß es in seiner Umgebung vor Allem an Waffen und Schießbedarf fehle.

»Sie werden damit versorgt werden, antwortete er. Eine von Montreal in vergangener Nacht abgegangene Holzladung muß sehr bald eintreffen und Flinten, Pulver und Blei mitbringen. Doch hüten Sie sich, vor der Zeit eine Erhebung zu versuchen. Wäre das nicht zu umgehen, so setzen Sie sich mit dem Comité in der Villa Montcalm auf der Insel Jesus in Verbindung und wenden Sie sich brieflich an dessen Vorsitzenden...

– An Herrn de Vaudreuil?...

– Ja, an ihn.

– Einverstanden.

– Sagten Sie nicht, daß der Abbé Joann durch Nicolet gekommen sei?

– Vor sechs Tagen war er hier.

– Wissen Sie vielleicht, wohin er sich von Ihnen aus gewendet hat?

[117] – Nach der Grafschaft Verchères, und von da aus wird er sich, wenn ich nicht irre, nach der Grafschaft Laprairie begeben.«

Hierauf nahm Johann von dem Friedensrichter Abschied und kehrte an Bord des »Champlain« zurück, als die Brüder Harcher, nachdem sie ihre Fische abgesetzt, auf diesem wieder eintrafen. Nun steuerten sie schräg über den Strom in der Richtung nach der Grafschaft St. Maurice.

An der Mündung des Flusses dieses Namens erhebt sich einer der letzten Flecken des Landes, die Ortschaft Trois-Rivières, am Rande eines fruchtbaren Thales. Zu jener Zeit hatte man daselbst eben eine, von einer französisch-canadischen Gesellschaft geleitete Kanonengießerei errichtet, welche auch nur französisch-canadische Arbeiter beschäftigte.

Diese Gegend war ein Mittelpunkt anti-loyalistischer Bestrebungen, den Johann nicht vernachlässigen konnte. Der »Champlain« segelte mehrere Meilen weit den Lauf des St. Maurice hinauf, und der junge Patriot setzte sich mit den in den Kirchspielen schon vorhandenen Comités in Beziehung.

Die genannte, eben begründete Gießerei befand sich freilich noch im Zustande der Organisation. Wenige Monate später hätten die Reformer sich wohl hier mit den Feuerschlünden ausrüsten können, die ihnen so sehr fehlten. Es wäre dann – bei Tag und Nacht fortgesetzter Arbeit – möglich gewesen, der Artillerie der königlichen Truppen die ersten in dem Werke von St. Maurice gegossenen Kanonen gegenüberzustellen. Johann hatte über diese Angelegenheit ein wichtiges Gespräch mit den Vorstehern des Comités, damit wenigstens einige Feldstücke schleunigst hergestellt würden, zu deren Bedienung es an Mannschaften schon nicht fehlen werde.

Von Trois-Rivières absegelnd, folgte der »Champlain« zur Linken dem Ufer der Grafschaft Maskinongé, hielt bei der kleinen Stadt dieses Namens einmal an und steuerte dann in der Nacht vom 24. bis 25. September nach einer weit offenen Stelle des St. Lorenzo, welche unter dem Namen des St. Pierre-Sees bekannt ist. Hier breitet sich in der That ein gegen fünf Lieues langer See aus, stromaufwärts begrenzt von einer Menge von Eilanden, welche sich von Berthier, einer Ortschaft gleichen Namens, bis nach Sorel, das schon zur Grafschaft Richelieu gehört, hinstrecken.

Hier spannten die Brüder Harcher ihre Netze aus oder schleppten dieselben vielmehr nach, wobei sie mit Hilfe der Strömung mäßig schnell den Fluß weiter hinauf gelangten. Dicke Wolken bedeckten den Himmel, und die Dunkelheit [118] war stark genug, um weder nach Norden noch nach Süden zu eines der Ufer erblicken zu können.

Kurz nach Mitternacht bemerkte der auf dem Auslug stehende Pierre Harcher ein Feuer, welches stromaufwärts am Ufer leuchtete.

»Das ist offenbar das Signallicht eines heimtreibenden Schiffes, sagte Rémy, der an seines Bruders Seite getreten war.

– Achtung auf die Netze! rief Jacques. Wir haben davon dreißig Faden draußen und sie wären verloren, wenn das Schiff unsern Curs kreuzte.

– So wollen wir nach Steuerbord abfallen, sagte Michel, zum Glück fehlt es ja nicht an Raum dazu...

– Nein, entgegnete Pierre, der Wind ist dazu zu flau und wir würden weggetrieben werden...

– Mir scheint es besser, die Netze gleich einzuziehen, meinte Tony, das wäre sicherer...

– Ja wohl, und deshalb keine Zeit verloren!« stimmte Rémy bei.

Die Brüder Harcher beeilten sich ihre Fanggeräthschaften an Bord zu holen, als Johann sagte:

»Seid Ihr auch sicher, daß jenes ein Schiff ist, welches mit der Strömung herabtreibt?....

– Ich kann mir nichts anders denken, entgegnete Pierre. Jedenfalls nähert es sich ziemlich langsam und sein Licht schimmert ziemlich tief auf dem Wasserspiegel.

– Vielleicht ist es ein »Käfig«? meinte Jacques.


Johann hatte sich dem Führer des Holzzuges genähert. (S. 124.)

– Nun, wenn es ein Käfig wäre, antwortete Rémy, hätten wir um so mehr Ursache, ihm auszuweichen. Dann könnten wir uns gar nicht mehr von demselben befreien. Vorwärts also, holt ein!«

Der »Champlain« wäre in der That in Gefahr gekommen, seine Netze einzubüßen, wenn die Brüder nicht rasch Hand angelegt hätten, diese hereinzuziehen, selbst ohne sich Zeit zu nehmen, die in den Maschen hängenden Fische daraus zu befreien. Kein Augenblick war zu verlieren, denn das betreffende Licht glänzte bereits in einer Entfernung von nur zwei Kabellängen.

»Käfige« nennt man in Canada jene aus sechzig bis siebzig »Cribs«, d.h. Abtheilungen, bestehenden Holzzüge oder Flöße, von denen jedes mindestens tausend Cubikfuß umfaßt. Von dem Tage an, wo der Eisgang die Beschiffung des Stromes gestattet, gleitet eine große Anzahl solcher Käfige von Montreal nach Quebec hinunter.

[119] Sie kommen aus den endlosen Wäldern des Westens, jener unvergleichlichen Quelle des Wohlstandes für die Provinz Canada. Man stelle sich eine schwimmende, höchstens fünf bis sechs Fuß über das Wasser aufragende Masse vor, welche etwa einem Ponton ohne Mast ähnelt. Diese besteht aus an Ort und Stelle vierkantig und zwar mit der Axt bearbeiteten Stämmen oder auch aus Brettern und Planken, welche die längs der Chaudières-Fälle am Ottawa-Flusse gelegenen Schneidemühlen liefern. Solcher Züge schwimmen von April bis Mitte October Tausende hinab, welche die Wasserfälle und Stromschnellen durch Gleiteinrichtungen umgehen, die sich auf dem Grunde enger seitlicher Canäle angebracht finden.


Die Fischer sind diese gefährlichen Durchfahrten gewöhnt. (S. 127.)

[120]

[121] [123]Ein Theil dieser Käfige legt schon in Montreal an und löscht hier die Ladung für nach den europäischen Häfen bestimmte Schiffe; der größere Theil aber geht bis Quebec selbst. Hier ist der Mittelpunkt des Handels mit Waldproducten, dessen Betrag sich zu Gunsten Canadas auf jährlich zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen Mark beziffert.

Es versteht sich von selbst, daß diese Holzzüge die Schifffahrt auf dem Flusse nicht wenig belästigen, vorzüglich wenn sie dessen Mittelarme benutzen, welche nur von mäßiger Breite sind; ganz dem Ebbestrom, so lange dieser anhält, überlassen, gehorchen dieselben natürlich dem Steuer fast gar nicht. Es ist also Sache der Fischerboote und der anderen Fahrzeuge, jenen aus dem Wege zu gehen, wenn sie ernste Zusammenstöße und damit starke Havarien vermeiden wollen. Auch die Brüder Harcher mußten sich demnach beeilen, ihre in der Richtungslinie des Käfigs nachgeschleppten Netze einzuholen, da die Windstille sie verhinderte, jenem weiter auszuweichen.

Jacques hatte sich nicht getäuscht, es war ein solches ungeheures Floß, welches den Strom hinabglitt. Eine an dessen Vordertheil befestigte Laterne zeigte die Richtung, der es folgte, und es hatte sich schon bis auf zwanzig Faden genähert, als der »Champlain« mit dem Einziehen seiner Netze zu Ende war.

In diesem Augenblick begann eine klangvolle Stimme das alte Volkslied, das nach Roveillaud's Angabe zum wahren Nationalgesang, wenn auch mehr nur durch die Melodie als durch den Text geworden ist. In dem Sänger, dem Führer des Floßes, erkannte man leicht einen Canadier französischen Stammes, schon an der Betonung und der breiten Aussprache der Doppellaute. Er sang Folgendes:


Ich kam zurück ermüdet

Vom lust'gen Hochzeitsschmauß,

Und an der kühlen Quelle,

Da ruht' ich sorglos aus.


Ohne Zweifel erkannte Johann die Stimme des Sängers, denn er näherte sich Pierre Harcher, gerade als der »Champlain« mittels einiger Ruderschläge ein wenig von dem Käfig abgebracht werden sollte.

»Lege an, sagte er zu ihm.

– Anlegen? antwortete Pierre verwundert.

– Ja!... Das ist Louis Lacasse.

[123] – So werden wir aber mit ihm hinuntertreiben.

– Höchstens fünf Minuten lang, versicherte Johann. Ich habe blos wenige Worte mit ihm zu sprechen.«

Einen Augenblick später glitt Pierre Harcher, nachdem er die Ruderpinne umgelegt, längs des Holzzuges hin, an dem der »Champlain« mit seinem Vordertheile festgelegt wurde.

Der Führer des Floßes hatte, als er dieses Manöver sah, seinen Gesang unterbrochen und rief.

»Heda!... Kutter!... In Acht nehmen!

– Es ist keine Gefahr, Louis Lacasse! antwortete Pierre Harcher; der »Champlain« ist es.«

Mit einem Satze war Johann auf den Holzzug hinübergesprungen und hatte sich dessen Führer genähert, der ihn, als er ihn beim Lichte der Laterne erkannte, freundlichst begrüßte.

»Ich mache Ihnen mein »Compliment«, Herr Johann.

– Ich danke, Lacasse.

– Ich rechnete darauf, Ihnen unterwegs zu begegnen und hatte mich schon entschlossen, den »Champlain« beim nächsten Aufenthalt während der Fluth abzuwarten. Doch, da Sie nun hier sind...

– Ist Alles an Bord? fragte Johann.

– Alles, versteckt unter den Planken und Brettern!... Ist herrlich verstaut, versichere ich Sie! setzte Louis Lacasse hinzu, während er Stein und Schwamm hervorzog, um die Pfeife wieder anzuzünden.

– Sind die Zollbeamten da gewesen?

– Ja wohl.... In Verchères!... Diese Maulwürfe haben eine ganze halbe Stunde lang hier herumgewühlt!... Gesehen haben sie nichts. Es war, als ob Alles in einer Lade verschlossen wäre.«

Louis Lacasse sprach das Wort »Lade« mit derselben Dehnung aus, wie »Compliment«, und wie das noch in einzelnen Provinzen Frankreichs Sitte ist.

»Wie viel? fragte Johann.

– Zweihundert Flinten.

– Und Säbel?

– Zweihundertfünfzig.

– Diese kommen...?

[124] – Aus Vermont. Unsere Freunde, die Amerikaner, haben tüchtig gearbeitet, gekostet hat uns Alles nicht besonders viel. Sie hatten nur einige Mühe, die Ladung bis nach Fort Ontario zu schaffen, wo wir sie übernahmen. Jetzt gibt es keine Schwierigkeiten mehr.

– Und die Munition?...

– Drei Tönnchen Pulver und einige Tausend Kugeln. Wenn jede von diesen ihren Mann trifft, wird es in Canada bald keinen Rothrock mehr geben, da werden sie aufgezehrt von den »Froschessern«, wie uns die Angelsachsen nennen.

– Du weißt auch, fragte Johann, für welche Kirchspiele die Waffen und die Munition bestimmt sind?

– Vollkommen, versicherte der Fischer. Seien Sie ohne Sorge! Es ist keine Gefahr mehr, überrascht zu werden. Während der Nacht, wenn es tiefste Ebbe ist, werde ich meinen Käfig festlegen, und dann kommen Boote vom Ufer, um jedes seinen Theil abzuholen. Doch gehe ich nicht weiter, als bis Quebec hinunter, wo ich meine Hölzer an Bord des »Moravian« von Hamburg abzuliefern habe.

– Schon recht, antwortete Johann. Vor Quebec wirst Du auch deine letzten Flinten und letzten Pulvertonnen abgegeben haben.

– Es wird sich schon machen.

– Sage mir, Louis Lacasse, bist Du auch der Leute, die Du bei Dir hast, sicher?

– Wie meiner selbst. Wahre Jean-Baptiste 1 sind es, und wenn es darauf ankommt – eine Muskete abzubrennen, so glaub' ich nicht, daß sie zaruckbleiben würden.«

Louis Lacasse sagte »zaruck«, vielleicht weil man »dahinter« und nicht »duhinter« sagt.

Johann übergab ihm noch eine gewisse Menge Piaster, welche der wackere Schiffsmann, ohne sie zu zählen, in die Tasche seiner groben Jacke gleiten ließ.

Dann wechselte er noch ein paar warme Händedrücke mit der Besatzung des Kutters.

[125] Johann hatte wieder an Bord des »Champlain«, der sich nach dem linken Ufer zu entfernte, Platz genommen, und während der Holzzug abwärts glitt, konnte man noch die lauttönende Stimme Louis Lacasse's vernehmen, welche wieder fortfuhr:


»Und an der kühlen Quelle,

Da ruht' ich sorglos aus!«


Eine Stunde später erhob sich auch der Wind von Neuem. Der »Champlain« segelte nun unter die zahlreichen Inseln hinein, welche den Pierre-See anfüllen, und nachdem er nach und nach an den Ufern der Grafschaften Joliette und Richelieu, welche einander gegenüberliegen, vorbei gekommen, legte er bei den Uferdörfern der Grafschaften Montcalm und Verchères an, deren Frauen sich gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts so muthvoll geschlagen hatten, um ein von Wilden gestürmtes Fort zu vertheidigen.

Während der Kutter still lag, besuchte Johann die Führer der Reformer und konnte er sich durch eigene Anschauung von dem Geiste der Bewohner überzeugen. Mehrmals erwähnte man ihm gegenüber auch Johanns ohne Namen, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war. Wo befand sich derselbe jetzt? Würde er erscheinen, wenn die Stunde des Kampfes schlug? Die Patrioten rechneten auf ihn. Trotz der Bekanntmachung des Gouverneurs hätte er nach dieser Grafschaft kommen können und hier wäre für ihn, auf eine Stunde wie auf vierundzwanzig, jede Thür offen gewesen.

Angesichts dieser Zeichen einer Erhebung, welche zu jedem Opfer bereit schien, fühlte Johann sich tief bewegt. Ja, er wurde von der canadischen Bevölkerung erwartet gleich einem Messias. Dennoch beschränkte er sich darauf zu antworten:

»Ich weiß nicht, wo Johann ohne Namen ist; kommt aber der große Tag, so wird er da sein, wohin die Pflicht ihn ruft.«

Etwa um die Mitte der Nacht vom 26. zum 27. September hatte der »Champlain« den Mittellauf des St. Lorenzo erreicht, der die Insel Montreal vom südlichen Ufer scheidet.

Der »Champlain« gelangte damit an die letzten Stationen seiner Fahrt. In wenigen Tagen gedachten die Brüder Harcher das Fahrzeug für die Winterzeit abzurüsten, da der Strom dann völlig unschiffbar wird. Damit sollten Johann und sie nach der Grafschaft Laprairie heimkehren, wo dann die [126] ganze Familie des Farmers vom Pachthofe von Chipogan zur Hochzeitsfeier versammelt sein sollte.

Zwischen der Insel Montreal und dem rechten Ufer besteht der Arm des St. Lorenzo aus Stromschnellen, welche man als eine Sehenswürdigkeit des Landes betrachten darf. An dieser Stelle breitet sich eine Art See, ähnlich dem St. Pierre-See, aus, wo der »Champlain« dem Käfig des Patrons Louis Lacasse begegnet war. Man nennt denselben den Sprung des heiligen Ludwig, und er liegt gegenüber Lachine, einer kleinen Ortschaft stromaufwärts von Montreal, in der viele Bewohner der Stadt gern Sommeraufenthalt nehmen. Der See gleicht einem schäumenden Meere, in das sich der Wasserschwall eines der Arme des Ottawa entleert. Dichte Wälder starren noch am Ufer empor und umgeben ein Dorf zum Christenthum bekehrter Irokesen, Caughnawaga mit Namen, dessen kleine Kirche ihre bescheidene Thurmspitze über die grünen Waldmassen erhebt.

Wenn die Bergfahrt auf diesem Theile des St. Lorenzo sehr schwierig ist, so droht die Thalfahrt mit der Gefahr, leichter und schneller als gewünscht vor sich zu gehen, denn hier könnte ein falscher Ruderschlag genügen, ein Boot in die Stromschnellen zu werfen. Die Seeleute und Schiffer aber, und vorzüglich die Fischer, welche hier Alsen zu Myriaden fangen, sind diese gefährlichen Durchfahrten gewöhnt und wissen sich geschickt, trotz der tosenden Gewässer, im richtigen Curse zu erhalten.

Steuert man am südlichen Ufer des Stromes hin und benützt dann noch ein Seil zum Anholen, so ist es nicht unmöglich, Laprairie, den Hauptort der gleichnamigen Grafschaft, zu erreichen, wo der »Champlain »sein gewöhnliches Winterlager hatte.

Gegen die Mitte des Tages befand sich Pierre Harcher ein wenig stromaufwärts von dem Flecken Lachine (China). Dieser Name, also der nämliche Name wie der des ungeheuren asiatischen Reiches, rührt noch von den ersten Seefahrern her, welche in den St. Lorenzo eindrangen.

In der Nachbarschaft des Landes der großen Seen angekommen, glaubten sie sich an der Küste des Stillen Weltmeeres zu befinden und folglich nicht weit von dem Himmlischen Reiche zu sein.

Der Führer des »Champlain« manövrirte in der Weise, um nach dem rechten Stromufer zu gelangen; er erreichte dasselbe gegen fünf Uhr Nachmittags, nahe der Grenze, welche zwischen Montreal und Laprairie verläuft.

[127] Da sagte Johann zu ihm:

»Ich werde aus Land gehen, Pierre.

– Du willst nicht mit uns nach Laprairie kommen? fragte Pierre Harcher dagegen.

– Nein, ich muß noch das Kirchspiel von Chambly besuchen, und wenn ich bei Caughnawaga lande, habe ich einen kürzeren Weg dahin.

– Du wagst damit aber viel, bemerkte Pierre, und ich werde Dich nicht ohne Unruhe diesen Weg nehmen sehen. Warum willst Du uns verlassen, Johann? Bleibe noch zwei Tage, und wir gehen nach der Abtakelung des »Champlain« zusammen.

– Ich kann nicht, antwortete Johann, ich muß noch diese Nacht in Chambly sein.

– Wünschest Du vielleicht, daß Dich zwei von uns begleiten? fragte Pierre Harcher.

– Auch das nicht, es ist besser, ich bin allein.

– Und Du wirst dich in Chambly aufhalten?...

– Nur wenige Stunden, Pierre; vor Tagesanbruch hoffe ich von da wieder aufzubrechen.«

Da Johann nicht geneigt schien, sich über das, was er in jenem Flecken vorhatte, näher zu erklären, so bestand Pierre Harcher nicht weiter darauf und begnügte sich hinzuzufügen:

– Sollen wir Dich in Laprairie erwarten?

– Das ist unnöthig. Macht was Ihr zu machen habt, ohne Euch um meinetwillen zu ängstigen.

– Wo werden wir uns dann wieder treffen?...

– Im Pachthofe zu Chipogan.

– Du weißt, fuhr Pierre fort, daß wir in der ersten Octoberwoche dort sein müssen.

– Ja, das weiß ich.

– Verfehle auch Du diese Zeit nicht, Johann. Deine Abwesenheit würde meinem Vater, meiner Mutter und uns Allen große Sorge bereiten. Wir werden in Chipogan zu einem Familienfeste erwartet, und da Du unser Bruder geworden bist, mußt Du ebenfalls da sein, damit die Familie vollzählig ist.

– Ich werde mich einstellen, Pierre!«

[128] Johann drückte den Söhnen Harcher's die Hand. Dann begab er sich nach der Cabine des »Champlain«, legte wieder die Kleidung an, welche er bei seinem Besuche in der Villa Montcalm getragen hatte, und nahm von seinen wackeren Genossen Abschied.

Gleich darauf sprang Johann auf das Ufer und nach einem letzten »Auf Wiedersehen!« verschwand er unter den Bäumen, deren dunkles Dickicht das Irokesendorf umgibt.


Nach einem letzten »Auf Wiedersehen« verschwand Johann. (S. 129.)

Pierre, Rémy, Michel, Tony und Jacques begaben sich unverzüglich wieder an die Arbeit. Nur mit großer Anstrengung und dem Aufwand [129] aller Kräfte gelang es ihnen, ihr Fahrzeug gegen die Strömung anzuholen, wobei sie die Wirbel benützten, welche sich an verschiedenen Stellen bildeten.

Um acht Uhr Abends lag der »Champlain« sorgsam vertaut in einer kleinen Bucht vor den ersten Häusern von Laprairie.

Die Brüder Harcher hatten ihre Fischerei-Campagne beendet, während der sie sechs Monate lang je zweihundert Lieues weit die Gewässer des gewaltigen Stromes bergauf und bergab befahren hatten.

Fußnoten

1 Ein Name, mit dem man die französischen Canadier auf dem platten Lande vielfach bezeichnet.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Ein Jahrestag.

Um fünf Uhr Nachmittag war es, als Johann den »Champlain« verließ. Drei Lieues trennten ihn da ungefähr von dem Flecken Chambly, nach dem er sich begeben wollte.

Was hatte er daselbst vor? War seine Propaganda, die er seit dem Eintreffen in der Villa Montcalm in den äußersten südwestlichen Grafschaften betrieb, noch nicht beendet gewesen? Ja, das wohl; doch gerade dieses Kirchspiel hatte seinen Besuch noch nicht erhalten. Warum das so gekommen, hätte Niemand errathen können, und er hatte es auch keinem Menschen gesagt, ja, vielleicht mochte er es sich kaum selbst gestehen. Er wanderte jetzt auf Chambly zu, als ob dieses gleichzeitig anziehend und abstoßend auf ihn wirkte, denn jedenfalls war er sich des Kampfes bewußt, der ihm hier bevorstand.

Zwölf Jahre waren vergangen, seit Johann den Flecken, in dem er geboren, verlassen hatte. Nie hatte man ihn daselbst wiedergesehen. Jetzt würde ihn Keiner mehr wieder erkennen. Er selbst besann sich ja nach so langer Abwesenheit kaum auf die Straße, auf der er als Kind gespielt, noch auf das Haus, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte.

Doch nein, die Erinnerungen aus seinem frühesten Alter konnten aus seinem lebhaften Gedächtnisse doch nicht so vollständig verwischt sein. Aus dem[130] Uferwald herausgetreten, sah er sich plötzlich inmitten der Wiesen, durch die er sonst gelaufen, wenn er nach der Fähre im St. Lorenzo wollte. Es war kein Fremdling, der über diesen Boden schritt, sondern ein Kind des Landes. Er überlegte auch gar nicht, einzelne durchwatbare Stellen zu benutzen, Querpfade einzuschlagen und Winkel abzuschneiden, wodurch er seinen Weg abkürzte. Auch in Chambly selbst konnte er nicht zweifelhaft sein, den kleinen Platz wieder zu erkennen, wo sein Vaterhaus gestanden, wie die enge Straße, durch welche er meist in dasselbe gelangt, die Kirche, in die seine Mutter ihn damals führte, die Schule, in der er den ersten Unterricht empfangen, ehe er seine Studien in Montreal fortsetzte.

Johann wollte also jene Oertlichkeiten wieder sehen, von denen er sich schon so lange Zeit entfernt hatte. Im Augenblicke, wo er bald sein Leben für den letzten Kampf in die Schanze schlagen wollte, trieb ihn noch ein unwiderstehlicher Wunsch, dahin zurückzukehren, wo dieses für ihn elende Dasein seinen Anfang genommen hatte. Es war nicht Johann ohne Namen, der sich hier den Reformern der Grafschaft vorstellte, es war vielmehr das Kind, welches vielleicht zum letzten Male nach dem Dorfe seiner Geburt heimkehrte.

Johann ging raschen Schrittes dahin, um vor dem Dunkelwerden in Chambly zu sein und dieses vor Anbruch des Tages wieder verlassen zu können. In peinigende Erinnerungen versanken, sahen seine Augen nichts von dem, was früher seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nicht die Heerden Elennthiere, welche im Gehölz weilten, noch die Tausende von Vögeln, die zwischen den Bäumen umherflatterten, oder das Wild, das durch die Furchen dahinlief.

Einige Leute waren noch mit Feldarbeiten beschäftigt. Er wandte sich ab, um nicht ihren herzlichen Gruß erwidern zu müssen, da er unbemerkt durch die Felder zu gehen und nach Chambly zu kommen wünschte, ohne gesehen worden zu sein.

Es war sieben Uhr Abends, als der Kirchthurm des Orts über den Baumkronen sichtbar wurde. Noch eine halbe Lieue und er war zur Stelle. Das durch den Abendwind bis zu ihm getragene Läuten der Glocke veranlaßte ihn zu den Worten:

»Ja, ich bin es!... Ich, der noch einmal inmitten von dem Allen zu athmen wünschte, was er ehedem so sehr geliebt hatte!... Ich kehre zum Neste zurück! Ich wandre wieder zu meiner Wiege!...«

Er schwieg, oder gab sich vielmehr selbst Antwort, indem er mit bebender Stimme fragte:

[131] »Was soll ich denn hier beginnen?«

Das unterbrochene Anschlagen der Glocke belehrte ihn inzwischen, daß es nicht der Angelus (Abendsegen) war, der in diesem Augenblicke ertönte, doch wußte er sich nicht zu deuten, zu welcher Andacht sie die Gläubigen von Chambly in so später Stunde riefe.

»Desto besser, sprach er für sich selbst, so werden die Leute in der Kirche sein und ich brauche nicht an offenen Thüren vorüberzugehen. Niemand wird mich sehen, Niemand anreden; und da ich nicht nöthig habe, irgendwen um Gastfreundschaft zu bitten, so wird kein Mensch wissen, daß ich gekommen bin...«

Während er sich das sagte und den Weg fortsetzte, wandelte ihn doch wiederholt das Verlangen an, lieber umzukehren. Doch nein, eine unwiderstehliche Kraft trieb ihn vorwärts.

Je mehr er sich nun Chambly näherte, desto vorsichtiger und aufmerksamer blickte Johann um sich. Trotz mancher, im Laufe von zwölf Jahren ja unausbleiblichen Veränderungen erkannte er doch die Häuser, die Umzäunungen und die am Außenrande des Fleckens gelegenen Pachthöfe wieder.

Nach Erreichung der Hauptstraße glitt er längs der Häuser hin, deren Aussehen so vollständig französisch war, daß er sich in die Mitte einer Landvogtei im 17. Jahrhundert hätte zurückversetzt glauben können. Hier wohnte ein Freund seiner Familie, bei dem Johann früher oft einige Tage seiner Ferien zugebracht, dort wieder der Pfarrer des Kirchspiels, der ihm die ersten Stunden ertheilt hatte. Ob diese guten Leute wohl noch lebten?... Weiter erhob sich ihm zur Rechten ein hohes Bauwerk. Das war die Schule, in die er sich jeden Morgen begeben und welche einige hundert Schritte weit, nach einem höheren Theile von Chambly zu, lag.

Diese Straße mündete auf dem Platze der Kirche. Sein Vaterhaus befand sich links an demselben an einer Ecke, und die Rückseite desselben lag nach einem großen Garten zu, der wiederum mit dem rings um den Flecken aufstrebenden Wald zusammenhing.

Die Nacht war sehr dunkel. Die halb offene Hauptpforte der Kirche ließ in deren Innerem eine mattbeleuchtete Versammlung erkennen, auf welche der Armleuchter von der Decke ein ungewisses Licht niederwarf.

Johann, der nicht mehr erkannt zu werden fürchtete – wenn man sich seiner überhaupt noch erinnerte – hatte einen Augenblick die Absicht, sich unter die Andächtigen zu mischen, in diese Kirche einzutreten, dem Abendgottesdienste [132] beizuwohnen und auf diesen Bänken niederzuknien, auf denen er als Kind seine ersten Gebete gelallt hatte. Anfänglich aber schon nach der entgegengesetzten linken Seite des Platzes hingezogen, gelangte er nach der Ecke, wo sein Vaterhaus gestanden...

Er entsann sich genau; hier war es erbaut gewesen. Deutlich traten ihm alle Einzelheiten vor die Augen, das Gitter, welches einen kleinen Vorraum abschloß; der Taubenschlag, der den Giebel rechter Hand überragte; die vier Fenster des Erdgeschosses, die Thür in der Mitte; das Fenster zur Linken im ersten Stockwerk, wo ihm seine Mutter inmitten der dasselbe schmückenden Blumen so oft erschienen war. Er zählte fünfzehn Jahre, als er Chambly zum letzten Male verließ. In diesem Lebensalter haben sich alle Eindrücke schon tief ins Gedächtniß eingegraben. Hier, genau an dieser Stelle, mußte die Wohnung sich befinden, welche die Vorfahren seiner Familie, schon in der ersten Zeit der canadischen Colonie, errichtet hatten.

Jetzt war kein Haus mehr an dieser Stelle – nichts fand sich, als ein Haufen Ruinen; nicht diejenigen, welche allmählich durch die Länge der Zeit entstehen, sondern solche, welche irgend ein trauriges, düsteres Vorkommniß hinterlassen. Hier konnte über dieses gar kein Zweifel aufkommen. Verglaste Steine, geschwärzte Mauerreste, Stücken verkohlter Balken und Haufen von Asche, welche mit der Zeit verbleichte, verriethen, daß das Gebäude schon vor längerer Zeit ein Raub der Flammen geworden war.

Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte Johann. Wer hat diese Feuersbrunst verschuldet?... War sie ein Werk des Zufalls, der Unvorsichtigkeit?... War hier die Hand eines Verbrechers im Spiel gewesen?...

Mit unwiderstehlicher Gewalt dahin gezogen, betrat Johann die Ruinen... Er theilte mit dem Fuße die Asche auf dem Boden. Einige Fledermäuse flatterten davon. Ohne Zweifel, hierher kam niemals Jemand. Warum hatte man aber, hier an der belebtesten Stelle des Fleckens, diese Ruine unberührt liegen lassen? Warum hatte man sich nach dem Brande nicht einmal die Mühe genommen, die Baustelle freizulegen?

Im Laufe der zwölf Jahre, seit er das Vaterhaus verlassen, hatte Johann niemals gehört, daß dasselbe zerstört sei, daß es weiter nichts mehr bilde, als einen wirren Haufen vom Feuer geschwärzter Steine.

Regungslos, krampfhaft zuckenden Herzens dachte er an die traurige Vergangenheit, an die noch traurigere Gegenwart...

[133] »He, was machen Sie da, Herr?« rief ihm jetzt ein alter Mann zu, der auf dem Wege zur Kirche stehen blieb.

Johann, der ihn gar nicht gehört hatte, gab keine Antwort.

»He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?... Bleiben Sie nicht dort!... Wenn Sie Einer sähe, würden Sie Gefahr laufen, schlecht anzukommen!«

Johann verließ die Ruine, kam nach dem Platz zu rück und wendete sich an den, der ihn angesprochen hatte.

»Sprecht Ihr mit mir? fragte er.

– Ja wohl mit Ihnen, Herr. Es ist verboten, diesen Ort zu betreten!

– Und weshalb?

– Weil derselbe verflucht ist!

– Verflucht!« murmelte Johann.

Dieses Wort wiederholte er jedoch mit so leiser Stimme, daß der alte Mann ihn nicht verstehen konnte.

»Sie sind wohl fremd hier, Herr?

– Ja, antwortete Johann.

– Und sind jedenfalls seit so manchen Jahren nicht nach Chambly gekommen?...

– Ganz recht, seit vielen Jahren nicht mehr!...

– Dann ist's ja nicht zu verwundern, daß Sie nichts davon wissen. Glauben Sie mir... es ist ein guter Rath, den ich Ihnen gebe, gehen Sie nicht noch einmal zwischen diese Trümmer hinein.

– Ja, weshalb denn?

– Weil Sie sich schänden würden, wenn Sie nur die Schuhsohlen mit dieser Asche beschmutzen. Das war hier das Haus des Verräthers...

– Des Verräthers?

– Ja, des Simon Morgaz!«

Er wußte es ja zu gut, der Unglückliche.

Von der Wohnstätte also, von der man seine Familie vor zwölf Jahren vertrieben, von der Wohnstätte, die er noch ein letztes Mal hatte wiedersehen wollen und die er für noch vorhanden hielt, war nichts mehr übrig, als einige durch Feuer zerstörte Mauerreste; und die Ueberlieferung hatte daraus einen so verachteten Ort gemacht, daß Keiner es wagte, sich ihm nur zu nähern, daß nicht einer der Bewohner von Chambly denselben erblickte, ohne einen Fluch darauf [134] zu schleudern! Ja, zwölf volle Jahre waren dahingegangen, doch nichts hatte, weder in diesem Flecken, noch sonst wo in den canadischen Provinzen, das Entsetzen zu lindern vermocht, das der Name Simon Morgaz einflößte.

Johann hatte die Augen gesenkt und seine Hände zitterten; er fühlte, daß ihm schwindlich wurde. Ohne die herrschende Dunkelheit hätte der alte Mann die Schamröthe sehen müssen, die ihm ins Gesicht gestiegen war.

Dieser fuhr fort:

»Sie sind selbst Canadier?...

– Ja, bestätigte Johann.

– Dann müssen Sie doch auch jenes von Simon Morgaz begangene Verbrechen kennen?

– Wer in Canada kennt dasselbe nicht?

– Gewiß. Niemand, mein Herr! Sie wohnen wahrscheinlich in den östlichen Grafschaften?

– Ja... im Osten... in Neu-Braunschweig.

– O, das ist weit, freilich sehr weit! Da wußten Sie es wohl gar nicht, daß dieses Haus zerstört worden war?...

– Nein!... Ohne Zweifel durch einen Unfall?...

– Das nicht, lieber Herr. Das nicht! entgegnete der alte Mann. Vielleicht wär's besser gewesen, wenn das himmlische Feuer es vernichtet hätte; und gewiß, das wäre auch den einen oder den anderen Tag geschehen, denn Gott ist immer gerecht. Man griff aber seiner Vergeltung vor! Schon am nächsten Tage, nachdem Simon Morgaz mit seiner Familie von Chambly verjagt worden war, stürzten sich die Leute wüthend auf diese Wohnung und setzten sie in Brand.... Nachher aber, um die Erinnerung an das Vorgefallene niemals erbleichen zu lassen, beschloß man, die Ruinen in demselben Zustande zu belassen, wie Sie dieselben jetzt sehen. Es wurde verboten, sich denselben zu nähern, und gewiß mochte sich Keiner mit dem Staube dieses Hauses entehren!«

Unbeweglich hörte Johann dem Allen zu. Die Lebhaftigkeit, mit der der wackere Mann sprach, bewies, daß der Abscheu vor Allem, was Simon Morgaz gehört hatte, noch heute in voller Stärke lebte. Wo Johann die Erinnerungsmale an seine Familie aufsuchen wollte, da fand er nur das Andenken an ihre Schande!

Inzwischen hatte sich der Andere, während er plauderte, ein wenig von der in die Acht erklärten Stelle entfernt und nach der Kirche zu gewendet. Die Glocke ließ ihre letzten Schläge durch die Luft ertönen. Der Gottesdienst sollte seinen Anfang nehmen.


»He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?« (S. 134.)

Schon hörte man einzelne Gesänge, welche von längeren Zwischenräumen unterbrochen wurden.

[135]

Da sagte der alte Mann:

»Jetzt, lieber Herr, muß ich Sie verlassen, wenn Sie mich nicht etwa in die Kirche begleiten wollen. Sie würden dort eine Predigt hören, die im ganzen Kirchspiele großes Aufsehen machen dürfte...


»In's Feuer mit dem Verräther!... In's Feuer mit Simon Morgaz!« (S. 141.)

– Ich kann nicht, erwiederte Johann; noch vor Ta [136] gesanbruch muß ich in Laprairie zurück sein...

– Dann haben Sie keine Zeit zu verlieren, lieber Herr. Na, jedenfalls sind die Wege sicher. Seit einiger Zeit durchstreifen Polizeibeamte die Grafschaft Montreal und suchen nach Johann ohne Namen, den sie, wenn Gott unserm Lande noch gnädig ist, nicht finden werden!... Man rechnet auf diesen jungen Helden, lieber Herr, und hat damit gewiß auch Recht. Wenn ich glauben darf, was mir zu Ohren gekommen ist, so würde er hier nur muthige Männer finden, die alle bereit sind, ihm zu folgen!...

[137] – Wie in der ganzen Grafschaft, antwortete Johann.

– Eher noch mehr, lieber Herr! Haben wir nicht die Schande abzuwaschen, einen Simon Morgaz zum Mitbewohner unseres Ortes gehabt zu haben?«

Der alte Mann liebte es offenbar, ein wenig zu plaudern; endlich nahm er aber doch, Johann gute Nacht wünschend, Abschied. Da hielt ihn dieser mit den Worten zurück:

»Ihr habt die Familie jenes Simon Morgaz jedenfalls gekannt, guter Freund?

– Natürlich, Herr, und wie gut! Ich bin jetzt siebzig Jahre alt und zählte achtundfünfzig zur Zeit jenes abscheulichen Verbrechens. Ich habe dieses Land bewohnt, das auch seine Heimat war, doch nie, niemals würde ich geglaubt haben, daß sich Simon zu so etwas bereit finden ließe.... Was mag wohl aus ihm geworden sein?... Ich weiß es nicht!... Vielleicht ist er todt... vielleicht in die Fremde gegangen, wo er unter falschem Namen lebt, damit man ihm den seinen nicht ins Gesicht schleudern kann? Doch, seine Frau, seine Kinder!... Ach, wie beklage ich diese Unglücklichen! Frau Bridget, die ich so oft gesehen, die immer so gut und edelmüthig war, obwohl sie nur unter bescheidenen Umständen lebte; sie, die im ganzen Flecken überall so beliebt war!... Und welch' warme Vaterlandsliebe trug sie im Herzen!... Was hat sie leiden müssen, das arme Weib! Was hat sie leiden müssen!«

Wie vermöchte man zu schildern, was hierbei im Innern Johanns vorging! Hier, vor den Ueberresten des zerstörten Hauses, hier, wo sich der letzte Act jener Verrätherei abgespielt, wo die Genossen Simon Morgaz' ausgeliefert worden waren, den Namen seiner Mutter preisen zu hören, in der Erinnerung alles Elend seines Lebens noch einmal durchzukosten – das erschien ihm fast mehr, als eine Menschennatur ertragen konnte. Johann bedurfte auch einer außergewöhnlichen Energie, um zu verhüten, daß sich kein Schmerzensschrei seiner Brust entrang.

Der alte Mann fuhr fort:

»So wie die Mutter, hab' ich auch die beiden Söhne gekannt! Sie hielten treu zu ihr! Ach, die armen Leute!... Wo mögen sie in dieser Minute sein?... Alle hier liebten sie wegen ihres Charakters, ihrer Offenheit und ihres guten Herzens! Der Aeltere war schon sehr ernst und fleißig, der Jüngere mehr aufgeräumt, aber entschiedener und stets bereit, die Schwachen[138] gegen die Stärkeren zu schützen.... Er hieß Johann. Sein Bruder wurde Joann genannt... richtig, genau wie der junge Geistliche, der eben jetzt predigen wird...

– Der Abbé Joann?... rief Johann.

– Sie kennen ihn?

– Nein, guter Freund... nein!... Ich habe aber von seinen Predigten gehört...

– Nun also, wenn Sie ihn nicht kennen, lieber Herr, so müssen Sie schon seine Bekanntschaft machen... Er ist durch alle Grafschaften des Westens gezogen, und überall sind die Leute zusammengeströmt, um ihn zu hören... Sie werden ja selbst sehen, welche Begeisterung er zu entzünden vermag!... Wenn Sie Ihren Aufbruch nur um eine Stunde verzögern können...

– Ich folge Euch!« unterbrach ihn Johann.

Der Greis und er begaben sich nach der Kirche, wo sie einige Mühe hatten Platz zu finden.

Die ersten Gebete waren gesprochen und der Prediger bestieg eben die Kanzel.

Der Abbé Joann war dreißig Jahre alt. Mit dem leidenschaftlichen Gesichte, dem durchdringenden Blicke und der warmen überzeugenden Stimme glich er ganz seinem Bruder und war auch ebenso ohne Bart wie dieser. In Beiden fanden sich die charakteristischen Züge ihrer Mutter wieder. Wenn man ihn hörte, wie wenn man ihn sah, begriff man wohl den Einfluß, den der Abbé Joann auf die von seinem Rufe herbeigelockten Massen ausübte. Ein Wortführer des katholischen Glaubens wie des Glaubens und der Hoffnung des Landes, war er ein Apostel im wahren Sinne des Wortes, ein Kind jener mächtig wirkenden Missionäre, welche sich opferwillig genug zeigen, das Blut für ihren Glauben zu verspritzen.

Der Abbé Joann begann seine Predigt. Aus Allem, was er von Gottes Gerechtigkeit sprach, fühlte man heraus, was er zum Besten seines Vaterlandes sagen wollte. Seine Anspielungen auf die jetzige Lage Canadas waren darauf berechnet, die Zuhörer zu begeistern, deren Patriotismus nur die Gelegenheit erwartete, sich in Thaten umzusetzen. Seine Bewegung, sein Wort, seine Haltung erregten etwas wie ein dumpfes Beben in der bescheidenen Dorfkirche, als er die Hilfe des Himmels anrief gegen die Räuber der althergebrachten Freiheiten. Man hätte sagen mögen, seine zitternde Stimme verklinge gleich einer Trompete,[139] sein ausgestreckter Arm schwinge von der Kanzel herab die Fahne der Unabhängigkeit.

Im Schatten verborgen, hörte Johann ihm zu. Es erschien ihm, als wär' er es selbst, der hier durch den Mund seines Bruders sprach. Es waren ja dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen und Wünsche, wel che sich in diesen so nahe verwandten Wesen begegneten. Beide kämpften für ihre Heimat, jeder auf seine Weise, der Eine mit dem Worte, der Andere durch die That, Beide aber zum schwersten Opfer gleich bereit.

Jener Zeit besaß der katholische Clerus in Canada sowohl in socialer wie in intellectueller Hinsicht einen großen Einfluß. Man betrachtete die Geistlichen als geheiligte Personen. Es war der Kampf der alten katholischen Glaubensgesetze, welche die französischen Elemente der Colonie von Anfang an eingepflanzt hatten, gegen die protestantischen Dogmen, denen die Engländer überall Eingang zu verschaffen suchten. Die Parochianen sammelten sich da um den Priester, den thatsächlichen Vorsteher der Kirchspiele, und der Politik, welche dahin zielte, die canadischen Provinzen den englischen Händen zu entwinden, war diese Verbrüderung der Geistlichkeit und der Gläubigen keineswegs fremd.

Der Abbé Joann gehörte, wie bekannt, zum Orden des heiligen Sulpice. Der Leser wird aber kaum wissen, daß dieser Orden als Besitzer eines großen Theiles des Landes seit dessen Eroberung noch heute aus demselben sehr beträchtliche Einkünfte bezieht. Verschiedene Servitute, welche, vorzüglich auf der Insel Montreal im Sinne von Herrenrechten, einst durch Richelieu 1 gewährt wurden, haben noch heute zum Besten der Congregation Geltung. Es folgt hieraus, daß die Sulpicianer in Canada eine ebenso geehrte wie mächtige Gesellschaft bilden, und daß die Priester, welche noch immer die reichsten Landeigenthümer sind, dadurch gleichzeitig einen weitreichenden Einfluß ausüben.

Die Predigt – man hätte auch sagen können, der feurige Aufruf an alle Patrioten – dauerte gegen dreiviertel Stunden lang. Sie begeisterte die Zuhörer in so hohem Grade, daß sie – ohne die Heiligkeit des Orts – dieselbe mit lautem Beifall beantwortet hätten. Die nationale Faser in ihnen war durch diese eindringliche Anregung neu belebt worden. Vielleicht wunderte man sich darüber, daß die Behörden diese Predigten, in denen sich die Propaganda [140] der Reformer unter dem Deckmantel des Evangeliums verbarg, so ohne Einschränkung gestattete. Es wäre jedoch schwierig gewesen, in denselben eine directe Aufforderung zur Empörung nachzuweisen, und außerdem genoß die Kanzel eine Freiheit, an welche die Regierung nur im äußersten Nothfall rühren wollte.

Nach Beendigung der Predigt zog sich Johann in einen Winkel der Kirche zurück. Während die Menge sich verlief, wollte er sich vielleicht dem Abbé Joann zu erkennen geben, seine Hand drücken, mit ihm wenige Worte wechseln, ehe er sich wieder zu seinen Genossen im Pachthofe von Chipogan begab. Ja, wahrscheinlich. Die beiden Brüder hatten sich seit einigen Monaten nicht gesehen, da Jeder seine eigene Straße zog, um an demselben Werke der nationalen Erhebung thätig zu sein.

Johann wartete also hinter den ersten Pfeilern des Kirchenschiffes, als draußen ein heftiges Lärmen entstand, aus dem man Geschrei, Ausrufe und wüstes Geheul vernahm. Es erschien so, als ob die Volkswuth mit zügelloser Heftigkeit ausgebrochen wäre. Gleichzeitig flackerte ein heller Schein über den Platz, von dem einzelne Strahlen selbst ins Kircheninnere drangen.

Die Woge der Zuhörer wälzte sich hinaus, und, wider Willen mit fortgezogen, folgte ihr Johann bis zur Mitte des Platzes.

Was ging wohl hier vor?

Vor den Ruinen des Hauses des Verräthers war ein großes Feuer angezündet worden. Mehrere Männer, zu denen sich auch bald Frauen und Kinder gesellten, ernährten die Flammen, in die sie ganze Arme voll trockenen Holzes warfen.

Unter den wilden Ausrufen hörte man wohl auch die haßerfüllten Worte:

»Ins Feuer mit dem Verräther!... Ins Feuer mit Simon Morgaz!«

Dann wurde eine Art mit Lumpen bedeckter Hanswurst nach den lodernden Flammen geschleppt.

Johann begriff Alles. Die Bewohner von Chambly verschritten zur Hinrichtung des Elenden in effigie, wie man in London noch heute das Bild Guy Fawke's, jenes verbrecherischen Helden der Pulververschwörung, durch die Straßen schleppt.

Heute, am 27. September, war der Jahrestag, wo Walter Hodge und seine Genossen François Clerc und Robert Farran auf dem Schaffot den Tod gefunden hatten.

[141] Vom Entsetzen gepackt, wollte Johann entfliehen... er konnte nicht von der Stelle weg; es schien, als ob seine Füße fest in den Erdboden eingewurzelt wären. So mußte er es denn mit ansehen, wie das Zerrbild seines Vaters mit Schmähworten überhäuft, von Schlägen zerfleischt und mit Koth besudelt wurde, den die Menschenmenge in wahnwitzigem Hasse auf ihn warf, und es erschien ihm, als ob alle diese Schmach auf ihn, Johann Morgaz, zurückfiele.

Da erschien der Abbé Joann – die Menge wich auseinander, um ihm Durchgang zu gestatten.

Auch er hatte die Bedeutung dieses Volksauflaufes schnell durchschaut. Da erkannte er auch seinen Bruder, dessen bleiches Gesicht von dem Widerschein der Flammen erleuchtet war, während Hunderte von Stimmen neben dem verhaßten 27. September den verachteten Namen Simon Morgaz' ausriefen.

Der Abbé Joann war seiner kaum noch Herr. Er streckte die Arme aus und drängte sich nach dem Scheiterhaufen durch, als die Puppe in die prasselnde Gluth geworfen werden sollte.

»Im Namen des allbarmherzigen Gottes! rief er; Mitleid für das Andenken dieses Unglücklichen!... Hat Gott nicht auch Vergebung für alle Sünder?

– Für den Vaterlandsverräther, für den Verrath an Denjenigen, die für die Heimat gekämpft haben, gibt es keine Gnade!«

In der nächsten Minute schon hatte das Feuer, wie das alljährlich geschah, das Bild Simon Morgaz' verzehrt.

Das wilde Geschrei tobte lauter und verhallte erst, als die Flammen langsam verloschen.

Im jetzt herrschenden Dunkel hatte Niemand sehen können, daß Johann und Joann zu einander getreten waren und, die Hände verschränkt, Beide den Kopf niedersenkten.

Ohne ein Wort gesprochen zu haben, verließen sie den Schauplatz dieser schrecklichen Scene und flohen wie verfolgt aus dem Flecken Chambly, nach dem sie nimmer wiederkehren sollten.

[142]
Fußnoten

1 Erst 1854 beschloß das Parlament von Canada die Ablösung jener Lasten; eine nicht geringe Zahl von Eigenthümern aber liefern ihre Gebühren, treu der alten Gewohnheit noch immer in die Hände der sulpicianischen Geistlichkeit ab.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Ein geschlossenes Haus.

Sechs Lieues von St. Denis erhebt sich der Flecken St. Charles am Nordufer des Richelieu in der Grafschaft St. Hyacinthe, welche an die von Montreal grenzt. Folgt man dem Richelieu, einem der bedeutendsten Zuflüsse des St. Lorenzo, stromaufwärts, so gelangt man nach der kleinen Stadt Sorel, wo der »Champlain« während seiner letzten Fahrt vor Anker gegangen war.

Jener Zeit stand noch, einige Hundert Schritte vor der Biegung, welche die Hauptstraße von St. Charles da macht, wo sie zwischen den ersten Häusern des Fleckens verläuft, ein kleines, vereinzeltes Häuschen.

Es war eine bescheidene, ja dürftige Wohnstatt, welche nur aus dem Erdgeschoß mit einer Thür und zwei Fenstern bestand, in deren abgegrenztem Vorraum das Unkraut wucherte. Meist war die Thür verschlossen; auch die Fenster wurden niemals geöffnet, nicht einmal hinter den Läden mit voller Füllung, welche stets geschlossen gehalten wurden. Das Licht des Tages konnte so allein durch zwei an der, nach einem Garten zu gelegenen Hinterfront des Häuschens befindliche Fenster Eingang finden.

Dieser Garten bildete ein Viereck mit hohen von Glaskraut überwucherten Mauern und mit einem von halb verfallenem Steingeländer eingefaßten Brunnen. Hier wuchsen auf der Fläche etwa eines Fünftel Ackers verschiedene Gemüse; dort vegetirten etwa ein Dutzend Obstbäume, Birn-, Nuß- und Apfelbäume, welche alle der Sorge der Natur überlassen waren. Ein kleiner Hühnerhof, der in den Garten hereinreichte und auf der anderen Seite das Haus berührte, beherbergte fünf bis sechs Hühner, welche die für den täglichen Bedarf nöthige Menge Eier lieferten.

Das Innere dieses Hauses enthielt nur drei Räume mit wenigen Möbeln – und zwar nur, was von diesen unumgänglich nöthig erschien. Der eine dieser Räume zur Linken des Eingangs diente als Küche, die beiden anderen zur Rechten als Schlafzimmer. Die enge, sie trennende Hausflur bildete den Verbindungsgang zwischen Vorraum und Garten.

[143] Ja, dieses Haus war sehr dürftig und klein; man glaubte es aber herauszufühlen, daß der oder die Bewohner gerade gewünscht haben mochten, unter solchen ärmlichen Verhältnissen zu leben. Die Bewohner von St. Charles irrten hiermit auch nicht. Klopfte einmal ein Bettler an die Thür des »geschlossenen Hauses« – wie es im Orte allgemein genannt wurde – so ging er gewiß nicht ohne ein kleines Almosen davon.

Das »geschlossene Haus« hätte ebenso gut das »mildthätige Haus« heißen können, denn die Mildthätigkeit äußerte sich hier zu jeder Stunde.

Wer dasselbe bewohnte?... Eine einzelne, stets schwarz gekleidete und von langem Witwenschleier umhüllte Frau. – Sie verließ nur selten das Haus – ein- oder zweimal die Woche, wenn sie ausgehen mußte, um irgend etwas einzukaufen, oder des Sonntags, um in die Kirche zu gehen. Handelte es sich um einen Einkauf, so wartete sie damit bis es Nacht oder mindestens ganz dunkel geworden war, schlüpfte dann durch die düsteren Straßen längs der Häuser hin, trat rasch in einen Laden, sprach mit leiser Stimme nur wenige Worte, bezahlte ohne zu feilschen und kehrte gesenkten Kopfes, die Augen zur Erde gerichtet, wieder um, als ob das arme Wesen sich geschämt hätte, von Anderen gesehen zu werden. Ging sie zur Kirche, so geschah das nur ganz früh, zur ersten Messe. Sie hielt sich dann abseits, in einer wenig erleuchteten Ecke, wo sie, wie ganz in sich zurückgezogen, kniete. Unter dem sie verhüllenden Schleier verhielt sie sich fast erschreckend still und regungslos. Man hätte sie für todt halten können, wenn sich nicht zuweilen ein schmerzlicher Seufzer ihrer Brust entrungen hätte. In ärmlichen, drückenden Verhältnissen schien diese seltsame Frau zwar nicht zu leben, und doch mußte sie allem Anscheine nach höchst unglücklich sein. Ein- oder zweimal hatten gute Seelen ihr beispringen, ihre Dienste anbieten, ihr Interesse er wecken und ihr einige Worte der Theilnahme zuflüstern wollen. Doch da hüllte sie sich nur tiefer in ihre Trauerkleidung und wich zurück, als ob sie selbst ein Gegenstand des Schreckens gewesen wäre.

Die Einwohner von St. Charles kannten diese Fremde, man hätte sagen können, diese Einsiedlerin, sonst ganz und gar nicht. Vor zwölf Jahren war sie nach dem Flecken gekommen, um das für ihre Rechnung zu sehr niedrigem Preise erkaufte Haus zu beziehen, denn die Gemeinde, der dasselbe gehörte, hatte es schon seit längerer Zeit ausgeboten und fand doch Niemand, der es haben wollte.

[144] Eines Tages hörte man, daß die neue Besitzerin während der Nacht angekommen und in ihre Wohnung gezogen sei, ohne daß sie Jemand hätte eintreten sehen. Man wußte nicht, wer ihr beim Transport des dürftigen Mobiliars geholfen haben mochte; sie miethete auch keine Magd, um ihr im Haushalte beizustehen. Niemals konnte Jemand bis zu ihr eindringen. So lebte sie jetzt, und so hatte sie seit ihrer Ankunft in St. Charles in strenger, fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt. Die Mauern des geschlossenen Hauses glichen auch wirklich denen eines Klosters, das noch kein Unbefugter jemals betreten hatte.

[145] Die Bewohner des Fleckens suchten auch gar nicht das Leben dieser Frau zu durchschauen oder die Geheimnisse ihrer Existenz zu entschleiern. Während der ersten Tage nach ihrer Uebersiedlung hierher steckte man wohl ein wenig die Köpfe zusammen und es entstanden manche Redereien über die Besitzerin des geschlossenen Hauses.


Dieses Haus war dürftig und klein. (S. 144.)

Man vermuthete das und jenes, bald aber beschäftigte man sich nicht weiter mit ihr. Soweit es ihre Mittel gestatteten, erwies sie sich mildthätig gegen die Armen des Landes, und schon das sicherte ihr die Achtung Aller.

Ziemlich groß, doch etwas gebeugt, wohl mehr durch Kummer als durch das Alter, mochte die Fremde jetzt etwa fünfzig Jahre zählen. Unter dem Schleier, der sie zur Hälfte bedeckte, verbarg sich ein Gesicht, welches schön gewesen sein mußte, dafür zeugten noch die hohe Stirn und die schwarzen feurigen Augen. Ihr Scheitel freilich war ganz weiß; ihr Blick schien verschleiert von den unstillbaren Thränen, die denselben so lange gebadet hatten. Jetzt war der Ausdruck dieser sonst sanften und lächelnden Physiognomie der einer düsteren Entschlossenheit, eines unbeugsamen Willens.

Hätte die öffentliche Neugier sich etwas mehr befleißigt, das geschlossene Haus zu überwachen, so wäre der Beweis zu erbringen gewesen, daß sie sich doch nicht unbedingt jedem Gaste verschloß.

Drei- oder viermal des Jahres, allemal in der Nacht, öffnete sich die Pforte vor einem, manchmal vor zwei Fremden, welche freilich keine Vorsicht außer Acht ließen, ungesehen hierher und auch wieder fort zu kommen. Niemand hätte sagen können, ob sie nur wenige Stunden oder mehrere Tage in diesem Hause verweilten. Wenn sie es wieder verließen, so geschah das jedenfalls vor dem Tagesgrauen.

Niemand konnte also bezweifeln, daß diese seltsame Frau noch irgend welche Beziehungen mit der Außenwelt unterhielt. Ein solcher Fall trat in der Nacht des 30. September 1837 gegen elf Uhr ein. Die große, die ganze Grafschaft St. Hyazinthe von Ost nach West durchziehende Landstraße führt nach St. Charles und über dieses hinaus. Sie war zu jener Stunde menschenleer. Tiefe Dunkelheit umhüllte den eingeschlummerten Flecken. Kein Bewohner desselben konnte die beiden Männer sehen, welche auf dieser Straße herankamen, bis zu dem geschlossenen Hause schlichen, die Gitterthür des kleinen Vorhofes öffneten und dann in einer Weise an die Thür klopften, daß sich schon daraus ein verabredetes Erkennungszeichen verrieth.

[146] Die Thür öffnete sich und verschloß sich sofort wieder. Die beiden nächtlichen Besucher traten in das erste Zimmer zur Rechten, dessen schwache, von einer Art Nachtlicht erzeugte Beleuchtung außerhalb des Hauses nicht wahrgenommen werden konnte.

Die Insassin gab beim Erscheinen der beiden Männer gar keine Verwunderung zu erkennen. Diese drückten sie in die Arme und kamen ihr überhaupt mit rein kindlicher Zärtlichkeit entgegen.

Es waren Johann und Joann, jene Frau aber ihre Mutter, Bridget Morgaz. Niemand hätte daran gezweifelt, daß diese unglückliche Familie Canada verlassen habe, um in irgend einer Provinz Nord- oder Südamerikas oder gar in einem fernen Winkel Europas ein verborgenes Dasein zu fristen. Die von dem Verräther erlangte Geldsumme mußte ausreichen, ihm ein bequemes Leben zu sichern, wohin er sich auch zurückziehen mochte. Nahm er dann einen falschen Namen an, so entging er auch der Verachtung, die seinem eignen Namen in der ganzen Welt folgte.

Der Leser weiß schon, daß diese Vermuthungen irrige waren. Eines Abends hatte Simon Morgaz sich mit eigener Hand gerichtet, und kein Mensch ahnte, daß sein Leichnam an einer verlorenen Stelle des Nordufers am Ontario-See ruhte.

Bridget Morgaz, Johann und Joann hatten die ganze Furchtbarkeit ihrer Lage schnell begriffen. Waren die Mutter und die Söhne auch völlig schuldlos an dem Verbrechen des Gatten und Vaters, so herrschte auch gegen sie gewiß ein so grausames Vorurtheil, daß sie nirgends Mitleid und Vergebung gefunden haben würden. In Canada, wie an jedem anderen Punkte der Welt, mußte ihr Name allein ein nie schweigender, einstimmiger Vorwurf für sie bleiben. Sie beschlossen also auf diesen Namen zu verzichten, ohne an die Annahme eines anderen nur zu denken. Wozu hatten die Unglücklichen, denen das Leben nur noch Schmach und Schande zu bringen versprach, das auch nöthig?

Die Mutter und die Söhne entwichen aber doch nicht sofort aus dem Vaterlande. Ehe sie Canada verließen, hatten sie noch eine Aufgabe zu erfüllen, und dieser Aufgabe wollten sie sich, selbst um den Preis des Lebens, alle Drei widmen.

Ihre einzige Absicht ging nämlich dahin, das wieder gut zu machen, was Simon Morgaz an seinem Vaterlande verbrochen hatte. Ohne jenen von dem hinterlistigen Rip veranstalteten Verrath hätte die Verschwörung von 1825 [147] die beste Aussicht auf Erfolg gehabt. Nach Gefangennahme des Gouverneurs und der englischen Truppenführer hätten die wenigen Soldaten der franco-canadischen Bevölkerung, die sich in Masse zu erheben bereit war, kaum Widerstand leisten können. Eine ehrlose Handlung hatte aber das Geheimniß der Verschwörung preisgegeben, und Canada war unter den Händen seiner Bedrücker geblieben.

Johann und Joann wollten also das durch den Verrath ihres Vaters unterbrochene Werk wieder aufnehmen. Bridget, deren muthige Entschlossenheit ganz der schrecklichen Lage gewachsen war, wies sie selbst darauf hin, daß das der einzige Zweck ihres Lebens sein könne. Sie verstanden das, die beiden Brüder, die jener Zeit erst siebzehn und achtzehn Jahre zählten. Und sie widmeten sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe der Vergeltung.

Bridget Morgaz, von Anfang an entschlossen, nur von dem zu leben, was ihr von dem früheren Vermögen übrig blieb – wollte nichts von dem im Taschenbuche des Selbstmörders vorgefundenen Geld behalten. Diese Summe konnte und sollte zu nichts Anderem verwendet werden, als für die Bedürfnisse der nationalen Sache. So entstand das geheimnißvolle, den Händen des Meister Nick übergebene Depot. Ein Rest wurde zurückbehalten, um von Johann unmittelbar unter die Reformer vertheilt zu werden.

So hatten die Comités 1831 und 1835 die nöthige Summe zum Ankauf von Waffen und Schießbedarf erhalten, und 1837 wurde der Ueberrest jener zur Aufbewahrung gegebenen Summe dem Comité in der Villa Montcalm zugewendet und den Händen des Herrn de Vaudreuil anvertraut. Das war Alles, was von dem Preise des Verräthers noch übrig geblieben war.

In dem Hause zu St. Charles, wohin ihre Mutter sich zurückgezogen, sahen die Söhne sie im Geheimen, wenn ihnen das möglich wurde. Schon seit mehreren Jahren hatte Jeder seinen eigenen Weg eingeschlagen, um das nämliche Ziel zu erreichen.

Joann, der Aeltere, hatte sich gesagt, daß für ihn doch jedes irdische Glück verwelkt sei; unter dem Einflusse religiöser Vorstellungen, welche dem Allen entsprang, hatte er Priester, aber streitbarer Priester werden wollen. Er war in den Orden des heiligen Sulpice mit der Absicht eingetreten, die unwiderruflichen Rechte seiner Heimat mit dem Worte lebendig zu erhalten. Eine natürliche Beredtsamkeit im Verein mit einem glühenden Patriotismus zog die Bevölkerung der kleinen Städte und des Landes zu ihm heran. In der letzten [148] Zeit war sein Ruhm nur noch gewachsen und stand eben jetzt auf der höchsten Stufe.

Johann hatte sich der reformatorischen Bewegung zwar nicht mit der Macht der Rede, aber mit der That angeschlossen.

Obwohl der Aufstand 1831 ebensowenig geglückt war, wie der von 1835, so hatte sich sein Ansehen doch keineswegs vermindert. Die große Menge betrachtete ihn als den geheimnißvollen Anführer der Söhne der Freiheit. Er erschien zur Stunde, wo er mit seiner Person eintreten mußte, und verschwand ebenso, um sein Werk weiterzuführen. Der Leser weiß, zu welch' hohem Ansehen er sich in der Partei der liberalen Opposition emporgeschwungen hatte. Es schien fast, als ob die Sache der Unabhängigkeit in den Händen eines einzelnen Mannes, jenes Johann ohne Namen, wie er sich selbst nannte, läge und als ob die Patrioten von ihm allein das Zeichen zu einem neuen Aufstande erwarteten.

Die Stunde desselben war schon nahe. Noch einmal, bevor sie sich in dieses Unternehmen einließen, hatten Johann und Joann, welche der Zufall in Chambly zusammengeführt hatte, sich nach dem geschlossenen Hause begeben wollen, um ihre Mutter – vielleicht zum letzten Male – wiederzusehen.

Jetzt waren sie nun da, bei ihr, und saßen an ihrer Seite. Sie hielten ihre Hand und sprachen mit gedämpfter Stimme. Johann und Joann erklärten ihr, wie die Dinge jetzt lagen. Der Kampf mußte entsetzlich werden, wie jeder Verzweiflungskampf.

Durchdrungen von den Empfindungen, von denen ihr Herz überwallte, gab sich Bridget der Hoffnung hin, daß das Verbrechen des Vaters endlich durch die Söhne seine Sühne finden werde. Dann nahm sie das Wort:

»Mein Johann und mein Joann, sagte sie, ich muß wohl Eure Hoffnungen theilen, muß wohl an den Erfolg glauben.

– Ja, Mutter, wir dürfen daran glauben, antwortete Johann. Binnen wenigen Tagen wird die Bewegung ausbrechen...

– Und Gott gebe uns den Sieg, der jeder gerechten Sache zukommt, setzte Joann hinzu.

– Ja, Gott leihe uns seine Hilfe, erwiderte Bridget, und vielleicht werde ich endlich das Recht haben zu beten für...«

Bisher war niemals, nein, niemals ein Gebet gekommen über die Lippen dieser unglücklichen Frau für die Seele Desjenigen, der einst ihr Gatte gewesen war.

[149] »Mutter, sagte Joann, meine liebste Mutter...

– Und Du, mein Sohn, unterbrach ihn Bridget, hast Du jemals für Deinen Vater gebetet, der Du Diener des vergebenden Gottes bist?«

Joann senkte den Kopf ohne zu antworten.

Bridget fuhr fort:

»Meine Kinder, bisher habt Ihr Eure Schuldigkeit gethan, vergeßt aber nicht, wenn Ihr Euch opfert, so habt Ihr nur Eure Pflicht erfüllt. Und selbst, wenn unser Land Euch einmal unsere Unabhängigkeit verdankt, so darf der Name, den wir früher trugen, der Name Morgaz...

– Doch nicht mehr existiren, meine Mutter, vollendete Johann den Satz, für ihn giebt es keine Rehabilitation. Man kann ihm die Ehre nicht wieder geben, so wenig, wie man die Patrioten wieder zum Leben erwecken kann, die der Verrath unseres Vaters dem Schaffot überlieferte. Was wir, Joann und ich, thun, das geschieht nicht, um die an unserem Namen haftende Schmach abzuwaschen... Das, das wäre unmöglich!... Nein, für einen Handel wie diesen bemühen wir uns nicht. Unsere Bestrebungen gehen nur dahin, das unserem Lande geschehene Unrecht wieder gut zu machen, nicht das, welches uns selbst getroffen hat... nicht wahr, Joann?

– Ja, bestätigte der junge Geistliche. Wenn Gott auch vergeben kann, so weiß ich doch, daß das den Menschen versagt ist, und so lange die Ehre noch eine sociale Anforderung bleibt, wird unser Name zu denen gehören, welche die Verachtung der Allgemeinheit trifft.

– Man wird also niemals vergessen können?... sagte Bridget, die ihre Söhne auf die Stirn küßte, als hätte sie das untilgbare Schandmal darauf verlöschen wollen.

– Vergessen! rief Johann. Geh' nur einmal nach Chambly, Mutter, und Du wirst sehen, ob die Vergessenheit...

– Johann, unterbrach ihn Joann schnell, schweig still!

– Nein, Joann... unsere Mutter muß es wissen!... Sie hat Seelenstärke genug, um Alles zu hören, und ich kann ihr nicht die Hoffnung auf Wiedererlangung allgemeiner Achtung, welche unmöglich ist, lassen!«

Und mit leiser Stimme, in abgebrochenen Worten, berichtete er, was nur wenige Tage vorher in dem Flecken Chambly, der Wiege der Familie Morgaz, und vor den Ruinen seines Vaterhauses geschehen war.

[150] Bridget hörte ihm zu, ohne daß eine Thräne ihre Augen netzte. Sie hatte schon das Weinen verlernt.

Doch sollte es denn wahr sein, daß eine solche Lage ohne Ende andauern konnte? War es möglich, daß die Erinnerung an einen Verrath unvergeßlich und daß die Verantwortung für ein Verbrechen auch auf Unschuldigen lasten blieb? Stand es denn im menschlichen Bewußtsein geschrieben, daß der Fleck, der auf den Namen einer Familie gefallen, niemals wieder verwischt werden konnte?

Eine kurze Zeit wurde zwischen der Mutter und den beiden Söhnen kein Wort gewechselt; sie sahen einander nicht einmal an, und ihre Hände hatten sich von einander gelöst. Alle litten schrecklich. Ueberall also, nicht allein in Chambly, würden sie Parias sein, »Outlaws«, welche die Gesellschaft von sich stößt, welche sie sozusagen außerhalb der Gemeinschaft der Menschen hinstellt.

Gegen drei Uhr nach Mitternacht dachten Johann und Joann daran, ihre Mutter zu verlassen. Sie wollten jedenfalls wieder fortgehen, ohne die Gefahr, gesehen zu werden. Ihre Absicht ging auch dahin, sich gleich vor der Ortschaft zu trennen. Es schien von Wichtigkeit, daß sie Niemand zusammen auf der Straße sah, auf welcher sie durch die ganze Grafschaft zogen. Niemand sollte wissen, daß die Thür des geschlossenen Hauses sich diese Nacht vor den einzigen Besuchern, welche je seine Schwelle überschritten, geöffnet hatte.

Die beiden Brüder hatten sich erhoben. Im Augenblicke einer Trennung, welche vielleicht ewig andauern sollte, empfanden sie es doppelt, wie die Bande der Familie sie aneinander knüpften. Zum Glück hatte Bridget keine Ahnung davon, daß auf den Kopf Johanns ein Preis ausgesetzt war.


Sie waren da, bei ihr, und saßen an ihrer Seite. (S. 149.)

Wenn das auch Joann bekannt war, so hatte diese schreckliche Nachricht mindestens noch nicht in die Einsamkeit des geschlossenen Hauses zu dringen vermocht. Johann wollte seiner Mutter natürlich nichts davon sagen; was hätte es auch nützen können, deren Schmerzen noch zu verschlimmern, und hätte Bridget es zu anderem Zwecke erfahren, als um die Angst und Sorge, ihren Sohn niemals wiederzusehen, nur noch zu vergrößern?

Der Augenblick der Trennung war gekommen.

»Wohin wendest Du Dich, Joann? fragte Bridget.

– Nach den Kirchspielen im Süden, antwortete der junge Priester. Dort denke ich die Stunde abzuwarten, mich meinem Bruder anzuschließen, wenn dieser sich an die Spitze der canadischen Patrioten gesetzt hat.

[151] – Und Du, Johann?

– Ich begebe mich nach dem Pachthofe zu Chipogan, in der Grafschaft Laprairie, erklärte Johann. Dort werd' ich meine Genossen finden, und dort müssen wir noch die letzten Maßregeln besprechen... inmitten jener reinen Familienfreuden, die uns versagt sind, meine geliebte Mutter! Die braven Leute daselbst haben mich wie einen Sohn aufgenommen.... Sie würden ihr Leben für das meinige hingeben!... Und doch, wenn sie erführen, wer ich bin, welchen Namen ich trage...! Ach, wie elend sind wir doch, wir, deren [152] Berührung schon als eine Schande gilt!... Sie werden aber nichts erfahren... weder sie noch irgend Jemand!«

Johann war auf den Stuhl zurückgesunken und preßte, vernichtet von einer Last, die er alle Tage schwerer fühlte, die Hände vor das Gesicht.


Im Dorfe Walhatta. (S. 157.)

»Steh' auf, Bruder, sagte Joann. Sieh, das bringt Dir Versöhnung, daß Du stark genug bist, um leiden zu können!... Komm', steh' auf, wir wollen weiterziehen!

– Und wann werde ich Euch wiedersehen, Kinder? fragte Bridget.

[153] – Hier nicht mehr, liebste Mutter, antwortete Johann. Wenn wir obsiegen, so verlassen wir alle Drei dieses Land... und gehen weit, weit weg... wo Niemand uns erkennen kann. Wenn wir Canada seine Unabhängigkeit wiedergeben, so soll es doch nimmer erfahren, was es den Söhnen Simon Morgaz' schuldet... Nein... niemals!

– Und wenn Alles verloren ist? fuhr Bridget fort.

– Dann, meine gute, liebste Mutter, dann sehen wir uns weder in diesem Lande, noch in einem anderen wieder... dann sind wir nicht mehr unter den Lebenden!«

Die beiden Brüder warfen sich zum letzten Male in die Arme ihrer Mutter. Dann öffnete sich die Thür und schloß sich wieder.

Noch etwa hundert Schritte machten Johann und Joann auf der Landstraße zusammen, dann trennten sie sich mit einem letzten Blicke auf das geschlossene Haus, in dem eine Mutter für ihre Söhne betete.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Der Pachthof zu Chipogan.

Der Pachthof von Chipogan, gegen sieben Lieues von dem Flecken Laprairie in der gleichnamigen Grafschaft gelegen, bedeckte eine mäßige Bodenerhebung am rechten Ufer eines kleinen Wasserlaufes, der nach dem St. Lorenzo abfloß. Hier besaß Herr de Vaudreuil ein recht einträgliches, zwischen vier- und fünfhundert Acker großes Landgut, welches der Farmer Thomas Harcher bewirthschaftete.

Vor dem Pachthofe, auf der Seite nach dem Flüßchen zu, dehnten sich weite Ländereien und ein Damenbrett von grünenden Wiesen von helldurchsichtigen Hecken umgeben aus, wie solche im Vereinigten Königreiche unter dem Namen »Fences« bekannt sind. Es war der wirkliche Teppich regelmäßiger sächsischer oder amerikanischer Zeichnung in aller geometrischen Strenge. Große Vierecke und darin wieder kleinere Vierecke mit Umzäunungen umrahmten schöne [154] Culturen, welche Dank dem nährkräftigen, schwärzlichen Humus des Bodens vorzüglich gediehen. Dieser Humus, dessen Dicke drei bis vier Fuß beträgt, ruht gewöhnlich auf einer Thonschicht, und fast in derselben Weise ist in Canada der ganze Erdboden bis zu den Abhängen der Laurentiden zusammengesetzt.

Zwischen den mit peinlichster Sorgfalt cultivirten Vierecken wuchsen verschiedene Sorten Getreide, wie sie der Landmann auch meist in Mitteleuropa anbaut, nämlich Roggen, Mais, Reis, Hanf, Hopfen, Tabak u.s.w. Hier wucherte auch wilder Reis, der fälschlicher Weise »wilder Hafer« genannt wird. Dieser kam vorzüglich längs der immer nassen Ränder des kleinen Wasserlaufes vor und lieferte übrigens gekocht eine ganz ausgezeichnete Suppe.

Mit saftigem Grase bestandene Weideplätze dehnten sich hinter dem Pachthofe aus bis zum Saume der hohen Gehölze, welche eine leichte Bodenwelle bedeckten und sich über Gesichtsweite hinaus verloren. Diese Weiden reichten so bequem aus zur Ernährung der Hausthiere, welche die Farm zu Chipogan aufzog, daß Thomas Harcher noch eine weit größere Menge Rinder hätte gegen geringes Entgelt aufnehmen können. Hier tummelten sich Ochsen, Kühe, Stiere, Schafe und Schweine, ohne die kräftigen Pferde canadischer Race zu zählen, welche von den amerikanischen Züchtern so gesucht sind.

In der Nähe der Farm waren die Wälder von nicht geringer Bedeutung. Sie bedeckten früher das ganze Grenzgebiet bis zum St. Lorenzo von seiner Mündung an bis zu der Gegend der Seen. Seit langen Jahren schon hatte die Hand des Menschen hier aber so manche Lichtung geschaffen. Und wie viele stolze Bäume, deren Gipfel sich zuweilen bis zu hundertfünfzig Fuß in die Lüfte erhebt, fallen noch immer unter den Schlägen der Tausende von Aexten und stören die Ruhe jener endlosen Wälder, in denen es von Meisen, Spechten, Amseln, Nachtigallen, Lerchen, Paradiesvögeln mit glänzendem Gefieder wimmelt und wo auch liebliche Canarienvögel, welche leider in den canadischen Provinzen stumm sind, in hellen Schaaren umherflattern. Die »Lumbermen«, die Holzfäller, betreiben hier ein einträgliches, aber bedauerliches Geschäft, indem sie Eichen, Ahornbäume, Eschen, Nußbäume, Erlen, Birken, Ulmen, Kastanienbäume, Weißbuchen, Fichten und Weiden umlegen, welche zersägt oder viereckig behauen die Reihen von Käfigen bilden, die den Lauf des Stromes hinabgleiten. Wenn gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer der bekanntesten Helden Cooper's, Nathaniel Bumpoo, Falkenauge, Lange Flinte oder Lederstrumpf genannt, schon über diese Niedermetzelung von Bäumen klagte, würde er nicht heutzutage über [155] diese unerbittlichen Waldverwüster dasselbe sagen, was man über die Landwirthe sagt, welche die Fruchtbarkeit des Bodens durch einen wirklichen Raubbau zu Grunde richten: sie haben das Land gemordet?

Dabei verdient jedoch bemerkt zu werden, daß dieser Vorwurf gegenüber dem Verwalter des Pachthofes zu Chipogan unangebracht gewesen wäre. Thomas Harcher besaß dafür zu tiefe Kenntnisse und wurde von gleichfalls einsichtigen Personen unterstützt, so daß er neben dem seinigen auch den Vortheil seines Gutsherrn im Auge hatte und die Beschuldigung, ein Mörder zu sein, gewiß nicht verdiente. Seine Farm galt allgemein als ein Muster agronomischen Betriebs, und das zu einer Zeit, wo man fast überall noch der von den Großvätern seit zweihundert Jahren vererbten Bewirthschaftungsweise huldigte. Der Pachthof von Chipogan war also einer der bestverwalteten in Montreal. Die hier eingeführte Methode der Koppelwirthschaft ließ den Erdboden nicht zur Verarmung kommen. Man begnügte sich auch nicht allein, ihn im Zustande der Brache liegen zu lassen, sondern wechselte mit den Früchten, was vorzügliche Ergebnisse lieferte. Was die Fruchtbäume, von denen ein großer Garten die verschiedensten auch in Europa gedeihenden Arten enthielt, anging, so wurden diese sorgsam beschnitten, ausgeputzt und überhaupt verständig gepflegt. Alle lieferten hohe Erträgnisse, vielleicht mit Ausnahme der Aprikosen und Pfirsiche, welche besser im Süden der Provinz Ontario als im Osten der Provinz Quebec gedeihen. Die anderen aber erwiesen sich höchst ergiebig, vor Allem jene Apfelbäume, deren Früchte mit röthlichem durchscheinenden Fleische unter dem Namen »die Berühmten« bekannt sind. Was die Gemüse, wie Rothkohl, Kürbisse, Melonen, Pataten und die Blaubeeren – der Name der Waldheidelbeeren, deren schwärzliche Früchte mit Vorliebe als Compot verzehrt werden – anging, so erntete man von diesen soviel, um wöchentlich zweimal den Markt von Laprairie damit versehen zu können. Kurz, mit den Hunderten von Minots (ein altes französisches Maß) von Getreide und anderen Feld- und Gartenerzeugnissen, welche in Chipogan erzeugt wurden, mit dem Ertrage an Früchten und Gemüse, sowie der vorsichtigen Verwerthung einiger Acker Wald, lieferte der Pachthof zu Chipogan Herrn de Vaudreuil einen recht ansehnlichen Theil seiner Einkünfte und Dank der verständigen Sorgfalt Thomas Harcher's und seiner Familie war nicht zu befürchten, daß diese Ländereien in Folge unsinniger Ausnützung sich erschöpfen und in dürre Savannen verwandeln könnten, welche dann höchstens ein stachliches Buschwerk überwucherte.

[156] Uebrigens ist das canadische Klima für den Landbau sehr geeignet. An Stelle des Regens fällt hier von Ende November bis Ende März nur Schnee, der die Grasnarbe der Wiesen schützt, und die lebhafte und trockene Winterkälte dieser Gegend ist einem unaufhörlichen Platzregen entschieden vorzuziehen, abgesehen davon, daß sie auch die Wege gangbar erhält, so daß die Bodenarbeiten nicht ganz unterbrochen zu werden brauchen. In der gemäßigten Zone begegnet man nirgends einer so schnell sich entwickelnden Vegetation, da hier das im März gesäete Getreide im August völlig ausgereift ist, und die Heuernte bereits im Juni und Juli eingeheimst wird. Jener Zeit wie noch heute, beruht die Zukunft Canadas wesentlich auf dem Gedeihen seiner Landwirthschaft.

Die Baulichkeiten der Farm erhoben sich alle innerhalb einer etwa zwölf Fuß hohen Palissade. Eine einzige in steinernen Pfeilern fest angebrachte Thür gestattete den Zugang zu dem Raum. Das war eine recht löbliche Vorsicht in jener noch nicht weit zurückliegenden Zeit, wo hier Ueberfälle seitens der Indianer nicht zu den Seltenheiten gehörten. Jetzt freilich leben die Eingebornen in gutem Einvernehmen mit den Landleuten. Kaum zwei Lieues im Osten siedelte übrigens im Dorfe Walhatta der Huronenstamm der Mahogannis, von dem sich öfter eine Anzahl Männer bei Thomas Harcher einfanden, um die Producte ihrer Jagden gegen die Erzeugnisse der Farm auszutauschen.

Das Hauptgebäude bestand aus einem langen Wohnhause mit zwei Stockwerken, einem regelmäßigen Viereck, welches die zur Unterbringung der Familie Harcher nöthigen Zimmer enthielt. Den größten Theil des Erdgeschosses nahm ein großer Saal ein zwischen der Küche und der Vorrathskammer auf der einen Seite und der speciell für den Pächter, seine Gattin und die jüngsten Sprößlinge auf der anderen bestimmten Wohnung.

Auf dem vor dem Hause befindlichen Hofraume sowohl wie auf der Rückseite nach dem Garten zu bildeten die eigentlichen Wirthschaftsgebäude gleich die Ecken der Palissade. Hier erhoben sich die Pferde-und Viehställe, die Schuppen und Scheunen der Farm. Außerdem lagen hier die eingeschlossenen Tummelplätze für das Kleinvieh, z.B. für amerikanische Kaninchen, deren in Streifen geschnittenes und verflochtenes Fell zur Herstellung eines sehr warmen Stoffes für Oberkleider diente, und für Fasanen, welche sich, im Hause gehalten, weit stärker vermehren als in der Freiheit.

Der große Saal im Erdgeschoß war zwar einfach, doch comfortabel mit Möbeln amerikanischer Herkunft ausgestattet. Hier frühstückte die Familie, aß[157] hier zu Mittag und verbrachte hier ihre Abende. Es war ein gemüthlicher Vereinigungspunkt für die Familie Harcher jeden Alters, welche sich daselbst nach Beendigung der täglichen Arbeiten gern zusammenfand. Man wird sich auch nicht darüber wundern, daß in diesem Saale eine Bibliothek den ersten und den zweiten Platz ein Piano einnahm, auf dem mindestens einer der Söhne oder eine der Töchter französische Walzer und Quadrillen spielte, während die Anderen danach abwechselnd in heiterer Jugendlust tanzten.

Die Bearbeitung jener Ländereien verlangte natürlich ein ziemlich zahlreiches Personal. Thomas Harcher hatte dieses aber in seiner eigenen Familie gefunden. In der That beherbergte der Pachthof von Chipogan keinen einzigen bezahlten Helfer.

Thomas Harcher zählte jener Zeit fünfzig Jahre. Ein Acadier französischer Abstammung, gehörten seine Vorfahren zu jenen kühnen Fischern, welche ein Jahrhundert früher Neu-Schottland colonisirten. Er vertrat den vollständigen Typus des canadischen Landmanns, und zwar jenes, der sich in den Gefilden Nordamerikas nicht Bauer, sondern »Einwohner« nennt. Von hohem Wuchs, breiten Schultern, mächtiger Brust, kräftigem Gliederbau, großem Kopf, kaum ergrauenden Haaren, lebhaftem Blick, tadellosen Zähnen und ziemlich großem Munde, wie ihn der arbeitsame Landmann, der reichlichere Nahrung bedarf, immer hat, endlich von liebenswürdiger offener Physiognomie, welche ihm die warme Freundschaft seiner Kirchspielnachbarn sicherte – so erschien der Farmer von Chipogan. Gleichzeitig war er ein guter Patriot, ein unversöhnlicher Feind der Angel-Sachsen und jede Stunde bereit, seine Pflicht zu thun und nöthigenfalls mit seiner Person einzutreten.

Im ganzen Thale des St. Lorenzo hätte Thomas Harcher vergeblich eine bessere Gefährtin seines Lebens gesucht, als seine Frau Catherine. Sie war jetzt fünfundvierzig Jahre alt, kräftig wie ihr Gatte, so wie dieser jung geblieben an Geist und Leib, vielleicht von etwas derben Zügen und weniger seinem Benehmen, dafür aber gutmüthig in ihrer Derbheit und willig zur Arbeit, mit einem Worte ebenso »die Mutter« wie Thomas Harcher »der Vater« in der umfassendsten Bedeutung des Wortes.

Beide bildeten ein schönes Paar mit so unerschütterlicher Gesundheit, daß sie die beste Hoffnung haben konnten, dereinst zu den vielen Hundertjährigen zu gehören, deren Langlebigkeit dem canadischen Klima alle Ehre macht.

[158] Einen einzigen Vorwurf hätte man Catherine Harcher vielleicht machen können; denselben Vorwurf hätten aber alle Frauen des Landes verdient, wenn man den allgemeinen Aussagen Glauben schenken darf. Wenn die Canadierinnen gute Hausfrauen sind, so kommt das doch nur daher, daß ihre Ehemänner die Wirthschaft besorgen, die Betten zurecht machen, den Tisch decken, die Hühner rupfen, die Kühe melken, die Butter schlagen, die Pataten schälen, das Feuer anzünden, die Möbel abreiben, das Eßgeschirr waschen u.s.w.

Uebrigens trieb Catherine diese Frauenherrschaft nicht bis aufs Aeußerste, eine Herrschaft, welche in den meisten Haushaltungen der Colonie die Männer einfach zu Sclaven ihrer Frauen macht. Nein! Um gerecht zu sein, müssen wir anerkennen, daß auch sie an des Tages Mühe und Last redlich theilnahm. Immerhin unterwarf sich Thomas Harcher gern ihren Wünschen und Launen. Doch welch' schöne Familie hatte ihm Catherine auch geschenkt, von Pierre dem Führer des »Champlain«, seinem Erstgebornen an, bis zum letzten Baby von nur einigen Wochen, das am heutigen Tage getauft werden sollte!

In Canada ist die Fruchtbarkeit der Ehen bekanntlich eine erstaunliche. Familien von zwölf bis fünfzehn Kindern sind ganz allgemein; solche, wo man deren zwanzig zählt, sind nicht selten, und daneben gibt es auch noch Familien von über fünfundzwanzig Abkömmlingen. Es sind das fast gar nicht mehr Familien, sondern Stämme, welche sich unter dem Einflusse patriarchalischer Sitten entwickeln.

Wenn Ismaël Busch, der alte Pionnier Fenimore Cooper's, einer der Helden des Romans »Die Prairie«, mit Stolz auf die sieben Söhne – die Töchter gar nicht gerechnet – hinweisen konnte, die seiner Ehe mit der gesundheitstrotzenden Esther entsprungen waren, welches Gefühl von Ueberlegenheit mußte dann Thomas Harcher erfüllen, den Vater von sechsundzwanzig lebenden Kindern, welche in der Farm zu Chipogan alle lustig emporwuchsen!

Fünfzehn Söhne und elf Töchter jeden Alters – von dreißig Jahren bis zu drei Wochen; von den fünfzehn Söhnen vier verheiratet, von den elf Töchtern zwei unter der Haube. Und aus diesen Ehen gab es wieder siebzehn Enkel, was – wenn man Vater und Mutter hinzuzählt – eine Anzahl von zweiundfünfzig Abkömmlingen der Familie Harcher ergibt.

Die fünf Aeltesten kennt der Leser bereits. Es waren diejenigen, welche die Besatzung des »Champlain« bildeten, die ergebenen Gefährten Johanns. Es wäre ein unnöthiger Zeitverlust, die Namen der übrigen Kinder anzuführen oder [159] besonders unterscheidende Züge ihres Charakters hier auszumalen. Söhne, Töchter, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter verließen niemals den Pachthof. Sie arbeiteten hier unter der Leitung des Hausherrn. Die Einen waren auf den Feldern beschäftigt, wo es ihnen nie an Arbeit fehlte; die Anderen hatten im Walde zu thun, wo sie das Geschäft der »Lumbermen« betrieben, und auch sie hatten keine Zeit müßig zu gehen. Zwei oder drei der Aeltesten jagten gewöhnlich in den benachbarten Wäldern von Chipogan und hatten keine Mühe, das für den ungeheuren Familientisch nöthige Wild zu liefern. Auf diesen Gebieten gibt es in der That viele Arten Wild, wie Caribus – eine Art große Renthiere – Bisons, Damhirsche, Ziegen, Elenthiere, ohne des kleinen Feder- und Haarwildes zu erwähnen, wie Tauchervögel, Wildgänse, Enten, Schnepfen und Wasserschnepfen, Rebhühner, Wachteln, Regenpfeifer u. a. m.

Zur Zeit, wo die Kälte sie zwang, die Gewässer des St. Lorenzo zu verlassen, kehrten Pierre Harcher und seine Brüder, Remy, Michel, Tony und Jacques, zum Winteraufenthalte nach dem Pachthofe zurück und betrieben dann die Jagd auf Pelzthiere. Man zählte sie zu den unerschrockensten Squatters, den unermüdlichsten Waldläufern, und sie lieferten auch mehr oder weniger kostbare Felle nach den Märkten von Montreal und Quebec.

Jener Zeit waren die schwarzen Bären, die Luchse, die Wildkatzen, die Marder, die canadischen Vielfraße, die Bisons, eine Abart der Marder (auch Minks genannt) die Füchse, Biber, Hermeline, die Otter und die Moschusratte noch nicht nach den nördlichen Gegenden ausgewandert, und damals blühte der Handel mit Fellen ganz besonders, da die Jäger noch nicht gezwungen waren, ihr Glück an den entfernten Küsten der Hudsons-Bai zu versuchen.

Um eine solche Familie von Eltern, Kindern und Kindeskindern zu beherbergen, bedurfte es natürlich einer Art Kaserne; und es war auch eine wirkliche Kaserne, jenes Gebäude, das mit seinen zwei Stockwerken die Wirthschaftsgebäude der Farm von Chipogan überragte. Daneben mußten doch auch noch einige Zimmer für Gäste freibleiben, welche Thomas Harcher vorübergehend bei sich aufnahm, entweder Freunde aus der Grafschaft, Farmer aus der Nähe oder »Reisende«, das heißt Schiffsleute, welche die Holzzüge auf den kleineren Flüssen bis nach dem großen Strome führen.


Willkommen, meine Jungen; Ihr kommt gerade zur rechten Zeit. (S. 163.)

Endlich gab es auch eine besonders vorbehaltene Wohnung für Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter, wenn sie der Farmerfamilie gelegentlich einen Besuch abstatteten.

[160] [163]Gerade an diesem Tage – am 5. October – waren Herr und Fräulein de Vaudreuil hierher gekommen. Es waren nicht allein die Beziehungen des Gutsherrn zu seinem Pächter, welche Herrn de Vaudreuil mit Thomas Harcher und den Seinigen verbanden, sondern vielmehr eine gegenseitige Neigung, eine Freundschaft von der einen, eine Ergebung von der anderen Seite, welche seit so vielen Jahren schon ungetrübt bestanden hatte. Außerdem aber fesselte sie auch noch die gleichmäßige Vaterlandsliebe aneinander. Der Farmer wie sein Herr waren mit Leib und Leben der nationalen Sache ergeben.

Jetzt war die Familie einmal vollzählig zusammen. Seit drei Tagen hatten Pierre und seine Brüder, nachdem sie den »Champlain« am Quai von Laprairie abgetakelt verlassen, ihr Winterquartier im Pachthofe bezogen. Nur der Adoptivsohn fehlte noch, er, den man in der Farm von Chipogan mit wärmster Liebe umfaßte.

Man erwartete Johann indeß noch im Laufe des Tages. Wenn Johann von diesem Familienfeste fern blieb, so mußte er mindestens in die Hände der Rip'schen Agenten gefallen sein, und die Nachricht von seiner Verhaftung hätte sich schon im Lande verbreitet.

Johann hatte sich ja gewissermaßen einer Pflicht zu entledigen, die er ebenso ernst nahm, wie Thomas Harcher selbst.

Die Zeit lag noch nicht fern, wo der Lehnsherr des Kirchspieles es auf sich genommen hatte, bei allen Kindern seiner Parochianen Pathenstelle zu vertreten – wobei er es freilich schon auf mehrere Hundert Mündel gebracht hatte. Herr de Vaudreuil zählte übrigens unter der Nachkommenschaft seines Pächters deren erst zwei; und dieses Mal sollte Clary bei dem sechsundzwanzigsten Kinde als Taufzeugin und Johann als Taufzeuge eintreten. Das junge Mädchen schätzte sich glücklich über diese Gelegenheit, welche sie Beide, wenigstens für einige Minuten, näher als sonst verband.

Uebrigens betraf es nicht eine Taufe allein, daß der Pachthof von Chipogan das Festgewand angelegt hatte.

Als Thomas Harcher seine fünf Söhne empfing, hatte er gerufen:

»Willkommen, meine Jungen; Ihr kommt gerade zur rechten Zeit!

– Wie immer, Vater! antwortete Jacques.

– Nein, noch mehr als sonst. Wenn Ihr uns heute bereit seht, das letzte Baby des Hauses zu taufen, so werden Clemens und Cäcilie morgen zum ersten Male das Abendmahl empfangen und übermorgen wird die Hochzeit Eurer Schwester Rose mit Bernard Miquelon stattfinden.

[163] – Zu Haus geht Alles gut, wie es scheint, hatte Tony erwidert.

– O, nicht schlecht, mein Junge, rief der Farmer; es ist auch gar nicht ausgeschlossen, daß ich Euch nächstes Jahr zu einer weiteren Feierlichkeit dieser Art zusammenrufe.«

Thomas Harcher begleitete dieses Versprechen mit herzlichem Lachen, dem Ausdrucke echter gallischer Heiterkeit, während Catherine die fünf kraftvollen Sprossen, ihre Erstgeborenen, zärtlich umarmte.

Der Taufact sollte um drei Uhr Nachmittags stattfinden. Johann hatte also noch Zeit genug, in der Farm einzutreffen. Sobald er erschien, wollte man sich nach dem eine halbe Lieue entfernten Gotteshause des Kirchspiels begeben.

Thomas, seine Gattin, seine Söhne und Töchter, ebenso wie die Schwiegersöhne und die Kindeskinder, hatten für diese Gelegenheit die Feiertagskleider angelegt, welche sie höchst wahrscheinlich während der zwei nächsten Tage weiter trugen.

Die Töchter erschienen in weißen Leibchen und lebhaft gefärbten Röcken, während ihre Haare offen auf die Schultern herabhingen. Die Söhne hatten die Arbeitsweste und die normannische Mütze, welche sie gewöhnlich trugen, abgelegt und sich mit der sonntägigen Tracht, einer Art Mantel aus schwarzem Stoffe mit buntem Gürtel und gefalteten, aus Ochsenhaut hergestellten Schuhen geschmückt.

Am Tage vorher und nachdem sie das Boot eines Fährmannes zum Ueberschreiten des St. Lorenzo benützt, hatten Herr und Fräulein de Vaudreuil Thomas Harcher getroffen, der sie mit seinem, von vorzüglichen Trabern gezogenen Buggin (eine Art offener Planwagen) erwartete.

Während der drei Lieues betragenden Fahrt bis zum Pachthofe von Chipogan hatte Herr de Vaudreuil sich beeilt, seinem Pächter mitzutheilen, daß er etwas auf der Hut sein möge. Die Polizei mußte wissen, daß er, Herr de Vaudreuil, die Villa Montcalm verlassen habe, und es war sehr möglich, daß gerade er der Gegenstand besonderer Ueberwachung wäre.

»Wir werden schon die Augen offen halten, gnädiger Herr! hatte Thomas Harcher, bei dem der Gebrauch dieser Anrede nichts Serviles an sich trug, geantwortet.

– Bisher hat sich noch keine verdächtige Gestalt in der Umgebung von Chipogan erblicken lassen?

[164] – Nein, noch keine jener Canouaches, 1 mit Respect zu vermelden!

– Und ist Euer Adoptivsohn in der Farm eingetroffen? hatte Clary de Vaudreuil gefragt.

– Noch nicht, gnädiges Fräulein, und das macht mir einige Sorge.

– Seit er sich von seinen Begleitern in Laprairie getrennt, sind noch keine Nachrichten von ihm hierher gelangt?

– Noch keine einzige!«

Auch seit Herr und Fräulein de Vaudreuil sich in den – wie es sich von selbst versteht – besten Zimmern der Wohnung eingerichtet, war Johann noch nicht gekommen. Inzwischen war Alles zu der Taufe vorbereitet, und wenn der Pathe nicht diesen Nachmittag eintraf, wußte man nicht recht, was dann geschehen sollte.

Pierre und zwei oder drei seiner Brüder waren auch eine gute Lieue auf die Landstraße hinausgegangen. Von Johann fand sich aber keine Spur, und schon schlug die Hausglocke von Chipogan die Mittagsstunde.

Thomas und Catherine besprachen sich da über diese unerklärliche Verzögerung.

»Was machen wir denn, wenn er auch bis drei Uhr nicht kommt? fragte der Farmer.

– Nun, dann warten wir eben noch, antwortete Catherine gelassen.

– Was wollen wir erwarten?

– Ei, die Ankunft eines siebenundzwanzigsten Kindes natürlich nicht erwiderte die Farmersfrau.

– Freilich, desto mehr, versetzte Thomas, als ein solches, ohne uns einen Vorwurf einzubringen, wahrscheinlich niemals kommen dürfte.

– Du scherzest wohl, mein Herr Harcher, nicht wahr?

– Ich scherze gar nicht! Doch im Ernste, wenn Johann nun allzulange ausbleibt, werden wir wohl auf ihn verzichten müssen...

– Auf ihn verzichten! rief Catherine, das auf keinen Fall; da ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, daß er bei einem unserer Kinder Gevatter stehen müsse, so warten wir, bis er sich einstellt.

– Und wenn das nun gar nicht der Fall ist, antwortete Thomas, dem nichts daran zu liegen schien, daß die Taufe auf ganz unbestimmte Zeit verschoben[165] würde. Wenn es ihm Verhältnisse überhaupt unmöglich gemacht haben zu kommen?

– Keine Schwarzsehereien, Thomas, erwiderte Catherine, und ein wenig Geduld. Was ist denn dabei – taufen wir heute nicht, so taufen wir eben morgen.

– Schön! Morgen gehen aber Clemens und Cäcilie, der Sechzehnte und die Siebzehnte, zum ersten Male zum Abendmahle.

– Nun gut, dann übermorgen.

– Uebermorgen ist die Hochzeit unserer Tochter Rose mit dem wackeren Bernard Miquelon.

– Meinetwegen auch noch nach dieser, Thomas! Uebrigens kann nöthigenfalls Alles auf einmal abgemacht werden. Wenn ein kleines Kind aber einen Pathen wie Johann und eine Taufzeugin wie Fräulein Clary bekommen soll, da darf man sich gar nicht beeilen, dafür Andere zu suchen.

– Und der Pfarrer ist auch schon benachrichtigt!... bemerkte Thomas seiner halsstarrigen Ehehälfte.

– Das lass' nur meine Sorge sein, entgegnete Catherine. O, es ist ein vortrefflicher Mann, unser Herr Pfarrer. Uebrigens wird ihm sein Zehent deshalb nicht entgehen und er wird sich hüten, Kunden wie uns vor den Kopf zu stoßen.«

Im ganzen Kirchspiele mochte es in der That wenige Pfarrkinder geben, welche ihrem Geistlichen soviel Beschäftigung gegeben hatten, wie Thomas und Catherine.

Als nun aber Stunde auf Stunde verrann, wurde die Unruhe der Leute doch etwas lebhaft. Wußte die Familie Harcher auch nicht, daß ihr angenommener Sohn der junge Patriot Johann ohne Namen sei, so war das doch Herrn und Fräulein de Vaudreuil nicht unbekannt, und diese hatten also alle Ursache, für ihn zu fürchten.

Sie wollten auch gern erfahren, unter welchen Umständen sich Johann von Pierre Harcher und dessen Brüdern getrennt habe, als er den »Champlain« verließ.

»Ja, das geschah, als wir beim Dorfe Caughnawaga kaum vor Anker gegangen waren, erklärte Pierre.

– An welchem Tage?

– Am 25. September gegen fünf Uhr Abends.

[166] – Er ist also schon neun Tage von Euch fort? bemerkte Herr de Vaudreuil.

– Ja, volle neun Tage.

– Und er hat nicht gesagt, was er vorhatte?

– Seine Absicht, antwortete Pierre, ging dahin, sich nach der Grafschaft Chambly zu begeben, wo er während unserer großen Sommerfahrt noch nicht gewesen war.

– Ja, ja,... das wäre ja Grund genug, sagte Herr de Vaudreuil, und doch beklage ich, daß er sich allein in eine Gegend gewagt hat, wo die Polizei ihm jeden Augenblick auf dem Fuße ist.

– Ich hatte ihm vorgeschlagen, die Begleitung Jacques' und Tonys anzunehmen, erwiderte Pierre; er schlug das aber ab.

– Und was denkt Ihr nun über die Sache, Pierre? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ich bin der Meinung, Johann hatte schon lange die Absicht, nach Chambly zu gehen, hütete sich aber, etwas davon zu sagen. Als es nun bestimmt war, daß wir in Laprairie landen wollten, um Alle zusammen gleich nach der Abtakelung des »Champlain« nach der Farm heimzukehren, hat er uns erst in dem Augenblicke, wo wir vor Caughnawaga lagen, seinen Entschluß mitgetheilt.

– Und als er wegging, versprach er zur Taufe hier zu sein?

– Ja, gnädiges Fräulein, bestätigte Pierre, er weiß ja, daß er mit Ihnen das Baby über die Taufe halten sollte, und übrigens wäre ohne ihn die Familie Harcher auch nicht vollzählig!«

Gegenüber einem so bestimmten Versprechen mußte man sich wohl darein ergeben, geduldig zu warten.

Wenn nun der ganze Tag verstrich, ohne daß Johann sichtbar wurde, so schienen die Befürchtungen um ihn leider gerechtfertigt zu sein. Traf ein Mann von so entschiedenem Willen wie er nicht an dem verabredeten Tage ein, so mußte sich die Polizei seiner Person bemächtigt haben... Dann wußten aber Herr und Fräulein de Vaudreuil nur zu gut, daß er verloren war.

In diesem Augenblicke öffnete sich die nach dem großen Hofe führende Thür und ein Wilder erschien auf der Schwelle.

Ein Wilder – so nennt man in Canada noch immer die Indianer, selbst in amtlichen Schriftstücken, ebenso wie man deren Frauen, welche in der


Thomas Harcher erwartete sie mit seinem Buggin. (S. 164.)

Sprache der Irokesen und Huronen »Squaws« heißen, mit dem Namen »Wildinnen« bezeichnet.

Dieser Wilde war ein Hurone und zwar von reiner Race, was man an seinem bartlosen Gesicht, den vorspringenden viereckigen Backenknochen und den kleinen lebhaften Augen erkannte. Der hohe Wuchs, [167] der sichere und durchdringende Blick, die Farbe seiner Haut und die Art und Weise, wie er das Haupt trug, machten ihn zum unverkennbaren Typus der eingeborenen Race des Westens Amerikas.


Der Indianer ertheilte seinen Bewegungen eine charakteristische Würde. (S. 170.)

Wenn diese Indianer die angeerbten Sitten bewahrt, die Gebräuche der Stämme aus alter Zeit beibehalten [168] haben und noch heute sich gern in eignen Dörfern zusammendrängen und streng auf gewisse Privilegien achten, welche die Behörden ihnen übrigens gern gewähren, wenn sie sich endlich mit Vorliebe entfernt von den »Bleichgesichtern« halten, so sind sie dennoch ein wenig modernisirt, mindestens in Bezug auf – ihre Tracht. Nur unter Umständen kann man sie noch in ihrer Kriegstracht zu sehen bekommen.

[169] Dieser Hurone, der sich fast ganz der gewöhnlichen canadischen Kleidung bediente, gehörte der Sippe der Mahogannis an, welche einen Flecken von vierzehn-bis fünfzehnhundert Feuerstellen im Norden der Grafschaft bevölkerten. Diese Wilden standen, wie schon erwähnt, in Beziehungen mit der Farm zu Chipogan, wo der Farmer ihnen stets einen freundlichen Empfang zutheil werden ließ.

»Und was wollt Ihr, Hurone? rief er, als der Indianer eingetreten war und ihm feierlich den traditionellen Händedruck verabreicht hatte.

– Thomas Harcher wird jedenfalls auf die Frage antworten, die ich an ihn zu richten denke? erwiderte der Hurone mit dem seiner Race eigenthümlichen gutturalen Tone.

– Und warum nicht, antwortete der Farmer, wenn meine Antwort für Euch einen Nutzen haben kann?

– Mein Bruder wird mich anhören und dann beurtheilen, was er sagen kann.«

Schon an dieser Sprechweise, bei welcher der Wilde nur in der dritten Person sprach, an der feierlichen Form, seine Fragen zu stellen, welche jedenfalls auf eine sehr einfache Erkundigung hinausliefen, hätte man den Abkömmling der vier großen Nationen erkannt, welche ehemals das Gebiet von Amerika inne hatten. Man theilte sie damals in Algonquins, Huronen, Montagnais und Irokesen, welche in die Einzelsippen der Mohawks, Oneidas, Onondagas, Tuscaroras, Delawaren und Mohikaner zerfielen, welch' letztere man in den Erzählungen Fenimore Cooper's eine so hervorragende Rolle spielen sieht. Heutzutage sind von diesen alten Stämmen nur noch einzelne Ueberreste zu finden.

Nachdem er einige Augenblicke schweigend vor dem Farmer gestanden, nahm der Indianer, seinen Bewegungen eine charakteristische Würde ertheilend, wieder das Wort.

»Mein Bruder kennt, wie uns gesagt wurde, den Notar Nicolas Sagamore in Montreal?

– Ich habe die Ehre, Hurone.

– Soll er nicht nach der Farm von Chipogan kommen?

– So ist es.

– Könnte mein Bruder es mir wissen lassen, ob er schon eingetroffen ist?

– Noch nicht, antwortete Thomas Harcher. Wir er warten ihn erst morgen, [170] wo er den Ehecontract zwischen meiner Tochter Rose und Bernard Miquelon aufsetzen soll.

– Ich danke meinem Bruder für die Auskunft.

– Habt Ihr dem Meister Nick vielleicht eine wichtige Mittheilung zu machen?

– Eine sehr wichtige, erklärte der Hurone. Morgen werden also die Krieger des Stammes das Dorf Walhatta verlassen, um ihm einen Besuch abzustatten.

– Ihr werdet auf der Farm von Chipogan willkommen sein,« antwortete Thomas Harcher.

Noch einmal streckte der Hurone dem Farmer die Hand entgegen und zog sich dann mit würdigem Ernste zurück.

Er war noch kaum eine Viertelstunde fort, als die Hofthür sich wiederum öffnete. Dieses Mal war es Johann, dessen Ankunft mit allseitigem Freudengeschrei bewillkommt wurde.

Thomas und Catherine Harcher, ihre Kinder und ihre Enkel liefen auf ihn zu, und es bedurfte einiger Zeit, um den Willkommen aller Freunde zu beantworten, welche so glücklich waren, ihn wiederzusehen. Händedrücken und Umarmungen dauerten wenigstens fünf Minuten ohne Unterbrechung an.

Da die Zeit drängte, konnten Herr de Vaudreuil, Clary und Johann nur wenige Worte wechseln; da sie aber drei Tage lang zusammen auf der Farm verweilen sollten, mußten sie ja Muße genug finden, ihre Angelegenheiten zu besprechen. Thomas Harcher und seine Frau hatten es eilig, sich nach der Kirche zu begeben. Man hatte den Pfarrer ja schon allzulange warten lassen. Der Pathe und die Pathin waren zur Stelle, jetzt hieß es aufbrechen.

»Vorwärts! Vorwärts! rief Catherine, scheltend und anordnend von Einem zum Anderen laufend. Vorwärts, mein Sohn, sagte sie zu Johann, Fräulein Clary den Arm angeboten! Und Thomas?... Wo steckt der Thomas?... Wo steckt denn Thomas... Er wird doch niemals fertig! – Thomas!...

– Da bin ich, Frau!

– Du wirst das Püppchen tragen.

– Natürlich.

– Und lass' mirs nicht fallen!...

– Keine Angst, ich habe schon fünfundzwanzig zum Herrn Pfarrer getragen und habe genug Uebung...

[171] – Schon gut! versetzte Catherine, ihm das Wort abschneidend. Nun vorwärts!«

Der Zug verließ die Farm in folgender Ordnung: an der Spitze Thomas, der den Säugling in den Armen hielt, und Catherine Harcher unmittelbar neben ihm; Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann gleich nach ihnen; hinter diesen aber der lange Schweif der Familie aus drei Generationen bestehend, wo die Altersstufen der Einzelnen so vermengt waren, daß das jüngste geborene Baby unter den Kindern seiner Brüder und Schwestern schon eine Anzahl Neffen und Nichten hatte, welche älter waren als dieses selbst.

Die Witterung war schön; zu dieser Jahreszeit wäre die Luftwärme aber schon eine recht niedrige gewesen, wenn von dem wolkenlosen Himmel nicht ein wahrer Ueberfluß an Sonne herabstrahlte. So wand sich die Gesellschaft unter den Baumkronen und über die geschlängelten Waldpfade hin, an deren Ende der Glockenthurm der kleinen Kirche hervorragte. Ein Teppich von trocknen Blättern bedeckte den Boden. Alle gelben Schattirungen des Herbstes vermischten sich in den Gipfeln der Kastanienbäume, der Birken, Eichen, Buchen und Zitterpappeln, deren Zweigskelett sich da und dort scharf vom Himmelsblau abhob, während die Fichten und Tannen noch ihren grünen Helmbusch trugen.

Mit dem Fortschreiten des kleinen Zuges schlossen sich mehrere Freunde Thomas Harcher's, Farmer aus der Nachbarschaft, demselben unterwegs an. Die Zahl der Theilnehmer an jenem wuchs so zusehends, daß sie beim Eintreffen in der Kirche wohl an hundert betrug.

Sogar völlig Fremde, welche aus Neugier, oder weil sie eben nichts zu thun hatten, gekommen waren, reihten sich dem Zuge ein, wenn sie zufällig dessen Weg kreuzten.

Pierre Harcher bemerkte unter andern auch einen Mann, dessen Haltung ihm etwas verdächtig erschien. Offenbar war dieser Unbekannte nicht aus dem Lande hier. Pierre hatte ihn noch niemals gesehen, und es machte sein Erscheinen auf ihn den Eindruck, als suche er die Bewohner der Farm scharf ins Auge zu fassen!

Pierre hatte ganz Recht, diesem Manne zu mißtrauen. Es war einer der Polizisten, welche den Auftrag erhalten hatten, Herrn de Vaudreuil, seit dieser die Villa Montcalm verlassen, auf den Fersen zu bleiben. Rip, der sich auf der Fährte Johanns ohne Namen befand, welch' Letzteren man in der Gegend von Montreal versteckt glaubte, hatte jenen Agenten mit dem Mandate versehen, [172] nicht nur Herrn de Vaudreuil, sondern auch die Familie Thomas Harcher's, dessen reformistische Anschauungen bekannt waren, zu beobachten.

Während sie so dicht neben einander hergingen, unterhielten sich Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann von der Verzögerung, welcher dieser auf dem Rückwege nach der Farm erlitten hatte.

»Von Pierre Harcher hatte ich erfahren, sagte Clary, daß Sie sich seiner Zeit von ihm trennten, um Chambly und die benachbarten Kirchspiele zu besuchen.

– Ganz richtig, antwortete Johany.

– Kommen Sie jetzt direct von Chambly?

– Nein, ich mußte durch die Grafschaft Hyazinthe wandern, von wo aus ich nicht so schnell, wie ich wünschte, zurückkehren konnte. Ich sah mich gezwungen, einen Umweg jenseits der Grenze einzuschlagen.

– Befanden sich denn Polizeiagenten auf Ihrer Spur? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ja, bestätigte Johann, doch gelang es mir ohne große Mühe, sie noch einmal hinters Licht zu führen.

– Jede Stunde Ihres Lebens ist doch eine Gefahr! bemerkte Fräulein de Vaudreuil. Es gibt keinen Augenblick, wo Ihre Freunde nicht für Sie zitterten! Seit Ihrem Aufbruch aus der Villa Montcalm haben wir uns unausgesetzt um Sie beunruhigt.

– Auch ich, entgegnete Johann, bin es nun überdrüssig, ein Leben zu führen, das ich mir immer nur erkämpfen muß; mich drängt es, im vollen Licht des Tages zu handeln, dem Feinde Auge in Auge gegenüber zu treten. Ja, es ist nun hohe Zeit, daß der Kampf beginnt, und das wird nicht lange mehr dauern. In diesem Augenblick lassen Sie uns die Zukunft um der Gegenwart willen vergessen. Das ist eine Art Waffenstillstand, eine Ruhestunde vor der Schlacht. Hier, Herr de Vaudreuil, bin ich ja nur der Adoptivsohn dieser braven, ehrenwerthen Familie.«

Der Zug war am Ziel. Kaum vermochte die kleine Kirche die Menge zu fassen, die unterwegs noch weiter angewachsen war.

Der Pfarrer stand auf der Schwelle, nahe der bescheidenen Steinschale, welche zu den Tauffeierlichkeiten der unzähligen Neugebornen des Kirchspiels diente.

Thomas Harcher präsentirte mit gerechtem Stolze den sechsundzwanzigsten, aus seiner Ehe mit der nicht weniger stolzen Catherine hervorgegangenen Sprößling.

[173] Clary de Vaudreuil und Johann nahmen nebeneinander Platz, während der Pfarrer die übliche Salbung vornahm.

»Und wie soll er heißen? fragte er.

– Johann, wie sein Pathe,« antwortete Thomas Harcher, der dem jungen Mann die Hand entgegenhielt.

Es ist zu bemerken, daß die alten französischen Gebräuche sich in den Städten wie auf dem Lande in der Provinz Canada noch heute erhalten haben. Vorzüglich in den ländlichen Gemeinden rühren die Einnahmen des katholischen Clerus nur aus dem Zehent her. Dieser beträgt den sechsundzwanzigsten Theil aller Früchte und Ernteergebnisse. In Folge einer ebenso merkwürdigen wie rührenden Ueberlieferung erstreckt sich dieses Recht des Zehenten aber nicht allein auf die Früchte des Feldes.

Thomas Harcher verwunderte sich also gar nicht, als der Pfarrer nach vollendeter Taufe mit lauter Stimme sagte:

»Dieses Kind gehört der Kirche. Thomas Harcher – wenn es der Täufling des Pathen und der Pathin ist, die Sie für dasselbe erwählt haben, so ist es nicht weniger auch mein Mündel. Bilden die Kinder nicht gewissermaßen auch ein Ernteerzeugniß der Familie? Nun, ebenso wie Sie mir jede sechsundzwanzigste Getreidegarbe ausgeliefert haben würden, ebenso macht die Kirche auf dieses Ihr sechsundzwanzigstes Kind Anspruch.

»Wir erkennen das Recht derselben an, Herr Pfarrer, antwortete Harcher, und meine Frau und ich, wir unterwerfen uns ohne Widerrede.«

Das Kind wurde darauf nach dem Pfarrhause getragen und dort triumphirend aufgenommen.

Nach den Satzungen, betreffend den Zehent, gehörte der kleine Johann der Kirche an und als solcher hatte seine Erziehung auf Kosten des ganzen Kirchspiels zu erfolgen.

Und als der Festzug sich wieder in Bewegung setzte, um nach der Farm von Chipogan zurückzukehren, da erschallten Freudenrufe aus Hunderten von Kehlen zur Ehre des wackeren Thomas und der Catherine Harcher.

[174]
Fußnoten

1 Spottname, den die Canadier gewissen Wilden des Westens beilegen.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Der Letzte der Sagamores.

Am folgenden Tage begannen die Feierlichkeiten von Neuem. Wiederum begab sich, schon in früher Stunde, ein Zug nach dem Kirchlein, der auf dem Hin- wie auf dem Rückwege sich des gleichen Empfanges erfreute.

Die jungen Leute, Clemens und Cäcilie Harcher, der Erstere im schwarzen Rocke, in dem er wie ein kleiner Herr aussah, die Andere in dem weißen Kleide, das sie wie eine Braut schmückte, standen in erster Reihe der aus den benachbarten Farmen herbeigeströmten Communicanten. Wenn die anderen »Bewohner« auch nicht so reich an Nachkommenschaft waren, wie Thomas Harcher und Catherine, so hatten sie doch Alle eine recht ansehnliche Zahl Sprößlinge. Die Grafschaft Laprairie schien offenbar von dem Segen des Herrn überhäuft, und in dieser Beziehung konnte sie sich zweifellos mit den fruchtbarsten Gegenden von Neu-Schottland messen.

An diesem Tage sah Pierre den Fremden nicht wieder, dessen Anwesenheit ihn gestern einigermaßen beunruhigte. Der Agent war wirklich wieder fort. Ob er etwas bezüglich Johanns ohne Namen entdeckt hatte, und deshalb nach Montreal gegangen war, um dem Polizeichef Bericht zu erstatten, das wird der Leser bald erfahren.

Nach der Farm heimgekehrt, hatte die Familie sich nur noch zum Frühstück niederzusetzen. Dank der vielfachen Ermahnungen, welche Thomas Harcher von Catherine zu Theil geworden waren, stand Alles in bester Bereitschaft. Der folgsame Mann hatte sich nacheinander mit der Tafel, mit der Speisekammer, dem Keller und der Küche beschäftigen müssen, natürlich unterstützt von seinen Söhnen, die von den mütterlichen Befehlen ihren guten Theil erhalten hatten.

»Es ist ganz gut, sie daran zu gewöhnen, wiederholte Catherine gern. Dann wird es ihnen selbstverständlich vorkommen, wenn sie einmal eine Frau haben.«

In der That machten die jungen Leute hier eine vortreffliche Lehrzeit durch.

[175] Doch wenn es schon so vieler Vorbereitungen für das Frühstück bedurfte, wie mußte das erst beim Hochzeitsschmause am nächsten Tage werden! Eine Tafel, die dann für hundert Theilnehmer eingerichtet werden mußte! – Ja, auf so viel war zu rechnen, wenn man die Verwandten des jungen Ehemanns und dessen Freunde aus der Nachbarschaft mitzählte. Daneben ist auch Meister Nick und sein Schreiber nicht zu vergessen, die man an diesem Tage zur Unterzeichnung des Ehecontracts erwartete. – Mit einem Worte, das mußte eine Hochzeit ohne Gleichen werden, bei der der Farmer Harcher mit dem Pächter Gamache cervantischen Andenkens wetteiferte.

Doch, das sollte ja erst am nächstfolgenden Tage vor sich gehen. Heute handelte es sich nur darum, dem Notar einen guten Empfang zu bereiten. Einer der Söhne des Hauses sollte denselben mit dem Planwagen um drei Uhr in Laprairie abholen.

Meister Nick angehend, glaubte Catherine ihrem Gatten in Erinnerung bringen zu sollen, daß der vortreffliche Mann ein sehr starker Esser und dabei ein Feinschmecker erster Sorte sei, und sie würde es nimmer dulden – das war ihre Art und Weise, den Leuten ihren Willen aufzuzwingen – würde es nimmer dulden, daß der ehrenwerthe Tabellione nicht nach Wunsch bedient werde.

»Wird schon geschehen, versicherte der Farmer. Du kannst darüber ruhig sein, meine gute Catherine!

– Ich bin es aber nicht, und werde es nie sein, ehe nicht Alles vorüber ist. Im letzten Augenblick fehlt immer noch das oder jenes, und das dulde ich nicht!«

Thomas Harcher verschwand, um seine Aufträge auszuführen, während er mehrfach wiederholte:

»Eine ausgezeichnete Frau! Vielleicht etwas gar zu vorsorglich! Sie duldet nicht die kleinsten Mängel!... Sie duldet so etwas nicht!... Und ich bitte Sie zu glauben, daß sie sonst so manches schon erduldet hat!«

Seit dem Vorabend hatten sich Herr de Vaudreuil und Clary mit Johann über seine Wanderungen durch die Grafschaften Unter-Canadas ausführlich unterhalten können. Seinerseits erfuhr der junge Patriot dabei, was das Comité von Montcalm in der Zeit nach seinem Aufbruche von da gethan. André Farran, William Clerc und Vincent Hodge waren zu wiederholten Malen nach der Villa gekommen, wo Herr de Vaudreuil gleichzeitig den Besuch des Advocaten [176] Sebastian Grammont empfing. Dann war dieser nach Quebec zurückgereist, woselbst er mit den hervorragendsten Führern der Opposition zusammenzutreffen gedachte.

Nach dem Frühstück, welches nach der Rückkehr aus der Kirche aufgetragen worden war, wollte Herr de Vaudreuil den Planwagen benutzen, um sich nach dem Bezirksstädtchen zu begeben. Heute fehlte es ihm nicht an Zeit, um mit dem Präsidenten des Comités von Laprairie sich auszusprechen, und er konnte auch noch zur Stunde zurück sein, bevor der Notar den Ehecontract zur Unterzeichnung fertig haben würde.

[177] Fräulein de Vaudreuil und Johann begleiteten ihn auf der hübschen, von großen Ulmen beschatteten Straße von Chipogan, welche sich längs eines kleinen Wasserlaufes, eines Zuflusses des St. Lorenzo, hinzieht. Sie waren mit ihm schon vorausgegangen und wurden von dem Wagen erst eine halbe Lieue von der Farm eingeholt. Herr de Vaudreuil nahm nun neben Pierre Harcher Platz, und bald waren sie bei dem scharfen Trabe des Gespanns verschwunden.


Thomas Harcher hatte sich mit der Tafel beschäftigen müssen. (S. 175.)

Johann und Clary schlugen den Rückweg ein, der durch das schattige, stille Gehölz am Rande des Flüßchens hinführte. Nichts hinderte ihren Schritt, weder Gesträuch, noch die Zweige der Bäume, welche in den canadischen Wäldern emporstreben, statt sich zum Erdboden hinabzusenken. Von Zeit zu Zeit ertönte die Axt eines Lumberman, wenn sie auf die uralten Stämme der Bäume niederfiel. In der Ferne hörte man auch gelegentlich einige Flintenschüsse, und zuweilen erschien ein gehetztes Rudel Damwild auf den Waldblößen, welche die Thiere eilig übersprangen. Weder Jäger noch Holzfäller wurden aber in dem Dickicht sichtbar, und in völliger Einsamkeit gingen Fräulein de Vaudreuil und Johann in der Richtung nach der Farm hin.

Bald sollten sich Beide wieder trennen!... Wann und wo sollten sie sich wiedersehen?... Ihr Herz krampfte sich bei der nahe bevorstehenden Trennung schmerzhaft zusammen.

»Denken Sie nicht bald einmal nach der Villa Montcalm zurückzukehren? fragte Clary.

– Gerade das Haus Ihres Herrn Vaters dürfte besonders scharf überwacht sein, antwortete Johann, und in seinem Interesse erscheint es rathsamer, daß Niemand seine Beziehungen zu Anderen kennen lernt.

– Sie können doch aber kaum daran denken, in Montreal Unterkommen zu suchen?

– Nein, obwohl es leichter sein dürfte, einer etwaigen Verfolgung inmitten einer großen Stadt zu entschlüpfen. Ich bin mehr in Sicherheit in der Wohnung des Herrn Vincent Hodge, der Herren Farran oder Clerc, als in der Villa Montcalm...

– Doch keines freundschaftlicheren Empfangs versichert! antwortete das junge Mädchen.

– Das weiß ich, und werde niemals vergessen, daß Sie und Ihr Herr Vater mich während der wenigen Stunden meines Verweilens bei Ihnen wie einen Sohn, wie einen Bruder behandelt haben.

[178] – Wie es unsere Pflicht war, erwiderte Clary. Durch dasselbe Vaterlandsgefühl verbunden zu sein, ist doch wohl ebensoviel werth, wie Bande des Bluts! – Mir kommt es stets so vor, als hätten Sie von jeher unserer Familie angehört. Und da Sie nun gar so allein in der Welt dastehen...

– Allein in der Welt, wiederholte Johann gesenkten Kopfes. Ja, allein... allein!

– O, mit dem Siege unserer Sache wird dieses Haus auch das Ihrige sein. Bis dahin begreife ich, daß Sie ein sichereres Obdach suchen als die Villa Montcalm. Sie werden ein solches auch finden; denn welche canadische Wohnung würde sich vor einem Verfolgten verschließen?...

– Nein, gewiß nicht... ich weiß es, unterbrach sie Johann, und Keiner wird schamlos genug sein, mich zu verrathen...

– Sie verrathen! rief Fräulein de Vaudreuil... Nein!... Die Zeit der Verräther ist vorüber. In ganz Canada würde man man keinen Black und keinen Simon Morgaz mehr finden!«

Bei diesem mit dem Ausdrucke von Abscheu genannten Namen stieg dem jungen Manne die Schamröthe ins Gesicht, und er mußte sich abwenden, um seine Erregung zu verbergen. Clary de Vaudreuil hatte es nicht gleich bemerkt, doch als Johann sich ihr wieder zuwandte, zeigte sein Gesicht so deutlich den Stempel tiefen Seelenleidens, daß sie geängstigt ausrief:.

»Mein Gott! – Was ist Ihnen denn?...

– Nichts!... Es ist nichts! versicherte Johann. Etwas Herzklopfen, woran ich zuweilen leide!... Mir ist's dann, als sollte mein Herz zerspringen; jetzt ist schon Alles vorbei!«

Clary sah ihn mit langem Blicke an, als wollte sie in der Tiefe seiner Seele lesen.

Hierauf begann er, um diesem für ihn so peinlichen Gespräche eine andere Wendung zu geben:

»Am rathsamsten wird es sein, ich ziehe mich nach einem Dorfe der benachbarten Grafschaften zurück, wo ich in Verbindung mit Herrn de Vaudreuil bleiben kann!

– Ohne daß Sie sich jedoch aus Montreal entfernen, bemerkte Clary.

– Nein, antwortete Johann, denn in den nächstgelegenen Kirchspielen wird der Aufstand jedenfalls zuerst ausbrechen. Uebrigens kommt nicht so viel darauf an, wohin ich gehe.

[179] – Vielleicht, fuhr Clary fort, böte Ihnen die Farm von Chipogan noch das sicherste Obdach?

– Ja... vielleicht!...

– Es wäre doch schwierig, Sie unter der zahlreichen Familie unseres Pächters herauszufinden.

– Gewiß, doch wenn das geschähe, so könnte es für Thomas Harcher sehr unangenehme Folgen haben. Er weiß ja nicht, daß ich Johann ohne Namen bin, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt ist...

– Glauben Sie etwa, bemerkte Clary lebhaft, er würde, wenn er das heute noch erführe, sich überlegen...

– Nein, gewiß nicht, bestätigte Johann. Seine Söhne, wie er selbst, sind die besten Patrioten. Ich habe davon so manche Beweise gehabt, als wir unsere Agitationsreise zusammen machten. Ich möchte aber nicht, daß Thomas Harcher das Opfer seiner Zuneigung zu mir würde; und fände mich die Polizei bei ihm, so würde man auch ihn verhaften... Nein, nein!... Eher lieferte ich mich selbst aus!

– Sie sich ausliefern!« flüsterte Clary mit einer Stimme, welche ihre schmerzlichen Empfindungen deutlich genug verrieth.

Johann ließ den Kopf herabsinken. Er verstand recht wohl, welcher Art das Gefühl war, dem er sich gegen seinen Willen hingab; er empfand es, welches Band ihn mehr und mehr an Clary de Vaudreuil fesselte. Die Liebe eines Sohnes Simon Morgaz'!... Welche Schmach!... Und welche Falschheit, daß er ihr nicht gesagt hatte, aus welcher Familie er stammte... Nein, er mußte sie fliehen, durfte sie niemals wiedersehen... Und als er seiner wieder mehr Herr geworden, fuhr er fort:

»Morgen in der Nacht werd' ich die Farm von Chipogan verlassen, und kehre nicht eher zurück, als bis die Stunde des Kampfes schlägt... Dann werd' ich mich nicht mehr zu verbergen brauchen.«

Das Gesicht Johanns ohne Namen, in dem eine augenblickliche Begeisterung aufleuchtete, nahm sofort wieder die gewohnte Ruhe an.

Clary blickte ihn mit unbeschreiblichem Ausdrucke von Traurigkeit an. Sie wäre gern tiefer in das Leben dieses jungen Patrioten eingedrungen. Doch wie sollte sie ihn fragen, ohne ihn durch indiscrete Zudringlichkeit zu verletzen?

Nachdem sie ihm jedoch die Hand gereicht, die er kaum berührte, sagte sie:

[180] »Johann, verzeihen Sie, wenn meine Theilnahme für Sie mich aus der Zurückhaltung heraustreten läßt, die ich eigentlich bewahren sollte... In Ihrem Leben gibt es ein Geheimniß... eine unglückliche Vergangenheit!... Johann, Sie haben wohl viel gelitten?...

– Sehr viel,« bestätigte Johann.

Und als ob dieses Zugeständniß ihm wider Willen entschlüpft wäre, setzte er sofort hinzu:

»Ja, viel gelitten... weil ich meinem Vaterlande das noch nicht habe darbringen können, was es von mir zu erwarten ein Recht hat.

– Ein Recht, etwas zu erwarten... wiederholte Fräulein de Vaudreuil, ein Recht, etwas von Ihnen zu erwarten?...

– Ja, von mir, antwortete Johann, wie von allen Canadiern, deren heilige Pflicht es ist, sich zum Opfer zu bringen, um ihrem Lande die Unabhängigkeit wieder zu geben.«

Das junge Mädchen hatte durchschaut, daß sich unter diesem Ausbruche von Patriotismus noch andere Qualen verbargen. Sie hätte seine Schmerzen so gern kennen gelernt, um sie zu theilen, vielleicht zu mildern... Doch was konnte Clary thun, da Johann sich nur auf ausweichende Antworten beschränkte? Immerhin glaubte Clary, ohne die Zurückhaltung, welche ihr die Lage des jungen Mannes auferlegte, aus den Augen zu setzen, noch hinzufügen zu sollen:

»Ich habe die beste Hoffnung, Johann, daß die nationale Sache bald siegen werde!... Diesen Sieg wird sie vor Allem Ihrer Opferfreudigkeit, Ihrem Muthe und dem Feuereifer verdanken, den Sie den Anhängern derselben eingehaucht haben. Dann haben Sie das Recht auf deren Erkenntlichkeit...

– Auf ihre Erkenntlichkeit, Clary de Vaudreuil? antwortete Johann, der mit rascher Bewegung von ihrer Seite weg trat. Nein... Nimmermehr!

– Niemals?... Wenn die französischen Canadier, welche Sie, nur Sie, wieder befreit haben, von Ihnen erwarten, daß Sie an ihrer Spitze bleiben...

– So würde ich das abschlagen.

– Das werden Sie nicht können!...

– Ich würde es abschlagen, sage ich Ihnen!« wiederholte Johann in so bestimmtem Tone, daß Clary nichts mehr darauf zu erwidern wagte. Dann fuhr er mit weicherer Stimme fort:

»Clary de Vaudreuil, wir können die Zukunft nicht voraussehen; ich hoffe jedoch, daß die Ereignisse sich zum Vortheile unserer Sache wenden werden.

[181] Für mich aber wäre es das Beste, ich fiele bei der Vertheidigung derselben auf dem Schlachtfelde...

– Fallen... Sie!... rief das junge Mädchen, dem die schönen Augen feucht wurden. Fallen auf dem Schlachtfelde, Johann!... Und Ihre Freunde?...

– Freunde!... Ich... und Freunde!« stieß Johann hervor.

Seine Haltung und Erscheinung war dabei ganz die eines Unglücklichen, den ein ganzes Leben voll Schmach in den Bann der Menschheit gethan hat.

»Johann, nahm Fräulein de Vaudreuil wieder das Wort, Sie haben einst entsetzlich gelitten und leiden noch immer sehr schwer. Und was Ihre Lage noch schmerzlicher macht, ist, daß Sie sich Niemand anvertrauen können... nein, nicht anvertrauen wollen... Nicht einmal mir, die so gern an Ihren Schmerzen Antheil nähme!... Nun wohl, ich werde zu warten wissen und verlange von Ihnen nichts weiter als das Eine... an meine Freundschaft zu glauben...

– Ihre Freundschaft!«... murmelte Johann.

Er wich dabei einige Schritte zurück, als ob schon seine Freundschaft allein dieses reine junge Mädchen hätte beflecken müssen.

Und doch der einzige Trost, der ihm geholfen hatte, diese schreckliche Existenz zu ertragen, war es nicht der, den ihm die schöne Vertraulichkeit Clarys de Vaudreuil gewährte? Während jenes kurzen Aufenthaltes in der Villa Montcalm hatte er es ja gefühlt, wie die warme Theilnahme, die er ihr einflößte und für sie selbst empfand, sein ganzes Herz erfüllte... Doch nein! Es war unmöglich!... Der Unglückselige!... Wenn Clary jemals erfuhr, wessen Sohn er war, so mußte sie ihn entsetzt von sich stoßen... Ein Morgaz!... Wie er seiner Mutter schon gesagt, wollten sie ja, wenn Joann und er diesen letzten Versuch überlebt, auch verschwinden... Ja! Hatte sie nur erst ihre Pflicht erfüllt, so wollte die unglückliche Familie sich so weit zurückziehen, daß man nie wieder von ihr konnte sprechen hören.

Schweigend und in trauriger Stimmung kamen Clary und Johann nach der Farm zurück.

Gegen vier Uhr entstand vor dem großen Thore lautes Lärmen. Der Planwagen fuhr ein. Schon von fern von den Freudenrufen der Gäste begrüßt, brachte derselbe gleichzeitig mit Herrn de Vaudreuil auch den Meister Nick und seinen jungen Schreiber nach der Farm.

[182] Ah, welcher Empfang ward da dem liebenswürdigen Notar von Montreal – ein Empfang, den er übrigens vollkommen verdiente – zu Theil! Wie schätzte man sich glücklich über seinen Besuch auf der Farm zu Chipogan!

»Herr Nick... guten Tag, Herr Nick! riefen die Aelteren, während die Jüngeren ihn umringten und die Kleinsten ihm an den Beinen hinaufkletterten.

– Ja, liebe Freunde, ich bin's! erwiderte er lächelnd. Ich bin es leibhaftig und kein Anderer! Aber ruhig, ruhig! Es ist doch nicht nöthig, meinen Rock zu zerreißen, um Ihnen das zu beweisen.

– 's ist gut nun, Kinder! rief Catherine.

– Wahrhaftig, fuhr der Notar fort, ich bin entzückt, Sie Alle und ebenso mich bei meinem werthen Kunden, Thomas Harcher, zu sehen.

– Lieber Herr Nick, antwortete der Farmer, wie liebenswürdig von Ihnen, sich so belästigt zu haben!

– O, ich wäre auch noch von weiter her gekommen, wenn's nöthig war, vom Ende der Welt, von der Sonne, den Sternen... ja, ja, Thomas, sogar von den Sternen.

– Eine zu große Ehre für uns, Herr Nick, ließ Catherine sich vernehmen, während sie ihren elf Töchtern ein Zeichen gab, dem Gaste ihre Reverenz zu machen...

– Und für mich das größte Vergnügen!... Ah, wie vortrefflich Sie sich conserviren, Frau Catherine!... Nein, das seh' nur Einer!... Wann werden Sie denn aufhören immer jünger zu werden, wie?...

– Niemals! Niemals! riefen gleichzeitig die vierzehn Stammhalter der Farmerin.

– Ich kann nicht umhin, ich muß Sie umarmen, Frau Catherine, fuhr Meister Nick fort. – Sie erlauben, wendete er sich erst dann an den Farmer, als er die Wangen seiner kräftigen Nachbarin schon herzhaft geküßt hatte.

– So viel es Ihnen Spaß macht, erwiderte Thomas Harcher, und auch noch etwas länger, wenn es Ihnen gefällt.

– Vorwärts, nun bist Du an der Reihe, Lionel, sagte der Notar zu seinem jungen Schreiber. Jetzt umarmst Du Frau Catherine...

– Herzlich gern! versicherte Lionel, der im Austausch auf seinen Kuß gleich deren zwei wiederbekam.

– Und jetzt, nahm Meister Nick wieder das Wort, hoff' ich, daß die Hochzeit der reizenden Rose recht heiter werden wird, der lieblichen Rose, die [183] ich, als sie noch klein war, so oft auf meinen Knien wiegte. – Ja, wo ist sie denn?

– Hier, Herr Nick, meldete sich Rose, blühend vor Gesundheit und froher Hoffnung.

– Ja, reizend, wahrhaftig, wiederholte der Notar, zu reizend, als daß ich sie nicht auf beide Wangen, die ihres Namens so würdig sind, küssen sollte.«

Das führte er denn auch in bester Form aus. Dieses Mal aber wurde Lionel zu dessen großem Leidwesen nicht eingeladen, ihm Folge zu leisten.

»Wo ist der Bräutigam? sagte da Meister Nick. Sollte er es zufällig vergessen haben, daß heute der Tag ist, wo wir den Heiratscontract unterzeichnen wollen?... Wo steckt er denn, der glückliche Bräutigam?

– Hier, hier bin ich, ertönte Bernard Miquelon's Stimme.

– Ah, der hübsche Bursche!... Der liebenswürdige junge Mann! rief Meister Nick. Ich muß ihm auch noch zu guter Letzt einen geben...

– Nach Belieben, Herr Nick, antwortete der junge Mann die Arme öffnend.

– Schön, schön, stichelte Meister Nick, den Kopf einziehend. Ich denke aber doch, Bernard Miquelon würde sich lieber einen Kuß von Rose gefallen lassen als von mir. Auf denn, Rose, umarme Du den zukünftigen Gatten an meiner Stelle – gleich!... nicht geziert!«

Etwas verlegen that Rose, unter dem Beifall der ganzen Familie, was er verlangte.

»Ei, da fällt mir ein, Herr Nick, Sie müssen doch wohl Durst haben, sagte Catherine, und Ihr Schreiber gewiß auch?...

– Großen Durst, meine liebe Catherine.

– Sehr viel Durst, setzte Lionel hinzu.

– Nun, Thomas, was guckst Du uns denn an? Geh' doch nach der Speisekammer. Einen guten Toddy für unseren Herrn Nick, Sapperment! Und einen nicht minder guten für seinen Schreiber. Muß ich denn Alles zehnmal sagen?«

Nein, es genügte schon ein einziges Mal, und der Farmer beeilte sich, begleitet von dreien seiner Töchter, nach der Speisekammer zu laufen.

Inzwischen hatte sich Meister Nick, als er Clarys de Vaudreuil ansichtig wurde, dieser genähert.

»Ah, mein liebes Fräulein, begrüßte er sie, bei meinem letzten Besuche in der Villa Montcalm hatten wir ein Rendez-vous in der Farm zu Chipogan verabredet, und ich schätze mich glücklich...«


Catherine gab ihren elf Töchtern ein Zeichen, ihre Reverenz zu machen. (S. 183.)

Da wurden die Worte des Notars durch einen Ausruf Lionels unterbrochen, der alle Ursache hatte, verwundert zu sein; sah er sich doch plötzlich gegenüber dem jungen Unbekannten, der einige Wochen früher seine dichterischen Versuche so wohlwollend beurtheilt hatte.

[184]

»Da... dieser Herr... Herr...« rief er wiederholt.

Von lebhafter Unruhe ergriffen, sahen Herr de Vaudreuil und Clary einander an. Wie kam es, daß Lionel Johann kannte? Und wenn er ihn kannte, wußte er auch, was die Familie Harcher noch nicht wußte, das heißt, daß die [185] Farm Johann ohne Namen, den die Beamten Gilbert Argall's im ganzen Lande suchten, Obdach gab?

»Ja, wahrhaftig, sagte jetzt auch der Notar, der sich nach dem jungen Manne umwandte; ich erkenne Sie wieder, mein Herr!... Sie waren ja unser Gesellschafter bei jener Fahrt, wo ich mit meinem Schreiber den Omnibus benützte – es war gegen Anfang September – um nach der Villa Montcalm zu gehen.

– Gewiß bin ich das, Herr Nick, antwortete Johann, und Sie dürfen glauben, daß ich Sie, ebenso wie unseren jungen Poeten, auf der Farm von Chipogan mit größtem Vergnügen wiederfinde...

– Ah, mit einem jungen Poeten, dessen Gedicht in der Freundes-Lyra durch ehrenvolle Erwähnung ausgezeichnet wurde. Entschieden ist es ein Schoßkind der Musen, den ich die Ehre habe, in meiner Expedition sitzen zu sehen, um Acten zu kritzeln.

– Nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch, junger Freund, sagte Johann. Ich habe Ihre reizenden Schlußworte:


Mit Dir entstehn, Du Wandelflamme,

Mit Dir vergehn, Du irrend Licht!


keineswegs vergessen.

– O, Sie sind zu gütig!« antwortete Lionel sehr stolz wegen der Lobsprüche, die seine noch im Gedächtnisse eines wirklichen Kenners verbliebenen Verse ihm einbrachten.

Mit der Wahrnehmung dieses Austausches von Höflichkeiten fühlten sich Herr und Fräulein de Vaudreuil wegen des jungen Proscribirten völlig beruhigt. Meister Nick erzählte ihnen dann noch, unter welchen Umständen sie sich auf dem Wege von Montreal nach der Insel Jesus getroffen, und Johann wurde ihm wieder als Adoptivsohn der Familie Harcher vorgestellt. Diese gegenseitigen Erklärungen endigten mit den gewohnten Händedrücken.

Inzwischen rief Catherine mit befehlerischem Tone:

»Nur schnell, Thomas!... Schnell!... Ihr werdet auch niemals fertig!... Die beiden Toddys! Willst Du denn Herrn Nick und Herrn Lionel gar vor Durst sterben lassen?...

– Ist schon Alles bereit, Catherine, Alles fix und fertig. Mach' Dir nur keine Sorge!...«

Und auf der Schwelle erscheinend, lud Thomas Harcher den Notar ein, ihm ins Eßzimmer zu folgen.

[186] Wenn Meister Nick sich hierzu nicht bitten ließ, so galt das bezüglich Lionels noch viel weniger.

Im Eßzimmer nahmen sie Einer neben dem Anderen Platz an einem großen Tische mit vielen buntfarbigen Tassen darauf, neben welchen schöne weiße Servietten lagen, und stärkten sich mit dem bewußten Toddy – ein sehr angenehmes Getränk, das aus Wachholder, Zucker und Zimmt besteht und dem gewöhnlich ein appetitlicher Imbiß beigegeben wird. Diese Zulage versprach denn zu erlauben, daß Beide die Essensstunde, ohne Gefahr schwach zu werden, abwarten konnten.

Hierauf beschäftigte sich Jedermann mit den letzten Vorbereitungen zu dem großen Feste des nächsten Tages, von dem in der Farm zu Chipogan gewiß sehr lange gesprochen werden sollte.

Meister Nick ging unablässig von Einem zum Andern. Er hatte ein freundliches Wort für Jeden, während Herr de Vaudreuil, Clary und Johann sich, unter den Bäumen des Gartens lustwandelnd, von ernsten Dingen unterhielten.

Gegen fünf Uhr versammelten sich Alle, Anverwandte und Gäste, im großen Saale zur Unterzeichnung des Heiratscontractes. Selbstverständlich mußte Meister Nick bei dieser wichtigen Feierlichkeit den Vorsitz führen, und es läßt sich gar nicht wiedergeben, mit welcher Würde und tabellionistischen Grazie er sich dieser Aufgabe entledigte.

Bei dieser Gelegenheit wurden dem Brautpaare auch verschiedene Hochzeitsgeschenke dargebracht. Keinen der Brüder und Schwäger und keine der Schwestern und Schwägerinnen gab es, welche nicht für Rose Harcher und Bernard Miquelon einen kleinen Einkauf gemacht hätten. An werthvollen Schmuckgegenständen wie an verschiedenen, für den wirklichen Bedarf nützlichen Geräthen waren so viele vorhanden, wie die jungen Leute zur Einrichtung ihrer Wirthschaft nur irgend gebrauchen konnten. Rose dachte übrigens auch, nachdem sie Frau Miquelon geworden, nicht im Geringsten daran, Chipogan zu verlassen. Bernard und die Kinder, die ihnen doch sicherlich bescheert wurden, bildeten einen Zuwachs an Personal, der auf der Farm Thomas Harcher's wie immer willkommen geheißen wurde.

Wir brauchen nicht zu betonen, daß die kostbarsten Geschenke von Herrn und Fräulein de Vaudreuil herrührten. Da gab es für Bernard Miquelon eine ausgezeichnete Jagdflinte, welche mit der Lieblingswaffe Lederstrumpfs [187] hätte wetteifern können; für Rose einen Halsschmuck, der sie noch reizender erscheinen ließ als sonst. Johann widmete der Schwester seiner wackeren Genossen ein zierliches Köfferchen mit Allem, was zum Nähen, zum Sticken und Stricken nöthig, ausgestattet war, ein Geschenk, welches jeder braven Hausfrau große Freude bereiten muß.

Bei jeder Gabe machten sich die Beifallsäußerungen der Anderen laut und Freudenrufe begleiteten wieder diesen Beifall. Diese verdoppelten sich aber, wie man leicht glauben wird, als Meister Nick mit feierlichster Miene den Verlobten die Trauringe ansteckte, welche er bei dem besten Juwelier in Montreal gekauft, und deren goldener Doppelreif schon ihre Namen eingravirt enthielt.

Hierauf wurde der Contract vorgelesen – mit lauter und verständlicher Stimme, wie es in der Amtssprache der Notare heißt. Eine gewisse Rührung erregte es allgemein, als Meister Nick verkündete, daß Herr de Vaudreuil, aus Freundschaft für seinen Abpächter Thomas Harcher und um dessen vortreffliche Verwaltung der Farm zu belohnen, der Mitgift der Braut die Summe von fünfhundert Piastern hinzugefügt habe.

Fünfhundert Piaster! Und vor einem halben Jahrhundert galt eine Braut, welche eine Mitgift von fünfzig Piastern besaß, schon für eine reiche Partie in ganz Canada.

»Jetzt, liebe Freunde, sagte Meister Nick, verschreiten wir zur Unterzeichnung des Ehecontracts – zuerst die Verlobten selbst, dann Vater und Mutter der Braut, hierauf Herr und Fräulein de Vaudreuil, und dann...

– Dann unterschreiben wir Alle!« erklang es so stürmisch, daß der Notar davon halb taub wurde.

So drängten sich denn auch bald Große und Kleine, Freunde und Verwandte heran, um Jeder seine Unterschrift unter das Actenstück, welches die Zukunft des jungen Ehepaares bestimmte, mit fester Hand zu geben.

Das kostete aber nicht wenig Zeit. Durch die freudige Aufregung im Pachthofe angelockt, traten auch zufällig Vorübergehende mit ein. Auch diese setzten ihre Unterschrift unter den Contract, dem noch Blatt für Blatt angeheftet werden mußte, wenn das so weiter ging. Es war auch kein besonderes Wunder, daß das ganze Dorf und selbst die halbe Grafschaft hier zusammenströmte, denn Thomas Harcher bewirthete ja seine Gäste nach deren Belieben mit den ausgezeichnetsten Getränken in reichlichem Maße, vorzüglich gleich mit ganzen [188] Pinten eines vorzüglichen Whisky, der ebenso hurtig durch canadische Kehlen läuft, wie der St. Lorenzo ins Weltmeer.

Meister Nick fragte sich bald, ob diese Ceremonie denn gar kein Ende nehmen wollte. Und doch machte ihm die Sache Spaß, so daß er für Jeden ein Scherzwort hatte, während Lionel, der die Feder von dem Einen immer den Anderen reichte, die Bemerkung fallen ließ, man werde bald eine andere nehmen müssen, denn sie sei bei der unbegrenzten Reihe von Unterzeichnern nahezu unbrauchbar geworden.

»Nun, ists endlich vorbei? fragte Meister Nick nach einstündiger Mühewaltung.

– Noch nicht, rief Pierre Harcher, der in die Oeffnung des großen Thores getreten war, um zu sehen, ob Niemand mehr auf dem Wege wäre.

– Und wer kommt denn? fragte Meister Nick.

– Eine Anzahl Huronen!

– Lassen Sie die Leute eintreten, gleich, gleich! erwiderte der Notar erfreut. Ihre Unterschriften werden den Verlobten nicht minder zur Ehre gereichen. O, welch' ein Contract, liebe Freunde, welch' ein Contract! Ich habe gewiß schon hunderte in meinem Leben vollziehen lassen, doch keiner hat noch die Namen so vieler wackerer Leute auf seiner letzten Seite aufgewiesen!«

Da wurden die Wilden schon sichtbar und mit lautem Jubel willkommen geheißen. Es wäre übrigens gar nicht nöthig gewesen, sie zum Eintritt in die Farm einzuladen, denn sie kamen dahin schon allein, fünfzig Köpfe stark, Männer und Frauen. Unter denselben erkannte Thomas Harcher auch den Huronen wieder, der erst am vergangenen Tage dagewesen war, um sich zu erkundigen, ob Meister Nick nicht in der Farm von Chipogan verweile.

Warum hatte diese Truppe Huronen aber ihre Ansiedlung im Dorfe Walhatta verlassen? Warum erschienen die Mahogannis jetzt in feierlichem Aufzuge, um dem Notar aus Montreal ihren Besuch abzustatten?

Der Leser wird bald erfahren, daß sie hierfür einen sehr wichtigen Beweggrund hatten.

Die Huronen erschienen – und das thun sie im Frieden nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten – in ihrer Kriegertracht und den Kopf mit vielfarbigen Federn geschmückt, die langen, vollen Haare bis auf die Schultern herabhängend, über welche eine Art Mantel aus gestreiftem Wollengewebe geworfen war, den Oberkörper bedeckt mit kurzem Rocke aus Damwildfell, die Füße in [189] Mocassins aus rohem Leder; sie waren Alle mit jenen langen Flinten bewaffnet, welche bei den Indianerstämmen schon seit vielen Jahren an Stelle der Bogen und Pfeile ihrer Vorfahren getreten sind. Die altherkömmliche Streitaxt, der Kriegs-Tomahawk, hing bei Jedem an dem Riemen, den sie um die Taille trugen.

Außerdem – eine Einzelheit, welche noch weiter den Ernst der Veranlassung ihres Zuges nach der Farm von Chipogan erkennen ließ – bedeckte eine noch ganz frische Malerei das Gesicht der Leute. Das Himmelblau, Rauchgrau und der Zinnober hoben ihre Adlernase mit den weiten Nasenlöchern und die kleinen lebhaften Augen, aus deren dunkler Höhle es wie ein Feuerbrand leuchtete, nur noch mehr hervor.

Der Abordnung des Stammes hatten sich auch einige Frauen aus Walhatta – ohne Zweifel die jüngsten und schönsten der Mahogannierinnen – angeschlossen. Diese Squaws trugen ein Leibchen aus gesticktem Stoffe, dessen Aermel die Vorderarme bedeckten, einen Rock in leuchtenden Farben, dazu »Mitasses«, das sind eine Art Schuhstrümpfe aus Caribuleder, die, mit Stacheln und Dornen verziert, bis zu den Füßen herabreichten, während letztere endlich von geschmeidigen Mocassins mit aufgestickten Glasperlen verhüllt waren. Die Füße der Frauen erschienen übrigens so zierlich, daß sich keine Europäerin derselben hätte zu schämen brauchen.

Die Indianer hatten, wenn das überhaupt möglich war, das gewohnte würdige Aussehen heute noch verdoppelt. Sie bewegten sich feierlich bis zur Schwelle des großen Saales, an der Herr und Fräulein de Vaudreuil, der Notar, Thomas und Catherine Harcher standen, während die übrigen Anwesenden den Hof erfüllten.

Da begann Einer, der der Anführer der Truppe zu sein schien, ein hochgewachsener Hurone von etwa fünfzig Jahren, der einen Mantel wie sie die Indianer selbst anfertigen, in der Hand trug, mit ernster Stimme eine Anrede, zunächst an den Farmer:

»Ist Nicolas Sagamore jetzt auf der Farm?

– Ja, der ist hier, antwortete Thomas Harcher.

– Und ich füge hinzu, daß er hier zur Stelle ist!« rief der Notar höchst verwundert, daß dieser Besuch allem Anscheine nach seiner Person gelten sollte.

Der Hurone trat zu ihm heran, erhob stolz den Kopf und sagte mit noch feierlicherer Stimme:

[190] »Der Häuptling unseres Stammes ist von dem großen Wacondah, dem Mitsimanitu unserer Väter, abgerufen worden. Fünf Monate sind bereits vergangen, seit er die seligen Jagdgefilde durchstreift. Sein unmittelbarer Blutserbe ist Nicolas, der Letzte der Sagamores. Ihm kommt es fürder zu, den Friedens-Tomahawk zu begraben oder die Kriegsaxt ausgraben zu lassen!«

Ein tiefes Stillschweigen der Verwunderung empfing diese so unerwartete Erklärung. Im Lande wußte man es sehr wohl, daß Meister Nick von Huronenursprung war, daß er von den großen Häuptlingen der Mahogannis abstammte; Niemand aber hätte je daran gedacht – er selbst noch weniger als jeder Andere – daß er in Folge einer Erbordnung berufen werden sollte, an die Spitze einer indianischen Völkerschaft zu treten.

Nach minutenlanger Pause, welche Niemand zu unterbrechen wagte, nahm der Hurone wieder das Wort:

»Zu welcher Zeit würde mein Bruder nun kommen, sich zum Feuer des großen Rathes seines Stammes zu setzen, angethan mit dem üblichen Mantel seiner Vorfahren?«

Der Wortführer der Abordnung hielt es gar nicht für zweifelhaft, daß der Notar von Montreal dieser Aufforderung Folge geben werde, und so hielt er ihm schon den Mahoganni-Mantel entgegen.

Und da der seiner Sprache fast beraubte Meister Nick sich noch immer nicht anschickte, eine Antwort zu geben, ertönte plötzlich ein Ruf, dem sich Andere sofort anschlossen:

»Hoch! hoch! Unsere Ehrerbietung für Nicolas Sagamore!«

Lionel war es, der in seiner Begeisterung jenen ersten Ruf ausgestoßen hatte. Wenn er stolz war auf das große Glück, das seinem Brotherrn widerfuhr, so dachte er gleichzeitig, daß ein Widerschein von diesem Glanze auch auf die Angestellten seines Bureaus und vor Allem auf ihn selbst zurückfallen müsse, und jubelte er schon bei dem Gedanken, später an der Seite des großen Häuptlings der Mahogannis dahinzuwandern – so brauchen wir den Leser hiermit wohl nicht aufzuhalten.

Herr und Fräulein de Vaudreuil konnten sich indeß des Lächelns nicht erwehren, als sie das verblüffte Gesicht des Meister Nick sahen. Der arme Mann! Während der Farmer, seine Frau und seine Kinder, ebenso wie dessen Freunde, ihm ihre Glückwünsche darbrachten, wußte er nicht im Geringsten, was er beginnen sollte.

[191] Da wiederholte der Indianer seine Frage so, daß eine ausweichende Antwort nicht gut möglich war.

»Stimmt Nicolas Sagamore zu, seinen Brüdern nach dem Wigwam von Walhatta zu folgen?«

Noch immer stand Meister Nick mit weit offenem Munde da. Wohl selbstverständlich würde er nimmermehr zugestimmt haben, seine bisherige Thätigkeit aufzugeben, um dafür einen Huronenstamm zu regieren; andererseits aber wollte er die Indianer seiner Race, die ihn, gemäß dem Rechte der Erbfolge, zu einem solchen Ehrenposten beriefen, doch auch nicht gern verletzen.

»Mahogannis, begann er endlich, ich erwartete so etwas nicht... Ich bin wirklich unwürdig dieser Ehre... Ihr begreift... meine Freunde... ich befinde mich hier doch nur in der Eigenschaft eines Notars!...«

Er stammelte, er rang nach Worten und fand doch keine bündige Antwort.

Thomas Harcher kam ihm zu Hilfe.

»Huronen, sagte er, Meister Nick ist eben Meister Nick, mindestens bis die Hochzeitsfeierlichkeit vorüber ist. Nachher, wenn es ihm gefällt, mag er die Farm von Chipogan verlassen und wird er erfreut sein, mit seinen Brüdern nach Walhatta zurückzukehren.

– Ja, ja, nach der Hochzeit!« rief die ganze Gesellschaft, welche sich ihren Notar nicht rauben lassen wollte.

Der Hurone bewegte langsam den Kopf, und nach dem er sich über die unter der Abordnung herrschende Stimmung unterrichtet zu haben glaubte, sagte er:

»Mein Bruder kann nicht zögern; das Blut der Mahogannis rollt in seinen Adern und legt ihm Rechte und Pflichten auf, denen er sich nicht wird entziehen wollen...

– Rechte!... Rechte!... Ja, murmelte Meister Nick; aber Pflichten...

– Nimmt er an? fragte der Hurone.

– Ob er annimmt!... rief Lionel, das will ich glauben! Und um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben, muß er sofort den Königsmantel der Sagamores anlegen!....

– Ob der unverschämte Bengel wohl einmal schweigen wird!« grollte Meister Nick zwischen den Zähnen.

Gern hätte der friedliebende Notar dem ungestümen Enthusiasmus seines Schreibers mit einer Backpfeife einen Dämpfer aufgesetzt.

[192] [195]Herr de Vaudreuil sah wohl ein, daß Meister Nick zunächst nur Zeit zu gewinnen wünschte.

So trat er an den Indianer heran und erklärte diesem, daß der Abkömmling der Sagamores gewiß nicht daran denke, sich den Pflichten, die seine Geburt ihm auferlegte, zu entziehen. Einige Tage, vielleicht einige Wochen, wären aber doch nöthig, damit er seine Angelegenheiten in Montreal regeln könne. Es schien also angezeigt, ihm einige Zeit zu gönnen, um seine Geschäfte in Ruhe abzuwickeln.


Unsere Ehrerbietung für Nicolas Sagamore. (S. 191.)

»Das ist weise, antwortete der Indianer, und da mein Bruder annimmt, so empfange er als Ehrenzeichen seiner Würde den Tomahawk des großen Häuptlings, der von Wacondah abgerufen wurde, in den glücklichen Gründen zu jagen – und diesen stecke er in seinen Gürtel!«

Meister Nick mußte wohl oder übel die Lieblingswaffe der Indianer annehmen, und da er keinen Gürtel hatte, legte er dieselbe in seiner Verwirrung jämmerlich auf die Schulter.

Die Abordnung ließ darauf das »Hugh« ertönen, das den Wäldern des Fernen Westen eigenthümlich und eine Art Beifallsruf der Indianersprache ist.

Was Lionel betrifft, so konnte er sich vor Freude kaum halten, obwohl sein Herr ganz besonders verlegen schien gegenüber einer Nothlage, die in der ganzen Collegenschaft der canadischen Notare das tollste Lachen hervorrufen mußte. Bei seiner poetisch veranlagten Natur sah er schon ihm Voraus, daß es ihm nun zufallen würde, die Großthaten der Mahogannis zu feiern, den Kriegsgesang der Sagamores in elegische Verse umzugießen – doch immer mit der Angst, daß er auf das Wort Tomahawk keinen Reim finden könnte.

Die Huronen wollten sich schon zurückziehen unter dem Bedauern, daß Meister Nick durch seine Obliegenheiten verhindert sei, die Farm zu verlassen, um ihnen zu folgen, als Catherine einen Einfall hatte, für den ihr der Notar keinen Dank wußte.

»Mahogannis, sagte sie, ein Hochzeitsfest ist es, das uns heute in der Farm von Chipogan vereinigt. Wollt Ihr in Gesellschaft Eures neuen Häuptlings mit dabei bleiben? Wir bieten Euch Gastfreundschaft, und morgen nehmt Ihr theil an dem Schmause, bei dem Nicolas Sagamore den Ehrenplatz einnehmen wird!«

Ein donnernder Beifall brach los, als Catherine diesen verbindlichen Vorschlag gemacht, und dieser dauerte nur noch länger an, als die Mahogannis [195] jene Einladung angenommen hatten, die in so freundlicher Weise an sie gerichtet worden war.

Thomas Harcher hatte nun die Tafel auf fünfzig Gedecke mehr einzurichten, was ihn nicht besonders in Verlegenheit setzte, denn der Saal war groß und mehr als ausreichend für diesen Zuwachs an Tischgästen.

Meister Nick mußte sich zunächst ergeben, da er doch nichts Anderes machen konnte, und er empfing den Bruderkuß der Krieger seines Stammes, die er lieber zum Teufel gewünscht hätte.

Im Laufe des Abends tanzten die jungen Leute und gaben sich diesem Vergnügen, mit allen Beinen«, wie man in Canada sagte, hin, vorzüglich bei den französischen Rundtänzen, welche ein Liedchen mit dem Refrain:


Tanzen wir im Kreise –

Lustig unsere Weise

Tanzen wir im Kreise!


begleitete, doch auch bei dem raschen Schottisch, dessen Name sein Ursprungsland verräth und der zu Anfang dieses Jahrhunderts so allgemein beliebt war.

So ging der zweite Festtag in der Farm zu Chipogan zu Ende.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Das Festmahl.

Der große Tag war angebrochen – der letzte der sich aneinander reihenden Festlichkeiten der Taufe, der Abendmahlsfeier und der Hochzeit, welche die Gäste von Chipogan erfreut hatten. Die Trauung Rose Harcher's und Bernard Miquelon's sollte, nachdem sie am frühen Morgen durch den Standesbeamten geschlossen war, sofort in der Kirche eingesegnet werden. Am Nachmittage sollte dann das Hochzeitsmahl alle Gäste vereinen, deren Anzahl unter den uns bekannten Verhältnissen so ansehnlich zugenommen hatte. Es war auch hohe Zeit, daß das ein Ende nahm, denn sonst hätte die Grafschaft Laprairie oder gar der ganze Bezirk von Montreal an der gastlichen Tafel Thomas Harcher's Platz genommen.

[196] Am nächsten Tage sollten sich Alle trennen; Herr und Fräulein de Vaudreuil wollten nach der Villa Montcalm zurückkehren. Johann gedachte die Farm zu verlassen, nach der er erst an dem Tage wieder einkehren würde, an dem er sich an die Spitze der reformistischen Partei stellte. Seine Gefährten vom »Champlain« setzten inzwischen ihr Geschäft als Waldläufer und Jäger fort, dem sie gewöhnlich während der Winterzeit oblagen und in Erwartung der Stunde, wo sie ihren Adoptivbruder wiedersehen würden, während die Familie sich den gewohnten Arbeiten in der Farm hingab. Die Huronen wollten nach der Ansiedlung von Walhatta zurückwandern, wo der Stamm sich dann anschickte, Nicolas Sagamore einen festlichen Empfang zu bereiten, wenn er erst eintraf, um am Herde seiner Ahnen die erste Friedenspfeife mit ihnen zu rauchen.

Der freundliche Leser weiß, daß Meister Nick von den ihm bereiteten Huldigungen ganz und gar nicht erfreut war. Schon entschlossen, seine Schreibstube bestimmt nicht gegen den Titel eines Häuptlings des Stammes zu vertauschen, hatte er darüber mit Herrn de Vaudreuil und Thomas Harcher gesprochen. Seine Befangenheit war eine solche, daß es schwierig war, nicht ein wenig über sein Abenteuer zu lachen.

»Sie scherzen, sagte er dann. Nun ja, man sieht eben, daß Ihnen kein Thron seine Stufen öffnet, um denselben zu besteigen.

– Mein lieber Nick, die ganze Angelegenheit dürfen Sie nicht zu ernst nehmen, antwortete dann Herr de Vaudreuil.

– Und wie soll ich sie anders aufnehmen?

– Die guten Leute werden auf ihrem Verlangen nicht bestehen, wenn sie einsehen, daß Sie sich gar nicht beeilen, sich nach dem Wigwam der Mahogannis zu begeben.

– O, da kennen Sie sie schlecht, rief Meister Nick. Sie und nicht darauf bestehen!... Die stöbern mich auch in Montreal auf! Sie werden mir zusetzen, daß ich Ihnen nicht entgehen kann. Sie belagern meine Thür!... Und was wird meine alte gute Dolly sagen?... Es ist gar nicht unmöglich, daß ich schließlich mit Mocassins an den Füßen und mit Federn auf dem Kopfe umherlaufe!«

Und der vortreffliche Mann, der eigentlich gar keine Lust zu lachen hatte, stimmte doch zuletzt in die Heiterkeit der Zuhörer ein.

Am schlimmsten war er aber doch bei seinem Schreiber daran. Aus schalkhafter Bosheit behandelte ihn dieser bereits, als habe er die Nachfolge [197] des verstorbenen Huronen-Häuptlings schon angenommen. Er nannte ihn nicht mehr Meister Nick – Pfui! Er redete ihn nur noch in der dritten Person an, indem er sich der feierlichen Sprachweise der Indianer bediente. Und so wie es jedem Krieger in den Prairien zukommt, hatte er ihm die Wahl zwischen zwei Beinamen freigelassen, nämlich zwischen »Original-Horn« oder »Zarte Eidechse« – was doch mindestens den Namen »Falken-Auge« und »Lange Flinte« gleichkam.

Gegen elf Uhr trat im Hofe der Farm der Zug zusammen, der das Brautpaar begleiten sollte. Dieser wäre wahrlich werth gewesen, einen jungen Dichter zu begeistern, wenn Lionels Muse sich nicht eben mit mehr hochtrabenden Entwürfen beschäftigt hätte.

An der Spitze gingen Bernard Miquelon und Rose Harcher, einander an den kleinen Fingern führend und Beide bezaubernd und strahlend vor Freude; dann folgten Herr und Fräulein de Vaudreuil an der Seite Johanns; nach ihnen die Väter, Mütter, Brüder und Schwestern des jungen Ehepaares; endlich Meister Nick mit seinem Schreiber, geleitet von der Abordnung der Huronen. Der Notar hatte diese Ehre nicht abweisen können. Zum größten Leidwesen Lionels fehlte seinem Herrn nur das Costüm der Eingebornen, die Tätowirung des Körpers und die Bemalung des Gesichtes, um den Stamm der Sagamores würdig zu repräsentiren.

Die Feierlichkeit verlief mit dem ganzen Pomp, der die Stellung der Familie Harcher im Lande erheischte. Da gab es volltönendes Glockengeläute, Festgesang und Gebet, aber auch tüchtiges Knallen der Gewehre. Und gerade bei diesem geräuschvollen Flintenconcert betheiligten sich die Huronen mit einem Eifer und einer Uebereinstimmung, daß Nathaniel Bumpoo, der berühmte Freund der Mohikaner, ihnen seine Anerkennung nicht hätte versagen können.

Nachher kehrte der Zug wieder zur Farm zurück. Dieses Mal führte der junge Ehemann Rose Miquelon aber am Arm. Kein Zwischenfall hatte die Festlichkeiten des Vormittags gestört.

Jeder belustigte sich nun nach Belieben. Vielleicht hatte nur Meister Nick einige Mühe, seine Mahoganni-Brüder zu verlassen, wenn er in Gesellschaft seiner canadischen Freunde ein wenig Luft schöpfen wollte, und kleinlauter als je wiederholte er gegen Herrn de Vaudreuil ohne Unterlaß:

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich mich von diesen Wilden losmachen soll!«

[198] Wenn inzwischen Einer viel beschäftigt, überlastet war und von Mittag bis um drei Uhr, die Stunde, wo nach altem Herkommen das Hochzeitsmahl bereit stehen mußte, mit nicht immer zarten Worten noch mehr aufgemuntert wurde, so war das Thomas Harcher. Wohl bemühten sich Catherine sowie ihre Söhne und Töchter, ihm zu helfen; die mancherlei Sorgen, welche eine Festtafel von solcher Ausdehnung ihm auferlegte, ließen ihm aber doch keine Minute Ruhe.

In der That waren es nicht allein sehr viele begehrliche Magen, die es hier zu befriedigen galt, sondern man mußte auch dem verschiedensten Geschmacke Genüge zu thun suchen. Der Speisezettel enthielt in Folge dessen die ganze Sammlung gewöhnlicher und außergewöhnlicher Gerichte, welche die canadische Küche ausmachen.

Auf der ungeheuren Tischreihe – an der hundertfünfzig Gäste Platz nehmen sollten – lagen ebenso viele Löffel und Gabeln in weiße Servietten gewickelt, und stand vor jedem Teller ein metallener Becher. Messer gab es nicht, da sich Jeder mit dem zu bedienen hatte, welches er in der Tasche führte; Brot auch nicht, da bei Hochzeitsschmäusen nur eine Art Ahornzuckerkuchen zulässig ist. Zahlreiche Schüsseln, welche wir noch eingehender anführen werden, standen schon mit kalten Speisen bereit, während die anderen, die warmen Gerichte, nach und nach aufgetragen werden sollten. Diese letzteren bildeten große Terrinen mit sehr heißer Suppe, aus der ein wohlriechender Dampf aufstieg, verschiedene gebackene und gekochte Fische aus dem Süßwasser des St. Lorenzo oder der Landseen, Forellen, Lachse, Aale, Hechte, Weißfische, Alsen, Touradis und Maskinongis; ganze Ketten von kleinen Vögeln, ferner Tauben, Wachteln, Waldschnepfen und Wasserschnepfen und fricassirte Eichhörnchen; nachher als Hauptstücke Truthahn, Gänse, junge Trappen, die im Federviehhofe der Familie gemästet waren, die einen goldig gebräunt im hellen Feuer der Bratöfen, die anderen in einem Meere von Kräutersauce schwimmend; außerdem warme Austernpastete, Pasteten aus feingehacktem Fleisch, Gemüse von großen Zwiebeln, Schöpsenkeulen, gebratene Wildschweinsrücken, einheimische Sagamiten, auf dem Rost gebratene Coteletten von Hirsch- und Damwild; endlich die beiden Wunderdinge des geschätztesten Wildes, welches die Feinschmecker beider Welten nach Canada verlocken könnte, die von den Jägern in den Prairien so gesuchte Bisonzunge und der Höcker genannten Wiederkäuers, der letztere in der natürlichen Haut gedämpft und verziert mit wohlriechenden Blättern. Hierzu


So ging der zweite Festtag zu Ende. (S. 196.)

füge man noch das Namensverzeichniß der Sauce [199] schüsseln, in denen »Relishszwanzigerlei Art enthalten waren, die Berge von Gemüsen, das in den letzten Tagen des Indianersommers gereist war, das Backwerk jeder Sorte, darunter vorzüglich den sogenannten Krachkuchen und die Pfannkuchen, in deren Zubereitung die Töchter der Catherine Harcher eines wohlverdienten Ruhmes genossen, die verschiedenen Früchte, welche aus dem eigenen Garten geerntet waren, und endlich in hunderten von mannigfach geformten Flaschen den Obstwein, das Bier und daneben den Wein, Rum, Genèver und was sonst für den Nachtisch [200] bestimmt war – so hat man eine kleine Vorstellung von dem Festmahle, welches diesen Ehrentag feiern helfen sollte.

Der geräumige Saal war zu Ehren Bernards und Roses Miquelon sehr künstlerisch ausgeschmückt. Frische Blätterguirlanden zogen sich an den Wänden hin, einige Sträuche schienen wirklich in den Ecken gewachsen zu sein. Hunderte von Sträußen wohlriechender Blumen zierten die Fensteröffnungen. Gleichzeitig bildeten Flinten. Pistolen, Karabiner – alle Waffen einer Familie, unter der sich so viel Jäger befanden – da und dort ein glänzendes Ornament.

[201] Das junge Ehepaar nahm die Mitte der Tafel ein, welche hufeisenförmig aufgestellt war. Hufeisenförmig wie die Niagarafälle, welche hundertfünfzig Meilen im Südwesten ihre Katarakten tosend in den Abgrund stürzen. Und wahre Katarakten waren es auch, die hier in dem Abgrund franco-canadischer Magen verschwinden sollten.


An der Spitze gingen Bernard Miquelon und Rose Harcher. (S. 198.)

Zu den Seiten der Neuvermählten hatten Herr und Fräulein de Vaudreuil, nebst Johann und seinen Gefährten vom »Champlain« Platz genommen. Ihnen gegenüber, zwischen Thomas und Catherine Harcher, thronte Meister Nick mit den ersten Kriegern seines Stammes, welch' Letztere ohne Zweifel beobachten wollten, wie ihr neuer Häuptling sich halten würde, und in dieser Beziehung gelobte sich Nicolas Sagamore, einen seines Stammbaumes würdigen Appetit zu zeigen. Es versteht sich von selbst, daß heute, entgegen der sonst herrschenden Gewohnheit und nur für diese außergewöhnliche Gelegenheit, auch die Kinder einen Platz an der Tafel, zwischen ihren Eltern und deren Freunden erhalten hatten. Um alle Tischgäste schwärmte endlich eine speciell für diese Dienstleistung gemiethete Schwadron von Negern.

Um fünf Uhr verschritt man zu dem ersten Sturm. Um sechs Uhr trat ein Waffenstillstand ein, nicht um die Todten aufzulesen, sondern um den Lebenden Zeit zu geben, einmal wieder Athem zu schöpfen. Dann begannen die Toaste auf die jungen Eheleute, die »Speechs« zu Ehren der Familie Harcher.

Nachher folgten die lustigen Hochzeitsgesänge, denn nach althergebrachter Gewohnheit pflegen bei jeder Gesellschaft, beim Mittag- wie beim Abendessen, Damen und Herren abwechselnd vorzüglich alte französische Lieder zu singen.

Endlich trug Lionel ein recht nettes Gedicht vor, welches er speciell für diese Gelegenheit gemacht hatte.

»Bravo, Lionel, bravo!« rief Meister Nick, der den Mißmuth über seine spätere Souveränität im Glase ertränkt hatte.

Im Grunde war der gute Mann ziemlich stolz auf die Erfolge seines jungen Poeten, und er schlug sogar vor, einmal auf die Gesundheit des »liebenswürdigen Laureaten der Freundes-Lyra« zu trinken.

Auf diesen Vorschlag hin erklangen die nach Lionel zu erhobenen Gläser, der glücklich und verlegen zu gleicher Zeit erschien, auch glaubte er nicht besser antworten zu können, als mit dem unmittelbar darauf ausgebrachten Toast:

»Auf das Wohlsein Nicolas Sagamore's, des letzten Zweiges jenes edlen Stammes, an den der Große Geist das Geschick des Huronenvolkes knüpfen wollte!«

[202] Donnerndes Bravo. Die Mahogannis hatten sich an der Tafel erhoben und schwangen ihre Tomahawks so wüthend, als wären sie bereit, über die Irokesen, die Mungos oder einen anderen feindlichen Stamm des Fernen Westens herzufallen. Meister Nick mit seinem gutmüthigen Gesicht machte inmitten seiner kriegerischen Stammverwandten allerdings einen sehr friedfertigen Eindruck. Wahrlich, dieser naseweise Lionel hätte auch besser den Mund gehalten.

Als die Aufregung sich gelegt, griff man den nächstfolgenden Gang mit erneuten Kräften an.

Inmitten dieser geräuschvollen Ehrenbezeugung konnten Johann, Clary de Vaudreuil und deren Vater sich mit gedämpfter Stimme bequem unterhalten. Am Abend dieses Tages sollten sie sich ja trennen. Wenn auch Herr und Fräulein de Vaudreuil erst am nächsten Morgen sich von ihren freundlichen Wirthen zu verabschieden gedachten, so war doch Johann entschlossen, schon in der Nacht aufzubrechen, um außerhalb der Farm von Chipogan ein sicheres Obdach zu suchen.

»Und doch, bemerkte Herr de Vaudreuil, wie sollte die Polizei auf den Gedanken kommen, Johann ohne Namen unter den Mitgliedern der Familie Harcher zu vermuthen?

– Wer weiß, ob deren Spione mir nicht auf den Fersen sind, antwortete Johann, als hätte er eine gewisse Vorahnung. Und wenn es sich so verhielte, wenn der Farmer und seine Söhne hörten, daß ich der bin...

– So würden dieselben Sie vertheidigen, fiel Clary lebhaft ein, sie würden sich für Sie tödten lassen!

– Ich weiß es, sagte Johann, und damit ließe ich als Dank für gewährte Gastfreundschaft hier Elend und Ruinen zurück! Thomas Harcher und seine Kinder müßten fliehen, weil sie mich vertheidigt hätten... Und wie weit würden die Repressalien der Behörde nicht gehen!... Nein, nein, ich darf nicht säumen, die Farm zu verlassen!

– Warum wollen Sie nicht im Geheimen nach der Villa Montcalm zurückkehren? fragte da Herr de Vaudreuil. Ist es nicht geradezu meine Pflicht, die Gefahren, welche Sie Thomas Harcher vielleicht mit Recht ersparen wollen, auf mich zu nehmen? – Und diese Pflicht bin ich bereit zu erfüllen. In meiner Wohnung wird das Geheimniß Ihrer Anwesenheit gut bewahrt bleiben.

– Denselben Vorschlag, Herr de Vaudreuil, hat mir Ihr Fräulein Tochter schon in ihrem Namen gemacht, doch ich mußte denselben ablehnen.

[203] – Und doch, fuhr Herr de Vaudreuil, der sich nicht gleich abweisen ließ, fort, es würde sehr nützlich bezüglich der letzten Maßregeln sein, die Sie noch zu treffen haben. Sie könnten sich jeden Tag mit den Mitgliedern des Comités in Verbindung setzen. Zur Stunde der Erhebung werden Farran, Clerc Vincent Hodge und ich bei der Hand sein, Ihnen zu folgen. Ist es nicht wahrscheinlich, daß die erste Bewegung in Montreal ausbrechen wird?

– Das ist in der That wahrscheinlich, erklärte Johann, oder mindestens in den benachbarten Grafschaften, je nach den Stellungen, welche von den königlichen Truppen besetzt gehalten werden.

– Nun also, meinte Clary, warum wollen Sie denn da das Angebot meines Vaters nicht annehmen? Oder haben Sie die Absicht, immer noch durch die Kirchspiele des Districts zu wandern? Ist Ihr Zug zur Erregung der Gemüther noch nicht vollendet?

– Er ist vollendet, erklärte Johann; ich brauche nur noch das Zeichen zu geben...

– Und wann gedenken Sie das zu thun? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ich erwarte ein Ereigniß, welches den Ingrimm der Patrioten gegen die angel-sächsischen Unterdrücker zum Ueberlaufen bringen muß, erwiderte Johann, und dieses Ereigniß wird in allernächster Zeit eintreten. In einigen Tagen werden die zur Opposition gehörenden Abgeordneten dem General-Gouverneur das Recht verkümmern, das er bezüglich der Staatseinkünfte, ohne Vollmacht der Kammer, zu haben behauptete... Außerdem weiß ich aus verläßlichen Quellen, daß das englische Parlament die Absicht hat, ein Gesetz anzunehmen, welches Lord Gosford ermächtigen soll, die Constitution von 1791 aufzuheben. Dann würden die französischen Canadier gar keine Sicherheit bezüglich der Repräsentativ-Verfassung, welche der Colonie zukommt und die ihr doch sonst schon nur so geringe Freiheiten läßt, mehr haben. Unsere Freunde und die liberalen Abgeordneten mit ihnen werden versuchen, sich dieser Ueberhebung der Staatsgewalt zu widersetzen. Wahrscheinlich wird Lord Gosford, um den Ansprüchen der Reformisten einen Damm entgegenzusetzen, zu einer Auflösung der Kammer oder mindestens zu einer Vertagung derselben schreiten. An eben diesem Tage wird das Land sich erheben, und wir werden dasselbe nur noch zu führen haben.

– Sie haben Recht, antwortete Herr de Vaudreuil, es ist nicht zweifelhaft, daß eine derartige Herausforderung seitens der Loyalisten die allgemeine Revolution heraufbeschwören muß. Wird das englische Parlament aber wagen, [204] so weit zu gehen? Doch wenn es zu diesem Ansturme gegen die Rechte der französischen Canadier wirklich kommt, sind Sie überzeugt, daß das bald geschehen wird?

– In einigen Tagen, versicherte Johann. Sebastian Grammont hat mich darüber unterrichtet.

– Und wie werden Sie sich bis dahin allen Nachforschungen entziehen? fragte Clary.

– Ich führe die Beamten auf eine falsche Fährte.

– Haben Sie denn einen Zufluchtsort?

– Ja, ich habe einen.

– Werden Sie da ganz in Sicherheit sein?

– Mehr als irgendwo anders.

– Fern von hier?

– In St. Charles, in der Grafschaft Verchères.

– Zugegeben, bemerkte Herr de Vaudreuil, Niemand kann besser als Sie selbst darüber urtheilen, was die Umstände erheischen. Glauben Sie den Ort, wo Sie sich zu verbergen gedenken, unbedingt geheim halten zu müssen, so werden wir uns bescheiden. Doch vergessen Sie nicht, daß die Villa Montcalm Tag und Nacht für Sie geöffnet ist.

– Ich weiß es, Herr de Vaudreuil, antwortete Johann, und ich danke Ihnen dafür.«

Selbstverständlich hatte bei den unaufhörlichen lauten Ausrufen der Tischgenossen, bei dem immer mehr zunehmenden Tumult im Saale, von dieser mit gedämpfter Stimme geführten Unterhaltung kein Anderer etwas hören können. Zuweilen war dieselbe nur durch einen geräuschvoll ausgebrachten Toast, durch eine lustige Erwiderung oder durch eine angepaßte Anrede an das junge Ehepaar unterbrochen worden. Jetzt schien sie nach den letzten zwischen Herrn de Vaudreuil und Johann gewechselten Worten ein Ende nehmen zu wollen, als eine Frage Clarys eine Antwort seitens des jungen Mannes veranlaßte, die ihre und ihres Vaters Verwunderung erregen mußte.

Es ist nicht leicht zu sagen, welcher Eingebung das junge Mädchen folgte, als sie diese Frage stellte. Vielleicht war es ein Verdacht, oder wenigstens das Bedauern darüber, daß Johann entschlossen schien, ihnen gegenüber noch immer eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren. Das mußte wohl der Fall sein, und so sagte sie zu ihm:

[205] »Also gibt es doch noch ein Haus, welches Ihnen Obdach und mehr Gastfreundschaft bietet als das unsrige?

– Mehr Gastfreundschaft?... Nein, doch ebensoviel, antwortete Johann gerührt.

– Und welches?

– Das Haus meiner Mutter!«

Johann sprach diese Worte mit dem Ausdrucke so warmer kindlicher Liebe, daß Fräulein de Vaudreuil sich davon tief ergriffen fühlte. Das war zum ersten Male, daß Johann, dessen Vergangenheit so geheimnißvoll vor ihr lag, eine Andeutung auf seine Familie fallen ließ. Er stand also nicht so allein in der Welt, wie sie bisher hatte annehmen müssen; er hatte noch eine Mutter, welche verborgen in dem Flecken St. Charles lebte, und diese suchte Johann ohne Zweifel bisweilen auf. Das Mutterhaus stand ihm offen, wenn es ihn nach etwas Ruhe und Rast verlangte; und jetzt wollte er offenbar ebenda die Stunde abwarten, in der der Kampf entbrennen sollte.

Clary hatte nichts erwidert, ihre Gedanken entführten sie nach jenem entfernten Hause. O, welche Freude für sie wär' es gewesen, die Mutter des jungen Proscribirten zu kennen! Sie sah in dieser eine heldenhafte Frau, gleich ihrem Sohne, eine Patriotin, die sie geliebt hätte, ja, die sie schon liebte. Gewiß würde sie dieselbe eines Tages noch sehen. Ihr Leben schien ja für alle Zukunft mit dem Johanns ohne Namen verknüpft – denn mehr als sonst empfand sie in dem Augenblicke, wo sie sich vielleicht für immer trennen sollten, die Macht des Gefühles, das sie Beide unlöslich verband.

Inzwischen näherte sich das Festmahl seinem Ende, und die durch starke Getränke des Nachtisches erhitzten Gäste machten ihrer Heiterkeit in tausenderlei Gestalt Luft. Von den verschiedensten Seiten der Tafel trank und jubelte man den Neuvermählten zu. Es war ein höchst lustiges Lärmen, aus dem zuweilen lautere Rufe hörbar wurden, wie:

»Glück und Ehre den jungen Gatten!

– Hoch Bernard und Rose Miquelon!«

Ebenso brachte man die Gesundheit des Herrn und Fräulein de Vaudreuil, natürlich auch die Thomas und Catherine Harcher's aufrichtigen Herzens aus.

Meister Nick hatte der Tafel in größtem Maße Ehre angethan. Beobachtete er dabei nicht die kalte Würde eines Mahogannis, so lag eine solche eben nicht in seiner offenen und mittheilsamen Natur; doch es muß hierzu [206] bemerkt werden, daß auch die Vertreter seines Stammes selbst etwas von ihrem altangeerbten Ernste unter dem Einflusse der guten Mahlzeit und des vortrefflichen Weines abgelegt hatten.

Sie stießen ganz nach Art anderer Leute mit den Gläsern an, um die Familie Harcher, deren Gäste sie heute waren, zu begrüßen.

Während des Nachtisches lief Lionel, der gar nicht an seinem Platze zu halten war, an der ganzen Tafel umher, um jedem daran Sitzenden einige angenehme Worte zu sagen. Als er dabei zu Meister Nick gelangte, hatte er den Einfall, diesem mit volltönender Stimme zuzurufen:

»Wird Nicolas Sagamore nicht auch einige Worte im Namen des Stammes der Sagamores sprechen?«

Bei der glücklichen Geistesverfassung, in der er sich gerade befand, nahm Meister Nick den Vorschlag seines jungen Schreibers nicht übel auf, obwohl dieser sich der emphatischen Sprechweise der Indianer bedient hatte.

»Du meinst, Lionel?... antwortete er.

– Ich meine, großer Häuptling, der Augenblick sei gekommen, um das Wort zur Beglückwünschung der jungen Eheleute zu ergreifen.

– Wenn Du denn glaubst, daß dazu die rechte Zeit ist, erwiderte Meister Nick, so will ich es versuchen.«

Der brave Mann erhob sich und bat mit einer von huronischer Würde getragenen Bewegung um einige Ruhe.

Sofort schwieg Alles still.

»Junges Ehepaar, begann er, ein alter Freund Eurer Familie kann nicht von hinnen gehen, ohne Euch seine Erkenntlichkeit auszudrücken für...«

Plötzlich unterbrach sich Meister Nick, der angefangene Satz blieb ihm auf den Lippen hängen. Seine erstaunten Blicke hatten sich nach der Thür des großen Saales gerichtet.

Auf der Schwelle derselben stand ein Mann, dessen Erscheinen Niemand bemerkt hatte.

Diesen Mann hatte Meister Nick auf den ersten Blick erkannt und er rief in einem Tone, in dem sich Ueberraschung und Unruhe gleichmäßig ausdrückten:

»Herr Rip!«


Eine speciell für diese Dienstleistung gemiethete Schwadron von Negern. (S. 202.)
[207]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Flintenschüsse zum Nachtisch.

Der Chef des Hauses Rip & Cie. hatte diesmal nicht sein eigenes Personal bei sich. Draußen gingen etwa zehn Beamte Gilbert Argall's auf und ab, und außer diesen hielten noch vierzig Freiwillige den Haupteingang zum Hofe besetzt. Sehr wahrscheinlich war das Haus gänzlich eingeschlossen.

[208] Handelte es sich nur um eine einfache Haussuchung oder um eine Verhaftung, welche dem Haupte der Familie Harcher drohte?

Jedenfalls mußte ein außergewöhnlich wichtiger Grund vorliegen, daß der Polizeiminister es für nöthig gehalten hatte, eine so zahlreiche Mannschaft nach der Farm von Chipogan zu entsenden.

Bei Nennung des Namens Rip von Seiten des Notars fühlten sich Herr und Fräulein de Vaudreuil wie versteinert; sie wußten ja, daß Johann ohne Namen sich im Saale befand. Sie wußten auch, daß gerade Rip den Auftrag [209] erhalten hatte, die Nachforschungen nach ihm in die Hand zu nehmen. Und was konnten sie jetzt anderes denken, als daß Rip nach endlicher Entdeckung seiner Spur zu dessen Verhaftung vorschreiten wolle? Fiel Johann aber in die Hände Gilbert Argall's, so war er rettungslos verloren.


Auf der Schwelle stand ein Mann. (S. 207.)

Seine größte Willenskraft zusammenraffend, hatte Johann nicht mit einer Wimper gezuckt; kaum flog eine leichte Blässe über das Gesicht des jungen Mannes, und keine Bewegung, nicht einmal eine unwillkürliche, hätte ihn verrathen können. Und doch erkannte er Rip recht gut wieder, mit dem er ja schon an dem Tage zusammengetroffen war, wo der Wagen ihn mit Meister Nick und Lionel von Montreal nach der Insel Jesus beförderte. Rip, den Geheimagenten, der schon seit zwei Monaten seine Fährte aufzuspüren sich bemühte! Rip, den Verführer, dem seine Familie die auf ihr lastende Schande verdankte, indem er seinen Vater Simon Morgaz zu jener Verrätherei verleitete!

Trotz alledem bewahrte er seine Kaltblütigkeit und ließ er nichts von dem tödtlichen Hasse merken, der in ihm kochte, während Herr und Fräulein de Vaudreuil an seiner Seite zitterten.

Wenn Johann indeß Rip kannte, so kannte Rip ihn doch nicht. Er wußte nicht, daß der Fahrgast, den er einen Augenblick auf der Landstraße von Montreal gesehen, der Patriot war, auf dessen Kopf die Regierung einen Preis gesetzt hatte. Er wußte nur, daß Johann ohne Namen sich in der Farm von Chipogan befinden mußte, und zwar hatte er seine Spur folgendermaßen entdeckt:

Wenige Tage vorher war der junge Proscribirte fünf oder sechs Meilen von St. Charles gesehen worden, nachdem er das geschlossene Haus in St. Charles verlassen, und gleichzeitig lief bei der Behörde eine Meldung ein, welche ihn als einen verdächtigen Fremden, der eben der Grafschaft Verchères den Rücken gewendet habe, bezeichnete. Da er bemerkte, daß man auf ihn aufmerksam geworden war, hatte er mehr ins Innere der Grafschaft flüchten müssen, wäre auch dabei mehrmals der Polizei fast in die Hände gelaufen, und nur mit Mühe vermochte er sich bis zur Farm Thomas Harcher's durchzuschlagen.

Die Agenten des Hauses Rip hatten jedoch seine Fährte nicht mehr, »wie er glaubte«, verloren, vielmehr die fast gewisse Ueberzeugung gewonnen, daß die Farm von Chipogan ihm Unterkunft gewähren müsse. Rip erhielt hiervon sofort Nachricht. Da dieser nicht allein wußte, daß diese Farm Eigenthum des Herrn de Vaudreuil war, sondern auch, daß dieser selbst sich zur Zeit dort [210] befand, so zweifelte er gar nicht mehr daran, daß der Fremde, der eben daselbst verweilte, Johann ohne Namen sein müsse. Nachdem er einige seiner Leute beauftragt, sich unter die zahlreichen Eingeladenen Thomas Harcher's zu mischen, erstattete er Bericht an Gilbert Argall, der ihm eine Anzahl Polizisten und eine Abtheilung Freiwilliger von Montreal zur Verfügung stellte.

So war es gekommen, daß Rip letzt auf der Schwelle des Saales mit der Ueberzeugung erschien, daß Johann ohne Namen sich unter den Gästen des Farmers von Chipogan befinden müsse.

Es war fast um fünf Uhr Nachmittags. Obwohl man die Lampen noch nicht angezündet hatte, war es im Innern doch ziemlich hell. Mit einem Blick hatte Rip schnell die ganze Gesellschaft überflogen, ohne daß Johann seine Aufmerksamkeit mehr als die anderen im Saale anwesenden Tischgenossen erregt hätte.

Thomas Harcher, der seinen Hof von einer Anzahl Männer besetzt sah, hatte sich inzwischen erhoben und wandte sich an Rip:

»Wer sind Sie? fragte er.

– Ein Agent, beauftragt mit einer Mission seitens des Polizeiministers, antwortete Rip.

– Was führt Sie hierher?

– Das werden Sie sofort erfahren. – Sind Sie nicht Thomas Harcher von Chipogan, Pächter des Herrn de Vaudreuil?

– Ja, und ich frage Sie, mit welchem Rechte Sie in mein Haus eingedrungen sind?

– Gemäß dem mir gewordenen Auftrage will ich eine Verhaftung vornehmen.

– Eine Verhaftung! rief der Farmer, eine Verhaftung in meinen vier Wänden!... Und wen beabsichtigen Sie zu verhaften?

– Einen Mann, auf dessen Kopf laut Bekanntmachung des General-Gouverneurs ein Preis ausgesetzt ist und der sich hier befindet.

– Und der nennt sich?....

– Er nennt sich, antwortete Rip mit lauter Stimme, Johann ohne Namen, oder richtiger, er läßt sich so nennen!«

Auf diese Erklärung folgte ein lang dauerndes Gemurmel. Wie? Johann ohne Namen war es, den Rip verhaften wollte, und er behauptete, daß dieser in der Farm von Chipogan weile?

[211] Das Aussehen des Farmers, seiner Frau, seiner Kinder und aller seiner Gäste verrieth natürlicher Weise eine so tiefe Verblüffung, daß Rip fast glauben konnte, seine Leute hätten sich geirrt und ihn wieder auf eine falsche Fährte geführt. Nichtsdestoweniger wiederholte er sein Verlangen, und diesmal womöglich in noch mehr befehlerischem Tone.

»Thomas Harcher, fuhr er fort, der Mann, den ich suche, ist hier, und ich fordere Sie auf, ihn auszuliefern!«

Bei diesen Worten sah Thomas Harcher seine Gattin an; diese aber packte ihn am Arm und rief:

»So antworte doch auf das, was man Dich fragt!

– Ja, Thomas, geben Sie Antwort! setzte Meister Nick hinzu. Es scheint mir, dieselbe kann Ihnen nicht schwer werden.

– In der That, nicht im Geringsten!« sagte der Farmer.

Dann wendete er sich an Rip:

»Johann ohne Namen, den Sie suchen, erklärte er, ist nicht in der Farm von Chipogan.

– Und ich wiederhole Ihnen, daß er hier ist, Thomas Harcher, versetzte Rip kühl.

– Nein, sag' ich Ihnen, er ist nicht hier... ist niemals hier erschienen!... Ich kenne ihn nicht einmal. Doch ich erkläre auch, daß wenn er mich um Obdach angesprochen hätte, so würde ich's ihm gewährt haben; und wenn er sich bei mir aufhielte, würde ich ihn nicht ausliefern!

Ueber die deutlichen Zeichen der Zustimmung, mit denen diese Erklärungen des Farmers aufgenommen wurden, konnte Rip sich nicht täuschen. Thomas Harcher hatte sich offenbar zum Dolmetsch der Gefühle der gesammten Gesellschaft gemacht. Angenommen, Johann ohne Namen hätte doch auf der Farm Zuflucht gesucht, so durfte er hier von Keinem erwarten, daß er feige genug sein würde, ihn Jenen zu verrathen.

Johann hörte dem Allen noch immer mit Gelassenheit zu. Herr de Vaudreuil und Clary wagten gar nicht, ihn anzublicken, aus Furcht, Rip's Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.

»Thomas Harcher, nahm dieser das Wort, es wird Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen sein, daß eine am 3. September 1837 erlassene Bekanntmachung einen Preis von sechstausend Piastern Jedem zusichert, der Johann ohne Namen verhaftet oder seinen Zufluchtsort angibt.

[212] – Natürlich weiß ich davon, bestätigte der Farmer, und wer in ganz Canada wüßte es nicht? Bisher hat sich aber noch kein Canadier gefunden, der erbärmlich genug wäre, einen so elenden Verrath zu begehen... es wird sich auch nie einer finden!

– Gut gesagt, Thomas!« rief Catherine, der ihre Kinder und Freunde sich anschlossen.

Rip ließ sich nicht in Verlegenheit bringen.

»Thomas Harcher, fuhr er fort, wenn Sie die Proclamation vom 3. September 1837 auch kennen, so ist Ihnen doch vielleicht die neue Verordnung des General-Gouverneurs vom 6. October dieses Jahres noch unbekannt?

– Richtig, die kenne ich nicht, antwortete der Farmer, doch wenn sie von demselben Schlage wie die erste ist, wenn sie nur zu erbärmlicher Angeberei verführen soll, so können Sie sich der Mühe entheben, sie uns mitzutheilen.

– Hören müssen Sie dieselbe doch!« entgegnete Rip.

Damit entfaltete er ein von Gilbert Argall unterzeichnetes Blatt und las wie folgt:

»Jedem Bewohner der Städte und des platten Landes wird hiermit aufgegeben, dem proscribirten Johann ohne Namen niemals Hilfe und Schutz zu gewähren. Jeder, der ihm Obdach gibt, verfällt der Strafe des Galgens.

Für den General-Gouverneur

Der Polizeiminister

Gilbert Argall.«

Die englische Regierung hatte es also gewagt, zu derartigen Schreckensmitteln zu greifen! Nachdem sie einen Preis auf den Kopf Johanns ohne Namen ausgesetzt, bedrohte sie jetzt noch mit dem Tode Jeden, der ihm Obdach gegeben hatte oder noch geben würde!

Dieser unerhörte Gewaltstreich rief die lebhaftesten Proteste aller Anwesenden hervor. Thomas Harcher, seine Söhne und seine Gäste sprangen schon von ihren Plätzen empor, um sich auf Rip zu stürzen und diesen sammt seinem Gefolge von Beamten und Freiwilligen aus der Farm zu verjagen, als Nick sie mit einem Winke noch zurückhielt.

Das Gesicht des Notars war sehr ernst geworden. Gleichwie alle in diesem Saale versammelten Patrioten, empfand auch er den so natürlichen Abscheu, welche die eben von Rip verlesene Verordnung des Lord Gosford wachrufen mußte.

[213] »Herr Rip, wendete er sich an diesen, der, den Sie suchen, befindet sich nicht in der Farm von Chipogan. Thomas Harcher hat Ihnen das schon versichert und ich wiederhole es Ihnen hiermit ausdrücklich. Sie haben also hier nichts zu suchen und hätten besser gethan, jenes bedauerliche Schriftstück in der Tasche zu behalten. Glauben Sie mir, Herr Rip, Sie würden das beste Theil wählen, wenn Sie uns Ihre Anwesenheit nicht länger aufdrängten.

– Sehr gut, Nicolas Sagamore! rief Lionel.

– Ja!... Ziehen Sie sich zurück!... Sogleich! erscholl es von dem Farmer, dessen Stimme schon vor Zorn bebte. Johann ohne Namen ist nicht hier! Doch wenn er käme und von mir Obdach verlangte, so würde ich ihn, trotz der Drohungen des Gouverneurs, bei mir aufnehmen... Jetzt hinaus aus meinem Hause... Hinaus!

– Ja!... Ja!... Hinaus! wiederholte Lionel, dessen Aufgeregtheit Meister Nick vergeblich zu dämpfen versucht hatte.

– Nehmen Sie sich in Acht, Thomas Harcher! erwiderte Rip. Sie werden den Kürzeren ziehen gegen das Gesetz und gegen die aufgebotene Macht, welche zu dessen Unterstützung bestimmt ist. An Polizisten und Kronfreiwilligen hab' ich fünfzig Mann bei mir!... Ihr Haus ist eingeschlossen...

– Hinaus!... Hinaus!...«

Wie aus einem Munde kamen diese Zurufe gleichzeitig mit directen Bedrohungen der Person Rip's.

»Ich werde nicht eher von der Stelle weichen, antwortete dieser, als bis die Identität aller hier anwesenden Personen nachgewiesen ist!«

Auf ein Zeichen von seiner Seite näherten sich die noch im Hofe stehenden Beamten der Thür, um sofort in den Saal eindringen zu können. Durch dessen Fenster blickend, überzeugten sich Herr und Fräulein de Vaudreuil auch, daß die Kronfreiwilligen rings um das Haus verstreut waren.

In Voraussicht eines drohenden Zusammenstoßes hatten sich die Frauen und die Kinder, mit Ausnahme des Fräulein de Vaudreuil, in die angrenzenden Zimmer zurückgezogen. Pierre Harcher, seine Brüder und seine Freunde holten schon die an den Wänden hängenden Waffen herunter. Und doch, wie konnten sie bei ihrer so weit unterlegenen Zahl Rip ernstlich hindern, seines Amtes zu walten?

Herr de Vaudreuil, der von Fenster zu Fenster ging, suchte noch zu erkennen, ob Johann die Möglichkeit geboten sei, auf der Rückseite der Farm und durch[214] den Garten zu entkommen. Doch nach dieser Seite ebenso wie nach der anderen schien eine Flucht ganz unmöglich. Inmitten des herrschenden Aufruhrs stand Johann noch regungslos neben Clary, welche nicht hatte von der Stelle weichen wollen.

Meister Nick versuchte noch eine letzte Anstrengung, Frieden zu stiften, als die Polizisten schon in den Saal eindrangen.

»Herr Rip! Herr Rip! rief er, Sie werden ein Blutvergießen, und ich sage Ihnen, ein ganz unnützes anrichten!... Ich wiederhole Ihnen, ich gebe mein Wort darauf... Johann ohne Namen, den Sie zu verhaften beauftragt sind, befindet sich nicht auf der Farm.

– Und wenn er hier wäre, fiel Thomas Harcher ein, so wiederhole ich Ihnen, daß wir ihn bis aufs Aeußerste vertheidigen würden.

– Gut!... Sehr gut!... rief Catherine, entzückt von dem mannhaften Auftreten ihres Gatten.

– Mischen Sie sich nicht in diese Angelegenheit, Herr Nick, antwortete Rip. Sie geht Sie nichts an und Sie dürften es später bereuen... Ich werde meine Pflicht thun, was auch daraus werden möge!... Jetzt Platz!... Platz!...«

Ein Dutzend Beamte stürzten in den Saal, während Thomas Harcher und seine Söhne sich ihnen entgegenwarfen, um sie zurückzudrängen und die Thür zu verschließen.

Und hin und her laufend wiederholte Meister Nick immerfort, ohne sich vernehmbar machen zu können:

»Johann ohne Namen ist nicht hier, Herr Rip; ich versichere Ihnen, daß er nicht da ist!...

– Er ist doch hier!« rief da eine laute Stimme, welche den Tumult übertönte.

Alle hielten ein.

Regungslos, mit gekreuzten Armen und Rip scharf ansehend, wiederholte der junge Mann gelassen:

»Johann ohne Namen ist hier – und ich, ich bin es selbst!«

Herr de Vaudreuil hatte den Arm des jungen Patrioten erfaßt, während Thomas Harcher und die Anderen riefen

»Er!... Er!... Johann ohne Namen!«

Johann bedeutete durch eine Handbewegung, daß er sprechen wollte. Sofort entstand allgemeine Stille.


»Vorwärts, Huronen!« heulte Lionel. (S. 222.)

»Ich bin der, den Sie suchen, sagte er, sich an Rip wendend. Ich bin Johann ohne Namen.«

Dann kehrte er sich nach dem Farmer und dessen Söhnen um.

»Verzeihung, Thomas Harcher, Verzeihung, meine wackeren Gefährten, fuhr er fort, daß ich Euch bisher [215] verhehlte, wer ich sei, und meinen Herzensdank für die Gastfreundschaft, die ich während fünf voller Jahre in der Farm zu Chipogan genossen. Auf diese Freundschaft, welche ich so lange annahm, muß ich jetzt verzichten, weil es jedem, der mir Obdach gewährt, das Leben kosten kann!...


An diesem Tage war der Sieg nicht dem Gesetze verblieben. (S. 223.)

[216]

[217] [219]Ja, empfangt den innigen Dank desjenigen, der hier weiter nichts als Euer angenommener Sohn und Bruder war, der für seine Heimat aber Johann ohne Namen ist!«

Diese Antwort erweckte eine unbeschreibliche Begeisterung.

»Hoch Johann ohne Namen!... Hoch lebe Johann ohne Namen!« erscholl es von allen Seiten.

Als diese Worte endlich verstummten, nahm Thomas Harcher das Wort:

»Wohlan denn, da ich es ausgesprochen habe, daß wir Johann ohne Namen vertheidigen würden, so wollen wir auch zu seinem Schutze eintreten, meine Söhne!... Vertheidigen wir uns bis zum Tode!«

Vergeblich bemühte sich Johann dazwischenzutreten, um einen so ungleichen Kampf zu verhüten. Niemand hörte jetzt auf ihn. Pierre und die älteren Söhne des Hauses stürzten sich auf die Beamten, welche den Eingang verstopften, und trieben sie mit Hilfe ihrer Freunde zurück. Sofort wurde die Thür verschlossen und mit allerlei Möbelstücken verbarrikadirt. Um jetzt in den Saal, ja auch nur in das Haus zu gelangen, gab es nur den Weg durch die Fenster, welche mindestens zehn Fuß hoch über dem Erdboden lagen.

Nun galt es also einen Sturm – und zwar in der Dunkelheit, denn inzwischen war es ziemlich Nacht geworden. Rip, der nicht der Mann dazu war, feig zurückzuweichen, und der übrigens den Vortheil der Zahl bei sich hatte, traf seine Maßnahmen zur Vollführung des ihm ertheilten Auftrags, indem er die Freiwilligen gegen das Haus vorgehen ließ.

Pierre Harcher, seine Brüder und Freunde nahmen an den Fenstern Stellung, um Feuer zu geben.

»Wir vertheidigen Dich, auch gegen Deinen Willen, wenn es sein muß!« sagten sie zu Johann, der ihnen nicht mehr Einhalt zu thun vermochte.

Im letzten Augenblicke erst hatte der Farmer Clary de Vaudreuil und Catherine dazu gebracht, sich zu den Frauen und Kindern in einem der Seitenzimmer zu begeben, wo sie vor den Kugeln sicheren Schutz fanden. Im Saale verblieben nur noch die zum Kampfe bereiten Männer – vorläufig etwa dreißig.

Auf die Mahogannis durfte man als Vertheidiger der Farm nämlich nicht rechnen. Unbetheiligt an diesem Vorfalle, waren die Indianer aus ihrer gewohnten Zurückhaltung in keiner Weise herausgetreten. Die Sache ging sie nichts an – ebenso wenig wie Meister Nick und seinen Schreiber, welche weder für noch[219] gegen die Obrigkeit Partei zu ergreifen hatten. Der Notar gedachte auch bei dem entstehenden Handgemenge die strengste Neutralität zu bewahren. Trotz aller Vorsicht, keinen Schuß wegzubekommen, da er auch keinen solchen abzugeben willens war, hörte er doch nicht auf, Lionel, der ganz Feuer und Flamme war, zu ermahnen und zu warnen. Bah! der junge Schreiber achtete gar nicht auf ihn, so brannte er darauf, in Johann ohne Namen nicht nur den volksthümlichen Helden, sondern auch den wohlwollenden Zuhörer, der seine dichterischen Versuche so freundlich beurtheilt hatte, nach besten Kräften zu vertheidigen.

»Zum letzten Male verbiete ich Dir, Dich in die Sache zu mischen, wiederholte Meister Nick.

– Und zum letzten Male, entgegnete Lionel, gebe ich meine Verwunderung zu erkennen, daß ein Nachkomme der Sagamores sich weigert, mir auf dem Kriegspfade zu folgen!

– Ich folge gar keinem Pfade, als dem des Friedens, verdammter Schlingel, und Du wirst mir das Vergnügen machen, diesen Saal zu verlassen, wo Dir nur die Aussicht winkt, eine Kugel in den Kopf zu bekommen.

– Niemals!... Niemals!« rief der kriegslustige Dichter.

Und auf einen Mahoganni zueilend, ergriff er die Axt, welche in dessen Gürtel hing.

Sobald er sah, daß die Anderen entschlossen waren, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, machte Johann sich's zur Aufgabe, den Widerstand zu organisiren. Während des Scharmützels gelang es ihm vielleicht zu entkommen, denn später würden, was auch geschehen mochte, der Farmer und seine Söhne, die sich schon in offenem Widerstand gegen die Staatsgewalt befanden, dadurch auch nicht mehr compromittirt sein, als sie es schon waren. Zunächst kam es also darauf an, Rip und seine Begleiter zurückzudrängen, dann würde sich zeigen, was weiter zu beginnen sei. Wenn die Belagerer versuchten, die Thüren des Hauses zu sprengen, so kostete das immer einige Zeit. Und ehe jene von Laprairie oder Montreal Verstärkung erhielten, konnten Polizisten und Freiwillige schon aus dem Hofe vertrieben sein.

Zu diesem Zwecke entschloß sich Johann, einen Ausfall zu wagen, der die Umgebung der Farm von den Feinden befreien sollte.

Hiernach traf er seine Maßregeln. Zunächst krachten gegen fünfzig Flintenschüsse zu den Fenstern hinaus, was Rip und seine Leute zwang, sich mehr nach der Umzäunung zurückzuziehen. Dann wurde die Thür schnell aufgerissen [220] und Johann stürzte sich, gefolgt von Herrn de Vaudreuil, Thomas Harcher, Pierre, dessen Brüdern und ihren Freunden, in den Hof hinaus.

Hier lagen schon einzelne Freiwillige auf dem Boden. Bald gab es natürlich auch Verwundete unter den Vertheidigern, welche sich im Halbdunkel auf die Belagerer geworfen hatten. Mann gegen Mann entbrannte der Kampf, an dem sich Rip übrigens ehrenvoll betheiligte. Immerhin singen seine Leute schon an, Terrain zu verlieren. Gelang es, sie aus dem Hofe zu verjagen und das große Thor zu schließen, so konnten sie die hohe Plankenumschließung der Farm nur weit schwieriger wieder stürmen.

Dahin richteten sich also die Bemühungen Johanns, den seine Gefährten todesmuthig unterstützten. Vielleicht wurde es ihm, wenn die nächste Umgebung von Chipogan gesäubert war, möglich, ins Land und, wenn es sein mußte, bis über die Grenze Canadas hinaus zu entfliehen, um die Stunde abzuwarten, in der er sich an die Spitze der Aufständischen zu stellen beabsichtigte.

Es versteht sich von selbst, daß auch Lionel unerschrocken in den Reihen der Kämpfer stand; Meister Nick aber hatte den Saal nicht verlassen wollen. Fest entschlossen, die stricteste Neutralität nicht aufzugeben, begleiteten seine besten Wünsche Johann ohne Namen und alle Beschützer desselben, unter denen er ja so viele persönliche Freunde zählte.

Leider konnten sich die Bewohner und Gäste der Farm trotz ihres Muthes gegen die Ueberzahl der Beamten und Kronfreiwilligen, welche schon wieder Vortheil erlangten, nicht behaupten. Nach und nach mußten sie nach dem Hause zurückweichen, um sich endlich in dieses selbst zu flüchten. Der Saal mußte jetzt bald gestürmt werden. Damit war jeder Ausweg verlegt, und Johann ohne Namen blieb nichts übrig, als sich zu ergeben.

In der That verminderten sich die Kräfte der Belagerten zusehends. Schon waren zwei der älteren Söhne Thomas Harchers, Michel und Jacques, sowie drei oder vier ihrer Gefährten nach einem Nebenzimmer geschafft worden, wo Clary de Vaudreuil, Catherine und die anderen Frauen sich ihrer Pflege annahmen.

Die Sache schien verloren, wenn Johann und seine Genossen nicht unerwarteter Weise Hilfe bekamen, und zwar um so mehr, als ihnen schon die Munition zu mangeln anfing.

Da entstand eine neue Bewegung.

In Folge einer zum Glück nicht gefährlichen Verwundung, die seine Schulter getroffen, mit Blut bedeckt, war Lionel in den Saal gestürmt.

[221] Meister Nick bemerkte ihn.

»Lionel! Lionel! rief er. Siehst Du, Du hast auf mich nicht hören wollen!... Du unglückseliges Kind!«

Und seinen jungen Schreiber am Arme packend, wollte er ihn in das Zimmer der Verwundeten schleppen.

Lionel stemmte sich dagegen.

»Es ist nichts!... Hat nichts zu bedeuten!... sagte er. Doch Sie, Nicolas Sagamore, können Sie Ihre Freunde unterliegen lassen, wo Ihre Krieger nur des Winkes von Ihnen harren, jenen zu Hilfe zu springen?...

– Nein!... Nein! rief Meister Nick. Dazu habe ich kein Recht!... Mich gegen die von Gott verordnete Obrigkeit aufzulehnen!«

Und gleichzeitig warf er sich, um einen letzten Sühneversuch zu unternehmen, unter die Kämpfenden, die er mit seinen Beschwörungen aufzuhalten hoffte.

Es sollte ihm nicht gelingen. Er wurde sofort von den Polizisten umringt, die ihn mit Püffen und Kolbenstößen nicht verschonten und ihn dann mitten in den Hof zerrten.

Das war zu viel für die Mahogannikrieger, deren Kampfeslust ein solches Attentat nicht ertragen konnte. Ihr großer Häuptling verhaftet, mißhandelt!... Ein Sagamore in den Händen der Feinde, der Bleichgesichter!

Mehr bedurfte es nicht, und das Kriegsgeheul des Stammes erscholl in dem Durcheinander.

»Vorwärts!... Vorwärts, Huronen!« heulte Lionel, der ganz außer sich war.

Die Einmischung der Indianer verlieh der Sachlage schleunigst ein anderes Gesicht. Die Streitaxt in der Hand, stürzten sie sich auf die Angreifer. Diese, von dem schon fast eine Stunde anhaltenden Kampfe erschöpft, mußten nun ihrerseits wieder zurückweichen.

Johann ohne Namen, Thomas Harcher und ihre Freunde fühlten, daß eine letzte Anstrengung ihnen gestatten würde, Rip und seine Mannschaft aus der Umzäunung hinauszuwerfen. Sie ergriffen wieder die Offensive. Nachdem sie erst Meister Nick befreit, kamen sie den Anderen zu Hilfe. Nick selbst war nicht wenig erstaunt, daß er die Indianer jetzt selbst mit Worten, wenn auch nicht mit dem Arme, der noch unfähig war, den Tomahawk seiner Vorfahren zu schwingen, zum Kampfe aufmunterte.

[222] So kam ein Notar von Montreal, der friedfertigste der Menschen, dazu, eine Sache vertheidigt zu haben, die weder die Mahogannis noch ihren Häuptling etwas anging.

Polizisten und Freiwillige wurden nun bald gezwungen, den Hof gänzlich zu räumen, und da die Indianer sie auch draußen eine Meile weit verfolgten, waren die Umgebungen der Farm von Chipogan vom Feinde wieder vollständig befreit.

Immerhin ein schlimmes Ding, das sich auf der Verlustseite der nächsten Bilanz des Hauses Rip & Cie. bemerkbar machen mußte.

An diesem Tage war der Sieg also nicht dem Gesetze, sondern den Patrioten verblieben.


Ende des ersten Theiles. [223]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Erste Scharmützel.

Die Vorgänge auf der Farm von Chipogan machten erklärlicher Weise überall großes Aufsehen. Von der Grafschaft Laprairie aus hatte sich die Nachricht davon durch die Provinzen Canadas verbreitet. Die öffentliche [224] Meinung fand kaum eine bessere Gelegenheit, sich offen kundzugeben. Handelte es sich doch nicht allein um einen Zusammenstoß zwischen Polizei und »Bewohnern« des Landes – einen Zusammenstoß, bei dem die Vertreter der Behörden und die Kronfreiwilligen den Kürzeren gezogen hatten. Ernster war jedenfalls der Umstand, der die Absendung einer Polizeimacht nach Chipogan veranlaßt hatte. Johann ohne Namen war eben wieder im Lande aufgetaucht. Der Minister Gilbert Argall wollte ihn, auf die Meldung von seinem Aufenthalte in der Farm, verhaften lassen. Dieser Versuch mißglückte; die Person, in der sich der nationale [225] Widerstand verkörperte, war frei und man ahnte, daß der Mann in nächster Zeit schon Gebrauch von seiner Freiheit machen werde.


Die energische Frau wußte sich und den Ihrigen Respect zu verschaffen. (S. 227.)

Wohin Johann ohne Namen sich nach seinem Weggange von Chipogan gewendet, konnten die eifrigsten, die peinlichsten und strengsten Nachforschungen nicht aufklären. Sein dermaliger Aufenthaltsort war und blieb Geheimniß. Immerhin verzweifelte Rip, wenn er über den Mißerfolg seiner Maßregeln natürlich auch verbittert war, keineswegs daran, sich noch dafür zu rächen. Außer dem persönlichen Interesse kam hierbei ja auch die Ehre seines Hauses ins Spiel; er wollte die Partie fortsetzen, bis sie für ihn gewonnen wäre. Die Colonialregierung wußte ja, woran sie mit ihm war, und hatte ihm niemals ihr Vertrauen entzogen, noch es an Unterstützung fehlen lassen. Jetzt kannte Rip übrigens den jungen Patrioten, dem er Auge in Auge gegenüber gestanden hatte, und er brauchte nicht mehr als Blinder seinen Spuren nachzugehen.

Seit dem gescheiterten Angriff auf Chipogan waren vierzehn Tage – vom 7. bis zum 23. – vergangen. Die letzte Woche des November nahte schon ihrem Ende, und Rip hatte trotz seiner Bemühungen eigentlich noch nichts erzielt.

Nach den Vorfällen, deren Schauplatz die Farm gewesen war, hatte sich übrigens Folgendes zugetragen:

Am nächsten Tage hatte sich Thomas Harcher gezwungen gesehen, Chipogan zu verlassen. Nachdem er die dringlichsten Angelegenheiten in aller Eile nothdürftig geordnet, war er mit seinen Söhnen tief in die Wälder der Grafschaft Laprairie eingedrungen und hatte sich nach Ueberschreitung der amerikanischen Grenze in einem nahegelegenen Dorfe aufgehalten, voller Ungeduld der Wendung entgegensehend, welche die Ereignisse in Canada nehmen sollten. St. Albans am Ufer des Champlain-Sees bot ihm alle wünschenswerthe Sicherheit; die Söldlinge Gilbert Argall's konnten ihn hier nicht erreichen.

Wenn die von Johann ohne Namen vorbereitete Volksbewegung Erfolg hatte, wenn Canada, indem es seine Selbstbestimmung erlangte, der angelsächsischen Unterdrückung ledig ward, wollte Thomas Harcher ruhig nach Chipogan zurückkehren. Scheiterte die Bewegung aber, so konnte er hoffen, daß man mit der Zeit die früheren Vorfälle vergessen werde. Ohne Zweifel mußte nämlich eine Amnestie frühere Thaten ungeschehen machen, und Alles verlief dann allmählich wieder wie früher.

Vorläufig war mindestens eine Herrin in der Farm zurückgeblieben. Während des Winters, der ja doch die Landarbeit unterbrach, konnten die Interessen des[226] Herrn de Vaudreuil auch unter der Leitung Catherine Harcher's nicht geschädigt werden.

Pierre und seine Brüder übten natürlich nach wie vor ihr Geschäft als Jäger in den benachbarten Gebieten der canadischen Colonie, und nach sechs Monaten verhinderte sie voraussichtlich nichts, wieder zum Fischfang zwischen den beiden Ufern des St. Lorenzo auszuziehen.

Thomas Harcher hatte nur zu recht daran gethan, sich in Sicherheit zu bringen. Schon nach vierundzwanzig Stunden war Chipogan durch eine Abtheilung regulärer Truppen, welche von Montreal kamen, militärisch besetzt. Catherine Harcher, welche für ihren Mann und ihre älteren Söhne nichts mehr zu fürchten hatte, ließ sich dadurch nicht außer Fassung bringen. Die Polizei, welche auf Befehl des General-Gouverneurs möglichst Nachsicht übte, ließ sie das Vergangene nicht entgelten. Im Uebrigen wußte die energische Frau, sich und den Ihrigen seitens der Soldaten schon den nöthigen Respect zu verschaffen.

Mit der Villa Montcalm lag es ganz ebenso wie mit der Farm von Chipogan, doch begnügte sich die Behörde, dieselbe überwachen zu lassen, ohne sie direct zu besetzen. Herr de Vaudreuil, der ja nachgewiesenermaßen für den jungen Patrioten Partei ergriffen, hatte sich auch gehütet, nach seiner Wohnung auf der Insel Jesus zurückzukehren, zumal da ein Haftbefehl gegen ihn vom Polizeiminister Gilbert Argall ergangen war. Wäre er nicht entflohen, so hätte man ihn im Gefängniß von Montreal eingekerkert und er hätte nicht in die Reihen der Aufständischen treten können, wenn es zum Kampfe kam. Wahrscheinlich hatte er bei einem seiner politischen Freunde Zuflucht gefunden; jedenfalls aber hatte er sich dahin mit größter Vorsicht begeben, denn es war unmöglich, das Haus zu entdecken, das ihm jetzt Obdach bieten mochte.

Clary de Vaudreuil kehrte allein nach der Villa Montcalm zurück. Von hier aus blieb sie in Verbindung mit den Herren Vincent Hodge, Farran, Clerc und Grammont.

Betreffs Johanns ohne Namen wußte sie, daß dieser sich in St. Charles bei seiner Mutter in Sicherheit gebracht hatte. Zu wiederholten Malen erhielt sie übrigens durch Freundeshand mehrere Briefe von ihm; doch wenn Johann sich in denselben meist nur über die politische Lage aussprach, fühlte sie recht gut heraus, daß auch noch eine andere Empfindung das Herz des jungen Patrioten beunruhigte.

Wir hätten nun schließlich mitzutheilen, was aus Meister Nick und seinem Schreiber geworden war.

[227] Der Leser hat nicht vergessen, welchen Antheil die Huronen bei dem Ereignisse auf der Farm von Chipogan nahmen. Ohne ihre Einmischung wären die Freiwilligen nicht zurückgedrängt worden und Johann ohne Namen wäre den Leuten Rip's in die Hände gefallen.

Doch wer hatte jene Intervention der Mahogannis veranlaßt? War es der friedfertige Notar von Montreal gewesen?... Nein, gewiß nicht! Sein Bemühen war ja einzig und allein auf die Verhütung jedes Blutvergießens gerichtet gewesen, er hatte sich nur in das Getümmel gewagt, um die kämpfenden Parteien aufzuhalten. Wenn sich die Krieger von Walhatta gerade in dem Augenblicke in den Kampf einmengten, so erfolgte das nur deshalb, weil Nicolas Sagamore, dem die Belagerer übel genug mitspielten, Gefahr lief, von diesen ebenfalls als Rebell behandelt zu werden. Da war es denn ganz natürlich, daß die indianischen Krieger zur Vertheidigung ihres Häuptlings herbeieilten. Hierdurch wurde freilich erst das Zurückweichen und die Versprengung der Angreifer gerade zur Zeit bewirkt, wo diese die Thür der Wohnung zu forciren im Begriff waren. Von hier aus betrachtet, war es ja nur ein Schritt bis zu seiner Verhaftung, und Meister Nick mußte mit Recht fürchten, daß dieser Schritt zum Nachtheile seiner eigenen Person nicht ausbleiben werde.

Hieraus ergibt sich, daß der würdige Notar alle Ursache hatte, sich wegen einer einfachen Schlägerei gelegentlich einer Verhaftung, die ihn gar nichts anging, sehr schwer compromittirt zu sehen. In der löblichen Absicht, nach seiner Expedition in Montreal nicht eher zurückzukehren, als bis sich die Wogen der Erregung über jene tumultuarischen Vorgänge einigermaßen gelegt hätten, ließ er sich ohne viel Widerstreben nach dem Dorfe Walhatta in den Wigwam seiner Ahnen entführen. Sein Bureau blieb also während eines Zeitraums, dessen Dauer unmöglich abzuschätzen war, geschlossen. Wohl mußte seine Kundschaft darunter leiden und die alte Dolly zur Verzweiflung getrieben werden. Doch was war andres zu thun? Es schien doch immer noch besser, Nicolas Sagamore inmitten seines Mahoganni-Stammes, als Meister Nick im Gefängniß von Montreal zu sein, auf welch' Letzterem die Beschuldigung der thatsächlichen Auflehnung gegen die Vertreter der Staatsgewalt lastete.

Selbstverständlich war Lionel seinem Herrn und Meister nach jenem, in den dichten Wäldern der Grafschaft Laprairie verlorenen Indianerdorfe gefolgt. Er hatte sich in bester Form gegen die Freiwilligen geschlagen und hätte einer harten Strafe nicht entgehen können. Doch wenn Meister Nick in petto lamentirte,[228] so jubelte Lionel über die Wendung, welche die Sache genommen hatte. Er bedauerte es keineswegs, Johann ohne Namen, den Helden, dem alle französischen Canadier zujauchzten, vertheidigt zu haben. Er hoffte sogar auf eine noch weitere Entwicklung der Dinge und darauf, daß sich die Indianer offen zu Gunsten der Insurgenten erklären würden. Meister Nick war ja nicht mehr Meister Nick, sondern wohlbestallter Huronenhäuptling; Lionel war nicht mehr sein zweiter Schreiber, sondern die rechte Hand des letzten der Sagamores.

Es war vielleicht zu befürchten, daß der General-Gouverneur auch die Mahogannis wegen ihrer damaligen Einmischung in Chipogan zur Strafe ziehen wollte, doch legte die einfache Klugheit, welche die Umstände ihm aufdrängten, dem Lord Gosford eine gewisse Zurückhaltung auf. Repressalien seinerseits hätten den eingebornen Indianerstämmen nur Gelegenheit geboten, ihren Brüdern zu Hilfe zu kommen und sich in Masse zu erheben – eine unter den vorliegenden Verhältnissen immerhin zu fürchtende Erschwerung der Sachlage. Aus diesem Grunde hielt es Lord Gosford für angezeigt, die Krieger von Walhatta ebensowenig wie deren neuen Häuptling, der nach dem Rechte der Erbfolge an ihre Spitze gerufen worden war, zu verfolgen, und so wurden Meister Nick und Lionel an ihrem neuen Zufluchtsorte nicht weiter belästigt.

Im Uebrigen behielt Lord Gosford das Verhalten der Reformer, welche unablässig die Kirchspiele von Ober- und Unter-Canada aufzuwiegeln strebten, mit größter Aufmerksamkeit im Auge. Gerade der Bezirk von Montreal wurde von der Polizei mit schärfster Wachsamkeit beobachtet, da diese eine aufständische Bewegung in den benachbarten Kirchspielen von Richelieu erwartete. Wenn es unmöglich wäre, derselben ganz zuvorzukommen, so waren doch alle Maßregeln getroffen, eine solche im Keime zu ersticken. Die Truppen der königlichen Armee, über welche John Colborne verfügen konnte, hatten ihre Cantonnements in den Gebieten der Grafschaft Montreal und der angrenzenden Grafschaften bezogen. Die Anhänger der Reform wußten also recht gut, daß ihnen ein ernster Kampf bevorstand. Doch das vermochte ihren Eifer nicht zu zügeln. Die nationale Sache, so hofften sie, werde schon die gesammte franco-canadische Bevölkerung mit sich fortreißen. Diese erwartete nur noch das Signal zu den Waffen zu eilen, seit die Vorgänge in Chipogan die Anwesenheit Johanns ohne Namen außer Zweifel gestellt hatten. Wenn der volksthümliche Held jenes noch nicht gegeben, so lag das nur daran, daß die antiliberalen Beschlüsse, deren sich derselbe seitens des britischen Cabinets versah, bisher noch nicht gefaßt worden waren.

[229] Bis dahin hörte Johann niemals auf, von dem geheimnißvoll geschlossenen Hause aus, in dem er seine Mutter aufgesucht hatte, aufmerksam die Stimmung der Massen zu beobachten. Während der seit seinem Eintreffen in St. Charles verflossenen sechs Wochen war auch der Abbé Joann wiederholt mitten in der Nacht erschienen, um ihn zu besuchen. Durch seinen Bruder blieb er über die politische Lage stets unterrichtet. Was er von den zu Gewaltmaßregeln drängenden Beschlüssen der englischen Kammern hoffte, das heißt, die Aufhebung der Verfassung von 1791 und, daran anschließend, die Auflösung oder Vertagung der canadischen Volksvertretung, bestand bisher nur im Projecte.

In seinem Eifer war Johann wohl schon zwanzigmal nahe daran, das geschlossene Haus zu verlassen, um mit offenem Visir durch die Grafschaft zu ziehen und die Patrioten aufzurufen, in der Hoffnung, daß die Einwohnerschaft der Städte und des platten Landes sich auf seine Stimme erheben werde, daß Alle den besten Gebrauch von den Waffen machen würden, mit denen er bei Gelegenheit der letzten Fischzugsfahrt auf dem St. Lorenzo die reformistischen Sammelpunkte hatte versehen können. Wurden die Königstreuen gleich zu Anfang durch eine große Uebermacht erdrückt, so blieb, seiner Ansicht nach, der Regierung keine andere Wahl als sich zu unterwerfen. Der Abbé Joann hatte ihm aber von einem solchen Versuch abgeredet, indem er ihm nachwies, daß ein anfänglicher Fehlschlag verderblich werden und voraussichtlich die auf die Zukunft gesetzten Hoffnungen gänzlich zu Schanden machen müsse. In der That waren die rings um Montreal vereinigten Truppen bereit, sich sofort nach jedem beliebigen Punkte der angrenzenden Grafschaften, wo die Empörung nur ausbrechen mochte, zu begeben.

Es galt also mit äußerster Vorsicht zu handeln und es erschien besser, zu warten, bis die allgemeine Entrüstung durch die tyrannischen Maßnahmen des Parlaments und durch die Quälereien der Kronbeamten den höchsten Gipfel erreicht hätte. Daher kamen jene Verzögerungen, welche sich unabsehbar zum größten Leidwesen der Söhne der Freiheit verlängerten.

Als Johann von Chipogan entfloh, rechnete er darauf, daß der Monat October nicht vergehen werde, ohne daß es zu einem allgemeinen Aufstand in ganz Canada käme.

Auch am 23. October deutete noch nichts darauf hin, daß diese Erhebung nahe bevorstehe, als die von Johann vorhergesehene Gelegenheit es zu einer ersten Kundgebung kommen ließ.

[230] Entsprechend dem Berichte der drei neuerdings von der englischen Regierung ernannten Commissäre hatte sich das Haus der Lords und das der Gemeinen beeilt, folgende Vorschläge anzunehmen: Verwendung der Colonialeinkünfte ohne weitere Vollmacht seitens der canadischen Volksvertretung, Versetzung der hervorragendsten reformistischen Abgeordneten in Anklagezustand, Abänderung der Verfassung dahin, daß der französische Wähler einem doppelt so hohen Census wie der englische unterliege, und endlich Unverantwortlichkeit der Minister gegen die Kammer.

Diese ungerechten und gewaltthätigen Maßregeln erregten das ganze Land; die ganze franco-canadische Race fühlte sich in ihren patriotischen Empfindungen aufs tiefste verletzt. Das war mehr als die Bürger vertragen konnten, und die Kirchspiele von beiden Ufern des St. Lorenzo traten zu Meetings zusammen.

Am 15. September findet in Laprairie eine Versammlung statt, welcher auch ein Abgesandter Frankreichs, der von seiner Regierung Verhaltungsbefehle gegenüber dieser Angelegenheit empfangen hatte, und außerdem der Geschäftsträger der Vereinigten Staaten in Quebec beiwohnte.

In St. Scholastique, in St. Ours und vor Allem in den Grafschaften Unter-Canadas verlangt man die sofortige Losreißung von Großbritannien, fordert die Reformer auf, von Worten zu Thaten überzugehen, und entscheidet man sich dafür, die Hilfe Amerikas anzurufen.

Eine Kasse wird gegründet, um die geringfügigsten wie die größten Zuwendungen zur Durchführung der nationalen Sache zu sammeln.

Verschiedene Abtheilungen ziehen mit fliegendem Banner umher, auf dem sich mit hellem Jubel begrüßte Inschriften, wie:

»Flieht Ihr Tyrannen! Das Volk ist aufgestanden!«

»Ein Bund der Völker – der Schrecken der Großen!«

»Lieber ein baldiger Kampf, als die Unterdrückung durch eine corrumpirte Staatsgewalt!« – befinden.

Eine schwarze Fahne mit Todtenkopf und gekreuzten Gebeinen darunter enthielt die Namen der verabscheuten Gouverneure Craig, Dalhousie, Aylmer und Gosford. Endlich zeigt ein weißes Banner zu Ehren Frankreichs auf der einen Seite den von Sternen umgebenen amerikanischen, auf der anderen den canadischen Adler mit dem Ahornzweige im Schnabel und mit den Worten:

»Unsere Zukunft! Frei wie die Himmelsluft!«

[231] Man erkennt hieraus, bis zu welchem Grade die Geister schon erhitzt waren. England kann die Befürchtung hegen, daß die Colonie mit einem Schlage das Band zerreißt, das sie mit ihm verbindet. Die Vertreter seiner Autorität in Canada ergreifen die umfassendsten Maßregeln in Voraussicht eines erbitterten Kampfes, versteifen sich aber darauf, da nur die Schliche einer Fraction zu erkennen, wo es sich um die heiligsten nationalen Empfindungen handelt.

Am 23. October findet eine Versammlung in St. Charles statt, in demselben Flecken, in dem Johann ohne Namen sich zu seiner Mutter geflüchtet und welcher der Schauplatz von beklagenswerthen Ereignissen werden sollte. Die sechs Grafschaften Richelieu, St. Hyazinthe, Rouville, Chambly, Verchère und Acadien haben hierzu ihre Vertreter geschickt. Dreizehn Abgesandte nehmen bei dieser Gelegenheit das Wort, und unter ihnen Papineau, der gerade jenerzeit auf dem Gipfel seiner Popularität stand. Mehr als sechs tausend Personen, Männer, Frauen und Kinder, strömen aus dem Umkreise von zehn Lieues zusammen und lagern sich auf einer großen, dem Doctor Duvert gehörigen Wiese rings um eine mit der Freiheitsmütze gekrönte Säule. Und um Jedermann zu zeigen, daß auch militärische Elemente mit den bürgerlichen gemeinschaftliche Sache machen, schwingt eine Compagnie Milizen ihre Waffen am Fuße jener Säule.

Nach anderen mehr Feuer und Flamme speienden Rednern hielt Papineau einen Vortrag, der vielleicht etwas zu gemäßigt erschien, da er anrieth, sich mit allen Maßnahmen auf gesetzlichem Boden zu halten. Der Doctor Nelson, als Vorsitzender der Versammlung, antwortete ihm auch unter wahnsinnigen Beifallsrufen mit den Worten: »daß die Zeit herangekommen sei, die Löffel einzuschmelzen, um Kugeln daraus zu gießen.« Das bekräftigte Doctor Côte, der Vertreter von Acadien, noch mit den entschlossenen und aufreizenden Worten:

»Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber! Jetzt gilt es unsere Feinde mit Blei zu begrüßen!«

Dreizehn Vorschläge gelangen zur Annahme, während die Hurrahs des Volkes sich mit den Gewehrsalven der Miliz vermischen.

Diese Vorschläge, welche O. David in seiner Schrift »Die Patrioten« wiedergibt, enthalten zuerst einen Hinweis auf die unveräußerlichen Menschen rechte, erläutern dann das Recht und die Nothwendigkeit, sich gegen eine tyrannische Regierung aufzulehnen, suchen die Soldaten der englischen Armee zur Fahnenflucht zu verleiten, ermuntern das Volk, den Behörden und den von der [232] Regierung ernannten Milizofficieren den Gehorsam zu verweigern und endlich sich gleich den Söhnen der Freiheit zu organisiren.


Die Kirchspiele traten zu Meetings zusammen. (S. 331.)

Zuletzt bewegen sich Papineau und seine Gefährten im feierlichen Aufzuge an der symbolischen Säule vorüber, während durch einen Chor junger Leute mit lauter Stimme ein Hymnus gefangen wird.

Jetzt schien es, als ob die Begeisterung den höchsten Grad erreicht hätte, und doch sollte sie sich noch weiter steigern, als nach einigen Minuten größerer Ruhe eine neue Persönlichkeit auf den Schauplatz trat. Es war das ein junger [233] Mann mit leidenschaftlichen Blicken und energischen Gesichtszügen. Er erklimmt den Sockel der Säule, und so die Tausende von Theilnehmern an der Versammlung von St. Charles überragend, schwingt seine Hand die Fahne der canadischen Unabhängigkeit. Verschiedene erkennen ihn wieder. Vor ihnen aber hat der Advocat Grammont seinen Namen ausgerufen und unter dröhnenden Hurrahs wiederholt die Menge: »Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!«

Johann kam eben aus dem geschlossenen Hause. Zum ersten Male seit dem letzten Waffentanze im Jahre 1834 zeigte er sich hier öffentlich; nachdem er dann seinen Namen dem der übrigen Politiker hinzugefügt, verschwand er wieder... Man hatte ihn jedoch einmal wieder gesehen, und die Wirkung davon war eine ungeheuere.

Die einzelnen Ereignisse, welche sich in St. Charles zugetragen hatten, verbreiteten sich mit Windeseile über ganz Canada. Man könnte sich nur schwer eine Vorstellung machen von der ermuthigenden Wirkung, die sie erzeugten. In den meisten Kirchspielen des Bezirks wurden nun weitere Versammlungen abgehalten. Vergebens suchte der Bischof von Montreal, Mgr. Lartigue, die Gemüther zu besänftigen, indem er sie zu evangelischer Mäßigung und zum Verharren auf dem Boden der Gesetze ermahnte. Der Ausbruch stand jetzt nahe bevor. Sowohl Herr de Vaudreuil in seinem Versteck als auch Clary in der Villa Montcalm waren durch zwei Billets, deren Unterschrift ihnen den Absender verrieth, davon benachrichtigt worden. Dieselbe Mittheilung hatten Thomas Harcher und seine Söhne in St. Albans, jenem amerikanischen Dorfe erhalten, in dem sie des Augenblickes harrten, die Grenze wieder zu überschreiten.

Zu dieser Jahreszeit hatte sich der Winter schon mit der dem amerikanischen Klima eigenthümlichen Schroffheit angemeldet. Hier bieten die endlosen Ebenen dem aus den Polargegenden herabbrausenden Sturme keine Hindernisse, und der nach Europa zu abweichende Golfstrom erwärmt sie nicht mit seinem segenspendenden Gewässer. Hier fehlte es also sozusagen an jedem Uebergang zwischen der Wärme des Sommers und der Kälte der Winterperiode. Fast ohne Unterlaß strömte der Regen herab, nur selten unterbrochen von einem flüchtigen, doch jeder Wärme beraubten Sonnenstrahl. Binnen wenigen Tagen hatten die bis zum äußersten Ende ihrer Zweige kahl gewordenen Bäume die Erde mit einer Unmenge von Blättern bedeckt, über welche sich im ganzen Gebiete Canadas bald darauf eine dichte Schneeschicht ablagern sollte. Doch weder die Wucht des [234] Sturmes, noch die kalte Temperatur des Klimas sollte die Patrioten abhalten, sich auf das erste Signal zu erheben.

Unter solchen Verhältnissen kam es – am 6. November – zwischen den beiden Parteien in Montreal zu einem ersten Zusammenstoße.

Am ersten Montage jeden Monats versammelten sich die Söhne der Freiheit in den größeren Städten zu einer öffentlichen Kundgebung. An genanntem Tage beabsichtigten die Patrioten von Montreal dieser Demonstration eine weiter hinausreichende Wirkung zu verleihen. Es wurde deshalb ein Zusammentreffen im Herzen der Stadt selbst, zwischen den Mauern eines an die Straße St. Jacques stoßenden Hofes, verabredet.

Auf diese Nachricht hin ließen die Mitglieder des Doric-Clubs einen Anschlag des Inhalts verbreiten, daß die Stunde gekommen sei, »die Rebellion in ihrem Keime zu ersticken«. Die Loyalisten, die Constitutionellen und die Bureaukraten wurden veranlaßt, sich auf dem Place-d'Armes einzufinden.

Die Volksversammlung wurde am bestimmten Tage und Orte abgehalten. Papineau erntete hier wie der den gewohnten stürmischen Beifall; auch andere Redner, wie Brown, Guimet, Eduard Rodier riefen begeisterte Zustimmung hervor.

Plötzlich fiel ein Hagel von Steinen in den Hof, die Loyalisten waren es, welche die Patrioten angriffen. Nur mit Stöcken bewaffnet, bildeten letztere vier Colonnen, stürmten nach außen, warfen sich auf die Mitglieder des Doric-Club und drängten diese im ersten Anlauf bis nach dem Place-d'Armes zurück. Jetzt knallten von verschiedenen Seiten auch Pistolenschüsse. Brown erhielt einen gefährlichen Schuß, der ihn zu Boden streckte, und einem der entschiedensten Reformer, dem Chevalier de Lorimier, wurde der Schenkel durch eine Kugel zerschmettert.

Obwohl sie zurückgeschlagen worden waren, hielten sich die Mitglieder des Doric-Club noch nicht für besiegt. Unter dem Beifall der Bureaukraten und dem Bewußtsein, daß ihnen die Rothröcke bald zu Hilfe kommen mußten, zerstreuten sie sich in die Straßen von Montreal, warfen mit Steinen die Fenster von Papineau's Haus ein und zerstörten die Druckpressen des »Vindicator«, eines liberalen Blattes, welches schon seit längerer Zeit für die franco-canadische Sache in die Schranken trat.

In Folge dieses Handgemenges wurden die Patrioten von den Behörden in schlimmster Weise gemaßregelt. Auf Anordnung des Lord Gosford ergehende Haftbefehle zwangen die bedeutendsten Führer, vorläufig zu flüchten. Uebrigens [235] öffneten sich diesen alle Häuser, um ihnen Obdach zu bieten. Herr de Vaudreuil, der gleichfalls mit seiner Person eingetreten war, mußte den geheimen Zufluchtsort wieder aufsuchen, wo ihn die Polizei seit den Ereignissen von Chipogan vergeblich zu entdecken bemüht war.

Dasselbe war mit Johann ohne Namen der Fall, obwohl dieser bald darauf unter folgenden Umständen wieder erschien.

Nach dem blutigen Zusammentreffen am 6. November waren einige hervorragende Bürger in der Umgebung von Montreal inhaftirt worden, unter Anderen ein gewisser Denaray und der Doctor Davignon von St. Jean d'Iberville, und diese beiden wollte eine Cavallerieabtheilung im Laufe des 22. November nach der Stadt bringen.

Einer der kühnsten Parteigänger der nationalen Sache, der Vertreter der Grafschaft Chambly, L. M. Viger – »der schöne Viger«, wie man ihn in den Reihen der Aufständischen nannte – erhielt von der Verhaftung seiner beiden Freunde Nachricht. Der Mann, der ihm diese überbrachte, war ihm bisher unbekannt.

»Wer sind Sie? fragte er.

– Darauf kommt ja nichts an, antwortete jener Mann. Die in einem Wagen gefesselten Gefangenen werden unverzüglich durch das Kirchspiel Longueuil kommen, und sie müssen befreit werden!

– Sie sind allein?

– Meine Freunde erwarten mich.

– Wo werden diese uns treffen?

– Unterwegs.

– Ich folge Ihnen.«

Das geschah denn auch. An Hilfsmannschaften fehlte es weder Viger noch seinem Begleiter. Sie gelangten nach dem Eingange von Longueuil, gefolgt von einer Anzahl von Patrioten, die sie noch vor dem Dorfe zurückließen. Es mußte jedoch etwas von ihrem Vorhaben verlautet haben, denn schon kam eine Abtheilung königlicher Truppen herbei, um den den Wagen begleitenden Reitern Unterstützung zu gewähren. Ihr Anführer ließ den Einwohnern ansagen, daß das Dorf, im Fall sie sich Viger anschlössen, in Flammen aufgehen würde.

»Hier ist nichts zu machen, sagte der Unbekannte, als er von diesen Maßnahmen hörte. Kommen Sie...

– Wohin denn? fragte Viger.

[236] – Folgen Sie mir nur bis zwei Meilen von Longueuil, antwortete er. Wir wollen den Bureaukraten keinen Anlaß geben, hier Wiedervergeltung zu üben. Diese wird so wie so früher oder später nicht ausbleiben.

– Brechen wir auf!« sagte Viger.

Gefolgt von ihren Leuten, schlugen Beide wieder den Weg über die Felder ein.

Sie gelangten bis zur Farm Trudeau und nahmen in einem benachbarten Felde Stellung. Es war hohe Zeit. In der Entfernung einer Viertelmeile erhob sich eine Staubwolke, welche die Annäherung der Gefangenen und ihrer Bedeckungsmannschaft ankündigte.

Der Wagen kam an. Sofort begab sich Viger zu dem Anführer der Abtheilung:

»Halt, sagte er, und liefert uns im Namen des Volkes die Gefangenen aus!

– Achtung, rief der Officier, sich nach seinen Leuten umkehrend. Macht schnell!...

– Halt!« wiederholte der Unbekannte.

Plötzlich stürmte ein Mann heran, um sich dieses zu bemächtigen. Es war ein Agent des Hauses Rip & Cie. – Einer von Denen, die in der Farm von Chipogan mit gewesen waren.

»Johann ohne Namen! rief er, sobald er des jungen Proscribirten ansichtig wurde.

– Johann ohne Namen!« wiederholte Viger, der seinem Begleiter zu Hilfe eilte.

Plötzlich ertönten in unaufhaltsamem Ausbruche begeisterte Rufe.

In dem Augenblicke, wo er seinen Leuten Befehl gegeben, sich Johanns ohne Namen zu bemächtigen, wurde der Officier von einem kräftigen Canadier zurückgestoßen. Letzterer war quer über das Feld herangestürmt, während die Anderen, die noch hinter der Hecke bereit standen, auf Viger's Befehle warteten – Befehle, welche dieser mit lautschallender Stimme sehr vielfach ertheilte, als könne er wenigstens über hundert Kämpfer verfügen.

Während dessen war Johann ohne Namen an den Wagen herangekommen und ihn umgaben verschiedene seiner Anhänger, welche ebenso entschlossen waren, ihn zu vertheidigen, wie die Herren Denaray und Davignon zu befreien.

Nachdem er sich wieder erhoben, commandirte der Officier Feuer. Sechs bis sieben Flinten krachten. Viger wurde von zwei Kugeln getroffen, zum Glück nicht [237] tödtlich, da eine derselben ihm nur das Bein gestreift und die andere ihm die Spitze des kleinen Fingers weggerissen hatte. Er antwortete mit einem Pistolenschuß und traf den Anführer der Begleitmannschaft ins Knie.

Jetzt scheuten auch die Pferde der Mannschaft, von denen einige durch Schüsse verletzt waren, und rasten davon. Die Königlichen, welche glaubten, es vielleicht mit tausend Mann zu thun zu haben, zerstreuten sich über das Land. Der Wagen war befreit, und Johann ohne Namen und Viger sprangen nach dessen Thür, um diese aufzureißen. Die Gefangenen wurden erlöst und im Triumph nach dem Dorfe Boucherville geleitet.

Als Viger und die Anderen aber nach dem Scharmützel Johann ohne Namen suchten, war er nicht mehr da. Gewiß hatte er gehofft, bis zum Ausgang der Sache sein Incognito zu bewahren, und gewiß hätte ihn nichts vermuthen lassen, daß er sich hier einem Agenten Rip's gegenüber befand und seine Person den anderen Betheiligten bekannt werden würde. Sobald der kurze Kampf vorbei war, hatte er sich denn auch beeilt, wieder zu verschwinden, ohne daß Jemand gesehen hatte, nach welcher Seite er sich wandte. Jedenfalls rechneten aber die Patrioten einer wie der andere fest darauf, ihn zur Stunde des beginnenden Kampfes, der über die canadische Unabhängigkeit entscheiden sollte, wieder erscheinen zu sehen.

2. Capitel
Zweites Capitel.
St. Denis und St. Charles.

Der Tag zur Ergreifung der Waffen sollte nicht mehr fern sein. Der Schauplatz, an dem der Kampf entbrennen sollte, waren offenbar diejenigen Grafschaften, welche an die Grafschaft Montreal grenzten und in denen die Aufregung schnell eine für die Regierung bedenkliche Höhe erreichte, unter anderen die Grafschaft Verchères und St. Hyazinthe. Man bezeichnete dafür besonders zwei der reichsten, vom Laufe des Richelieu durchschnittenen und nur wenige Meilen von einander entfernten Kirchspiele – St. Denis, wo die Reformer ihre Kräfte zusammengezogen hatten, und St. Charles, wo Johann, der nach dem geschlossenen Hause zurückgekehrt war, bereit stand, das Signal zur Erhebung zu geben.

[238] Der General-Gouverneur hatte alle durch die Nothwendigkeit gebotenen Maßregeln getroffen. Die Reformer konnten deshalb nicht mehr daran denken, ihn in seinem Palaste überrumpeln und die Autorität des Staates durch die des Volkes ersetzen zu können. Ja es war sogar zu befürchten, daß der erste Angriff von den Bureaukraten ausgehen werde. Die Gegner derselben hatten sich denn auch in leicht zu vertheidigende Stellungen zurückgezogen, wo sie sich unter günstigeren Bedingungen organisiren konnten. Ihr weiteres Streben erst ging dann dahin, von der Vertheidigung zum Angriff überzugehen.

Ein erster Sieg in der Grafschaft St. Hyazinthe errungen – das war die Erhebung der Uferbevölkerung von St. Lorenzo, d. h. die Vernichtung der anglosächsischen Tyrannei vom See Ontario bis zur Mündung des Stromes.

Lord Gosford wußte das recht wohl. Er verfügte nur über beschränkte Kräfte, welche von der Uebermacht erdrückt werden mußten, wenn der Aufstand wirklich ganz allgemein wurde. Es galt also jenen durch einen zweifachen Schlag in St. Denis und St. Charles gleich empfindlich zu treffen – was nach den Vorfällen von Longueuil versucht werden sollte.

Sir John Colborne, der Oberbefehlshaber, theilte die anglo-canadische Armee in zwei Colonnen.

An der Spitze der einen stand der Oberstlieutenant Whiterall, an der der anderen der Oberst Gore.

Nach eiligst vollendeten Vorbereitungen brach der Oberst Gore im Laufe des 22. November von Montreal auf. Seine aus fünf Compagnien Füselieren und einer Schwadron Reiterei bestehende Abtheilung besaß an Artillerie nur ein einziges Feldstück. Am Abend desselben Tages traf dieselbe noch in Sorel ein. Trotz des abscheulichsten Wetters und der fast ungangbaren Wege zögerte Gore nicht im Geringsten, in pechdunkler Nacht weiter hinauszuziehen.


Eine Abtheilung kam herbei, um Unterstützung zu gewähren. (S. 236.)

Seine Absicht ging dahin, die Aufständischen in St. Charles vor die Klinge zu bekommen, nachdem er die von St. Denis zerstreut, und vor jedem eigentlichen Angriffe durch den Sherif-Deputirten, der ihn begleitete, regelrechte Verhaftungen vorzunehmen.

Der Oberst Gore hatte Sorel seit einigen Stunden verlassen, als der Lieutenant Weir vom 32. Regiment dahin kam, um ihm eine Depesche von Sir John Colborne zu übergeben. Die Depesche war dringender Natur, so daß der Lieutenant sich sofort aufmachte, einen Querweg einschlug und so eilig vorwärts [239] drang, daß er in St. Denis vor den Truppen Gore's eintraf und so den Patrioten in die Hände fiel.

Der mit der Vertheidigung beauftragte Doctor Nelson fragte den jungen Officier aus und entlockte ihm auch wirklich das Geständniß, daß die Königlichen schon auf dem Marsche hierher seien, wo sie etwa am Morgen eintreffen mußten. Dann übergab er ihn der Obhut einiger Männer mit der Empfehlung, die einem Gefangenen gebührenden Rücksichten nicht aus den Augen zu setzen.

[240] Nun wurden die letzten Vorbereitungen in größter Hast getroffen. Unter anderen Compagnien von Patrioten befand sich auch die, welche man allgemein als »Raketen« und als »Biber« bezeichnete, Mannschaften, welche sehr geschickt im Gebrauche der Waffen waren und die sich bei dieser Gelegenheit ganz außerordentlich bewährten. Unter dem Befehle des Doctor Nelson standen auch Papineau und einige Abgeordnete, der General-Commissär Philipp Pacaud, ferner die Herren de Vaudreuil, Vincent Hodge, André Farran, William Clerc und Sebastian Grammont. Auf ein Wort, das ihnen von Johann zukam, waren [241] sie den Reformern zu Hilfe geeilt, wobei sie nur mit Mühe der Polizei in Montreal entgehen konnten.


Halt! und liefert uns die Gefangenen aus! (S. 237.)

Clary war gleichfalls zu ihrem Vater gekommen, den sie seit dem Weggange von Chipogan nicht wieder gesehen hatte. Nach Erlassung eines Haftbefehls gegen ihn gezwungen, jede Verbindung mit der Villa Montcalm abzubrechen, war Herr de Vaudreuil höchst unruhig, seine Tochter daselbst allein und Gefahren aller Art ausgesetzt zu wissen. Als er sich dann entschlossen, nach St. Denis zu gehen, schlug er ihr vor, ihn dort zu treffen. Clary zauderte nicht, dem Rufe zu folgen, da sie an dem endlichen Siege gar nicht zweifelte, wenn Johann die Führung der Patrioten übernahm. Herr und Fräulein de Vaudreuil waren also vereinigt in dem Flecken, wo das Haus eines Freundes, des Richters Froment, ihnen Unterkunft gewährte.

Inzwischen wurde eine Maßnahme beschlossen, der sich Papineau sehr gegen seinen Wunsch unterwerfen mußte. Der Doctor Nelson und einige Andere, auf deren Anrathen dieselbe erfolgte, stellten dem kampfesmuthigen Abgeordneten vor, daß sein Platz auf dem Schlachtfelde nicht, dagegen sein Leben zu kostbar sei, um es ohne Nothwendigkeit schweren Gefahren auszusetzen. Er sah sich also gezwungen, St. Denis zu verlassen, um sich an einen sicheren Ort zu begeben, wo die Agenten Sir Gilbert Argall's ihn nicht entdecken konnten.

Die ganze Nacht wurde angewendet, Kugeln zu gießen und Patronen zu verfertigen. Der Sohn des Doctor Nelson und seine Genossen, Herr de Vaudreuil und dessen Freunde, gingen, ohne einen Augen blick zu verlieren, an die Arbeit. Leider ließ die Bewaffnung recht viel zu wünschen übrig. Die wenig zahlreichen Gewehre bestanden aus leicht einmal versagenden Steinschloßflinten, welche kaum weiter als hundert Schritte trugen.

Während seiner Fahrten auf dem St. Lorenzo hatte Johann, wie wir erzählten, Munition und Waffen mehrfach vertheilt; da aber jedes Comité in Erwartung eines allgemeinen Aufstandes davon erhalten hatte, konnten diese' nicht auf einem bestimmten Punkte concentrirt sein, was doch in St. Denis und St. Charles, wo es offenbar zum ersten Zusammenstoß kommen mußte, jetzt so nöthig erschien.

Inzwischen marschirte Oberst Gore durch die dunkle kalte Nacht weiter. Kurz vor der Ankunft in St. Denis hörte er von zwei in seine Hände gefallenen französischen Canadiern, daß die Aufständischen ihm den Durchzug durch das Kirchspiel verwehren und auf das äußerste kämpfen würden.

[242] Ohne seinen Leuten die geringste Rast zu gönnen, feuerte Oberst Gore diese vielmehr noch weiter an, mit der Eröffnung, daß sie hier keinen Pardon zu erwarten hätten. Hierauf bildete er aus denselben drei Abtheilungen, postirte die eine in ein kleines Gehölz, das den Flecken im Osten deckte, und die andere längs des Flusses, während die dritte, die einzige Kanone mit sich führend, die Hauptstraße weiter hinab zog.

Um sechs Uhr Morgens stiegen der Doctor Nelson, die Herren Vincent Hodge und de Vaudreuil zu Pferde, um eine Recognoscirung auf dem Wege von St. Ours vorzunehmen. Die Dunkelheit war noch so stark, daß alle Drei beinahe den Vortruppen der Königlichen in die Hände gefallen wären. Sofort umkehrend, eilten sie nach St. Denis zurück. Nun wurde der Befehl ertheilt, die Brücke abzubrechen und mit allen Kirchenglocken zu läuten. Binnen wenigen Minuten strömten die Patrioten in dem Lager zusammen.

Dieselben zählten zwischen sieben- und achthundert Mann, von denen nur eine geringe Anzahl mit Gewehren bewaffnet war, während die Anderen sich mit Sensen, Heugabeln und Aexten ausgerüstet hatten. Alle aber beseelte der feste Vorsatz, sich nöthigenfalls tödten zu lassen, aber die Soldaten des Oberst Gore zurückzuschlagen.

Doctor Nelson vertheilte diejenigen seiner Leute, welche in der Lage waren, ein Feuergefecht zu unterhalten, so, daß davon sechzig im zweiten Stockwerk eines steinernen, an der Landstraße stehenden Gebäudes Platz nahmen, unter ihnen auch Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge; etwa fünfundzwanzig Schritte davon und hinter der Mauer einer dem Doctor gehörigen Brennerei sollten sich gegen dreißig, unter ihnen William Clerc und André Farran, aufstellen; inner halb eines zur Brennerei gehörigen Schuppens fanden noch zehn Mann Platz, unter denselben auch der Abgeordnete Grammont. Die Anderen, welche sich nur mit blanker Waffe schlagen konnten, hatten sich vorläufig hinter den Mauern der Kirche zu halten, um im geeigneten Moment auf die Angreifer einzustürmen.

Zu dieser Zeit – gegen neuneinhalb Uhr Vormittags – ereignete sich ein beklagenswerther Zwischenfall, der später – auch durch eine deshalb angestellte Criminaluntersuchung – niemals vollständig aufgeklärt wurde.

Der Lieutenant Weir, der sich unter Bedeckung auf der Landstraße befand, wollte, als er den Vortrab des Oberst Gore erblickte, entfliehen, um wieder zu diesem zu gelangen. Er that aber einen falschen Tritt, und ehe er Zeit gewann wieder aufzuspringen, war er durch Säbelhiebe getödtet.

[243] Jetzt krachten die ersten Schüsse. Eine auf das steinerne Gebäude geschleuderte Kanonenkugel zerfleischte zwei im oberen Stockwerke befindliche Canadier, während ein dritter, der an einem Fenster stand, tödtlich verletzt wurde. Während einiger Minuten wurden nun von beiden Seiten zahlreiche Flintenschüsse gewechselt. Die ein bequemes Ziel bietenden Soldaten bezahlten sehr theuer die verwerfliche Unklugheit, mit der sie sich dem Feuer dieser »Bauern«, wie ihr Führer sagte, aussetzten. Sie wurden von den Vertheidigern des steinernen Hauses decimirt, und drei Kanoniere fielen mit der Lunte in der Hand neben dem von ihnen bedienten Geschütze. Trotzdem legten die Geschosse desselben bald eine Bresche, und das zweite Stockwerk bot damit keine genügende Sicherheit mehr.

»Nach dem Erdgeschoß! rief der Doctor Nelson.

– Ja, antwortete Vincent Hodge, und von da werden wir auf die Rothröcke desto besser schießen können!«

Alle eilten hinunter und das Gewehrfeuer begann mit erneuter Heftigkeit. Die Reformer bewiesen eine außerordentliche Tapferkeit; ja, einige von ihnen stürmten sogar auf die Landstraße hinaus, wo sie sich ohne Deckung der schlimmsten Gefahr aussetzten. Der Doctor sandte seinen Adjutanten O. Perrault von Montreal ihnen nach, um ihnen den Befehl zum Zurückgehen zu überbringen. Von zwei Kugeln durchbohrt, stürzte Perrault todt zu Boden.

Während einer Stunde kreuzten sich nun schon die Gewehrschüsse – im Ganzen mehr zum Nachtheil der Angreifer, obwohl diese sich hinter dickem Gebüsch und Holzhausen verbargen.

Da befahl der Oberst Gore im Augenblicke darauf, als die Munition schon fast zu Ende ging, dem Capitän Markman, die Stellung der Patrioten zu umgehen.

Dieser Officier sachte dem Befehl nachzukommen, verlor aber dabei den größten Theil seiner Leute. Er selbst fiel, von einer Kugel getroffen, vom Pferde und mußte von seinen Soldaten weggetragen werden.

Das Gefecht nahm für die Königlichen eine üble Wendung. Da drangen von der Landstraße laute Rufe her, und sie sahen jetzt ein, daß sie selbst in die Lage kamen, umzingelt zu werden.

Ein Mann war dort aufgetaucht – derselbe, um den die französischen Canadier die Gewohnheit hatten, sich wie um eine Fahne zu schaaren.

»Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!« riefen sie, die Waffen schwingend.

[244] Wirklich war es Johann, an der Spitze von etwa hundert Aufständischen, welche von Antoin, St. Ours und von Contrecoeur gekommen waren. Unter dem Pfeifen der Kugeln und unter dem Sausen der Kanonenkugeln, welche die Fläche des Flusses bestrichen, hatten sie den Richelieu überschritten, wobei eine der letzteren das Ruder im Hintertheile, an dem Johann stand, zerschmetterte.

»Vorwärts, Raketen und Biber!« rief er, seine Begleiter anfeuernd.

Beim Schall seiner Stimme wälzten sich die Königlichen heran. Die, welche sich noch in dem belagerten Hause befanden, machten, ermuthigt durch jene unerwartete Verstärkung, einen Ausfall. Der Oberst Gore mußte zum Rückzuge nach Sorel blasen lassen und ließ mehrere Gefangene und eine Kanone in den Händen der Sieger. Er zählte neben dreißig Todten ebensoviel Verwundete, gegen zwölf Todte und vier Verwundete auf Seiten der Reformer.

So verlief das Treffen bei St. Denis. Binnen wenigen Stunden verbreitete sich die Nachricht von diesem Siege durch die Nachbarkirchspiele von Richelieu und selbst bis zu den Grafschaften am Ufer des St. Lorenzo.

Es war ein ermuthigender Anfang für die Parteigänger der nationalen Sache, freilich nur ein Anfang. Da diese noch die Befehle ihrer Führer erwarteten, rief ihnen Johann, um ihnen die Aussicht auf einen neuen Sieg zu eröffnen, die Worte zu:

»Patrioten, auf nach St. Charles!«

Wir erwähnten schon oben, daß dieser Flecken von der Truppenabtheilung Whiterall's bedroht war.

Kaum eine Stunde später hatten Herr de Vaudreuil und Johann nach dem Abschiede von Clary, welche von dem schönen Erfolge des Tages unterrichtet worden war, sich ihren Genossen auf dem Marsche nach St. Charles wieder angeschlossen.

Hier sollte sich zwei Tage später das Schicksal des Aufstandes von 1837 entscheiden.

In Folge des Zusammenströmens der Reformer war dieser Flecken zum Hauptschauplatze der Empörung geworden, und ebendahin begab sich der Oberstlieutenant Whiterall mit verhältnißmäßig starken Streitkräften.

Brown, Desrivières, Gauvin und Andere hatten die Vertheidigung nach Kräften organisirt. Sie konnten auf diese kampfesfreudige Bevölkerung rechnen, die sich schon durch Vertreibung eines Edelmanns hervorgethan hatte, welchen man einer Begünstigung der Anglo-Canadier verdächtigte. Rings um das in [245] eine Festung verwandelte Haus dieses Edelmanns errichtete Brown ein Lager, in dem sich die ihm zur Verfügung stehenden Streitkräfte sammeln sollten.

Da St. Denis und St. Charles kaum sechs (englische) Meilen von einander entfernt liegen, hörte man im Laufe des 23. den Kanonendonner von dem einen Flecken bis zum anderen. Vor Einbruch der Nacht erfuhren es noch die Bewohner von St. Charles, daß die Königlichen zum Rückzuge nach Sorel gezwungen worden seien. Der moralische Eindruck dieses ersten Sieges war ein sehr tiefer. Aus allen Häusern, deren Thüren weit offen standen, strömten die Bewohner in überquellender patriotischer Freude hervor.

Nur ein einziges öffnete sich nicht, das geschlossene Haus an der Straßenbiegung, das durch seine Lage von dem Kampfplatze etwas entfernt war. Bridget's Haus drohte also etwas weniger Gefahr als den benachbarten Gebäuden, für den Fall, daß das Lager von den königlichen Truppen angegriffen und eingenommen wurde.

Allein zurückgeblieben, wartete Bridget, bereit ihre Söhne aufzunehmen, wenn die Umstände sie nöthigten, bei ihr Schutz zu suchen. Der Abbé Joann besuchte aber damals die Kirchspiele Ober-Canadas und predigte den Aufruhr, während Johann, der sich jetzt nicht länger verborgen hielt, an der Spitze der Patrioten erschienen war. Sein Name hallte jetzt in allen Grafschaften am St. Lorenzo wieder. So wenig Verbindung das geschlossene Haus auch mit der Außenwelt hatte, war doch dieser Name und mit ihm die Nachricht von dem Siege von St. Denis dahin gelangt, mit dem jener so rühmlich verknüpft war.

Bridget fragte sich, ob Johann nicht auch nach dem Lager bei St. Charles kommen und seiner Mutter einen Besuch abstatten werde; ob er nicht die Thür ihrer Wohnung überschreiten werde, um ihr zu sagen, was er noch zu thun gedenke, und vielleicht um sie zum letzten Male zu umarmen. Das hing natürlich von der Fortentwickelung des Aufstandes ab. Bridget hielt sich deshalb zu jeder Stunde des Tages wie der Nacht bereit, ihren Sohn im geschlossenen Hause aufzunehmen.

Bei der Nachricht von der Niederlage vor St. Denis hatte Lord Gosford, in Befürchtung, daß die Sieger die Patrioten von St. Charles verstärken könnten, Befehl ertheilt, die Colonne Whiterall's zurückzuziehen.

Es war schon zu spät. Die durch Sir John Colborne von Montreal abgesendeten Curiere wurden unterwegs aufgehalten, und statt umzukehren, marschirte die Truppenabtheilung auf St. Charles weiter.

[246] Von jetzt ab lag es in keines Menschen Macht, den Zusammenstoß zwischen den Aufständischen dieses Fleckens und den Soldaten der regulären Armee zu verhindern.

Noch am 24. war auch Johann erschienen, um zu den Vertheidigern des Lagers von St. Charles zu stoßen.

Mit ihm eilten die Herren de Vaudreuil, André Farran, William Clerc, Vincent Hodge und Sebastian Gramont gleichzeitig herbei. Zwei Tage vorher hatte der Farmer Harcher mit seinen fünf Söhnen das Dorf St. Albans verlassen können. Sofort überschritten sie die amerikanische Grenze und begaben sich nach St. Charles, entschlossen, ihrer Pflicht bis zum Aeußersten genug zu thun.

Uebrigens zweifelte Niemand mehr an dem entscheidenden Erfolg des Aufstandes, weder die politischen Anführer der Oppositionspartei, noch Herr de Vaudreuil und seine Freunde, weder Thomas Harcher, Pierre, Remy, Michel, Tony und Jacques, seine tapfern Söhne, noch einer der Bewohner des Fleckens, welche besonders stolz waren bei dem Gedanken, daß dieser letzte gegen die angelsächsische Tyrannei geführte Schlag von ihnen ausgehen sollte.

Vor Eröffnung des Angriffs auf St. Charles hatte der Oberstlieutenant Whiterall an Brown und dessen Gefährten das Angebot ergehen lassen, daß ihnen nichts geschehen sollte, wenn sie sich unterwerfen wollten.

Dieser Vorschlag wurde von den Waffengefährten Brown's einstimmig zurückgewiesen. Wenn die Königlichen mit demselben hervortraten, so geschah das ihrer Meinung nach nur, weil sie sich nicht in der Lage befanden, das Lager mit Gewalt zu nehmen. Nein, man wollte sie auf keinen Fall herein lassen, um dort vielleicht blutige Vergeltung zu üben; sobald die Colonne Whiterall's näher kam, sollte sie zurückgeschlagen und versprengt werden. Das war eine neue Niederlage, welche den Königlichen drohte – und dieses Mal eine vollständige Niederlage, welche den endlichen Sieg schon sicherstellen mußte.

So dachte man in den Reihen der Patrioten.

Man würde sich übrigens sehr täuschen mit der Annahme, daß die Vertheidiger des Lagers sehr zahlreich gewesen wären – nur eine handvoll Leute, dafür aber die besten der Partei. Führer und eigentliche Kämpfer berechnet waren ihrer höchstens zweihundert, bewaffnet mit Sensen, Aexten, einfachen Knütteln und Steinschloßgewehren; während sie der königlichen Artillerie nur zwei – noch dazu kaum dienstfähige Kanonen entgegenzustellen hatten.


Ein erster Schuß traf zwei Canadier (S. 244.)

Während die Insurgenten sich nun vorbereiteten, die Colonne Whiterall's zu empfangen, marschirte diese trotz der Hindernisse, welche der Winter dieser Gegend ihr in den Weg legte, rasch auf ihr Ziel los. Das Wetter war kalt, der Erdboden steinhart und trocken. Die Mannschaften hielten einen scharfen Schritt [247] ein und die beiden Feuerschlünde rollten über den harten Weg hin, ohne durch Schneehaufen oder aus Wegaushöhlungen geschleppt werden zu müssen.

Die Reformer erwarteten die Truppen. Begeistert durch ihren letzten Sieg und elektrisirt durch die Anwesenheit ihrer Führer, wie Brown, Desrivières,


Johann ohne Namen hatte sich wie ein Löwe geschlagen. (S. 253.)

[248]

[249] [251]Gauvin, Vincent Hodge, de Vaudreuil, Amiot, A. Papineau, Marchessault und Maynard, vorzüglich aber durch die Johanns ohne Namen, hatten sie, wie wir wissen, den Vorschlag des Oberstlieutenant Whiterall ohneweiters zurückgewiesen. Seine Aufforderung, sich zu ergeben und die Waffen zu strecken, waren sie bereit mit Flintenschüssen, mit Sensenhieben und Axtschlägen zu beantworten.

Das an dem einen Ende des Fleckens errichtete Lager bot jedoch einige Nachtheile, zu deren Beseitigung es jetzt an der nöthigen Zeit fehlte. War es auch auf der einen Seite durch den Fluß gedeckt und auf der anderen durch ein Baumdickicht, welches das Haus Debartzeh's umgab, vertheidigt, so wurde es von der Rückseite doch von einem Hügel beherrscht.

Die Insurgenten nun waren an Zahl zu schwach, um diesen Hügel besetzen zu können. Gelang es den Königlichen, auf demselben Stellung zu nehmen, so gab es gegen deren Feuer keinen anderen Schutz mehr als das Debartzeh'sche Haus, welches aus Vorsorge schon mit Schießscharten versehen worden war. Immerhin blieb es sehr fraglich, ob dasselbe einem Sturme würde widerstehen können, und ob Brown und seine Gefährten die Macht besitzen würden, den Angreifern darin hinreichenden Widerstand entgegenzusetzen.

Etwa um zwei Uhr Nachmittags ertönte aus der Ferne ein verworrenes Geschrei, und bald bemerkte man in derselben Richtung ein auffallendes Getümmel. Das rührte von einer Menge Frauen, Kinder und alter Leute her, welche quer über das Feld nach St. Charles zu entflohen.

Es waren Landleute, die hier Schutz suchten. In weiterer Ferne stiegen schwärzliche Rauchsäulen von den längs der Straße in Brand gesetzten Häusern auf – so weit man sehen konnte, brannten die Farmen. Inmitten von Ruinen und grausamen Metzeleien, welche ihren Weg bezeichneten, drangen Whiterall's Colonnen vor.

Brown gelang es, diejenigen der Flüchtlinge, welche noch kampffähig schienen, zum Stehen zu bringen, und nach Ueberlassung des Oberbefehls an Marchessault jagte er jetzt selbst auf die Landstraße hinaus, um die Schwachen und Hilflosen zu holen. Nachdem Marchessault alle Maßregeln zur Verlängerung des Widerstandes getroffen, ließ er seine Mannschaft unter dem Schutze der Hecken, welche das Lager umschlossen, antreten.

»Hier, Ihr Leute, sagte er, hier wird sich das Schicksal des Landes entscheiden! Hier müssen wir dasselbe vertheidigen!...

– Bis zum Tode!« antwortete Johann ohne Namen.

[251] In diesem Augenblicke krachten die ersten Schüsse in der Nähe des Lagers, und jeder sah wohl ein, daß die königlichen Truppen von Beginn des Gefechts an die Vortheile auf ihrer Seite hatten.

Sich dem Feuer der Insurgenten, welche längs der Hecken standen und die ihm schon einige Leute getödtet hatten, auszusetzen, das wäre seitens des Oberstlieutenants Whiterall ein kaum zu verzeihender Fehler gewesen. Mit seinen aus drei- bis vierhundert Fußtruppen und Reitern bestehenden Streitkräften, welche noch zwei Feldgeschütze unterstützten, war es ihm ja ein Leichtes, die Vertheidiger des Lagers von St. Charles, wenn er eine das letztere beherrschende Stellung einnahm, zu vernichten. So ertheilte er denn auch Befehl, die Verschläge zu umgehen und den im Rücken der feindlichen Stellung gelegenen Hügel zu besetzen.

Diese Bewegung vollzog sich ohne Schwierigkeiten; die beiden Kanonen wurden auf die Höhe geschleppt, nebeneinander aufgestellt und der Kampf begann nun mit einer auf beiden Seiten gleich großen Entschlossenheit. Das geschah Alles mit solcher Schnelligkeit, daß Brown, der noch dabei war, die sich über das Land zerstreuenden Flüchtlinge zu sammeln, nicht mehr ins Lager zurückkehren konnte und bis nach St. Denis verschlagen wurde.

Trotz ihrer nur sehr mangelhaften Deckung vertheidigten sich die Patrioten mit bewundernswerthem Muthe. Marchessault, Herr de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc, Farran, Gramont, Thomas Harcher und seine Söhne, sowie Alle, welche mit Gewehren bewaffnet waren, erwiderten Schuß für Schuß das Feuer der Angreifer. Johann ohne Namen trug schon durch seine Anwesenheit allein dazu bei, ihren Muth zu erhöhen. Ihm fehlte hier aber eins, ein eigentliches Kampfesfeld für ein Handgemenge, um die Tapfersten mit sich fortzureißen und sich Mann an Mann auf den Feind zu stürzen. Bei diesem Kampfe auf größere Entfernung erlahmte seine Thatenlust.

Der Kampf dauerte nichtsdestoweniger an, so lange die Hecken noch einigermaßen Schutz gewährten. Wenn die Vertheidiger des Lagers mehr als einen Rothrock hingestreckt hatten, so blieben doch auch ihnen empfindliche Verluste nicht erspart. Von Kanonen- oder Flintenkugeln getroffen, waren ein Dutzend von ihnen gefallen und entweder todt oder doch kampfunfähig gemacht. Unter den ersteren befand sich Remy Harcher, der, von einer Kartätschenkugel mitten durch die Brust getroffen, in seinem Blute schwamm. Als seine Brüder ihn aufhoben, um ihn hinter das Haus zu tragen, war er nur noch eine Leiche.

[252] Hier lag auch schon André Farran mit zerschmetterter Schulter. Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge waren, nachdem sie ihn aus dem Feuerbereiche geschafft, wieder an ihren Platz zurückgekehrt.

Bald machte es sich aber nöthig, die erste Deckungslinie zu räumen. Die von den Kanonenkugeln zerrissenen Hecken eröffneten den Feinden Zugang zum Lager, so daß der Oberstlieutenant Whiterall Befehl gab, die Belagerten mit dem Bajonnet anzugreifen. Das wurde zur »wirklichen Schlächterei«, wie die Berichte über diese blutige Episode der franco-canadischen Insurrection sich ausdrückten.

Hierbei fielen tapfere Patrioten, welche nach Erschöpfung ihrer Munition sich nur noch mit Kolbenschlägen wehrten, hier wurden die beiden Hébert getödtet, welche minder glücklich waren als A. Papineau, Amiot und Marchessault, denen es gelang, sich durch die Angreifer nach wüthendem Einzelkampfe durchzuschlagen. Hier unterlagen andere Parteigänger der nationalen Sache, deren Anzahl niemals bekannt geworden ist, da der Fluß eine Menge Leichen hinwegschwemmte.

Unter denjenigen, welche im engeren Zusammenhange mit unserer Erzählung stehen, zählte man ebenfalls einige Opfer. Wenn Johann ohne Namen sich wie ein Löwe geschlagen, wenn er, immer in der ersten Reihe der Seinigen und im dichtesten Handgemenge, heute denen, die mit und die gegen ihn waren, offen gegenüberstand, so war es ein wirkliches Wunder zu nennen, daß er ohne jede Verwundung davon kam, während so viele Andere minder glücklich waren. Nach Remy wurden noch zwei seiner Brüder, Michel und Jacques, von Kartätschensplittern schwer verwundet, von Thomas und Pierre Harcher aus dem Lager weggetragen und damit dem wilden Gemetzel entzogen, mit dem die Königlichen ihren Sieg krönten.

William Clerc und Vincent Hodge hatten sich ebenfalls nicht geschont. Zwanzigmal hatte man sie, Flinte und Pistole in der Hand, sich mitten unter die Belagerer stürzen sehen. Während des hitzigsten Gefechtes waren sie Johann ohne Namen bis zu der auf der Höhe des Hügels befindlichen Batterie gefolgt. Da wäre Johann getödtet worden, wenn Vincent Hodge nicht den Schlag abgelenkt hätte, den ein Unterofficier des Geschützes nach ihm führte.

»Ich danke, Herr Hodge! sagte Johann zu ihm. Vielleicht haben Sie aber doch Unrecht gethan!... Jetzt wäre dann Alles vorbei!«

In der That wäre es vielleicht besser gewesen, wenn Simon Morgaz' Sohn hier auf dem Platze blieb, da die Sache der Unabhängigkeit auf dem Schlachtfelde von St. Charles unterliegen sollte.

[253] Schon hatte Johann sich wieder in das Getümmel geworfen, als er am Fuße des Hügels Herrn de Vaudreuil im Blute schwimmend auf der Erde liegen sah.

Der tapfere Freund seines Vaterlandes war von einem wuchtigen Säbelhiebe getroffen worden, als die Reiter Whiterall's über das Lager hereinsprengten, um die Vernichtung der Aufständischen zu vollenden.

In diesem Augenblick erschien es Johann, als ob eine innere Stimme ihm zurief: »Rette meinen Vater!«

Gedeckt vom Pulverdampfe – schlich sich Johann zu dem bewußtlosen, vielleicht schon gestorbenen Herrn de Vaudreuil hin; er nahm ihn auf die Arme und trug ihn längs der Verschanzungen hin; dann gelang es ihm auch, während die Reiter die Rebellen scharf verfolgten, inmitten der brennenden Häuser den höher gelegenen Theil von St. Charles zu gewinnen und mit seiner Last in die Vorhalle der Kirche zu flüchten.

Es war jetzt um fünf Uhr Abends. Der Himmel wäre schon dunkel gewesen, wenn nicht aus den Ruinen des Fleckens züngelnde Flammen emporstiegen.

Der bei St. Denis siegreiche Aufstand war vor St. Charles niedergeworfen worden, und man konnte nicht einmal sagen, daß das einander ausgeglichen hätte. Nein, diese Niederlage mußte schlimmere Nachtheile für die nationale Sache haben, als der Sieg ihr wirkliche Vortheile gebracht hatte. Da dieselbe auch dem ersteren nachfolgte, vernichtete sie alle Hoffnungen, welche die Reformisten vorher etwa gehegt hatten.

Die Kämpfer alle, welche nicht das Schlachtfeld bedeckten, mußten so eilig flüchten, daß es gar nicht möglich wurde, ihnen einen Befehl zur Wiedersammlung zu ertheilen.

William Clerc sah sich gezwungen, in Begleitung des nur leicht verwundeten André Farran quer hinein ins Land zu entweichen. Nur unter tausend Gefahren gelang es beiden Männern, welche nicht das Mindeste von dem Schicksal de Vaudreuil's und Vincent Hodge's wußten, die Grenze zu überschreiten.

Und was sollte aus Clary de Vaudreuil werden in jenem Hause von St. Denis, wo sie auf Nachrichten wartete? Hatte sie von den Repressalien der Loyalisten nicht Alles zu fürchten, wenn es nicht auch ihr gelang zu entfliehen?

Das waren die Gedanken Johanns, als er sich im Hintergrunde der kleinen Kirche verbarg. Hatte Herr de Vaudreuil auch das Bewußtsein noch [254] nicht wieder so erlangt, fühlte man doch den, wenn auch schwachen Schlag seines Herzens. Bei sorgsamer Pflege konnte er wohl gerettet werden, doch wo und wie würde er diese finden?

Hier galt kein Zögern, er mußte den Verletzten noch diese Nacht nach dem geschlossenen Hause schaffen.

Letzteres lag nicht weit entfernt, höchstens einige hundert Schritte, wenn er die Hauptstraße des Fleckens hinunterging. In der Dunkelheit, wenn die Soldaten Whiterall's St. Charles wieder geräumt, oder wenn sie Nachtquartier bezogen haben würden, wollte Johann ihn aufnehmen und in dem Hause seiner Mutter unterbringen.

Seiner Mutter!... Herr de Vaudreuil bei Bridget!... Bei der Gattin Simon Morgaz'!... Und wenn er nun jemals hörte, unter wessen Dach er ihn geschafft hatte...

Und doch, war er, der Sohn Simon Morgaz', nicht Gast der Villa Montcalm gewesen?... Er nicht der Waffengefährte des Herrn de Vaudreuil geworden?... Hatte er diesen nicht aus den Klauen des Todes gerettet?... War es denn wirklich so schlimm für Herrn de Vaudreuil, sein Leben der Pflege einer Bridget Morgaz zu verdanken?

Er sollte das übrigens nicht erfahren und Niemand das Incognito errathen, in welches sich die unglückliche Familie hüllte.

Nachdem er seinen Beschluß gefaßt, hatte Johann nur noch die gelegene Zeit zur Ausführung – einige Stunden später – abzuwarten.

Dann flogen seine Gedanken nach dem Hause in St. Denis, wo Clary die Niederlage der Patrioten erfahren sollte und, wenn sie ihren Vater nicht wiederkehren sah, vermeinen mußte, daß auch dieser gefallen sei. Doch würde es wohl möglich sein, sie zu benachrichtigen, daß Herr de Vaudreuil nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war, und sie selbst den Gefahren zu entziehen, die ihr in jenem der Rache der Sieger preisgegebenen Flecken drohten?

Derlei Befürchtungen lasteten gar schwer auf Johann, neben der Qual, welche der letzte, für die nationale Sache so schreckliche Vorfall ihm bereitete. Jede Hoffnung, die man nach dem Siege bei St. Denis zu hegen berechtigt schien, Alles, was derselbe unmittelbar zu bewirken versprach, nämlich die Erhebung der Grafschaften, die Ausbreitung des Aufstandes über das Thal des Richelieu und des St. Lorenzo, die Brachlegung der königlichen Truppen, die Wiedererlangung [255] der Unabhängigkeit, wobei Johann das Unrecht, welches der Verrath seines Vaters dem Lande zugefügt, wieder gut zu machen geglaubt hatte... Alles war verloren... Alles!

Alles?... Gab es denn keine Möglichkeit, den Kampf noch einmal aufzunehmen? Wäre der Patriotismus im Herzen der französischen Canadier getödtet gewesen, weil wenige Hundert Patrioten bei St. Charles schon mit dem Leben gezahlt hatten?... Nein! Johann konnte sein Werk nicht aufgeben... Er mußte kämpfen bis zum Tode.

Obgleich es schon recht dunkel war, erscholl in dem Flecken doch noch immer das Hurrah der Soldaten und tönte der Schmerzensschrei der Verwundeten durch die von den Flammen erhellten Straßen; nachdem die Feuersbrunst das Lager zerstört, hatte sie sich nämlich den benachbarten Gebäuden mitgetheilt, ohne daß Jemand hätte sagen können, wo sie wieder erlöschen würde. Wenn sie nun bis zum Ausgang des Fleckens weiterfraß... Wenn auch das geschlossene Haus zerstört und Johann weder seine Mutter noch deren Wohnstätte wieder fand?...

Diese Angst drohte ihn fast zu lähmen. Er selbst konnte ja durch das Land entfliehen, konnte die Waldmassen der Grafschaft erreichen und während der Nacht entkommen. Vor Tagesanbruch würde er für seine Person in Sicherheit sein. Doch was sollte dann aus Herrn de Vaudreuil werden? Wenn dieser in die Hand der Königlichen fiel, war er verloren, denn selbst die Verwundeten fanden bei dieser blutigen Affaire keine Schonung.

Gegen acht Uhr schien in St. Charles jedoch einige Ruhe einzutreten. Entweder waren die Einwohner nun vertrieben oder sie hatten sich nach Abzug der Whiterall'schen Colonne in die von dem Brande verschont gebliebenen Gebäude gerettet. Jetzt waren die Straßen menschenleer – jetzt galt es davon zu Nutzen zu ziehen.

Johann näherte sich vorsichtig der Thür der Kirche. Diese halb öffnend, warf er einen prüfenden Blick über den kleinen Platz vor dem Gotteshause und stieg die Stufen der Vorhalle hinab.

Kein Mensch befand sich auf dem von den entfernten Flammen hell erleuchteten Platze.

Johann kehrte zu Herrn de Vaudreuil zurück, der ausgestreckt neben einem Pfeiler lag. Er hob ihn auf und nahm ihn die Arme. Doch selbst für einen so muskelstarken Mann wie Johann bildete der Körper eine sehr schwere Last,


Herr de Vaudreuil wurde von einem Säbelhiebe getroffen. (S. 254.)

wenn er diese bis nach der Biegung der Landstraße, [256] wo das geschlossene Haus stand, tragen sollte.

Johann überschritt den Platz und glitt über die nächste Straße hin.

Es war die höchste Zeit. Kaum hatte er einige zwanzig Schritte zurückgelegt, als er laute Rufe vernahm, während der Erdboden von Pferdegetrappel wiederhallte.

Die Reiterabtheilung war es, welche nach St. Charles zurückkehrte. Ehe diese zur weiteren Verfolgung der Flüchtlinge aufbrechen sollte, hatte der Oberstlieutenant [257] Whiterall ihr Befehl gegeben, zur Nachtruhe in den Flecken zurückzukehren, wo sie bis Tagesanbruch verweilen sollte, und gerade die Kirche war zur Unterkunft der Leute ausersehen worden.

Kaum eine Minute nachher hatten sich die Reiter unter dem Schiff derselben eingerichtet, doch nicht ohne sich durch geeignete Maßregeln vor feindlicher Ueberrumpelung zu schützen. Aber nicht die Mannschaften allein machten es sich im Innern der Kirche bequem, nein, auch die Pferde waren in dieser mit untergestellt worden. Da ist es wohl kaum nöthig, auf die Profanationen hinzuweisen, denen sich die wilde Soldateska, von Blut und Gier berauscht, in diesem, dem katholischen Cultus geweihten Gebäude hingab.

Johann ging die verlassene Straße weiter hinunter und machte nur dann und wann Halt, um einmal Athem zu schöpfen. Immer quälte ihn die Furcht, je mehr er sich dem geschlossenen Hause näherte, nur dessen Ruinen wiederzufinden.

Endlich erreichte er die Straße und blieb vor der Wohnung seiner Mutter stehen. Die Feuersbrunst hatte sich nach dieser Seite hin nicht ausgebreitet. Das Haus war unversehrt, im Schatten verloren. Durch seine Fenster drang nicht die Spur eines Lichtstrahls.

Herrn de Vaudreuil tragend, stand Johann jetzt vor der Gitterthür, welche den kleinen Vorhof abschloß; er stieß dieselbe auf, schleppte sich bis zur Hausthür und gab das verabredete Zeichen.

Einen Augenblick später waren Herr de Vaudreuil und Johann im Hause der Bridget Morgaz in Sicherheit.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Herr de Vaudreuil im geschlossenen Hause.

»Mutter, begann Johann, nachdem er den Verwundeten auf das Bett, welches er oder sein Bruder gelegentlich benutzte, wenn sie einmal im geschlossenen Hause übernachteten, niedergelegt, Mutter, es kostet diesem Manne das Leben, wenn ihm nicht die sorgsamste Pflege zu Theil wird.

[258] – Ich werde ihn pflegen, Johann.

– Doch es geht auch Dir aus Leben, wenn Whiterall's Soldaten ihn bei Dir finden!

– Mir aus Leben!... Was zählt denn mein Leben, lieber Sohn?« antwortete Bridget.

Johann wollte sie nicht wissen lassen, daß Herr de Vaudreuil, eines der Opfer Simon Morgaz', vor ihr lag. Das hätte zu beschämende Erinnerungen in ihr wachgerufen. Besser war es jedenfalls, wenn Bridget davon nichts erfuhr. Der Mann, dem sie Obdach bot, gehörte zu den Patrioten – das war genug, um ihm ein Anrecht auf ihre Hilfe und Ergebenheit zu sichern.

Zuerst waren Johann und Bridget nach der Hausthür zurückgegangen. Sie lauschten. Drang auch von der Kirche her noch wüstes Geschrei, so herrschte auf der Landstraße doch vollkommene Ruhe. Der letzte Schein des im höheren Theil der Stadt entfachten Brandes war dem Verlöschen nahe und auch das Lärmen der Königlichen verstummte allmählich. Sie mochten des Brennens, Raubens und Mordens satt geworden sein. Alles in Allem waren etwa zwanzig Wohnstätten durch das Feuer zerstört. Das geschlossene Haus gehörte zu denen, die dem Unheil entgingen; doch hatten Bridget und Johann noch Alles von den Siegern zu fürchten, wenn die Sonne erst die traurigen Ruinen von St. Charles beleuchtete.

Uebrigens wurden sie auch im Laufe der Nacht mehrfach erschreckt. Von Stunde zu Stunde kamen Patrouillen von Soldaten und Freiwilligen an dem geschlossenen Hause vorüber und beobachteten die Umgebung des Fleckens an der Biegung der Landstraße. Zuweilen machten dieselben Halt. Wie leicht war zu befürchten, daß Befehl zu Hausdurchsuchungen gegeben worden war, daß die Agenten der Polizei an die Thüren klopfen und die Oeffnung derselben fordern konnten. Für sich selbst zitterte Johann nicht im mindesten, wohl aber für Herrn de Vaudreuil, der fast im Sterben lag und der dann sein Leben im Hause seiner Mutter ausgehaucht hätte...

Jene Befürchtungen sollten sich nicht erfüllen – wenigstens nicht während dieser Nacht. Bridget und ihr Sohn hatten sich neben das Kopfkissen des Verwundeten gesetzt. Alles, was sie thun konnten, war geschehen. Hier wären aber Arzneimittel nöthig gewesen – doch wie solche beschaffen? Hier hätte es eines Arztes bedurft – doch wie einen finden, dem man mit dem Leben des Patrioten auch die Geheimnisse des geschlossenen Hauses hätte anvertrauen können?

[259] Sie untersuchten die bloßgelegte Brust des Herrn de Vaudreuil. Eine tiefe, von einem Säbelhieb herrührende Wunde verlief schräg über die linke Seite des Brustkastens. Es schien jedoch, daß diese Wunde nicht tief genug eindrang, um ein besonders lebenswichtiges Organ getroffen zu haben. Und dennoch athmete der Verwundete so schwach und hatte einen so großen Blutverlust erlitten, daß er unter dieser Ohnmacht hinscheiden konnte.

Nach Reinigung der Wunde mit frischem Wasser näherte Bridget die Ränder derselben einander und bedeckte sie mit zusammengefalteten Tüchern. Johann und seine Mutter wagten aber trotzdem kaum zu hoffen, daß Herr de Vaudreuil bei den wiederholten Aufschlägen, welche Bridget ihm machte, und durch die Wärme, welche er im geschlossenen Hause genoß, wieder zu sich kommen würde, ehe Whiterall's Truppen den Flecken verließen.

Zwei Stunden nach seiner Hierherkunft ließ Herr de Vaudreuil, obgleich er die Augen noch nicht geöffnet, einige Worte entschlüpfen. Offenbar fesselte ihn nur noch eins – die Erinnerung an seine Tochter – an das Leben. Er rief nach ihr, vielleicht um von ihr gepflegt zu werden, vielleicht schwebten ihm auch nur die Gefahren vor Augen, von denen sie jetzt in St. Denis bedroht war...

Bridget hielt seine Hand gefaßt und lauschte. Johann, der daneben stand, sachte die Wiederaufreißung der Wunde bei einer etwaigen schnellen Bewegung zu verhindern. Auch er bemühte sich, die von Seufzern unterbrochenen Worte des Armen aufzufassen. Wenn nun Herr de Vaudreuil gar etwas sagte, was Bridget nicht hätte hören sollen?...

Da ließ sich unter den unzusammenhängenden Sätzen ein Name deutlich vernehmen.

Es war der Name Clarys.

»Der Unglückliche hat also eine Tochter? murmelte Bridget, ihren Sohn ansehend.

– So scheint es, liebe Mutter.

– Und er verlangt nach ihr. Er will nicht sterben, ohne sie noch einmal gesehen zu haben!... Wäre seine Tochter ihm zur Seite, so würde er ruhiger sein... Wo befindet sich aber dieselbe?... Könnte ich nicht versuchen, sie zu entdecken.... sie... ganz im Geheimen... hierher zu bringen?

– Sie!... rief Johann.

– Ja. Ihr Platz ist hier bei ihrem Vater, der sie, mit dem Tode ringend, ruft.«

[260] Da wollte sich der Verletzte, den das Wundfieber schüttelte, im Bett aufrichten.

Dann entrangen sich seinem Munde flehende Worte, welche das, was ihn quälte, deutlich verriethen:

»Clary... allein... da unten... in St. Denis!«

Bridget erhob sich.

»St. Denis?... fragte sie. Da hat er seine Tochter zurückgelassen?... Hörst Du's, Johann?

– Die Königlichen!... In St. Denis!... fuhr der Verwundete fort. Sie wird ihnen nicht entgehen können!... Die Elenden werden an Clary de Vaudreuil Rache nehmen.

– Clary de Vaudreuil?« wiederholte Bridget.

Dann senkte die Frau den Kopf und stammelte:

»Herr de Vaudreuil... hier bei mir!

– Ja, Herr de Vaudreuil, gestand jetzt Johann, und da er einmal im geschlossenen Hause ist, so muß auch seine Tochter hierher kommen!«

Regungslos, neben dem Bette, auf dem Herr de Vaudreuil lag, betrachtete sie diesen Patrioten, dessen Blut für die Unabhängigkeit floß, derselbe, der zwölf Jahre vorher den Verrath Simon Morgaz' fast mit dem Kopfe hatte bezahlen müssen. Wenn er nun erfuhr, welches Haus ihm Obdach geboten, welche Hand ihn dem Tode abgerungen, würde ihn da nicht ein Schauder durchbeben und würde er sich nicht auf den Knien fortschleppen, um so schnell wie möglich die Berührung mit dieser Familie, die ihn nur schändete, zu fliehen?

In einem längeren Seufzer ließ Herr de Vaudreuil wiederum den Namen Clarys hören.

»Er könnte sterben, sagte Johann, aber er darf nicht, ohne seine Tochter wiedergesehen zu haben...

– Ich werde sie holen, erklärte Bridget.

– Nein!... Das ist meine Aufgabe, Mutter!

– Du, den man in der Grafschaft auf Schritt und Tritt verfolgt?... Willst Du unterliegen, ehe Du Dein Werk vollendet?... Nein, Johann, Du hast noch nicht das Recht, zu sterben. Ich werde Clary de Vaudreuil holen!

– Clary de Vaudreuil wird sich aber weigern, Dir zu folgen, Mutter!

– Sie wird sich nicht weigern, wenn sie hört, daß ihr Vater im Sterben liegt und nach ihr ruft... Wo ist Fräulein de Vaudreuil in St. Denis?

[261] – Im Hause des Richters Froment... Es ist aber zu weit bis dahin, Mutter!... Du wirst nicht die Kraft dazu haben!... Hin- und Rückweg betragen ja gegen zwölf Meilen. Ich, wenn ich unverzüglich aufbreche, habe Zeit genug, nach St. Denis zu gehen und Clary de Vaudreuil hierher zu führen, noch ehe der Tag anbricht. Niemand wird mich fortgehen sehen... Niemand wird es merken, wenn ich in das geschlossene Haus zurückkehre...

– Niemand?... antwortete Bridget. Und wie willst Du die Soldaten, welche die Landstraßen überwachen, vermeiden?... Wie willst Du, ihnen einmal in die Hände gefallen, wieder entkommen?... Selbst zugegeben, daß sie Dich nicht sofort erkennen, würden sie Dich deshalb freien Weges ziehen lassen?... Ich dagegen, eine alte Frau, warum sollten sie mich anhalten?... Genug der Worte, Johann; Herr de Vaudreuil will seine Tochter sehen!... Er muß sie sehen, und ich allein bin es, die jene ihm zuzuführen vermag!... Ich breche auf!«

Johann mußte sich den Vorstellungen Bridgets fügen. Obwohl die Nacht sehr dunkel war, wäre es für ihn, wenn er sich auf die von den Patrouillen Whiterall's bewachten Wege wagte, gleich der Gefahr gewesen, sein Vorhaben nicht ausführen zu können; und Clary de Vaudreuil mußte unbedingt vor Tagesanbruch die Schwelle des geschlossenen Hauses überschritten haben. Wer konnte wissen, ob das Leben ihres Vaters überhaupt noch so lange währte! Johann ohne Namen, der jetzt als solcher bekannt war, nachdem er mit offenem Visir gekämpft, hätte schwerlich nach St. Denis und von da mit Fräulein de Vaudreuil zurückkommen können, da er bei einem solchen Versuche sich fast zweifellos den Händen der Königlichen überliefern mußte.

Der letzte Grund vorzüglich bestimmte seinen Entschluß, denn die ihn persönlich drohenden Gefahren achtete er sehr gering. So gab er denn Bridget die nöthigen Nachweise, um das junge Mädchen beim Richter Froment aufzufinden. Er händigte ihr ein Billet ein mit den Worten: »Vertrauen Sie sich meiner Mutter an, folgen Sie ihr!« – die bei Clary jeden etwaigen Verdacht zerstören mußten. Dann öffnete Johann die Thür, schloß sie hinter Bridget wieder und setzte sich an das Schmerzenslager des Herrn de Vaudreuil.

Schon etwas über zehn Uhr war es, als Bridget die um diese Stunde verlassene Straße hinabging. Der eisige Frost der langen canadischen Nächte, welcher auf dem ganzen Lande lag, hatte den Erdboden zu einem schnelleren Vorwärtskommen geeigneter gemacht. Das erste Viertel des Mondes, der am [262] Horizonte bald verschwinden sollte, ließ durch die hochschwebenden Wolken noch einzelne Sterne flimmern.

Bridget wanderte schleunigen Schrittes durch die finstere Einöde, ohne Furcht und ohne Schwäche hin. Um eine Pflicht zu erfüllen, war die einstige Energie, von der sie so manche Probe abgelegt, noch einmal in ihr erwacht. Uebrigens kannte sie genau die Strecke von St. Charles bis St. Denis, die sie in ihrer Jugend oft genug gegangen war. Das Einzige, was sie zu fürchten hatte, war höchstens das Zusammentreffen mit einer Abtheilung Soldaten.

Das ereignete sich denn auch zwei- oder dreimal in der Entfernung von zwei Meilen von St. Charles. Es fiel jedoch Niemand ein, die alte Frau aufzuhalten, und diese kam mit verschiedenen schlechten Bemerkungen der mehr oder weniger betrunkenen Soldaten davon. In der Richtung nach St. Denis hatte der Oberstlieutenant Whiterall keine weitreichenden Patrouillengänge unternehmen lassen. Ehe er diesen unglücklichen Flecken zur Rechenschaft zog, wollte er sich erst über die weiteren Maßnahmen der Sieger vom Vortage unterrichten und hütete sich, seinen eigenen Sieg durch einen unüberlegten Angriff wieder zu compromittiren.

Während der zwei anderen Drittel ihrer Wanderung blieb Bridget in Folge dessen von weiteren gefährlichen Heimsuchungen verschont. Die armen Leute, denen sie begegnete oder die sie sogar überholte, waren Flüchtlinge von St. Charles, die sich über die Kirchspiele der Grafschaften verstreuten, da sie seit der Plünderung und Niederbrennung ihrer Häuser kein schützendes Dach mehr besaßen.

Doch – das war nur zu gewiß – wo Bridget hatte ungehindert passiren können, wäre das Johann ganz unmöglich gelungen. Bei Annäherung der Soldatenrotten hätte er mindestens Seitenwege einschlagen müssen, und das um den Preis von Zeitverlust, der es ihm ganz unmöglich gemacht hätte, vor Sonnenaufgang wieder im geschlossenen Hause einzutreffen. Hätte ihn aber ein Cavalleriepiquet nur einmal verhaftet, so wäre ihm doch, selbst ein Nichterkennen seiner Person vorausgesetzt, eine längere Freiheitsberaubung sicher gewesen.


Zwanzig Wohnstätten waren durch das Feuer zerstört. (S. 259.)

Vielleicht aber wurde er erkannt, und der Leser weiß ja, welches Urtheil der Gerichtshof von Montreal über ihn gefällt hätte.

Gegen einhalb ein Uhr erreichte Bridget das Ufer des Richelieu. Das ihr bekannte Haus des Richters Froment lag an diesem Ufer, etwas außerhalb St. Denis. Bridget brauchte also nicht über den Richelieu zu setzen, was ohne ein Boot, welches sie erst suchen mußte, nicht ausführbar gewesen wäre. [263] Sie hatte hier vielmehr nur eine Viertelmeile flußabwärts zu wandern, um vor der Thür des betreffenden Hauses zu stehen.

Die Umgebung war völlig verlassen und tiefes Schweigen herrschte in diesem Theile des Thales.

In der Ferne schimmerten kaum einige schwache Lichter durch die Fenster der ersten Gebäude des Fleckens, der jetzt in vollkommener, von keinem Lärmen gestörter Ruhe lag.

[264] Bridget glaubte hieraus schließen zu dürfen, daß eine Nachricht von der Niederlage bei St. Charles noch nicht bis St. Denis gedrungen wäre.

Clary de Vaudreuil konnte also noch nichts von der Niederlage wissen, und erst von ihr, der Unglücksbotin, sollte sie Alles erfahren.

Bridget stieg die Stufen der kleinen Treppe an der Ecke des Hauses hinan und klopfte.

Keine Antwort.

Bridget klopfte von Neuem.

[265] Da erschallten im Inneren der Hausflur, in der es ein wenig hell wurde, zögernde Schritte. Dann fragte eine Stimme:


Es fiel jedoch Niemand ein, die Frau aufzuhalten. (S. 263.)

»Was wünschen Sie?

– Den Richter Froment zu sprechen.

– Der Richter Froment ist nicht in St. Denis, und in seiner Abwesenheit darf ich nicht öffnen.

– Ich habe ihm wichtige Nachrichten mitzutheilen, fuhr Bridget dringlicher fort.

– Das werden Sie bei seiner Rückkehr thun können.«

Die Erklärung, nicht öffnen zu wollen, wurde in so bestimmtem Tone abgegeben, daß Bridget nicht mehr zögerte, sich des Namens Clarys zu bedienen.

»Wenn der Richter Froment nicht hier ist, sagte sie, so muß doch Fräulein de Vaudreuil hier sein, und diese wenigstens muß ich sprechen.

– Fräulein de Vaudreuil ist abgereist, antwortete die Stimme, dieses Mal aber etwas zaudernd.

– Sie ist abgereist?

– Seit gestern.

– Und wissen Sie, wohin das Fräulein gegangen ist?

– Jedenfalls hat sie ihren Vater aufsuchen wollen.

– Ihren Vater?... antwortete Bridget. Nun, eben um des Herrn de Vaudreuil willen komm' ich sie zu holen.

– Mein Vater! rief Clary, die im Hintergrunde der Hausflur gestanden hatte. Oeffnen Sie schnell!...

– Clary de Vaudreuil, nahm Bridget darauf mit gedämpfter Stimme das Wort, ich bin nur hierher gekommen, Sie zu Ihrem Vater zu führen, und Johann ist es, der mich sendet...«

Schon waren die Riegel der Thür zurückgeschoben worden, als Bridget mit leiser Stimme sagte:

»Nein, öffnen Sie jetzt nicht, warten Sie ein wenig!«

Die Stufen hinabgehend, setzte sie sich still am Fuße der Treppe nieder. Es schien in der That von Wichtigkeit, daß sie nicht gesehen wurde und Niemand ihren Eintritt in dieses Haus bemerkte. In diesem Augenblicke aber näherte sich ein Haufen Männer, Frauen und Kinder, der am Ufer des Richelieu hinzog.

Es waren die ersten Flüchtlinge, welche St. Denis erreichten, nachdem sie Nebenwege eingeschlagen, um die große Straße zu vermeiden. Da gab es Verwundete, [266] gestützt und geführt von ihren Eltern und Freunden, da kamen Frauen, welche noch mit sich schleppten, was ihnen von ihrer Familie geblieben war, doch auch noch kampffähige Patrioten, welche der Feuersbrunst und der Niedermetzelung hatten entgehen können. So manche derselben mußten Bridget wohl kennen, und diese hielt doch darauf, Niemand wissen zu lassen, daß sie aus dem geschlossenen Hause weggegangen sei; deshalb wollte sie, im Schatten der Mauer verborgen, diese erste Woge der Flüchtlinge vorüberziehen lassen.

Doch was mußte Clary während dieser wenigen Minuten denken, wenn sie die Klagelaute der Leute – das Jammern der Verzweiflung hörte? Seit mehreren Stunden schon harrte sie sehnsüchtig auf Nachrichten von St. Charles. Vielleicht beeilte sich ihr Vater, vielleicht auch Johann, ihr diese zu übermitteln, wenn dieser nicht nach einem erneuten Siege beschloß, sofort auf Montreal zu marschiren.

Nein! Durch die Thür, welche Clary noch nicht zu öffnen wagte, drangen nur Seufzer und Klagelaute herein.

Nachdem die Flüchtlinge am Hause vorübergezogen, wandten sie sich weiter draußen dem Wasser erst an einer Stelle zu, wo sie dasselbe jedenfalls hofften, überschreiten zu können.

Die Straße war wieder still geworden, obgleich sich flußaufwärts schon wieder ein dumpfes Getöse vernehmen ließ.

Bridget hatte sich erhoben. Eben als sie noch einmal anklopfen wollte ging die Thür auf und schloß sich wieder unmittelbar hinter ihr.

Clary de Vaudreuil und Bridget Morgaz standen sich jetzt gegenüber, und zwar in einem Zimmer des Erdgeschosses, das eine Lampe, deren Schein nicht durch die festgeschlossenen Läden dringen konnte, nur matt erhellte.

Die alte Frau und das junge Mädchen sahen einander an, während die Dienerin etwas abseits stand.

Clary sah sehr bleich aus und wagte, in der Voraussetzung eines entsetzlichen Unglücks, erst keine Frage zu stellen.

»Die Patrioten von St. Charles?... sagte sie endlich.

– Geschlagen! antwortete Bridget.

– Mein Vater?

– Verwundet!

– Todt?...

– Vielleicht.«

[267] Clary hatte nicht mehr die Kraft sich aufrecht zu erhalten und Bridget mußte sie in ihren Armen auffangen.

»Muth! Clary de Vaudreuil! sagte sie. Ihr Vater wünscht, daß Sie zu ihm kommen. Sie müssen dem Wunsche nachkommen, müssen mir, ohne einen Augenblick zu verlieren, folgen.

– Wo ist mein Vater? fragte Clary, sich aus diesem Schwächeanfall aufraffend.

– Bei mir... in St. Charles, erklärte Bridget.

– Wer sendet Sie, Madame?

– Ich sagte es Ihnen bereits... Johann!... Ich bin seine Mutter...

– Sie?... rief Clary.

– Hier, lesen Sie selbst!«

Clary nahm das Billet, welches Bridget ihr hinhielt. Es war die ihr nur zu gut bekannte Handschrift Johanns ohne Namen.

»Vertrauen Sie sich meiner Mutter an...« schrieb er.

Doch wie kam es, daß Herr de Vaudreuil sich in dieser Wohnung befand? War Johann es, der ihn gerettet, der ihn vom Schlachtfeld bei St. Charles weg und nach dem geschlossenen Hause getragen hatte?

»Ich bin bereit, Madame, sagte Clary de Vaudreuil.

– So brechen wir auf,« antwortete Bridget.

Die Einzelheiten der schrecklichen Vorkommnisse sollte Clary erst später erfahren. Schon jetzt wußte sie ja genug davon. Ihr Vater dem Tode nahe, die Patrioten zerstreut, der Sieg von St. Denis aufgehoben durch die Niederlage bei St. Charles!

Clary hatte in der Eile einen dunklen Anzug gewählt, um Bridget zu begleiten.

Die Thür des Vorraumes stand offen, Beide stiegen nach der Straße hinunter.

Die Hand in der Richtung nach St. Charles ausstreckend, sprach Bridget nur die Worte:

»Wir haben sechs Meilen zurückzulegen. Damit Niemand erfährt, daß Sie in das geschlossene Haus gekommen sind, müssen wir daselbst noch diese Nacht eintreffen.«

Clary und Bridget gingen am Ufer des Flusses hinauf, um die Landstraße zu erreichen, welche in gerader Linie von Norden nach Süden die Grafschaft [268] St. Hyazinthe durchschneidet. Das junge Mädchen hätte mehr laufen mögen als gehen, so drängte es sie, an das Schmerzenslager ihres Vaters zu kommen. Den noch mußte sie ihren Schritt etwas mäßigen, denn Bridget hätte ihr, trotz einer für ihr Alter wunderbaren Rüstigkeit, nicht folgen können.

Uebrigens gab es auch Verzögerungen. Verschiedene Haufen Flüchtlinge kamen ihnen direct entgegen. Geriethen sie unter diese, so konnten sie leicht nach St. Denis zurückgeschoben werden, sie mußten jene also womöglich vermeiden. Bridget und Clary verschwanden deshalb bald zur Rechten, bald zur Linken in den Dickichten am Wege. Niemand bemerkte sie da, während sie Alle sehen und hören konnten.

Die armen Leute schleppten sich jämmerlich vorwärts, einige ließen ganz blutige Spuren auf dem Erdboden zurück. Frauen trugen kleine Kinder auf den Armen. Die starken Männer führten die Greise, die sich lieber niedergeworfen hätten, um auf der Stelle zu sterben. Vernahmen sie dann wieder Geschrei aus der Ferne, so verschwanden sie Alle in der Finsterniß.

Man hätte glauben können, daß Soldaten und Freiwillige diesen Unglücklichen schon auf den Fersen wären, den Armen, welche ihre brennende Heimat flohen und rings auf den Farmen eine Unterkunft suchten, die sie in St. Charles nicht mehr finden konnten. Sollte die Colonne Whiterall's etwa schon auf dem Marsche sein, um mit anbrechendem Tage die entflohenen Patrioten gefangenzunehmen?

Nein; es waren nur andere Flüchtlinge, welche durch das Land irrten. Zu Hunderten kamen dieselben bisweilen vorüber. Und wie viele wären in dieser schrecklichen Nacht vielleicht umgekommen, wenn sich nicht einige Farmer geopfert hätten, sie aufzunehmen!

Mit von tödtlicher Angst gemartertem Herzen war Clary Zeugin der Schrecken dieser Flucht, und dennoch wollte sie an der Sache der Unabhängigkeit nicht verzweifeln, für die ihr Vater entschlossen dem Tode ins Auge gesehen hatte.

Sobald der Weg wieder frei war, setzten sich Bridget und Clary aufs neue in Bewegung. Einundeinehalbe Stunde wanderten sie so dahin. Je mehr sie sich dem Flecken näherten, desto seltener wurden die Aufenthalte, weil die Straße weniger von Flüchtigen eingenommen war. Alles, was hatte entrinnen können, befand sich jetzt weit von hier und auf der Seite nach St. Denis zu, oder hatte sich in den Grafschaften Verchères und St. Hyazinthe zerstreut. In [269] der Nachbarschaft von St. Charles galt es dafür nun, jeder Abtheilung von Freiwilligen aus dem Wege zu gehen.

Um drei Uhr Morgens waren noch drei Meilen nach dem geschlossenen Hause zurückzulegen.

Da sank Bridget erschöpft zusammen.

Clary wollte sie aufrichten.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, sagte sie zu ihr. Stützen Sie sich auf mich... Wir können nicht mehr weit haben...

– Doch, eine Stunde Wegs, antwortete Bridget, und ich werde leider nicht im Stande sein...

– Ruhen Sie einen Augenblick aus; nachher gehen wir weiter. Sie nehmen meinen Arm!... Fürchten Sie nicht, mich zu ermüden!... Ich bin stark...

– Stark!... Armes Kind... auch Sie werden bald niedersinken!«

Bridget hatte sich auf die Knie erhoben.

»Hören Sie mich an, sagte sie, ich werde versuchen noch einige Schritte zu machen... Doch wenn ich wieder nicht weiter fort kann, so lassen Sie mich zurück.

– Sie zurücklassen?... rief Clary.

– Ja, denn nur Eins ist jetzt nöthig, daß Sie noch diese Nacht bei Ihrem Vater sind. Die Straße geht gerade aus. Das geschlossene Haus ist das erste, welches sich linker Hand vor der Ortschaft findet... Sie klopfen da an die Thür. Nennen Ihren Namen... Johann wird dann schon öffnen.

– Nein, ich verlasse Sie nicht, antwortete das junge Mädchen. Ohne Sie gehe ich nicht weiter.

– Doch, es muß sein, Clary de Vaudreuil, antwortete Bridget. Wenn Sie dann in Sicherheit sind, wird schon mein Sohn kommen, mich zu holen. Er wird mich tragen, wie er Herrn de Vaudreuil getragen hat.

– Ach, ich flehe Sie an, versuchen Sie zu gehen, Madame Bridget!«

Bridget gelang es, sich noch einmal aufzurichten; sie schleppte sich aber nur mit größter Anstrengung vorwärts. Immerhin kamen Beide noch etwa eine Meile weiter.

Da erhellte sich der Horizont mit einem Schein, der im Osten von St. Charles emporstieg. Waren das schon die ersten Strahlen des Morgenrothes und sollte es nicht möglich sein, das geschlossene Haus vor dem Tage zu erreichen?

[270] »Vorwärts, gehen Sie! murmelte Bridget... Gehen Sie, Clary de Vaudreuil, lassen Sie mich hier!

– Das ist nicht der Tag, antwortete Clary. Es ist kaum vier Uhr Morgens. Das muß der Widerschein einer Feuersbrunst sein...«

Clary vollendete den Satz nicht ganz; ihr kam der Gedanke ebenso wie Bridget, daß vielleicht das geschlossene Haus eine Beute der Flammen werde, daß das Versteck des Herrn de Vaudreuil aufgefunden worden sei, daß er und Johann von den Soldaten Whiterall's gefangen wären, wenn sie nicht bei der Vertheidigung den Tod gefunden hätten.

Diese Furcht regte in Bridget noch einmal die letzten Kräfte an. Ihre Schritte beschleunigend, näherten sie sich St. Charles mehr und mehr.

Die Landstraße bildete an dieser Stelle einen ziemlich scharfen Winkel, und jenseits desselben erhob sich das geschlossene Haus.

Clary und Bridget gelangten zu der Straßenbiegung.

Das geschlossene Haus war es nicht, welches in Flammen stand, es brannte vielmehr eine zur Rechten des Fleckens gelegene Farm, deren Flammenschein sich am Horizonte widerspiegelte.

»Da!... Da ist es!« rief Bridget, indem sie mit zitternder Hand nach ihrer Wohnung hinwies.

Noch fünf bis sechs Minuten, und die beiden Frauen mußten darin Schutz gefunden haben.

In diesem Augenblicke erschien ein Trupp von drei Männern, welche die Straße herabkamen – drei Freiwillige, schwankend auf den Füßen, betrunken von Branntwein und besudelt mit Blut.

Clary und Bridget wollten ihnen aus dem Wege gehen und wichen seitlich aus. Es war zu spät.

Die Freiwilligen hatten sie bemerkt und stürzten sich auf sie zu. Von diesen erbärmlichen Burschen war das Schlimmste zu fürchten. Einer derselben hatte das junge Mädchen gepackt und suchte dieses mit sich fortzuziehen, während die beiden Anderen Bridget festhielten.

Bridget und Clary riefen um Hilfe. Wer hätte ihre Rufe aber sonst hören können, als andere Soldaten, die vielleicht weniger betrunken und vielleicht noch gefährlicher waren, als diese hier?

Plötzlich sprang ein Mann aus dem Dickicht zur Linken und streckte mit einem Schlage den Schurken zu Boden, der sich an dem jungen Mädchen vergriffen hatte.


Er mußte sich gegen zwei Schurken wehren. (S. 274.)

»Clary de Vaudreuil!... rief er.

– Vincent Hodge!«

Und Clary klammerte sich an den Arm Hodge's, [271] den sie beim Scheine der Flammen erkannt hatte.

Als Herr de Vaudreuil auf dem Schlachtfelde von St. Charles gefallen war, hatte Vincent Hodge ihm nicht zu Hilfe eilen können, er wußte auch nicht, daß Johann ohne Namen diesen gleich darauf aus dem Getümmel getragen, und war deshalb, als das Feuer verstummte, in die Nachbarschaft des Fleckens


Gegen vierzig Patrioten waren zu Gefangenen gemacht worden. (S. 277.)

[272]

zurückgekehrt, auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen. Nach Einbruch der Nacht versuchte er dann, Herrn de Vaudreuil unter den Verwundeten oder Todten zu entdecken, welche in großer Menge den Kampfplatz bedeckten.

Nachdem er vergeblich bis zur Stunde, wo es im Osten zu dämmern begann, umhergesucht, schlich er eben wieder die Straße herunter, als ferne Hilferufe ihn nach dem Orte führten, wo Clary gegen eine Gefahr, die schlimmer gewesen wäre als der Tod, ankämpfte.

[273] Vincent Hodge hatte nicht Zeit genug, um zu erfahren, daß Herr de Vaudreuil in dieses nur wenige Schritte entfernte Haus geschafft worden war, sondern mußte sich gegen zwei Schurken wehren, welche von Bridget losgelassen hatten, um sich auf ihn zu stürzen. Ihr Geschrei war auch weit die Straße hinauf gehört worden. Fünf oder sechs Freiwillige kamen herzugelaufen, ihnen Hilfe zu leisten. Für Clary und Bridget war es die höchste Zeit, sich in das geschlossene Haus zu retten.

»Flieht!... Flieht! rief Vincent Hodge. Ich werde schon von den Burschen loskommen.«

Bridget und Clary eilten die Straße hinab, während Vincent Hodge seine beiden Gegner, die in Folge ihrer Trunkenheit weniger gefährlich waren, tüchtig bearbeitete.

Und ehe deren Kameraden ganz heran kommen konnten, sprang er ins Dickicht. Wohl knallten ihm einige Flintenschüsse nach, doch ohne daß die Kugeln ihr Ziel erreichten.

Bald klopfte Bridget an die Thür des geschlossenen Hauses, die sich sofort öffnete; sie ließ das junge Mädchen eintreten und sank in die Arme ihres Sohnes.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Die folgenden acht Tage.

Das geschlossene Haus bot also jetzt Herrn und Fräulein de Vaudreuil ein, wenn auch etwas unsicheres Obdach. Beide befanden sich im Schutze der Familie ohne Namen, bei der Gattin und dem Sohne des Verräthers. Wenn sie noch nicht wußten, welche Bande die bejahrte Frau mit Simon Morgaz verknüpften und ebenso diesen jungen Mann, welche Beide ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihnen Unterkommen zu gewähren, so wußten das doch Bridget und Johann nur zu gut, und vor Allem fürchteten sie, daß auch ihre Schutzbefohlenen es durch einen unglücklichen Zufall erfahren könnten.

[274] Gegen Morgen dieses Tages – des 26. September – kam Herr de Vaudreuil wieder ein wenig zum Bewußtsein. Die Stimme seiner Tochter hatte ihn aus dem Todesschlafe erweckt. Er schlug die Augen auf.

»Clary!... murmelte er.

– Mein Vater!... Ich bin es! antwortete Clary. Ich bin hier bei Dir!... Ich werde Dich nicht mehr verlassen.«

Johann stand im Halbdunkel am Fußende des Lagers, als bemühte er sich, ungesehen zu bleiben. Der Blick des Verwundeten fiel auf ihn und seinen Lippen entschlüpften die Worte:

»Johann!... Ach... ich entsinne mich!...«

Dann bemerkte er Bridget, welche sich über seinen Pfühl niederbeugte, und seine Miene schien zu fragen, wer diese Frau sei.

»Es ist meine Mutter, sagte Johann. Sie sind im Hause meiner Mutter, Herr de Vaudreuil... An ihrer Pflege und der Ihrer Tochter wird es ihnen nicht fehlen...

– Ihrer Pflege!... wiederholte Herr de Vaudreuil mit schwacher Stimme... Ja, ja, jetzt kommt mir die Erinnerung wieder!... Verwundet!... Besiegt!... Meine Gefährten entflohen... todt... wer weiß es?... Ach, mein armes Vaterland... nun drückt Dich ein schlimmeres Joch als je zuvor!«

Herr de Vaudreuil ließ den Kopf herabsinken und seine Augen schlossen sich wieder.

»Mein liebster, liebster Vater!« rief Clary niedersinkend.

Sie hatte seine Hand gefaßt und fühlte einen leichten Druck den ihrigen erwidern.

Dann nahm Johann das Wort und sagte:

»Es wäre recht nöthig, einen Arzt hierher zu holen; doch wo wollen wir einen finden und an wen uns in dem von den Königlichen besetzten Lande wenden?... Nach Montreal?... Ja, das böte noch den einzigen Ausweg. Nennen Sie mir den Arzt, zu dem Sie dort besonderes Vertrauen haben, und ich werde nach Montreal gehen...

– Nach Montreal?... fiel Bridget ein.

– Es muß sein, Mutter! Herrn de Vaudreuil's Leben gilt mehr als das meinige!

– O, für Dich fürchte ich ja nichts, Johann. Auf dem Wege nach Montreal kannst Du aber beobachtet werden, und wenn dann der Verdacht aufstiege, daß Herr de Vaudreuil hier ist, so wäre er verloren.

[275] – Verloren! murmelte Clary.

– Er ist es nicht weniger, wenn er keine sachverständige Hilfe bekommt, antwortete Johann.

– Ist seine Verwundung eine tödtliche, meinte Bridget, so wird ihn leider Niemand heilen. Ist sie es nicht, so wird Gott geben, daß wir, seine Tochter und ich, ihn retten. Seine Wunde rührt von einem Säbelhiebe her, der nur die Fleischtheile trennte. Herr de Vaudreuil ist gewiß nur durch den Blutverlust geschwächt. Es wird, hoffe ich, genügen, die Wunde bedeckt zu halten und Compressen mit kaltem Wasser aufzulegen, um eine Vernarbung herbeizuführen, die wir schon nach und nach erzielen werden. Glaube mir, mein Sohn, Herr de Vaudreuil ist hier in verhältnißmäßiger Sicherheit, und, soweit irgend ausführbar, ist es nothwendig, daß Niemand von seinem Versteck etwas erfährt.«

Bridget sprach mit einer so lebendigen Ueberzeugung, daß diese als erste Wirkung in Clary wieder einen schwachen Hoffnungsstrahl wachrief. Vor Allem galt es entschieden, Niemand in das geschlossene Haus einzuführen. Das Leben Johanns ohne Namen hing davon ab, und nicht minder das des Herrn de Vaudreuil, denn wenn etwas von Beiden verlautete, konnte wohl Johann durch die Wälder der Grafschaft entfliehen und die amerikanische Grenze erreichen, nicht aber der aus Bett gefesselte Kranke.

Uebrigens schien der Zustand des Verwundeten das Vertrauen, welches Bridget in dessen Tochter erweckt hatte, vom ersten Tage an zu rechtfertigen. Seit die Blutung gestillt war, blieb Herr de Vaudreuil, wenn auch immer sehr schwach, doch im Besitze des Bewußtseins. Was ihm vor Allem Noth that, war Ruhe des Gemüthes – diese fand er aber jetzt, da seine Tochter bei ihm weilte, neben der Ruhe des Körpers, und es schien, als ob ihm diese im geschlossenen Hause gesichert wäre.

In der That sollten die Soldaten Whiterall's nicht zögern, St. Charles zu verlassen, um die Grafschaft zu durchstreifen, und der Flecken sollte dann von ihrer Gegenwart befreit sein.

Bridget richtete sich nun ein, um ihren Gästen in der beschränkten Wohnung mehr Bequemlichkeit zu bieten. Herr de Vaudreuil nahm das für Joann und Johann bestimmte Zimmer ein, wenn diese eine Nacht im geschlossenen Hause zubrachten. Das andere Zimmer, das Bridgets, wurde Clary eingeräumt. Beide wachten abwechselnd am Bett des Kranken.

[276] Was Johann angeht, so brauchte man sich weder um diesen noch um seinen Bruder Sorge zu machen für den Fall, daß in Folge der letzten Ereignisse der Abbé Joann zufällig bei seiner Mutter zum Besuche eintreffen sollte; für diese Beiden genügte im Nothfalle ein Winkel des geschlossenen Hauses.

In Johanns Absicht lag es übrigens gar nicht, in St. Charles länger zu verweilen. So bald er sich über den Zustand des Herrn de Vaudreuil beruhigt, und mit diesem die von ihm vorausgesehenen Ereignisse und den weiteren Verlauf ihrer Bestrebungen besprochen, wollte er sich aufs neue seiner Aufgabe widmen. Die Niederlage bei St. Charles konnte ja noch nicht die völlige Vernichtung der Patrioten herbeigeführt haben; ja, Johann ohne Namen glaubte sie schon zur Wiedervergeltung mit sich fortreißen zu können.

Der 26. verlief in Ruhe. Bridget konnte sogar, ohne Verdacht zu erwecken, das geschlossene Haus verlassen, um die nöthigsten Lebensbedürfnisse und ein labendes Getränk für den Kranken einzukaufen. Seit stattgefundener Räumung der Stadt hatten sich auch verschiedene Häuser wieder aufgethan. Doch welche Zerstörung, welche Ruinen, vorzüglich im oberen, von der Feuersbrust ergriffenen Stadttheile nach der Seite des Lagers zu, wo die Vertheidiger sich wahrhaft heldenmüthig geschlagen hatten! Etwa Hundert von den Patrioten hatten bei jenem entsetzlichen Kampfe ihr Blut vergossen und die meisten derselben waren entweder todt oder doch tödtlich verletzt. Außerdem waren gegen vierzig Gefangene gemacht worden. Es war ein Jammer mit anzusehen, wie die zügellose Soldateska, welche deren Befehlshaber vergeblich zu zügeln sachte, mit den Aermsten umging.

Zum Glück – diese Nachricht brachte Bridget nach dem geschlossenen Hause mit – rüstete sich die Colonne zum Abmarsch.

Im Laufe dieses Tages fand Herr de Vaudreuil, dessen Zustand sich in keiner Weise verschlimmerte, einige Standen erquickender Ruhe und Schlaf. Jetzt vernahm man von ihm keine Delirien und nicht jene unzusammenhängenden Worte mehr, mit welchen er früher nach seiner Tochter verlangte.

Er wußte es vollständig, daß Clary an seiner Seite und geschützt war gegen alle Gefahren, welche ihr mit der Rückkehr der Loyalisten nach St. Denis gedroht hätten.

Während er schlief, konnte Johann dem jungen Mädchen die Ereignisse der jüngsten Zeit ausführlich schildern. Sie erfuhr nun Alles »was sich seit dem Aufbruche ihres Vaters aus dem Hause des Richters Froment zugetragen hatte, um sich seinen Waffenbrüdern in St. Charles anzuschließen; wie die Patrioten[277] bis zum letzten Mann gekämpft; unter welchen Umständen endlich Herr de Vaudreuil aus dem Gewühle fort und nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war.

Clary lauschte bangen Herzens und mit feurigen Augen seiner Erzählung. Es schien ihr, als ob jenes Mißgeschick Johann und sie selbst am meisten anging. Beide empfanden ja, wie eng sie aneinander gefesselt waren.

Wiederholt erhob sich Johann tief erregt, da er vor sich selbst erschrak und die Vertraulichkeit meiden wollte, welche die unglückliche Lage noch gefährlicher als sonst erscheinen ließ. Nach den wenigen Tagen des Zusammenseins mit Clary in der Villa Montcalm hatte er darauf gerechnet, bei den sich vorbereitenden Ereignissen wieder ganz von seiner Aufgabe in Anspruch genommen zu werden. Gerade diese Ereignisse aber waren es, welche das junge Mädchen in das Haus seiner Mutter geführt hatten, während er gleichzeitig gezwungen war, ebenda Schutz zu suchen.

Bridget hatte die Natur der Gefühle ihres Sohnes bald genug erkannt und sie erschrak darüber nicht weniger als Johann selbst. Er!... Der Sohn des Simon Morgaz!... Die energische Frau ließ von ihrer Angst jedoch nichts merken, so schwere Leiden sie in der kommenden Zeit auch voraussah.

Am nächsten Tage wurde Herr de Vaudreuil von dem Abzuge der Truppen Whiterall's unterrichtet. Da er sich weniger schwach fühlte, wollte er Johann über die nächsten Folgen der Niederlage bei St. Charles fragen, vorzüglich um zu erfahren, was aus seinen Genossen, aus Vincent Hodge, Farran, Clerc, Sebastian Gramont, dem Farmer Harcher und dessen fünf Söhnen, die Alle an jenem unseligen 25. so muthig gekämpft hatten, nachher geworden sei.

Bridget, Clary und Johann hatten sich neben das Bett des Herrn de Vaudreuil gesetzt.

Auf den von ihm ausgesprochenen Wunsch antwortete Johann mit der Bitte, sich nicht durch zu viele Fragen anzustrengen:

»Ich werde Ihnen mittheilen, was ich von Ihren Freunden weiß, sagte er. Nachdem sie bis zur letzten Stunde gekämpft, wurden sie schließlich nur durch die Uebermacht niedergedrückt. Einer meiner braven Gefährten aus Chipogan, der arme Remy Harcher, fiel schon bei Beginn des Gefechts, ohne daß ich ihm zu Hilfe, eilen konnte. Später mußten Michel und Jacques in Folge erhaltener Verwundungen den Kampfplatz verlassen und wurden von ihrem Vater und den beiden anderen Brüdern fortgetragen. Ich weiß nicht, wohin sie entflohen [278] sind, als jeder Widerstand unmöglich geworden war, hoffe jedoch, daß sie die amerikanische Grenze erreicht haben. Der Abgeordnete Gramont fiel in Gefangenschaft, dürfte sich also in einem Gefängnisse Montreals befinden, und wir wissen, welches Los die Richter Lord Gosford's ihm bestimmt haben werden. Die Herren Farran und Clerc haben wahrscheinlich der Verfolgung der königlichen Reiterei entgehen können, doch ist mir unbekannt, ob sie noch heil und gesund sind. Von Vincent Hodge vermag ich nicht zu sagen...

– Vincent Hodge ist dem Gemetzel glücklich entgangen, fiel da Clary ein. Im Laufe der Nacht ist er in der Umgebung von St. Charles umhergeirrt, um Dich, lieber Vater, vielleicht zu finden. Bridget und ich sind ihm auf der Straße begegnet. Ihm verdanken wir es, den Gewaltthaten mehrerer Soldaten entkommen zu sein und das geschlossene Haus erreicht zu haben. Ohne Zweifel befindet er sich jetzt in einem Dorfe der Vereinigten Staaten in Sicherheit.

– Es ist ein edler Charakter, ein glühender Patriot! sagte Johann. Was er für Fräulein de Vaudreuil und meine Mutter gethan, das that er im hitzigsten Kampfe auch für mich. Er hat mir das Leben gerettet, und doch wär' es vielleicht besser gewesen, er hätte mich sterben lassen... Ich hätte dann wenigstens die Niederlage der Söhne der Freiheit nicht mit angesehen!

– Johann, wandte sich da das junge Mädchen an ihn, Sie werden doch an unserer heiligen Sache nicht verzweifeln?

– Mein Sohn und verzweifeln! erwiderte lebhaft Bridget. Das werd' ich nimmermehr glauben!

– Nein, Mutter! rief Johann. Nach dem Siege bei St. Denis sollte sich der Aufstand über das ganze Thal des St. Lorenzo verbreiten – nach der Niederlage bei St. Charles gilt es nun, einen neuen Feldzug zu beginnen, und ich werde diesen ins Werk setzen. Noch sind die Reformer keineswegs besiegt. Schon dürften sie wieder bereit stehen, den Colonnen Sir John Colborne's Widerstand zu leisten. Leider hab' ich schon zu lange gezögert, sie aufzusuchen; doch heute Nacht reife ich ab.

– Wohin wollen Sie, Johann? fragte Herr de Vaudreuil.

– Zunächst nach St. Denis. Daselbst hoffe ich die tüchtigsten Anführer zu treffen, mit denen wir die Soldaten Gore's so glücklich zurückgeschlagen hatten...

– Gehe, ja, gehe, mein Sohn! sagte Bridget mit einem bedeutsamen Blick auf Johann... Ja, gehe bald! Dein Platz ist nicht hier... Er ist da unten... in den vordersten Reihen...

[279] – Ja, Johann, ziehen Sie hinaus mit Gott! Sie müssen Ihre Waffengefährten wieder aufsuchen, müssen an deren Spitze erscheinen!... Die Loyalisten sollen es erfahren, daß Johann ohne Namen nicht todt ist...«

Clary konnte nicht weiter reden.

Sich halb aufrichtend, ergriff Herr de Vaudreuil die Hand Johanns, und auch er wiederholte:

»Ziehen Sie hin, Johann! Ueberlassen Sie mich der Pflege Ihrer Mutter und meiner Tochter. Wenn Sie meine Freunde wiederfinden, so sagen Sie ihnen, daß sie mich in ihrer Mitte sehen werden, sobald meine Kräfte es irgend gestatten. – Doch, fügte er mit einer Stimme hinzu, welche seine äußerste Schwäche erkennen ließ, wenn Sie uns auf dem Laufenden erhalten können über das, was im Werke ist... wenn es Ihnen möglich wäre, einmal selbst nach dem geschlossenen Hause zurückzukommen!... Ach, Johann!... Es verlangt mich so sehr zu wissen... was aus allen Denen, die mir theuer sind, geworden ist... sie, die ich vielleicht niemals wiedersehen werde!

– Sie werden es erfahren, Herr de Vaudreuil, versicherte Johann. Jetzt pflegen Sie der Ruhe!... Vergessen Sie Alles bis zur Stunde, wo es wieder zu kämpfen gilt!«

Bei dem Zustand, in dem der Verwundete sich befand, mußte ihm wirklich jede Aufregung erspart bleiben. Er fing jetzt schon an einzuschlummern, und dieser Schlummer dauerte bis zur Mitte der Nacht an. Er währte auch noch fort, als Johann gegen elf Uhr das geschlossene Haus verließ, nachdem er Clary ein Lebewohl gesagt und nachdem er seine Mutter umarmt, die auch in der Minute, wo sie sich von ihrem Sohn trennte, ihre Standhaftigkeit bewahrte.

Uebrigens waren die Verhältnisse nicht dieselben wie am Tage vorher, als Bridget Johann abhielt, sich nach St. Denis zu begeben. Seit dem Abzuge Whiterall's hatten sich die Gefahren wesentlich vermindert. St. Denis war ebenso ruhig wie St. Charles. Seit der Niederlage der Reformer am 25. vermied die Regierung vorläufig weitere Gewaltmaßregeln. Man mußte sogar darüber erstaunen, daß sie ihren Sieg nicht durch einen Vormarsch gegen die Sieger vom 23. zu vervollständigen suchte. Sir John Colborne war nicht der Mann dazu, zurückzuschrecken vor den Repressalien, welche eine feindliche Rückkehr hervorrufen konnte, und der Oberst Gore durfte wohl Eile haben, seine Niederlage zu rächen.

[280] [283]Doch wie dem auch sein mochte, in St. Charles und folglich auch im geschlossenen Hause erhielt man keine Neuigkeiten. Auch das Vertrauen der Einwohner des Ortes war wieder gestiegen. Nachdem sie sich erst weithin verstreut, kehrten die meisten jetzt nach ihren Wohnstätten zurück und arbeiteten schon daran, die Zerstörungen von der Plünderung und der Feuersbrunst wieder nach Möglichkeit auszugleichen. Bei Bridgets seltenen Ausgängen fragte diese auch nach Nichts, hörte dagegen auf Alles und konnte so Herrn und Fräulein de Vaudreuil über alles Vorgehende unterrichten. Doch wie gesagt, keine bedrohliche Neuigkeit tauchte jetzt mehr im Lande auf, und von einer Truppenannäherung auf der Straße von Montreal verlautete nicht das Geringste.


Michel und Jaques wurden verwundet von ihrem Vater und Brüdern fortgetragen. (S. 278.)

Auch während der drei folgenden Tage wurde diese Ruhe ebenso in der Grafschaft Hyazinthe wie in den benachbarten Grafschaften nicht gestört. Man hätte fast glauben mögen, daß die Regierung den Aufstand für vollständig gedämpft halte, und es gewann den Anschein, als lasse sie nur die Häupter der Opposition verfolgen, die die Signale zur Empörung gegeben hatten. Niemand konnte dagegen annehmen, daß die Reformer schon auf jede Fortsetzung des Kampfes verzichten und sich für unbedingt besiegt halten könnten, so daß ihnen nichts als die unbedingte Unterwerfung übrig bliebe. Nein! Im geschlossenen Hause wie in ganz Canada erwartete man bestimmt ein neues Auflodern des schweren Kampfes.

Unter Bridgets und Clarys liebevoller Pflege besserte sich der Zustand des Herrn de Vaudreuil zusehends. Trotz der noch fortdauernden Schwäche begann die Wunde doch zu vernarben. Leider drohte die völlige Wiedergenesung recht lange Zeit in Anspruch zu nehmen, selbst bis zu dem Zeitpunkt, wo Herr de Vaudreuil voraussichtlich das Bett verlassen konnte. Gegen Ende des dritten Tages vermochte er etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Das Fieber, welches ihn anfänglich verzehrte, war fast gänzlich verschwunden. Trat jetzt keine unerwartete Complication ein, so war nichts Besonderes mehr zu fürchten.

In den langen müßigen Stunden, welche Bridget und Clary an seinem Lager verbrachten, berichteten sie ihm Alles, was man draußen sagte. Der Name Johann flocht sich immer und immer wieder in ihre Aussagen ein, da sie noch nicht wußten, ob er sich seinen Gefährten in St. Denis habe anschließen können, und sie doch kaum glaubten, daß er die Insassen des geschlossenen Hauses ohne Nachricht lassen werde.

[283] Und während Clary, die Augen gesenkt und in Gedanken in die Weite schweifend, da saß, erschöpfte sich Herr de Vaudreuil in Lobsprüchen bezüglich des jungen Patrioten, der ihm die nationale Sache gewissermaßen zu verkörpern schien. Ja, Frau Bridget konnte stolz sein auf einen solchen Sohn!

Den Kopf niederbeugend, antwortete Bridget entweder gar nicht, oder wenn sie es that, erklärte sie nur, daß Johann vielleicht seine Pflicht, gewiß aber nichts mehr gethan habe.

Es konnte weder Wunder nehmen, daß Clary eine warme Freundschaft, fast eine kindliche Liebe für Bridget empfand, noch daß ihr Herz sich so innig zu Jener hingezogen fühlte. Es erschien ihr so natürlich, sie »Mutter« zu nennen. Und doch kam es ihr vor, wenn sie ihre Hand ergreifen wollte, als ob Bridget diese zurückzuziehen suchte. Wenn Clary Bridget umarmte, wandte diese fast auffallend den Kopf zur Seite. Das junge Mädchen vermochte sich das nicht zu erklären, und wie gern hätte sie auch etwas von der Vergangenheit dieser Familie erfahren, welche nicht einmal mehr einen Namen hatte. Bridget blieb aber dieser Frage gegenüber stumm. Die gegenseitige Lage der beiden Frauen gestaltete sich also so, daß auf der einen Seite die aufrichtigste Hingebung und fast kindliche Liebe, auf der anderen eine sorgsame Zurückhaltung bestand, bei der die betagte Mutter sich von der jungen Tochter sozusagen zu entfernen suchte.

Am Abend des 2. December war St. Charles durch neue beunruhigende Nachrichten erregt, welche so ernster Natur waren, daß Bridget, der dieselben da und dort zu Ohren kamen, sie Herrn de Vaudreuil gar nicht mittheilen wollte. Clary stimmte ihr hierin bei, denn es schien auch ihr nicht gerathen, die Ruhe zu stören, deren ihr Vater noch so nöthig bedurfte.

So theilten sie ihm nur mit, daß die Königlichen noch einmal über die Patrioten einen Sieg davon getragen hatten.

Die Regierung konnte und wollte sich nämlich nicht damit zufriedengeben, den Aufstand bei St. Charles niedergeworfen zu haben; sie mußte mindestens die Scharte auswetzen, welche Oberst Gore in St. Denis erlitten hatte. Gelang ihr das, so war nicht mehr viel zu fürchten von den Reformern, welche die Agenten Gilbert Argall's überall verfolgten, und die sich genöthigt sahen, nach allen Kirchspielen des Bezirks zu entweichen. Dann galt es nur noch, die Anführer der Aufständischen, welche zum Theil schon in den Gefängnissen von Montreal und Quebec schmachteten, mit harten Strafen zu treffen.

[284] Zwei Kanonen, fünf Compagnien Infanterie und eine Schwadron Cavallerie waren unter Befehl des Oberst Gore gestellt worden, der mit dieser, der der Patrioten weit überlegenen Streitkraft aufbrach und im Laufe des 1. December vor St. Denis anlangte.

Die erst gerüchtweise sich verbreitende Nachricht von diesem Zuge erreichte St. Charles gegen Abend, und wurde dieselbe von verschiedenen aus den Feldern heimkehrenden Einwohnern weiter bestätigt. Dabei erfuhr Bridget auch davon, und während sie Herrn de Vaudreuil gegenüber verschwieg, was sie wußte, so hatte sie doch nicht gezögert, Clary davon Mittheilung zu machen.

Man begreift leicht, welche Unruhe, welche Herzensangst die beiden Frauen erdulden mußten.

In St. Denis hatte Johann seine Waffengefährten wieder treffen wollen, um aufs neue den Aufstand zu organisiren. Daß diese freilich so zahlreich und gut genug bewaffnet sein würden, um den Königlichen Widerstand leisten zu können, war nicht wohl anzunehmen. Hatten die Loyalisten aber einmal begonnen, Repressalien zu nehmen, so mußte man erwarten, daß sie hier keine Beschränkung keimen und unter Vornahme von Haussuchungen diese auf alle Flecken und Dörfer der durch den letzten Aufstand am meisten compromittirten Grafschaften ausdehnen würden. St. Charles vor Allem drohten gewiß die schärfsten und strengsten Polizeimaßregeln mit voraussichtlich sehr ernsten Folgen, und auch das Geheimniß des geschlossenen Hauses konnte damit recht leicht verrathen werden. Was wurde aber aus dem noch an sein Bett gefesselten Herrn de Vaudreuil, der im jetzigen Zustand unbedingt noch nicht über die Grenze zu schaffen war?

In welcher Angst verbrachten Bridget und Clary diesen Abend! Schon trafen einzelne Nachrichten von St. Denis ein, und diese waren sehr entmuthigender Art.

Der Oberst Gore hatte den Ort von seinen Vertheidigern verlassen gefunden. Gegenüber den Aussichten eines so ungleichen Kanipfes hatten diese es vorgezogen, zum Rückzuge zu blasen. Die Einwohner verließen ebenfalls ihre Häuser, retteten sich in die Wälder und überschritten auch den Richelieu, um in den benachbarten Kirchspielen Unterkunft zu suchen. Und was dann geschehen, als St. Denis den Ausschreitungen der Soldaten preisgegeben war, das konnte man sich, wenn die Flüchtlinge es auch nicht wußten, leicht genug vorstellen.

Mit Dunkelwerden setzten sich Bridget und Clary wieder an das Lager des Herrn de Vaudreuil. Wiederholt mußten sie ihm Auskunft geben, warum auf den[285] einige Tage hindurch so friedlichen Straßen von St. Charles jetzt ein auffälliges Getöse herrsche. Clary bemühte sich, für diese Erscheinung eine Ursache anzugeben, welche ihren Vater nicht beunruhigen konnte. Schweiften ihre Gedanken dann aber weiter hinaus, so fragte sie sich, ob die Sache der Unabhängigkeit nicht etwa den letzten Stoß erlitten habe, von dem sie nicht wieder aufstehen könne, ob Johann und seine Genossen nicht gezwungen gewesen wären bis zur Grenze zu flüchten, und ob nicht der und jener von denselben in die Gewalt der Königlichen gefallen wäre... Und er, Johann, hatte er dann entkommen können? Sollte er nicht versuchen, das geschlossene Haus zu erreichen?

Clary ahnte so etwas, und dann würde es freilich unmöglich werden, Herrn de Vaudreuil die neue Niederlage der Patrioten zu verheimlichen.

Vielleicht fürchtete Bridget dasselbe, und Beide saßen, von den gleichen Gedanken verfolgt und einander verstehend, ohne ein Wort zu wechseln, schweigend bei dem Kranken.

Gegen elfeinhalb Uhr erschallten drei kurze Schläge an der Thür des geschlossenen Hauses.

»Ach, er!« rief das junge Mädchen.

Bridget hatte das Zeichen erkannt; es mußte einer ihrer Söhne sein, der draußen war.

Anfänglich glaubte sie, Joann werde es sein, den sie seit länger als zwei Monaten nicht wieder gesehen hatte. Clary hatte sich indessen nicht getäuscht und wiederholte:

»Nein, er ist es... er... Johann!«

Als die Thür sich öffnete, zeigte sich wirklich Johann, und dieser schritt eiligst über die Schwelle.

[286]
5. Capitel
Fünftes Capitel.
Haussuchungen.

Kaum hatte die Thür sich geschlossen, als Johann, das Ohr an deren Füllung gelegt, nach außerhalb lauschte. Mit der Hand machte er dabei ein Zeichen, daß seine Mutter und Clary kein Wort sprechen und sich ganz ruhig verhalten möchten.

Und Bridget, welche schon ausrufen wollte: »Warum bist Du zurückgekommen, mein Sohn?« – Bridget schwieg.

Draußen hörte man auf der Straße hin und her gehen. Zwischen einem halben Dutzend von Männern wurden abgebrochene Sätze gewechselt und jene hatten gerade in der Nähe des geschlossenen Hauses Halt gemacht.

»Wohin ist er denn entwichen?

– Hier hat er sich doch nicht verstecken können!

– Er wird sich weiter oben in ein Haus geflüchtet haben.

– Gewiß ist nur das Eine, daß er uns entwischt ist.

– Und er hatte doch kaum hundert Schritte Vorsprung gegen uns.

– Den Teufel auch, Johann ohne Namen verfehlt zu haben!

– Und die sechstausend Piaster, die sein Kopf werth ist!«

Als Bridget die Stimme des Mannes vernahm, der diese letzten Worte ausgesprochen, durchrieselte es sie wie ein kalter Schauer. Es erschien ihr, als erkenne sie die Stimme, und könne sie sich nur nicht genau erinnern...

Johann dagegen hatte dieselbe erkannt und mit ihr den Mann, der ihn so hartnäckig verfolgte. Es war Rip, und wenn er das seiner Mutter nicht sagen wollte, so geschah es, um sie nicht an die schmerzliche Vergangenheit zu mahnen, die sich an diesen Namen knüpfte.

Inzwischen war es wieder still geworden. Die Polizisten hatten ihren Weg fortgesetzt, ohne zu vermuthen, daß Johann sich habe in das geschlossene Haus flüchten können.

Da wendete sich der junge Mann an seine Mutter und Clary, welche im Dunkel der Hausflur standen.

[287] In dem Augenblicke ließ sich auch, ehe Bridget noch eine Frage an ihren Sohn richtete, die Stimme des Herrn de Vaudreuil vernehmen.

Johann, Clary und Bridget mußten sich sofort nach dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil begeben, und tief erregt nahmen sie neben seinem Bette Platz.

»Ich habe die Kraft, Alles zu hören, sagte Herr de Vaudreuil, und ich will Alles wissen!

– Sie werden Alles erfahren!« antwortete Johann.

Er lieferte ihnen dann folgenden Bericht, den Clary und Bridget ohne ihn zu unterbrechen anhörten.

»In jener Nacht, wo ich das geschlossene Haus verließ, traf ich nach zwei Stunden in St. Denis ein. Dort fand ich noch einige Patrioten, die das letzte Unglück überlebt hatten, und Marchessault, Nelson, Cartier, Vincent Hodge, Farran und Clerc hatten sich diesen angeschlossen. Sie rüsteten sich zur Abwehr. Die Bevölkerung wünschte nichts mehr, als sie unterstützen zu können. Gestern aber hörten wir, daß Colborne von Sorel eine starke Abtheilung Reguläre und Freiwillige zur Plünderung und Niederbrennung der Flecken abgesendet habe. Diese Colonne traf im Laufe des Abends ein. Vergebens wollten wir ihr Widerstand entgegensetzen. Sie drangen in St. Denis, das die Bewohner verlassen mußten, ein. Mehr als fünfzig Häuser wurden durch die Flammen verzehrt. Dann sahen sich auch meine Kameraden genöthigt zu entfliehen, um nicht von den Henkern hingeschlachtet zu werden: sie wichen nach der Grenze hin aus, wo Papineau und Andere sie in Plattsburg, an der Rouse's-Spitze oder in Swanton erwarteten. Jetzt überschwemmen nun die Soldaten Whiterall's und Gore's die Grafschaften im Süden des St. Lorenzo, brennend und sengend, bringen Frauen und Kinder an den Bettelstab und ersparen ihnen auch nicht die schlimmsten Gewaltthätigkeiten, die abscheulichste Schmach, während man ihre Spuren an dem Scheine der Feuersbrünste verfolgen könnte!... Das... das ist inzwischen geschehen, Herr de Vaudreuil, und doch verzweifle ich noch nicht, doch will ich an unserer Sache nicht verzweifeln!«

Ein dumpfes, schmerzliches Schweigen folgte diesen Aussagen Johanns. Herr de Vaudreuil war in die Kissen zurückgesunken.

Bridget nahm das Wort, indem sie, den Blick fest auf ihren Sohn gerichtet, diesem die Frage stellte:

[288] »Warum bist Du hier? Warum nicht da, wo Deine Gefährten verweilen?

– Weil ich Ursache habe, zu fürchten, daß die Königlichen auch nach St. Charles kommen, hier Haussuchung vornehmen, und daß die Flammen verzehren werden, was bis jetzt noch übrig blieb von...

– Und kannst Du das abwenden, Johann?

– Nein, Mutter!

– Nun also, so wiederhole ich die Frage, warum bist Du hier?

[289] – Weil ich habe sehen wollen, ob es nicht thunlich wäre, daß Herr de Vaudreuil das geschlossene Haus, welches ebensowenig wie die anderen Wohnstätten verschont werden dürfte, nicht verlassen könnte.

– Das ist nicht möglich, erklärte Bridget.

– So bleibe auch ich hier und werde mich tödten lassen, während ich Alle vertheidige...

– Für das Vaterland dürfen Sie in den Tod gehen, nicht aber für uns! sagte Herr de Vaudreuil. Ihr Platz ist da, wo die Patrioten sind...


Die Einwohner hatten ihre Häuser verlassen. (S. 285.)

– Da, wo auch der Ihrige ist, Herr de Vaudreuil! entgegnete Johann. Hören Sie mich an. Sie können nicht in diesem Hause wohnen, wo Sie bald entdeckt werden müßten. Heute Abend, als ich etwa noch eine halbe Meile zurückzulegen hatte, bin ich von einer großen Abtheilung Polizeibeamter verfolgt worden. Es steht außer Zweifel, daß die Männer mich erkannt haben, da Sie ja auch dieselben haben meinen Namen aussprechen hören. Man wird den ganzen Ort durchsuchen, und selbst wenn ich nicht mehr hier wäre, wird das geschlossene Haus dennoch von oben bis unten durchsucht werden. Sie, Herr de Vaudreuil, werden die Beamten finden, Sie werden von denselben weggeschafft werden und auf Gnade dürfen Sie dann nicht hoffen!

– Was thut das, Johann, erwiderte Herr de Vaudreuil, was thut das, wenn Sie nur wieder zu Ihren Waffengefährten an der Grenze gelangt sind?

– Bitte, hören Sie mich ruhig an! fuhr Johann fort. Alles, was für unsere Sache irgend geschehen kann, werd' ich gewiß thun. Jetzt handelt es sich aber um Sie, Herr de Vaudreuil. Vielleicht ist es doch nicht unmöglich, daß Sie die Vereinigten Staaten erreichen. Schon außerhalb der Grafschaft St. Hyazinthe werden Sie in Sicherheit sein, und dann haben Sie nur noch wenige Meilen bis zum amerikanischen Gebiete. Zugegeben, daß Ihnen jetzt die Kräfte fehlen, sich dahin zu schleppen, selbst wenn ich Sie so gut wie möglich unterstütze. Doch in einem Wagen, ausgestreckt auf einem Strohlager, wie hier in Ihrem Bette – sollten Sie die kleine Reise auch so nicht aushalten? Nun wohl, meine Mutter mag einen solchen Wagen unter irgend einem Vorwande besorgen – vielleicht unter dem Vorgeben, nachdem so viele Andere entflohen, St. Charles ebenfalls verlassen zu wollen – mit einem Worte, sie mag es auf jeden Fall versuchen. Nächste Nacht verlassen wir dann, Ihre Tochter und Sie, meine Mutter und ich, diese Wohnung und wir können bequem außer [290] Schußweite sein, ehe die Mordgesellen Gore's aus St. Charles dasselbe wie aus St. Denis machen – einen traurigen Hausen von Ruinen!«

Der Vorschlag Johanns verdiente gewiß erwogen zu werden. Wenige Meilen südlich von der Grafschaft würde Herr de Vaudreuil die Sicherheit finden, welche ihm das geschlossene Haus nicht zu bieten vermochte, sobald die königlichen Truppen den Flecken besetzten und bei den Bewohnern Haussuchungen vornahmen. Es war nur zu gewiß, daß die Leute Rip's von Johanns Anwesenheit hier erfahren hatten. War er ihnen bisher entgangen, so mußten sie wohl annehmen, daß er sich in irgend einem Hause von St. Charles versteckt halte. Und sollten sie nicht Alles aufbieten, um ihn zu finden? Die Lage gestaltete sich demnach sehr bedrohlich. Auf jeden Fall erschien es unumgänglich, daß nicht allein Johann, sondern auch Herr de Vaudreuil und dessen Tochter das geschlossene Haus rechtzeitig verlassen hatten.

Die Flucht erschien nicht unausführbar, im Falle es Bridget gelang, einen Wagen zu erhalten, und Herr de Vaudreuil im Stande war, eine Fahrt von einigen Stunden zu ertragen. Selbst angenommen, daß er zu schwach wäre, bis zur Grenze zu kommen, so würde er doch in jeder Farm der Grafschaft St. Hyazinthe Aufnahme finden.

Kurz, die Nothwendigkeit, St. Charles zu verlassen, ergab sich daraus, daß die Polizei Nachsuchungen vornahm.

Johann hatte keine Mühe, Herrn de Vaudreuil und seine Tochter zu überzeugen. Auch Bridget billigte den Plan. Leider konnte man nicht daran denken, dieselbe Nacht aufzubrechen. Erst mit Tagesanbruch sollte Bridget ein Gefährt zu erlangen suchen, und im Laufe der nächsten Nacht der Vorschlag zur Ausführung kommen.

Der Tag brach an. Bridget hielt es für besser, ganz offen zu Werke zu gehen. Niemand würde es ja auffallend finden, daß sie sich entschlossen hätte, den Schauplatz des Aufstandes zu verlassen. Schon war eine große Anzahl Einwohner entflohen, und ein gleicher Entschluß ihrerseits konnte Niemand verwundern.

Zuerst war es ihre Absicht gewesen, Herrn de Vaudreuil, Clary und Johann nicht zu begleiten. Ihr Sohn gab ihr aber zu erwägen, daß, wenn sie ihre Abreise einmal angemeldet, ihre Nachbarn, sobald diese sie noch immer sähen, auf die Vermuthung kommen müßten, daß der entliehene Wagen nur einem im geschlossenen Hause versteckt gewesenen Patrioten gedient haben werde, [291] daß auch die Polizeibeamten das schließlich hören würden, und daß sie, im eigenen Interesse wie in dem des Herrn de Vaudreuil, keine Veranlassung geben dürfe, eine Untersuchung hierüber anzustellen.

Bridget mußte sich diesen drei schwerwiegenden Gründen fügen. Wenn die unruhige Zeit vorüber war, wollte sie dann nach St. Charles zurückkehren und hoffte ihr trauriges Leben im Innern des Hauses, das sie niemals hatte verlassen wollen, einst zu beendigen.

Nach endgiltiger Lösung dieser Fragen beschäftigte sich Bridget mit der Beschaffung eines Transportmittels. Wäre es auch nur ein leichter Planwagen, so mußte ein solcher hinreichen, bis zur Grafschaft Laprairie zu gelangen, welche die königlichen Truppen vorläufig noch nicht bedrohten. Am frühen Morgen machte sich dann Bridget schon auf. Sie war zur Miethung, oder vielmehr zur Beschaffung eines Wagens hinlänglich mit Geld versehen, welches Herr de Vaudreuil zu diesem Zwecke gegeben hatte.

Während ihrer Abwesenheit entfernten sich Johann und Clary nicht aus dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil. Dieser hatte seine ganze Energie wieder gewonnen.

Gegenüber der Anstrengung, die es ihm kosten mußte, die Fahrt auszuhalten, fühlte er, daß es ihm an physischer Kraft nicht fehlen werde. Schon hatte eine Art Reaction seinen Zustand merkbar verändert. Trotz noch andauernder großer Schwäche, war er bereit, sich zu erheben, bereit, vom Bette aus sich auf den Weg zu begeben, wenn der Augenblick kam, das geschlossene Haus zu verlassen. Er stand für sich ein – wenigstens für einige Stunden. Das Weitere blieb dann Gott anheimgestellt. Doch kümmerte er sich um nichts weiter, hatte er nur seine Kampfgenossen wiedergesehen, seine Tochter in Sicherheit bringen können, und wußte er nur, daß sich Johann inmitten der zu einer letzten Anstrengung entschlossenen französischen Canadier befand.

Ja, der Aufbruch drängte. Was wäre aus Fräulein de Vaudreuil im geschlossenen Hause geworden, wenn ihr Vater seinen Wunden erlag, wenn sie dann allein stand in der Welt und nur diese bejahrte Frau zur Stütze hatte? An der Grenze, in Swanton oder in Plattsburg, mußte er seine Waffenbrüder, seine vertrauten Freunde finden. Und unter diesen war besonders Einer, dessen Gefühle Herr de Vaudreuil billigte. Er wußte, daß Vincent Hodge seine Clary liebte, und Clary würde sich nicht weigern, die Gattin Desjenigen zu werden, der sein Leben gewagt hatte, sie zu retten. Welchem edelmüthigeren, welchem [292] aufrichtigeren Patrioten hätte sie wohl ihre Zukunft anvertrauen können? Er war ihrer ebenso würdig, wie sie seiner.

Mit Gottes Hilfe hoffte Herr de Vaudreuil die Kraft zu haben, sein Ziel zu erreichen. Er dachte nicht zu erliegen, ehe er nicht den Fuß auf amerikanische Erde gesetzt, wo die Ueberlebenden der Reformerpartei den Augenblick zur Wiederergreifung der Waffen erwarteten.

Das waren die Gedanken, welche Herrn de Vaudreuil lebhaft erregten, während Johann und Clary, an seinem Bette sitzend, nur wenige Worte wechselten.

Von Zeit zu Zeit erhob sich Johann und trat an das Fenster, welches nach der Straße hinauszu lag und dessen Läden geschlossen waren. Dort lauschte er, ob sich etwa ein Geräusch auf der Straße in der Nähe des Fleckens vernehmen ließe.

Nach zweistündiger Abwesenheit kehrte Bridget nach dem geschlossenen Hause zurück. Sie hatte sich, um einen Wagen und ein Pferd zu erhalten, an mehrere Leute wenden müssen. Wie verabredet, verhehlte sie dabei kaum ihre Absicht, St. Charles zu verlassen – worüber sich auch Niemand erstaunt zeigte. Der Besitzer einer benachbarten Farm, Luc Archambaut, hatte eingewilligt, ihr für guten Preis einen leichten Wagen zu überlassen, der bespannt und zum Abfahren fertig, gegen neun Uhr Abends nach dem geschlossenen Hause gebracht werden sollte.

Herr de Vaudreuil empfand eine wirkliche Erleichterung, als er hörte, daß Bridget Erfolg gehabt hatte.

»Um neun Uhr fahren wir ab, sagte er, und ich stehe auf, um selbst Platz zu nehmen...

– O nein, Herr de Vaudreuil! unterbrach ihn Johann. Sie dürfen sich nicht unnütz anstrengen. Ich werde Sie nach dem Wagen tragen, in dem wir ein weiches Strohlager zurecht machen und eine Decke aus Ihrem Bette darüber breiten. Dann fahren wir nur langsam, um alle Stöße zu vermeiden, und so werden Sie hoffentlich die Reise aushalten. Da die Luft jedoch ziemlich kalt ist, werden Sie die Vorsicht beachten, sich gut zuzudecken. Was die Besorgniß angeht, daß wir auf der Straße ein unangenehmes Zusammentreffen haben könnten... Du hast nichts Neues gehört, Mutter?

– Nein, antwortete Bridget, doch erwartet man jeden Tag eine zweite Heimsuchung durch die Königlichen.

[293] – Und die Polizisten, die mich bis St. Charles verfolgten?...

– Von denen hab' ich keinen gesehen, und wahrscheinlich folgen sie längst einer falschen Fährte.

– Sie können aber zurückkehren, meinte Clary.

– Gewiß, und darum müssen wir wegfahren, sobald der Wagen vor der Thür steht, fiel Herr de Vaudreuil ein.

– Um neun Uhr, sagte Bridget.

– Bist Du des Mannes, der ihn Dir verkauft, auch sicher, Mutter?

– Ja, es ist ein ehrbarer Farmer, und was er zu thun versprochen, das wird er auch halten!«

Inzwischen wollte Herr de Vaudreuil sich ein wenig stärken. Mit Hilfe Clarys hatte Bridget sehr bald das einfache Frühstück hergerichtet, welches gemeinsam verzehrt wurde.

Die Stunden verliefen ohne Zwischenfall. Keine Störung von außen.

Von Zeit zu Zeit öffnete Bridget ein wenig die Thür und warf einen schnellen Blick nach rechts und links. Jetzt herrschte eine lebhafte Kälte. Der gleichmäßig graue Himmel ließ auf vollkommene Ruhe der Atmosphäre schließen. Wäre freilich ein Südwestwind aufgesprungen und hätten sich die Dünste der Luft in Schneeform niedergeschlagen, so wäre die Fortschaffung des Herrn de Vaudreuil sehr erschwert worden – wenigstens bis zur Grenze der Grafschaft.

Trotzdem gestalteten sich alle Aussichten so, daß die Fahrt in erträglichen Verhältnissen zu verlaufen versprach, als gegen drei Uhr Nachmittags in St. Charles ein unerwarteter Zwischenfall eintrat. Von ferne her hörte man in der Richtung auf den Flecken zu scharfe Trompetentöne schallen.

Johann öffnete die Thür und horchte... Er konnte eine Bewegung, welche seinen Unmuth verrieth, nicht unterdrücken.

»Trompeten! rief er. Ohne Zweifel, ein Trupp Soldaten, der sich auf St. Charles zu bewegt?

– Was sollen wir thun? fragte Clary.

– Warten, antwortete Bridget. Vielleicht ziehen jene Soldaten nur durch den Flecken.«

Johann schüttelte den Kopf.

Da Herr de Vaudreuil unmöglich am lichten Tage fortgeschafft werden konnte, mußte man wohl warten, wie Bridget gesagt, wenn sich Johann nicht etwa entschlösse, doch allein zu entfliehen...

[294] Wenn er das geschlossene Haus augenblicklich verließ und einen Weg durch die neben der Straße sich hinziehenden Wälder einschlug, konnte es ihm wohl gelingen, in Sicherheit zu kommen, ehe die Königlichen St. Charles besetzt hatten. Damit hätte er aber Herrn und Fräulein de Vaudreuil gerade zur Zeit der schlimmsten Gefahr im Stiche gelassen, und daran dachte Johann ganz und gar nicht. Doch wie konnte er sie vertheidigen, wenn ihr Versteck aufgefunden wurde?

Uebrigens sollte die Besetzung der Ortschaft sehr schnell vor sich gehen. Es war eine Truppenabtheilung Whiterall's mit dem Befehl, die Patrioten der Grafschaft zu verfolgen, welche längs des Richelieu hingezogen war und noch einmal ein Lager bei St. Charles beziehen sollte.

Im geschlossenen Hause hörte man schon den Klang der Trompeten, der näher herankam.

Endlich schwieg derselbe. Die Truppen waren am Ende der Ortschaft angelangt.

Da sagte Bridget:

»Noch ist nicht Alles verloren. Die Straße auf der Seite nach Laprairie ist noch offen und kann das vielleicht auch noch sein, wenn die Nacht kommt. Wir dürfen unsere Pläne nicht ändern. Mein Haus gehört nicht zu denjenigen, welches die Plünderer besonders anlocken wird. Es liegt vereinzelt und ihm bleibt vielleicht deren Heimsuchung erspart!«

Man konnte das wohl hoffen.

Es fehlte ja nicht an anderen Wohnungen, wo den Soldaten Sir John Colborne's offenbar eine reichere Beute winkte. Jetzt in den ersten Tagen des December mußte es auch bald Nacht werden, und damit bot sich vielleicht die Möglichkeit, doch noch, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das Weite suchen zu können.

Die Vorbereitungen zur Abfahrt wurden also nicht unterbrochen. Galt es doch, sofort fertig zu sein, wenn der Wagen vor der Thür halten würde. War dann die Straße nur eine Stunde lang und auf die Strecke von drei Meilen frei, so gedachten die Flüchtlinge, im Falle der Zustand des Herrn de Vaudreuil das erforderte, in einer der Farmen der Grafschaft Unterkunft zu suchen.


Die Truppenabtheilung Whiterall's, das Lager bei St. Charles beziehend. (S. 295.)

Die Nacht kam ohne weitere Störung. Einige Abtheilungen Freiwilliger, die bis zum unteren Theil der Straße hinabgegangen waren, kehrten jetzt zurück. Das geschlossene Haus schien ihre Blicke nicht auf sich zu lenken. Die Hauptmacht [295] der Colonne hatte sich in der Umgebung des Lagers von St. Charles festgesetzt. Dort herrschte ein wahrhaft betäubender Lärm, welcher für die Sicherheit der Bewohner nicht eben Gutes ahnen ließ.

Gegen sechs Uhr wünschte Bridget, daß Clary und Johann ein kleines Mahl verzehrten, das sie bereitet hatte. Herr de Vaudreuil aß kaum einen Bissen. Aufs äußerste erregt durch die Gefahr der Lage und durch die Nothwendigkeit, ihr Stand zu halten, erwartete er ungeduldig den Augenblick, sich auf den Weg zu machen.

[296] Kurz vor sieben Uhr klopfte es leise an die Hausthür.

War das der Farmer, der den Wagen noch vor der verabredeten Zeit herbrachte? Jedenfalls war es keine Feindeshand, die mit solcher Vorsicht anklopfte.

Johann und Clary zogen sich in das Zimmer des Herrn de Vaudreuil, dessen Thür sie halb angelehnt ließen, zurück.

Bridget schritt durch die Hausflur und öffnete, nachdem sie die Stimme Luc Archambaut's erkannt hatte.

[297] Der ehrsame Farmer kam, um Frau Bridget mitzutheilen, daß es ihm unmöglich sei, sein Versprechen einzulösen, und brachte das Geld für den Wagen wie der, den er nicht liefern konnte.

Seine Farm war nämlich ebenso wie die benachbarten Farmen von Soldaten besetzt worden.


Durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie. (S. 299.)

Der Flecken selbst war eingeschlossen, und selbst wenn der Wagen Frau Bridget zur Verfügung gestanden hätte, würde sie davon haben keinen Gebrauch machen können.

Man mußte wohl oder übel warten, bis St. Charles endgiltig geräumt war.

Johann und Clary hörten von dem Zimmer aus, in dem sie regungslos stillstanden, was Luc Archambaut sagte; Herr de Vaudreuil natürlich ebenfalls.

Der Farmer setzte noch hinzu, daß Frau Bridget für das geschlossene Haus nichts zu fürchten habe, und daß die Rothröcke nur nach St. Charles zurückgekehrt seien, um die Polizei bei den vorzunehmenden Nachforschungen in allen Grundstücken des Ortes zu unterstützen... Und weshalb?... Weil das Gerücht ging, Johann ohne Namen habe sich hier im Flecken verborgen, wo nun alle Mittel daran gesetzt werden sollten, ihn zu entdecken.

Als der Farmer den Namen ihres Sohnes aussprach, unterdrückte Bridget jede Bewegung, die sie hätte verrathen können.

Luc Archambaut zog sich dann zurück, und Bridget sagte, als sie das Zimmer betrat:

»Entfliehe, Johann! Flieh' auf der Stelle!

– Es muß sein, rief Herr de Vaudreuil.

– Fliehen ohne Sie? erwiderte Johann.

– Sie haben nicht das Recht, sich für uns zu opfern, erklärte Clary. Das Vaterland geht vor...

– Und ich gehe doch nicht von hier! sagte Johann. Ich werde Sie nicht den Gewaltthätigkeiten und Rohheiten dieser Schurken ausgesetzt lassen!...

– Und was könnten Sie thun, Johann?

– Das weiß ich nicht, aber ich weiche nicht von hier!«

Der Entschluß Johanns schien so unerschütterlich, daß Herr de Vaudreuil ihn gar nicht weiter zu bekämpfen sachte.

Es wird sich übrigens zeigen, daß eine Flucht unter den jetzigen Umständen auch nur wenig Aussicht auf Gelingen gehabt hätte. Der ganze Flecken war ja nach der Aussage Luc Archambaut's eingeschlossen, die Landstraße von [298] Soldaten überwacht, und durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie.

Da Alle auf Johann aufmerksam gemacht waren, hätte dieser ihnen wohl kaum entgehen können, und so erschien es vielleicht rathsamer für ihn, im geschlossenen Hause zu bleiben.

Diese Erwägungen waren es jedoch keineswegs, welche seinen Entschluß bestimmt hatten, doch war's ihm unmöglich, seine Mutter, sowie Herrn und Fräulein de Vaudreuil zu verlassen.

Hatte man sich hierüber geeinigt, so entstand die Frage, ob die drei Zimmer des geschlossenen Hauses oder der darüber gelegene Boden wohl ein verläßlicheres Versteck enthalte, in dem sich die zwei meist gefährdeten Bewohner den Nachforschungen der Beamten zu entziehen hoffen durften.

Johann hatte nicht Zeit genug, sich hiervon zu unterrichten.

Fast gleichzeitig erzitterte die Thür unter gewaltsamen Schlägen.

Der kleine Vorhof war schon von einem Dutzend Polizisten besetzt.

»Aufmachen! rief man von außen, während die Schläge sich verdoppelten. Aufmachen, oder wir sprengen die Thür...«

Johann und Clary schlossen eiligst das Zimmer des Herrn de Vaudreuil und begaben sich in dasjenige Bridgets, von wo aus sie Alles besser hören konnten.

In dem Augenblicke, wo Bridget durch die Hausflur nach vorn ging flog die Thür des geschlossenen Hauses in Stücke.

Ein heller Schein, von den Fackeln, welche die Polizisten trugen, herrührend, drang in den schmalen Gang.

»Was wollen Sie hier? fragte Bridget einen der Männer.

– Ihr Haus durchsuchen, antwortete dieser. Hat sich Johann ohne Namen hierher geflüchtet, so verhaften wir erst diesen und dann setzen wir Ihnen den rothen Hahn aufs Dach!

– Johann ohne Namen ist nicht hier, erklärte Bridget ruhigen Tones, und ich weiß auch nicht...« Plötzlich drängte sich der Führer des Polizeitrupps schnell nach der alten Frau vor.

Es war Rip – dessen Stimme ihr schon auffiel, als Johann eben ins geschlossene Haus getreten – Rip, der ihren Gatten einst zu jenem abscheulichen Verbrechen zu verleiten gewußt hatte.

Bridget erkannte ihn höchst bestürzt.

[299] »Ah, sieh' da! rief Rip erstaunt, das ist ja Frau Bridget... Das ist die Gattin jenes braven Simon Morgaz!«

Als er den Namen seines Vaters nennen hörte, wich Johann bis tief ms Zimmer zurück.

Bridget, welche diese entsetzliche Erinnerung wie ein Donnerschlag traf, fand nicht die Kraft zu einer Antwort.

»Wahrhaftig!... Frau Morgaz!... wiederholte Rip. In der That, ich hätte geglaubt, daß Sie nicht mehr unter den Lebenden wandelten!... Wer hätte auch erwartet, Sie hier und nach vollen zwölf Jahren wiederzusehen!«

Bridget schwieg noch immer.

»Vorwärts, Ihr Leute, fügte Rip, sich an seine Leute wendend, hinzu, hier haben wir nichts zu thun! – Wackre Frau, die Bridget Morgaz!... Sie wird keinen Rebellen verbergen!... Kommt, wir wollen unsere Nachsuchungen an anderer Stelle fortsetzen! Da Johann ohne Namen in St. Charles ist, müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn nicht fänden!«

Rip, dem seine Beamten folgten, war bald nach der Straße hinauf verschwunden.

Das Geheimniß Bridgets und ihres Sohnes war aber jetzt enthüllt. Hatte auch Herr de Vaudreuil nichts hören können, so konnte Clary doch kein Wort entgangen sein.

Johann ohne Namen war der Sohn von Simon Morgaz!

In einer ersten Erregung des Entsetzens eilte Clary, aus dem Zimmer Bridgets entfliehend, nach dem ihres Vaters.

Johann und Bridget waren allein.

Nun wußte Clary Alles – Alles!

Bei dem Gedanken, sich ihr und Herrn de Vaudreuil gegenüber zu befinden, dem Freunde jener Patrioten, denen der Verrath Simon Morgaz' den Kopf gekostet hatte, fürchtete Johann den Verstand zu verlieren.

»Mutter, liebste Mutter! rief er; keinen Augenblick bleib' ich mehr hier!... Herr und Fräulein de Vaudreuil bedürfen meiner nicht mehr, um sie zu vertheidigen!... Sie werden – im Hause eines Morgaz in Sicherheit sein!... Leb' wohl!...

– Mein Sohn!... Mein Sohn!... murmelte Bridget... Ach, Du Unglücklicher! Glaubst Du, ich hätte Dich nicht durchschaut?... Du, der Sohn von... Du liebst Clary de Vaudreuil!

[300] – Ja, Mutter, was soll ich es leugnen, doch eher würd' ich sterben, eh' ich ihr eine Silbe davon sagte!«

Und Johann stürmte aus dem geschlossenen Hause fort.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Meister Nick in Walhatta.

Nach dem Vorfall in Chipogan und dem Mißerfolg der Polizisten und Freiwilligen waren Thomas Harcher und seine Söhne, welche sich nach außerhalb des canadischen Gebietes hatten flüchten müssen, zurückgekehrt, um an dem Kampfe von St. Charles theilzunehmen. In Folge dieser traurigen Niederlage aber, welche Remy das Leben gekostet, hatten Thomas, Pierre, Michel, Tomy und Jacques sich den Reformern in St. Albans an der amerikanischen Grenze angeschlossen.

Was den Meister Nick angeht, weiß der Leser, daß dieser sich wohl gehütet hatte, in Montreal wieder zu erscheinen, da er sein Auftreten in Chipogan nur schwer hätte erklären können. Trotz der Achtung, die er überall genoß, würde Gilbert Argall doch nicht gezögert haben, ihn wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu verfolgen. Dann hätten sich die Pforten des Gefängnisses von Montreal sicherlich hinter ihm geschlossen, und in Gesellschaft mit ihm hätte Lionel hinreichend Muße gefunden, sich seinen poetischen Eingebungen intra muros zu widmen.

Meister Nick hatte also das einzige Theil erwählt, welches die Umstände ihm aufnöthigten: den Mahogannis nach Walhatta zu folgen und unter dem Dache seiner Ahnen zu warten, bis eine Beruhigung der Gemüther ihm gestattete, seine Rolle als Häuptling eines Indianerstammes aufzugeben und bescheiden in seine Expedition wieder einzuziehen.

Lionel freilich begriff das nicht. Der junge Dichter rechnete sicher darauf, daß der Notar für immer sein amtliches Schild am Markte Bon Secours abreißen und den berühmten Namen der Sagamores bei den Huronen verewigen würde.

[301] Zwei Meilen von der Farm zu Chipogan, im Dorfe Walhatta, hatte sich Meister Nick seit einigen Wochen häuslich eingerichtet. Hier begann ein ganz neues Leben für den Gerichtsschreiber. Wenn Lionel begeistert war von dem Empfang, den die Männer, Greise, Weiber und Kinder seinem Patron zu Theil werden ließen – so ist es nicht genug, das auszusprechen, man mußte es vielmehr selbst sehen.

Das Flintenknattern, das ihn begrüßte, die Ehrenbezeigungen, die man ihm darbrachte, die Freudenrufe, die für ihn ertönten, die feierlichen Reden, die an ihn gerichtet wurden, die Antworten, welche er in der bilderreichen Sprache der Phraseologie des Fernen-Westen ertheilen mußte – alles das war gewiß dazu angethan, der menschlichen Eitelkeit zu schmeicheln. Jedenfalls betrachtete der vortreffliche Mann mit bitterer Empfindung die verzwickte Geschichte, in wel che er gegen seinen Willen verwickelt worden war; und wenn auch Lionel dem Dunste der Schreibstube und den staubigen Acten die freie Luft der Prairie beiweitem vorzog, wenn die Redekunst der Mahoganni-Krieger ihm dem Jargon der Rechtsbeflissenen hoch überlegen schien, so theilte Meister Nick diese Anschauungen doch nicht im mindesten.

Das veranlaßte auch zwischen ihm und seinem Schreiber manche Auseinandersetzungen, welche damit endeten, daß Beide auf recht gespanntem Fuße zu einander standen.

Obendrein fürchtete Meister Nick, daß er noch gar nicht am Ende dieser Prüfungen sei. Er sah schon die Huronen sich rüsten, um für die Patrioten mit in den Kampf einzutreten, ohne daß er die Möglichkeit erkannte, sich ihnen zu widersetzen, wenn diese aufbrechen wollten, wenn Johann ohne Namen sie zu Hilfe riefe oder wenn Thomas Harcher und seine Söhne in Walhatta seine Vermittelung in Anspruch nähmen. Schon jetzt schwer compromittirt, wie würde er das erst sein, wenn er an der Spitze einer wilden Völkerschaft gegen die anglo-canadische Regierung ins Feld zog! Wie konnte er dann jemals hoffen, in Montreal seine Thätigkeit als Notar wieder aufnehmen zu dürfen!

Und doch sagte er sich, daß die Zeit am Ende ja Alles ausgleicht. Schon waren mehrere Wochen seit dem Handgemenge zu Chipogan verstrichen, und da sich dieses zu einem einfachen Act des Widerstandes gegen die Polizei reducirte, so ließ man die ganze Sache wahrscheinlich in Vergessenheit gerathen. Uebrigens war die eigentliche aufständische Bewegung noch gar nicht zum Ausbruch gekommen, und nichts wies darauf hin, daß dieser besonders nahe bevorstehe.

[302] Herrschte in Canada fernerhin die gewünschte Ruhe, so würden sich die Behörden jedenfalls tolerant zeigen, und Meister Nick konnte dann ohne Gefahr nach Montreal heimkehren.

Lionel dagegen rechnete stark darauf, daß diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen werde. Er... er wollte seine Beschäftigung in der Expedition nicht wieder aufnehmen und je sechs Stunden von zehn trockene Urkunden abschreiben!... Nein, lieber wollte er Waldläufer oder Bienenjäger werden! Er sollte seinem Brodherrn gestatten, die hohe Stellung, welche jener bei den Mahogannis einnahm, wieder aufzugeben?... Niemals! Für ihn gab es überhaupt keinen Meister Nick mehr; es war nur noch der legitime Abkomme der uralten Rasse der Sagamores! Auch die Huronen würden ihn voraussichtlich nicht wieder die Streitaxt des Krieges mit der Feder des Amtsschreibers vertauschen lassen!

Seit seinem Eintreffen in Walhatta hatte Meister Nick in dem Wigwam wohnen müssen, von dem aus sein Vorgänger dahin gegangen war, um seine Ahnen in den seligen Jagdgründen aufzusuchen. Lionel hätte alle Gebäude Montreals, Hôtels und Paläste für diese ungemüthliche Hütte hingegeben, nach der sich freilich junge Männer und junge Frauen drängten, seinen Herrn und Meister zu bedienen. Auch er erhielt einen guten Theil ihrer Ehrenbezeigungen. Die Mahogannis betrachteten ihn ja als die rechte Hand ihres großen Häuptlings. Und wenn dieser nicht umhin konnte, am Berathungsfeuer das Wort zu ergreifen, konnte Lionel sich nicht enthalten, die Reden Nicolas Sagamore's mit den ausdrucksvollsten Gesten zu begleiten.

Es ergibt sich hieraus, daß der junge Schreiber der Glücklichste unter den Sterblichen gewesen wäre, wenn sein Herr und Meister sich nicht hartnäckig geweigert hätte, seinen liebsten Wunsch zu erfüllen. Meister Nick hatte nämlich die Tracht der Mahogannis noch immer nicht angelegt. Lionel wünschte aber nichts sehnlicher, als ihn endlich einmal in Huronenkleidung zu sehen, mit Mocassins an den Füßen, hochaufstrebenden Federn auf dem Kopfe und mit dem gestreiften Mantel um die Schultern. Immer und immer wieder hatte er ihn dazu zu bewegen versucht – stets vergeblich; doch ließ er sich durch die schlechte Aufnahme, welche sein Vorschlag fand, keineswegs abschrecken.

»Er wird schon nachgeben! wiederholte er sich. Ich lasse ihn einmal nicht in der Kleidung eines Notars die Herrschaft führen! Ich bitte einen Menschen, wonach sieht er denn aus in seinem langen Ueberrock, der Sammetweste und der weißen Halsbinde? Noch hat er den alten Adam nicht ausgezogen, doch


»Das ist die Gattin jenes braven Simon Morgaz«. (S. 300.)

[303]

das wird schon kommen! Wenn er in der Versammlung der Vornehmsten seines Standes den Mund aufthut, fürchte ich immer ihn sagen zu hören: »In Anwesenheit des Meister Nick und seines Amtsbruders...!« Das kann nicht so fortgehen! Ich bestehe darauf, daß er die Tracht der eingebornen Krieger anlegt, und wenn es einer Gelegenheit bedarf, ihn dazu zu bestimmen, so werd' ich eine solche schon herbeizuführen wissen!«

Zu diesem Zwecke kam Lionel denn auch auf einen höchst einfachen Gedanken. Aus seinen gelegentlichen Gesprächen mit den ersten Männern in Walhatta [304] [307]erkannte er, daß diese ihren Häuptling nur mit großem Leidwesen noch nach europäischer Art gekleidet sahen. Auf die Einflüsterungen des jungen Schreibers hin beschlossen die Mahogannis also, eine feierliche Throneinsetzung ihres Häuptlings vorzunehmen, und entwarfen deshalb das Programm zu dieser Festlichkeit, an der auch die benachbarten Stämme theilnehmen sollten. Dazu war ein Feuerwerk, Tänze und Festmahl vorgesehen, wobei doch Meister Nick unmöglich den Vorsitz führen konnte, ohne in der Nationaltracht zu erscheinen.

Dieser Beschluß war in der zweiten Hälfte des Monats November endgiltig gefaßt worden, wobei man die Festlichkeit selbst für den 23. desselben Monats bestimmte, so daß alle Vorbereitungen beschleunigt werden mußten, um dieser den möglichsten Glanz zu verleihen.


Meister Nick in Walhatta.

Hätte Meister Nick sich am bezeichneten Tage nur darauf zu beschränken gehabt, daß er die Huldigung seines Volkes entgegennahm, so hätte man ihm wohl die ganze Sache verheimlichen und ihn zuletzt damit überraschen können. Da er aber in der Stellung und Kleidung eines Huronenhäuptlings dabei eine thätige Rolle zu spielen hatte, wurde der junge Schreiber beauftragt, ihn von dem Plane zu unterrichten.

Aus diesem Grunde nun hatte Lionel am 22. November mit ihm ein Zwiegespräch, in dem die schwebende Frage zum größten Mißvergnügen Meister Nick's ausführlich behandelt wurde.

Zuerst, als dieser vernahm, daß der Stamm ihm zu Ehren eine Festlichkeit vorhatte, begann er damit, diesen gleich mit seinem Schreiber zum Teufel zu wünschen.

»Möge Nicolas Sagamore geruhen, dem Rathe eines Bleichgesichtes zu folgen, antwortete Lionel.

– Von welchem Bleichgesicht sprichst Du? fragte Meister Nick, der ihn nicht verstand.

– Von Ihrem ergebenen Diener, großer Häuptling.

– Nun, dann nimm Dich in Acht, daß ich aus Deinem bleichen Gesichte nicht mit einer gepfefferten Ohrfeige ein rothes mache!«

Lionel hielt es nicht für nothwendig, dieser Drohung die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, und fuhr unbeirrt fort:

»Möge Nicolas Sagamore niemals vergessen, daß ich ihm stets tief ergeben bin! Fiele er je in die Gefangenschaft der Sioux, der Oneidas, der Irokesen oder anderer Wilder, wäre er schon an den Marterpfahl gefesselt, so würde ich [307] es sein, der ihn gegen jede Gewaltthat, gegen die Klauen der alten Weiber schützte, und nach seinem Tode würde ich es sein, der seine Axt und seine Friedenspfeife in sein Grab niederlegte.«

Meister Nick wollte Lionel nach Belieben schwatzen lassen, da er sich schon vorgenommen hatte, das Gespräch auf eine Art zu beendigen, von der Lionels Ohren noch lange Zeit die Spuren zeigen sollten.

So begnügte er sich denn zu antworten:

»Es handelt sich also darum, mich den Wünschen der Mahogannis geneigt zu machen?

– Ja, den Wünschen des Stammes.

– Nun gut, es sei darum. Wenn es nicht anders geht, werd' ich dem Feste beiwohnen.

– Sie hätten es gar nicht abschlagen können, da ja das Blut der Sagamores in Ihren Adern fließt.

– Das Blut der Sagamores gemischt mit dem Blute eines Notars!« knurrte Meister Nick.

Darauf berührte Lionel den kitzlichsten Punkt der Sache.

»Einverstanden, sagte er, der große Häuptling wird der Feierlichkeit beiwohnen. Doch um sich dort in seinem Range entsprechender Erscheinung zu zeigen, wird es nöthig sein, daß er sich auf dem Schädeldache ein Büschel Haare nach oben hin in eine Spitze auslaufend ordnen läßt.

– Und warum?

– Aus Rücksicht auf die Ueberlieferungen...

– Was?... Die Ueberlieferungen verlangten, daß...

– Ja; und wenn der Chef der Mahogannis jemals auf dem Kriegspfade fiele, so muß ihn doch, als Zeichen des Sieges, ein Feind regelrecht skalpiren können.

– Richtig! antwortete Meister Nick. Es ist nothwendig, daß meine Feinde mich skalpiren können... Da faßt er dann wohl an jenem Haarschopf an?...

– Das ist Indianersitte, und kein Krieger würde von derselben abgehen. Jede andere Haartracht müßte die Kleidung beleidigen, welche Nicolas Sagamore am Tage der Feierlichkeit anlegen wird.

– Ach, ich werde mich schmücken mit...

– Die Leute arbeiten augenblicklich an diesem Feierkleide. Es wird prächtig ausfallen, das Wams aus Damhirschfell, die Mocassins aus Naturleder, der[308] Mantel, den der Vorgänger Nicolas Sagamore's trug, ohne die Bemalung des Gesichts zu rechnen...

– Das Gesicht wird dazu auch noch bemalt?

– Erst nachdem die berühmten Künstler des Stammes die Tätowirung der Arme und der Brust vollendet haben...

– Fahre nur fort, Lionel, antwortete Meister Nick mit zusammengepreßten Zähnen, Du rufst mein lebhaftestes Interesse wach. Die Gesichtsmalerei, der Haarschopf, die Mocassins aus Naturleder, die Tätowirung der Brust... Du hast doch nichts vergessen?

– Nichts, versicherte der junge Schreiber, und wenn der große Häuptling sich dann in der Tracht, die seine Vorzüge nur noch mehr hervorheben wird, den versammelten Kriegern zeigt, so zweifle ich keinen Augenblick, daß die schönsten Indianerinnen sich darum streiten werden, seinen Wigwam mit ihm theilen zu dürfen...

– Wie? Die Indianerinnen sollten kämpfen um die Gunst?...

– Und um die Ehre, dem Erwählten des großen Geistes eine lange Nachkommenschaft zu sichern!

– Da wird es also rathsam, daß ich eine Huronin heirate? fragte Meister Nick.

– Ja, könnte es um der Zukunft der Mahagannis willen denn anders sein? Sie haben übrigens schon eine Sqwaw von edler Geburt ausgewählt, die sich dem Glücke des großen Häuptlings weihen wird...

– Und kannst Du mir auch sagen, wer die rothhäutige Prinzessin sein wird, die sich zu opfern bereit wäre?...

– O, gewiß! antwortete Lionel, sie ist der Ahnenreihe der Sagamore ganz würdig!

– Und wer ist sie?

– Die Witwe des Vorgängers...«

Es war ein Glück für die Wangen des jungen Schreibers, daß er diese in respectvoller Entfernung von Meister Nick hielt, denn dieser holte zu einer wirklich preiswerthen Ohrfeige aus. Diese gelangte nur nicht an ihre Adresse, da Lionel die Entfernung weislich berechnet hatte, und sein Herr mußte sich wohl oder übel begnügen, ihn anzudonnern:

»Höre wohl auf, Lionel, wenn Du jemals auf diese Geschichte zurückkommst, zerre ich Dir die Ohren so lang, daß Du Methusalems Esel, sowie den David La Gamme's um die seinigen nicht mehr zu beneiden brauchst!«

[309] Nach diesem Vergleiche, der im letzten Theile Lionel an einen alten Helden von Cooper's »Letzten der Mohikaner« erinnerte, zog sich dieser, da er seine Mittheilungen beendet hatte, wohlweislich zurück. Meister Nick hingegen war nicht weniger wüthend auf seinen Schreiber, wie auf alle Vornehmen des Stammes. Er... er sollte zu jener Ceremonie ganz die Mahogannitracht anlegen! Er sollte gezwungen werden, sich das Haar anders ordnen, sich aufputzen, ausmalen und tätowiren zu lassen, wie es seine Vorfahren gethan und gelitten hatten!

Und doch sah der höchst ärgerliche Meister Nick keinen Ausweg, sich den begleitenden Anforderungen seiner dermaligen Stellung zu entziehen. Und je mehr der große Tag herannahte, desto mehr quälte ihn die Frage, ob er es wagen sollte und könnte, den Blicken seiner Krieger in diesem Notaranzuge, vielleicht die friedlichste Tracht aller jener, welche die Tradition den Männern des Gesetzes je aufgezwungen, gegenüberzutreten.

Inzwischen traten – zum Glück für den Erben der Sagamores – sehr ernsthafte Ereignisse ein, welche die Pläne der Mahogannis in weitere Ferne zu rücken versprachen.

Am 23. gelangte eine wichtige Nachricht nach Walhatta. Die Patrioten von St. Denis hatten – wie im Vorhergehenden geschildert – die von dem Obersten Gore befehligten Truppen zurückgeschlagen.

Diese Neuigkeit erregte unter den Huronen laute Ausbrüche der Freude. Wir sahen schon, damals bei der Farm von Chipogan, daß ihre Sympatien der Sache der Unabhängigkeit zugewendet waren, und es bedurfte gewiß nur der passenden Gelegenheit, um sie zum Anschluß an die französischen Canadier zu bewegen.

Dieser Sieg freilich war es nicht – das wußte Meister Nick nur zu gut – der die Krieger seines Stammes veranlassen konnte, die Vorbereitungen zu dem ihm zu Ehren geplanten Feste aufzugeben. Im Gegentheile würden sie dasselbe nur mit noch mehr Begeisterung feiern und ihr Häuptling konnte dann einer Art Krönung unmöglich aus dem Wege gehen.

Drei Tage später folgten diesen guten Neuigkeiten aber die schlechten. Nach dem Siege von St. Denis die Niederlage von St. Charles.

Und als sie von den blutigen Repressalien hörten, zu denen sich die Loyalisten hatten hinreißen lassen, welche Ueberschreitungen diese begangen, wie sie geplündert, Brand gelegt, gemordet und zwei Ortschaften zerstört hatten, da konnten die Mahogannis ihre Wuth kaum noch zurückhalten. Von hier aus aber [310] bis zu einer Massenerhebung, um den Patrioten zu Hilfe zu eilen, das war dann nur noch ein Schritt, und Meister Nick konnte fürchten, daß sie auch diesen unverzüglich thun würden.

Das legte dem Notar, der gegenüber den Behörden in Montreal schon etwas compromittirt war, die Frage nahe, ob er sich damit nicht das eigene Grab graben würde. Wenn er sich nun gar gezwungen sah, an die Spitze seiner Krieger zu treten und gemeinschaftliche Sache mit den Aufständischen zu machen? Jedenfalls konnte unter solchen Verhältnissen wenigstens von der großen Festlichkeit nicht mehr die Rede sein. Doch welchen Empfang bereitete er Lionel, als der junge Schreiber mit der Meldung kam, die Stunde habe geschlagen, um den Tomahawk auszugraben und ihn auf dem Kriegspfade zu schwingen!

Von diesem Tage an ließ es sich Meister Nick die vornehmste Sorge sein, jene kriegerischen Gelüste herabzustimmen. Wenn die Streitlustigsten kamen, um ihm zuzusetzen, daß er sich gegen die Unterdrücker erklären sollte, gab er sich die größte Mühe, weder ja noch nein zu sagen. Es empfehle sich, antwortete er etwa, nur nach reifster Ueberlegung zu handeln und erst abzuwarten, welche Folgen die Niederlage bei St. Charles haben werde... Vielleicht waren die Grafschaften jetzt schon von den Königlichen besetzt?... Und dann wußte man auch nicht, was die augenblicklich in alle Winde zerstreuten Reformer schon etwa planten, nach welchem Orte sie sich zurückgezogen und wo man zu ihnen stoßen könne. Sollten sie nicht gar ihre Pläne für jetzt aufgegeben haben, um zur Wiederaufnahme derselben eine günstigere Gelegenheit abzuwarten? Die Hauptführer befanden sich auch vielleicht in der Gewalt der Bureaukraten und wurden in den Gefängnissen von Montreal zurückgehalten?

Das waren doch recht vernünftige Gegengründe, welche Meister Nick seinen ungeduldigen Prätorianern vorführte. Diese nahmen dieselben freilich nicht so ohne Widerspruch hin. Einen oder den andern Tag konnten dieselben sich doch von ihrem Zorn hinreißen lassen, und dann mußte der Häuptling ihnen ja wohl oder übel folgen. Vielleicht kam dem geängstigten Notar gar der Gedanke, sich von seinem Stamme wegzustehlen. Doch das hatte seine Schwierigkeiten, denn man überwachte ihn schärfer, als er wohl selbst glaubte.

Und dann, in welchem Lande hätte er sein Wanderleben führen sollen? Das verleidete es ihm, Canada, seine Heimat, zu verlassen. Hielt er sich aber in einem Dorfe der Grafschaft verborgen, wo höchst wahrscheinlich Beamte Gilbert Argall's auf der Lauer lagen, so lief er Gefahr, diesen bald genug in die Hände zu fallen.

[311] Ueberdies wußte Meister Nick nicht, was aus den Hauptführern des Aufstandes geworden war. Obgleich einige Mahogannis bis zu den Ufern des Richelieu und des St. Lorenzo hinausritten, hatten sie hierüber nichts Bestimmtes erfahren können. Selbst in der Farm zu Chipogan wußte Catherine nicht, was aus Thomas Harcher und ihren Söhnen, was aus Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter, nicht, was aus Johann ohne Namen geworden sei, der sich nach den Ereignissen bei St. Charles in das geschlossene Haus zurückgezogen hatte.

Er mußte die Dinge also ihren Lauf nehmen lassen, und das gefiel Meister Nick nicht gar so wenig. Nur Zeit gewinnen und mit der Zeit einen friedlicheren Zustand der Dinge sich herausgestalten sehen, dahin vereinigten sich alle seine Wünsche.

In Bezug hierauf kam es wieder zu neuen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und seinem jungen Schreiber, der die Loyalisten reinweg verfluchte. Die letzten Nachrichten hatten bei ihm dem Fasse noch den Boden ausgeschlagen. Jetzt war keine Zeit mehr zum Scherzen! Er machte keine Witze mehr über den Kriegspfad, über die auszugrabende Streitaxt, über das Blut der Sagamores, noch über den Indianeraufputz, den er sonst so gern im Munde führte. Er dachte jetzt nur noch an die so bedrohte nationale Sache. Was mochte aus dem heldenhaften Johann ohne Namen geworden sein? War er bei St. Charles etwa gefallen? Nein, dann hätte sich die Nachricht von seinem Tode gewiß verbreitet, und die Behörden würden nichts unterlassen haben, diese Verbreitung zu unterstützen. Das hätte Jedermann in Chipogan wie in Walhatta gehört. Doch, wenn er noch lebte, wo befand er sich dann? Lionel hätte das Leben daran gewagt, es zu wissen.

Mehrere Tage verstrichen ohne besondere Veränderung der Lage. Ein- oder zweimal drang allerdings das Gerücht bis zum Dorfe der Mahogannis, daß die Patrioten sich wieder zum Kampfe rüsteten, dasselbe blieb aber ohne Bestätigung.

Auf ausdrücklichen Befehl Lord Gosford's wurden in den Grafschaften von Montreal und Laprairie die Nachsuchungen fortgesetzt. Zahlreiche Truppenabtheilungen hielten die beiden Ufer des Richelieu besetzt. Fort und fort wurden die Bewohner der verschiedenen Ortschaften durch Haussuchungen in Athem gehalten. Sir John Colborne hatte seine Colonne bereit, sofort nach jeder Stelle abzumarschiren, wo die Fahne der Empörung wieder aufflatterte. So bald die Patrioten es wagten, die amerikanische Grenze zu überschreiten, mußten sie überall auf beträchtliche Streitkräfte stoßen.


Die Huronen zeigten sich bereit, mit ins Feld zu ziehen. (S. 315.)

Am 5. December hörte Lionel, der zur Einziehung [312] von Erkundigungen in der Richtung nach Chambly zu gegangen war, daß im ganzen District von Montreal der Belagerungszustand erklärt worden war. Gleichzeitig bot der General-Gouverneur eine Belohnung von viertausend Piastern Jedem, der den Abgeordneten Papineau einliefern würde. Andere Preise wurden ferner ausgesetzt auf die Gefangennahme der Führer – unter Anderen auf die des Herrn de Vaudreuil und Vincent Hodge's. Man sagte auch, daß eine große Anzahl Reformer schon in den Gefängnissen von Quebec saßen, [313] daß sie vor das Kriegsgericht gestellt würden und daß das politische Schaffot bald weitere Opfer verschlingen sollte.

Das waren sehr ernste Dinge. Würden nun die Söhne der Freiheit auf die gegen sie erlassenen Decrete durch eine letzte Ergreifung der Waffen antworten? Oder sank ihnen vielleicht der Muth angesichts dieser unwiderstehlichen Gewaltmaßregeln? Das war die Ansicht des Meister Nick. Er wußte, daß die Aufstände, wenn sie nicht gleich im Anfange durchschlagenden Erfolg haben, nur selten oder niemals noch später Aussicht dazu besitzen.

Freilich war das nicht die Anschauung der Mahoganni-Krieger und ebensowenig die Lionels.

»Nein! wiederholte er dem Notar, nein! Die Sache ist noch nicht verloren, und so lange Johann ohne Namen lebt, verzweifeln wir nicht daran, unsere Unabhängigkeit wieder zu erlangen.«

Im Laufe des Tages trat ein Vorfall ein, der Meister Nick wieder derselben schwierigen Lage aussetzen sollte, der er sich glücklich entronnen glaubte, da jener die kriegerischen Neigungen der Huronen bis zum Paroxysmus steigerte.

Seit einigen Tagen hatte man aus verschiedenen Kirchspielen des Landes die Anwesenheit des Abbé Joann gemeldet. Der junge Priester durchwanderte die Grafschaft Laprairie und predigte den Massenaufstand der franco-canadischen Bevölkerung. Seine flammensprühenden Reden kämpften nicht ohne Mühe gegen die Entmuthigung an, von welcher verschiedene Patrioten seit der Niederlage von St. Charles ergriffen waren.

Der Abbé Joann gab sich einer solchen nicht hin. Er ging seinen Weg geradeaus, beschwor seine Mitbürger sich bereit zu halten, um die Waffen zu ergreifen, sobald ihre Führer wieder im Districte erschienen.

Sein Bruder war freilich jetzt nicht da, und er wußte auch nicht, was aus ihm geworden sei. Ehe er seine Wanderpredigten wieder aufnahm, hatte er sich nach dem geschlossenen Hause begeben, um seine Mutter zu umarmen und Nachrichten von Johann einzuziehen...

Das geschlossene Haus blieb vor ihm verschlossen!

Joann machte sich auf, seinen Bruder zu suchen. Auch er konnte nicht glauben, daß derselbe gefallen sei, denn die Nachricht von seinem Tode hätte den verbreitetsten Widerhall finden müssen. So sagte er sich, daß Johann jedenfalls an der Spitze seiner Gefährten zurückkehren werde.

[314] Die Anstrengungen des jungen Geistlichen richteten sich dann vorzüglich dahin, die Indianer aufzuwiegeln, und vor Allen die Krieger huronischen Stammes, welche ja danach verlangten, in den Kampf eintreten zu können. Unter diesen Verhältnissen traf der Abbé Joann bei den Mahogannis ein. Meister Nick mußte ihn schon gut aufnehmen; er hätte den Neigungen seines Stammes sich doch nicht zu widersetzen vermocht.

»Nun, sei es darum! sagte er sich kopfschüttelnd, es kann einmal Niemand seinem Schicksal entgehen. Wenn ich auch nicht weiß, wie die Rasse der Sagamores einst angefangen hat, so weiß ich leider zu gut, wie sie endigen wird!... Das wird vor dem Kriegsgericht sein!«

In der That zeigten sich die Huronen gern bereit, mit ins Feld zu ziehen, und Lionel hatte nicht wenig beigetragen, sie dazu anzureizen.

Seit seinem Eintreffen in Walhatta hatte sich der junge Schreiber als einer der wärmsten Anhänger des Abbé Joann erwiesen. Er fand in demselben nicht allein die ganze Gluth seines eigenen Patriotismus wieder, sondern er wurde auch ganz eigenthümlich berührt von der auffallenden Aehnlichkeit zwischen dem jungen Pater und Johann ohne Namen: fast dieselben Augen, dieselben feurigen Blicke, fast dieselbe Stimme und die gleichen Bewegungen! Er glaubte wirklich seinen Helden im Gewande eines Priesters wiederzusehen, glaubte ihn zu hören... War es nur eine Sinnestäuschung? Er hätte es nicht sagen können.

Seit zwei Tagen befand sich der Abbé Joann in der Mitte der Mahogannis, und diese verlangten nur, sich den Patrioten anzuschließen, welche ihre Streitkräfte in der Entfernung von etwa vierzig Lieues im Südosten, auf der Insel Navy, einer der Inseln des Niagara, zusammengezogen hatten.

Meister Nick sah sich also gezwungen, den Kriegern seines Stammes zu folgen.

In Walhatta wurden die nöthigen Vorbereitungen unmittelbar getroffen. Wenn die Mahogannis ihr Dorf verlassen hatten, wollten sie durch die angrenzenden Grafschaften ziehen, die Bevölkerung indianischen Stammes aufwiegeln, dann sich nach den Ufern des Ontario-Sees begeben und, bis zum Niagara weiter marschirend, sich den letzten Parteigängern der nationalen Sache anschließen.

Da unterbrach eine Nachricht diese Bewegung – wenigstens zeitweilig.

Am Abend des 9. December brachte ein von Montreal zurückkehrender Hurone die Nachricht mit, daß Johann ohne Namen, den die Agenten Gilbert [315] Argall's an der Grenze von Ontario gefangen hätten, in das Fort Frontenac gebracht worden sei.

Die Wirkung dieser Nachricht kann man sich leicht vorstellen: Johann ohne Namen befand sich in der Gewalt der Königlichen!

Die Mahogannis waren wie vom Donner gerührt, und man denke sich erst die Aufregung, als der Abbé Joann, von dieser Verhaftung unterrichtet, ausrief:

»Mein Bruder!«

Dann fuhr er fort.

»Ich werde ihn vom Tode retten!

– Laßt mich mit Euch gehen! bat Lionel.

– Komm, mein Kind!« antwortete der Abbé Joann.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Das Fort Frontenac.

Johann glich einem Geisteskranken, als er aus dem geschlossenen Hause geflohen war. Das mit so rauher Hand zerrissene Geheimniß seines Lebens, die schrecklichen Worte Rip's, welche Clary gehört haben mußte, der Umstand, daß Fräulein de Vaudreuil jetzt aufgeklärt worden war, daß ihr Vater und sie bei der Gattin und bei dem Sohne jenes Simon Morgaz Zuflucht gefunden – daß Herr de Vaudreuil dasselbe sehr bald erfahren mußte, wenn er es in seinem Zimmer nicht überhaupt schon gehört hatte – Alles das trieb ihn rein zur Verzweiflung. In diesem Hause hätte er auch keinen Augenblick mehr verweilen können. Ohne sich Sorge darum zu machen, was Herr und Fräulein de Vaudreuil widerfahren könne, ohne sich zu fragen, ob der schmachbedeckte Name seiner Mutter hinreichen würde, sie gegen jede weitere Verfolgung zu sichern, ohne sich vorzustellen, daß Bridget gewiß nicht mehr werde in dem Orte wohnen wollen, wo ihr Herkommen bekannt werden mußte, und von wo man sie ohne Zweifel vertreiben würde, war er sinnlos durch die dichten Wälder [316] geeilt, die Nacht hindurch gelaufen, denn nirgendwo glaubte er sich weit genug entfernt von Denen, für die er von jetzt ab nur ein Gegenstand der Verachtung und des Schreckens sein konnte.

Und doch war sein Werk noch nicht vollendet! Seine Pflicht blieb es zu kämpfen, so lange er lebte! Er mußte sich tödten lassen, ehe sein wahrer Name bekannt werden konnte! War er erst todt, gefallen für das Vaterland, dann hatte er vielleicht wieder ein Anrecht, wenn auch nicht auf die Achtung, so doch auf das Mitleid seiner Nebenmenschen!

Allmählich begann wieder etwas Ruhe einzuziehen in das tieferregte Herz. Mit dem kalten Blute kehrte ihm auch die Thatkraft wieder, welche keine Anwandlung von Schwäche wieder lahmlegen sollte.

Auf seiner Flucht strebte er eiligst der Grenze zu, um die Patrioten wieder zu finden und einen neuen aufständischen Feldzug vorzubereiten.

Um sechs Uhr Morgens befand sich Johann schon vier Meilen von St. Charles, nahe dem rechten Ufer des St. Lorenzo und an der Grenze der Grafschaft Montreal.

Diesen von Reiterabtheilungen durchzogenen und von Polizeiagenten geradezu wimmelnden Landestheil mußte er natürlich möglichst bald hinter dem Rücken haben. Er hätte dazu den schräg durch die Grafschaft Laprairie führenden Weg einschlagen müssen, doch dieser wurde nicht weniger überwacht als der von Montreal. Am rathsamsten erschien es, dem Ufer des St. Lorenzo zu folgen, längs desselben bis zum Ontario-See vorzudringen und dann durch das Land im Osten von diesem bis zu den ersten amerikanischen Dörfern zu gelangen.

Johann entschied sich für diesen Plan, der immerhin viel Vorsicht erforderte, da er Schwierigkeiten gerade noch genug bot. Ihm kam es jedoch darauf an, selbst auf die Gefahr kürzerer oder längerer Verzögerungen hin, nur sein Ziel zu erreichen, und er durfte kein Gewicht darauf legen, seinen Fluchtplan je nach den Umständen ändern zu müssen.

In den Ufergrafschaften des Stromes standen zahlreiche Freiwillige auf der Lauer, die Polizei setzte unaufhörlich ihre strengen Haussuchungen noch fort, um die Hauptanführer der Aufständischen zu entdecken – mit diesen natürlich auch Johann ohne Namen, der in zahllosen Maueranschlägen die Summe lesen konnte, welche die Regierung für seinen Kopf zu zahlen anbot.

Unter solchen Verhältnissen sah sich der Flüchtling genöthigt, nur des Nachts seinen Weg fortzusetzen. Tagsüber verbarg er sich in zerfallenen Hütten oder[317] unter fast undurchdringlichem Gebüsch und hatte daneben die größte Mühe, sich nur einige Nahrung zu verschaffen.

Unfehlbar wäre Johann Hungers gestorben, ohne die Hilfe mildherziger Landleute, welche aus Besorgniß, sich selbst bloßzustellen, ihn gern nicht fragten, wer er sei und woher er komme.

So hatte er unvermeidliche Verzögerungen, dafür hoffte Johann jenseits der Grafschaft Laprairie, wenn er sonst die Provinz erreicht hatte, die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Während des 4., 5., 6., 7. und 8. December konnte Johann kaum zwanzig Lieues hinter sich bringen. In fünf Tagen – richtiger in fünf Nächten – hatte er sich fast noch gar nicht vom Ufer des St. Lorenzo entfernt und befand sich da in den mittleren Theilen der Grafschaft Beauharnais. Das Schwerste war indeß überwunden, denn die canadischen Kirchspiele des Westens und des Südens erwiesen sich in dieser Entfernung von Montreal weniger überwacht. Dennoch mußte Johann mehr und mehr erkennen, daß die Gefahren, was seine eigene Person betraf, nur noch gewachsen waren. – Starke Rotten von Polizisten folgten seinen Spuren an der Grenze der Grafschaft Beauharnais. Wiederholt gelang es seiner Kaltblütigkeit, dieselben auf falsche Fährten zu führen.

In der Nacht vom 8. zum 9. December sah er sich aber von einem Dutzend Männern eingeschlossen, welche den Befehl hatten, ihn todt oder lebend festzunehmen. Nachdem er sich mit übermenschlichem Muthe vertheidigt und verschiedene Polizeiagenten schwer verwundet, wurde er doch schließlich gefangen genommen.

Heute war es nicht Rip, sondern der Polizeichef Comeau, der sich Johanns ohne Namen bemächtigt hatte. Diese so lohnende und aufsehenerregende Affaire entging dem Leiter des Hauses Rip & Cie. – Das waren sechstausend Piaster, welche auf der Einnahmeseite des Hauptbuches der Firma fehlen mußten.

Die Nachricht von der Verhaftung Johanns ohne Namen hatte sich sofort in der ganzen Provinz verbreitet. Den anglo-canadischen Behörden lag ja selbst so viel daran, sie überall bekannt werden zu lassen. So gelangte dieselbe am nächsten Tage schon bis nach den Kirchspielen der Grafschaft Laprairie und erreichte im Laufe des 9. December auch das Dorf Walhatta.

Am nördlichen Ufer des Ontario-Sees, wenige Lieues von Kingston, erhebt sich das Fort Frontenac. Es beherrscht das linke Ufer des St. Lorenzo, [318] durch den die Gewässer des Sees abfließen und dessen Lauf in dieser Gegend Canada und die Vereinigten Staaten von einander scheidet.

Dieses Fort wurde jenerzeit von dem Major Sinclair befehligt, der vier Officiere und etwa hundert Mann vom 20. Regiment unter sich hatte. Durch seine Lage vervollständigte es das Vertheidigungssystem der Forts Oswégo, Ontario und Levis, welche zum Schutze jener entfernten und ehedem öfter durch Einfälle von Indianern bedrohten Gebiete errichtet worden waren.

Nach dem genannten Fort Frontenac war Johann ohne Namen geschafft worden. Der General-Gouverneur hatte, als er die Nachricht von jener hochwichtigen Gefangennahme durch die Mannschaften Comeau's erhielt, nicht gewollt, daß der junge Patriot nach Montreal oder nach einer anderen bedeutenden Stadt eingeliefert würde, wo seine Anwesenheit möglicher Weise einen neuen Volksaufstand hervorgerufen hätte. Aus diesem Grunde erging von Quebec der Befehl, den Gefangenen nach dem Fort Frontenac zu transportiren, ihn dort einzukerkern und aburtheilen zu lassen – das war aber gleichbedeutend mit der Verurtheilung zum Tode.

Bei dem gewöhnlich höchst summarischen Gerichtsverfahren hätte Johann schon binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet sein müssen. Nichtsdestoweniger erlitt seine Vorführung vor das Kreisgericht unter der Leitung des Majors Sinclair einigen Aufschub.

Das kam nämlich daher:

Daß der Gefangene der fast sagenhafte Johann ohne Namen, der unermüdliche Agitator und früher die Seele der Aufstände von 1832, 1835 und 1837 sei, darüber herrschte nicht der geringste Zweifel. Doch welcher Mann verbarg sich unter diesem Pseudonym, unter diesem Kriegsnamen – das wollte die Regierung gern erfahren, da es Handhaben geboten hätte, weiter in die Vergangenheit zurückzugreifen, vielleicht wichtige Aufschlüsse zu erhalten und gewisse geheime Umtriebe aufzudecken, da in die Sache der Unabhängigkeit noch verschiedene unbekannte Fäden hineinspielen mochten.

Es schien also von Wichtigkeit, wenn nicht die Identität, so doch die Herkunft der Persönlichkeit festzustellen, deren Namen noch nicht bekannt war, und den zu verheimlichen jener besonders schwerwiegende Gründe haben mußte. Der Kriegsrath wartete also mit der Abgabe eines Urtheils, und man drang bezüglich dieser Frage so viel wie möglich auf Johann ein. Dieser ergab sich nicht; er verweigerte es sogar hartnäckig, auf irgend eine Frage nur zu antworten, die ihm [319] bezüglich seiner Familie gestellt wurde. Man mußte hierauf also verzichten, und am 10. December wurde der Proscribirte seinen Richtern vorgeführt.

Die Verhandlung verlief ohne besondere Verzögerung. Johann räumte unumwunden den Antheil ein, den er an den ersten wie an den letzten Aufstandsversuchen gehabt. Laut und mit stolzer Stimme forderte er von England die Canada zustehenden Rechte. Er erhob sich kühn gegenüber seinen Unterdrückern, er sprach, als hätten seine Worte die Umwallung des Forts übertönen und einen Widerhall im ganzen Lande finden können.


Er verbarg sich im Hintergrunde von verlassenem altem Gemäuer. (S. 317.)

[320] Als der Major Sinclair noch zum letzten Male eine Frage nach seiner Herkunft, nach der Familie, der er entstammte, an ihn richtete, begnügte er sich zu antworten:

»Ich bin Johann ohne Namen, von Geburt französischer Canadier, und das muß Ihnen genug sein. Was kommt es denn viel darauf an, wer der Mann ist, der unter den Kugeln Ihrer Söldner fallen soll? Brauchen Sie denn einen Namen für einen Leichnam?«


Johann wurde gefangen genommen. (S. 318.)

Johann wurde zum Tode verurtheilt, und der Major Sinclair gab Befehl, ihn in seine Zelle zurückzuführen. Um auch den Vorschriften des General-Gouver neurs [321] Genüge zu leisten, sandte er noch einen besonderen Boten nach Quebec, um jenen zu benachrichtigen, daß das Civilverhältniß des Gefangenen von Frontenac nicht habe aufgeklärt werden können. Dabei fragte er an, ob er die Execution vollziehen lassen oder noch aufschieben solle.

Seit fast zwei Wochen schon sachte sich Lord Gosford so genau wie möglich über die Vorgänge bezüglich der Aufstandsversuche in St. Denis und St. Charles zu unterrichten und die Aburtheilungen zu beschleunigen. Fünfundvierzig der hervorragendsten Patrioten schmachteten in den Gefängnissen zu Montreal und elf in dem zu Quebec; der Gerichtshof mit seinen drei Richtern, dem General-Procurator und dem Staatsanwalt als Vertreter der Krone, sollte in Thätigkeit treten. Neben diesem Tribunal functionirte noch das Kriegsgericht unter dem Vorsitze eines General-Majors und bestand aus fünfzehn höheren englischen Officieren, welche bei der Unterdrückung des Aufstandes mitgewirkt hatten.

In Erwartung eines Urtheils, welches gewiß auf die härtesten Strafen hinauslief, sahen sich die Gefangenen einer Behandlung ausgesetzt, deren Grausamkeit durch keine politische Leidenschaft entschuldigt werden kann.

In Montreal im Gefängnisse der Pointe-à-Callières, in dem alten Kerker am Jacques Cartier-Platze, im neuen Gefängniß am Fuße des Courant, waren Hunderte von armen Leuten zusammengepfercht, welche furchtbar von der Kälte des canadischen Winters zu leiden hatten. Dazu wurden sie von Hunger zernagt, denn die Brotration, welche sie als einzige Nahrung empfingen, war völlig unzureichend.

Wohl flehten sie wenigstens um eine Untersuchung, um eine Verurtheilung, so hart diese auch ausfallen möchte. Ehe er sie aber dem ordentlichen oder dem Kriegsgerichte zuführte, wollte Lord Gosford warten, bis die Polizei ihre Nachforschungen beendigt hätte, damit dann alle Patrioten, deren sie hatte habhaft werden können, in seinen Händen wären.

Unser diesen Verhältnissen gelangte die Nachricht von der Gefangennahme Johanns ohne Namen und von der Einlieferung desselben in das Fort Frontenac nach Quebec. Die allgemeine Meinung ging dahin, daß die Sache der Unabhängigkeit damit den Todesstoß erhalten habe.

Es war um neun Uhr Abends, als der Abbé Joann und Lionel am 12. December vor jenem Fort eintrafen. So wie Johann es gethan, waren sie erst dem rechten Ufer des St. Lorenzo gefolgt und hatten diesen dann überschritten [322] auf die Gefahr hin, bei jedem Schritte, den sie thaten, verhaftet zu werden. War auch Lionel durch sein Auftreten in Chipogan nicht eigentlich bedroht, so suchten die Agenten Gilbert Ar gall's doch den Abbé Joann jetzt desto eifriger. Jene Beiden mußten also gewisse Vorsichtsmaßregeln beobachten, welche ihr Fortkommen natürlich verlangsamten.

Dazu herrschte eine wahrhaft schreckliche Witterung. Seit vierundzwanzig Stunden tobte einer jener furchtbaren Schneestürme, welche die Meteorologen des Landes mit dem Namen »Blizzard« zu bezeichnen pflegen. Zuweilen bringt das Auftreten eines solchen einen Wärmesturz von dreißig Graden, das heißt eine solche Kälte hervor, daß dadurch zahlreiche Opfer verschlungen werden. 1

Was hoffte denn der Abbé Joann davon, daß er selbst nach dem Fort Frontenac ging? Welchen Plan hatte er entworfen? Gab es für ihn ein Mittel, sich mit dem Gefangenen in Verbindung zu setzen? Wäre es möglich, nach vorheriger Verabredung dessen Entweichung zu begünstigen? – Jedenfalls kam es ihm darauf an, noch diesen Abend in die Zelle des Bruders Einlaß zu erhalten.

Wie der Abbé Joann war auch Lionel bereit, sein Leben hinzugeben, um das Johanns ohne Namen zu retten. Doch wie sollten Beide zu Werke gehen? Sie waren jetzt bis auf eine halbe Meile an das Fort Frontenac herangekommen, das sie hatten umgehen müssen, um einen Wald zu erreichen, dessen Saum sich in den Wellen des Sees badete. Hier unter diesen Bäumen, welche die Winterkälte ganz erstarrt hatte, brauste der eisige Samum dahin, dessen Wirbel die Oberfläche des Ontario in Aufruhr brachten.

Da sagte der Abbé Joann zu dem jungen Schreiber:

»Bleiben Sie hier, Lionel, ohne sich Jemand zu zeigen, und erwarten Sie meine Rückkehr. Die Wachtposten im Ausfalltsthore dürfen Sie nicht gewahr werden. Ich werde versuchen, in das Fort zu gelangen und mit meinem Bruder in Verbindung zu kommen. Gelingt mir nun das, so besprechen wir Beide die Möglichkeit einer Flucht. Wäre eine solche ganz unausführbar, so prüfen wir die Aussicht eines Angriffs, den die Patrioten unternehmen könnten, im Falle die Besatzung von Frontenac nicht gar zu zahlreich ist.«

Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Angriff länger dauernder Vorbereitungen bedurft hätte. Ueberdies wußte der Abbé Joann noch nicht, da sich die Nachricht hiervon bisher kaum verbreitet hatte, daß das Urtheil vor zwei [323] Tagen ergangen war und daß der Befehl zur Hinrichtung von einer Stunde zur anderen eintreffen konnte. Jenen Handstreich gegen das Fort Frontenac betrachtete der junge Priester auch nur als das äußerste Mittel; er bezweckte vielmehr, Johann Mittel und Wege zu verschaffen, in kürzester Frist zu entweichen.

»Haben Sie, Herr Abbé, fragte Lionel, einige Hoffnung, Ihren Bruder zu sehen zu bekommen?

– Lionel, könnte man den Eintritt ins Fort einem Diener des Herrn verweigern, der einem jedenfalls zur Todesstrafe verurtheilten Gefangenen den Trost der Religion bringen will?

– Das wäre unwürdig!... Das wäre abscheulich! antwortete Lionel.... Nein! Man wird es Ihnen nicht abschlagen!... Gehen Sie, Herr Abbé, ich werde hier warten.«

Der Abbé Joann drückte dem jungen Schreiber die Hand und verschwand um den Rand des Waldes.

In weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ausfallsthor des Fort Frontenac erreicht.

Das am Strande des Ontario errichtete Fort bestand aus einem in der Mitte gelegenen Blockhaus, welches hohe Palissaden umgaben. Am Fuße dieser Umplankung und nach der Seite des Sees hin erstreckte sich ein frei gelegtes schmales Gestade, welches jetzt unter der Schneedecke verschwand und mit der am Rande übereisten Seefläche verschmolz. An der anderen Seite stieß ein Dorf mit wenigen Feuerstätten daran, das in der Hauptsache von Fischersleuten bewohnt war.

Doch würde zunächst ein Entweichen und dann eine Flucht durch das Land möglich sein? Würde Johann seine Zelle verlassen, die Palissaden erreichen und die Aufmerksamkeit der Wachthabenden täuschen können? Das sollte von ihm und seinem Bruder erwogen werden, wenn dem Abbé Joann der Zutritt zum Fort nicht verboten wurde. Einmal in Freiheit, wollten sich Beide mit Lionel nicht nach der amerikanischen Grenze, sondern nach dem Niagara und der Insel Navy wenden, wo die Patrioten sich gesammelt hatten, um einen letzten Befreiungsversuch zu wagen.

Nachdem der Abbé Joann schräg über das Vorland geschritten, langte er vor dem engen Thore an, neben dem ein Wachtposten auf und ab ging. Er sprach den Wunsch aus, dem Commandanten des Forts zugeführt zu werden.

[324] Ein Sergeant trat aus dem Wachtlocal, das sich im Innern der Palissade befand. Der ihn begleitende Soldat trug eine Fackel, da es bereits ganz dunkel geworden war.

»Was wollen Sie? fragte der Sergeant.

– Mit dem Commandanten sprechen.

– Und wer sind Sie?

– Ein Geistlicher, der dem gefangenen Johann ohne Namen seinen Beistand leisten will.

– Sie können sagen dem verurtheilten!...

– Ist das Urtheil schon gefällt?

– Vorgestern, und Johann ohne Namen ist damit dem Tode verfallen!«

Der Abbé Joann besaß Selbstbeherrschung genug, um nichts von seiner Erregung zu verrathen, und er begnügte sich zu antworten:

»Das ist nur ein Grund mehr, einem Verurtheilten den Beistand des Geistlichen nicht zu versagen.

– Ich werde dem Major Sinclair, dem Commandanten des Forts, Meldung machen,« erwiderte der Sergeant.

Er begab sich mit diesen Worten schon nach dem Blockhause, während er den Abbé Joann zunächst in das Wachtlocal eintreten ließ.

Dieser setzte sich in einer dunklen Ecke nieder und überdachte, was er soeben gehört.

Die Verurtheilung war ausgesprochen. Sollte es ihm da nicht an Zeit fehlen, seine Pläne auszuführen? Doch da der schon vor vierundzwanzig Stunden gefällte Urtheilsspruch bis jetzt noch nicht vollzogen war, so konnte das doch vielleicht daher rühren, daß der Major Sinclair Befehl erhalten hatte, die Hinrichtung aufzuschieben. An diese Hoffnung klammerte sich der Abbé Joann, obwohl er nicht wußte, wie lange dieser Aufschub dauern und ob er hinreichen würde, die Entweichung des Gefangenen vorzubereiten, ja nicht einmal, ob der Major Sinclair ihm den Zutritt ins Gefängniß erlauben werde. Was sollte aber geschehen, wenn er nur dann die Herbeiholung eines Priesters zuließ, wenn Johann ohne Namen schon auf dem Wege zur Hinrichtung war?

Man begreift leicht, welche Seelenangst der Abbé Joann gegenüber dieser Verurtheilung ausstehen mußte, da diese ihm keine Zeit zum Handeln mehr ließ.

[325] In diesem Augenblicke betrat ein Unterofficier den Posten und wandte sich an den jungen Priester:

»Der Major Sinclair erwartet Sie!« sagte er.

Vor ihm der Sergeant, dessen Fackel den Weg erleuchtete, überschritt Joann den inneren Hof, in dessen Mitte das Blockhaus sich erhob. Soweit es die Dunkelheit gestattete, sachte er die Größenverhältnisse dieses Hofes und die Entfernung zu erkennen, die den Wachtposten von dem Ausfallsthore trennte, da letzteres den einzigen Ausweg aus dem Fort Frontenac bot, wenn man es nicht vorzog, die Palissade zu überklettern. Wenn Johann die Anordnung der Baulichkeiten und die Lage dieser Punkte nicht kannte, so wollte Joann sie ihm doch wenigstens beschreiben können.

Die Thür des Blockhauses stand offen. Der Sergeant voran und der Abbé Joann nach ihm durchschritten dieselbe. Eine Schildwache schloß sie wieder hinter ihnen. Dann betraten sie die Stufen einer nach dem oberen Stockwerk führenden und in die Wand selbst eingelassenen Treppe. Oben angelangt, öffnete der Sergeant eine gerade gegenüberliegende Thür, und der Abbé Joann trat in das Zimmer des Commandanten.

Der Major Sinclair war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, von rauhem Aeußeren und schroffem Auftreten, »sehr englisch« durch seine Steifheit und »sehr sächsisch« durch das geringe Mitgefühl, welches menschliches Elend ihm einflößte. Vielleicht hätte er es sogar abgeschlagen, dem Verdammten geistlichen Zuspruch zu gewähren, wenn er in dieser Hinsicht nicht Befehle erhalten hätte, die er nicht wohl unbeachtet lassen konnte. Den Abbé Joann empfing er nicht eben vielverheißend; ja er erhob sich nicht einmal aus dem Lehnstuhle, in dem er saß, und legte die Pfeife nicht aus der Hand, deren Rauch das durch eine einzige Lampe nur schwach erhellte Zimmer erfüllte.

»Sind Sie Geistlicher? fragte er den Abbé Joann, der einige Schritte vor ihm stehen geblieben war.

– Ja, Herr Major.

– Sie kommen, um dem Verurtheilten beizustehen?...

– Wenn Sie das gestatten.

– Woher kommen Sie?

– Aus der Grafschaft Laprairie.

– Dort haben Sie von seiner Gefangennahme gehört?...

– Ja, eben dort.

[326] – Und auch von seiner Verurtheilung?...

– Davon vernahm ich erst bei meiner Ankunft im Fort Frontenac, und ich glaubte, der Major Sinclair würde mir ein Zusammentreffen mit dem Gefangenen nicht verweigern.

– Nein, das nicht; doch ich werde Sie erst rufen lassen, wenn es dazu Zeit ist, antwortete der Commandant.

– Etwas ist niemals zu frühzeitig, erwiderte der Abbé Joann, wenn der Mensch zum Tode verdammt ist...

– Ich sagte Ihnen, daß Sie rechtzeitig Nachricht erhalten werden. Warten Sie darauf im Dorfe Frontenac, wo einer meiner Soldaten Sie dann aufsuchen wird...

– Verzeihen Sie, wenn ich noch auf meiner Bitte bestehe, Herr Major, entgegnete der Abbé Joann. Es kann ja der Fall eintreten, daß ich gerade in dem Augenblick abwesend wäre, wo der Gefangene meinen Beistand am meisten bedarf. Gestatten Sie mir also, denselben in dieser Stunde zu sprechen...

– Ich wiederhole Ihnen, daß ich Ihnen werde eine Meldung zugehen lassen, unterbrach ihn der Commandant. Mir ist verboten, den Gefangenen vor der Stunde seiner Hinrichtung mit irgend Jemand, wer es auch sei, sprechen zu lassen. Ich erwarte jetzt nähere Befehle von Quebec, und wenn diese anlangen, hat der Gefangene noch zwei Stunden für sich. Was Teufel, diese zwei Stunden werden Ihnen genügen, und Sie mögen diese anwenden, wie es Ihnen für das Heil seiner Seele passend erscheint. Der Sergeant wird Sie nach dem Thore zurückgeleiten!«


Die Witterung war schrecklich. (S. 223.)

Dieser nicht mißzuverstehenden Erklärung gegenüber blieb dem Abbé Joann nichts übrig, als sich zurückzuziehen. Trotzdem konnte er sich dazu nicht entschließen. Sah er seinen Bruder nicht, konnte er sich nicht mit diesem besprechen, so wurde jeder Fluchtversuch zur Unmöglichkeit. Schon wollte er seine Zuflucht zu Bitten nehmen, um den Commandanten zu einem anderen Beschlusse zu bestimmen, als die Thür sich aufthat.

Der Sergeant erschien auf der Schwelle.

»Sergeant, sagte der Major Sinclair zu ihm, Ihr werdet diesen Geistlichen aus dem Fort hinausführen, und er erhält nicht eher Zutritt, als bis ich nach ihm schicke.

– Die Schildwachen werden Ordre erhalten, Herr Commandant, antwortete der Sergeant. Ich habe Ihnen auch noch mitzutheilen, daß ein Expreßbote eben in Frontenac eingetroffen ist.

[327] – Ein Courier von Quebec?...

– Ja, er überbringt diese Papiere...

– Geben Sie her, sagte der Major Sinclair.

Er entriß dem Sergeanten mehr das amtliche Schreiben, als er es dem Manne aus der Hand nahm.

Der Abbé Joann war todtenbleich geworden; er fühlte sich so schwach, daß seine Hinfälligkeit und die Farbenveränderung seines Gesichts dem Major hätten verdächtig erscheinen müssen, hätte dieser ihn im Augenblick beobachtet.

[328] Das geschah aber nicht.

Die Aufmerksamkeit des Majors war völlig von diesem mit dem Wappen des Lord Gosford versiegelten Briefe, dessen Umschlag er eilig aufriß, in Anspruch genommen.


»Geben Sie her« sagte der Major Sinclair. (S. 328.)

Er durchflog denselben, dann wandte er sich wieder zu dem Sergeanten.

»Führt diesen Geistlichen nach der Zelle Johanns ohne Namen, befahl er. Ihr laßt ihn mit dem Gefangenen allein, und wenn er wieder fortzugehen wünscht, so führt Ihr ihn nach dem Ausfallsthore.«

[329] Es war der Befehl zur schleunigen Hinrichtung, den der General-Gouverneur eben nach Fort Frontenac geschickt hatte.

Johann ohne Namen hatte nur noch zwei Stunden zu leben.

Fußnoten

1 In gewissen Theilen Canadas, wie z.B. im Thale St. Jean, hat man das Thermometer gelegentlich bis auf 40 und 45 Grad unter Null herabsinken sehen.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Joann und Johann.

Der Abbé Joann verließ das Zimmer des Majors Sinclair gefaßter, als er es betreten hatte. Der Donnerschlag der so nahe bevorstehenden Hinrichtung vermochte ihn nicht zu erschüttern. Gott hatte ihm eben einen Gedanken gegeben – dieser Gedanke mußte zu gutem Ende führen.

Johann wußte noch nicht, daß jener Befehl in dieser Minute von Montreal eingetroffen war, und Joann fiel die schmerzliche Aufgabe zu, ihn davon zu unterrichten.

Doch nein, das wollte er nicht. Er wollte ihm verhehlen, daß der schreckliche Urtheilsspruch binnen zwei Stunden vollzogen werden sollte. Johann durfte davon nichts erfahren, wenn Joann auf das Gelingen seiner Pläne rechnen sollte.

An eine von langer Hand vorbereitete Flucht war offenbar ebensowenig zu denken, wie an einen Angriff gegen das Fort Frontenac. Der Verurtheilte konnte dem drohenden Tode nur durch sofortige Flucht entgehen. Befand er sich nach Verlauf von zwei Stunden noch in seiner Zelle, so würde er diese nur verlassen, um mitten in der Nacht am Fuße der Palissade durch die Kugeln zu fallen.

Wenn der Bruder des Abbé Joann des Letzteren Plan zustimmte, erschien dieser recht wohl durchführbar, und jedenfalls bot er das letzte Mittel, auf welches man unter den gegebenen Umständen zurückkommen konnte. Allerdings durfte Johann nichts davon wissen, daß der Major Sinclair eben den Befehl erhalten hatte, die Hinrichtung vollziehen zu lassen.

[330] Von dem Sergeanten geleitet, stieg der Abbé Joann die Treppe wieder hinab. Die Zelle des Gefangenen lag an einer Ecke des Erdgeschosses in demselben Blockhause und am Ende eines Verbindungsganges, der längs des Hofes hinlief. Diesen finsteren Corridor mit seiner Fackel erleuchtend, hielt der Sergeant da vor einer niedrigen, von außen mit zwei Riegeln verschlossenen Thür an.

Als der Soldat diese öffnen wollte, trat er erst noch an den jungen Priester heran und sagte zu diesem mit gedämpfter Stimme:

»Sie wissen, daß ich Sie aus dem Fort zu führen habe, wenn Sie den Gefangenen wieder verlassen?

– Das weiß ich, antwortete der Abbé Joann. Warten Sie in diesem Gange und ich werde nach Ihnen rufen.«

Die Thür der Zelle öffnete sich.

Im Innern derselben und völlig im Dunklen, lag Johann auf einer Art Feldbett und schlief; er erwachte auch noch nicht von dem Geräusche, welches der Sergeant verursachte.

Dieser wollte ihn schon an der Schulter schütteln, als der Abbé Joann ihn mit einem Wink bat, davon abzulassen.

Der Sergeant befestigte die Fackel auf einem Tischchen, ging hinaus und schloß hinter sich leise die Thür.

Die beiden Brüder waren allein, der eine schlummernd, der andere auf den Knien liegend und betend.

Dann erhob sich Joann, betrachtete noch zum letzten Male dieses sein Ebenbild, dessen Leben ebensogut wie das seinige das Verbrechen des eigenen Vaters zu einer Kette von Elend und Trauer gemacht hatte.

Dann murmelte er die Worte.

»Herr, Herr mein Gott, steh' mir bei!«

Die Zeit war ihm viel zu knapp zugemessen, um sie, und wäre es nur wenige Minuten, vergeuden zu dürfen. So legte er die Hand auf die Schulter Johanns. Dieser erwachte, öffnete die Augen, richtete sich auf und rief, als er seinen Bruder erkannte:

»Du, Joann!...

– Leiser, Johann, sprich leiser! antwortete Joann; man könnte uns hören!«

Mit der Hand machte er ihm gleichzeitig ein Zeichen, daß die Thür von außen überwacht werde.

[331] Abwechselnd näherten und entfernten sich im Vorgange die Schritte des Sergeanten.

Halb mit großer Wollendecke bekleidet, die ihn nur sehr nothdürftig gegen die Kälte schützte, erhob sich Johann jetzt geräuschlos.

Die beiden Brüder lagen in langer Umarmung.

Dann sagte Johann:

»Unsere Mutter?

– Ist nicht mehr im geschlossenen Hause!

– Sie ist nicht mehr da?...

– Nein!

– Und Herr de Vaudreuil nebst seiner Tochter, denen unser Haus Obdach geboten hatte?

– Das Haus stand völlig leer, als ich zum letzten Male nach St. Charles kam!

– Wann war das?

– Vor acht Tagen.

– Und seitdem weißt Du nichts von unserer Mutter, von unseren Freunden?

– Gar nichts!«

Was mochte denn geschehen sein? Hatte eine wiederholte Haussuchung doch zur Verhaftung Bridgets, des Herrn de Vaudreuil und seiner Tochter geführt? Oder hatte Clary, welche ihren Vater vielleicht nicht einen Tag länger unter dem Dache der Familie Morgaz lassen wollte, diesen trotz seiner Schwäche, trotz der Gefahren, die sie bedrohten, veranlaßt, von dort wegzugehen? War Bridget wohl auch selbst aus St. Charles entflohen, wo die Schande, die auf ihrem Namen lastete, jetzt bekannt geworden war?

Alles das ging Johann gleich einem Blitze durch den Kopf, und er wollte den Abbé Joann schon von den Vorfällen erzählen, die sich gelegentlich seines letzten Besuches im geschlossenen Hause zugetragen hatten, als dieser sich an sein Ohr neigend sagte:

»Höre mich an, Johann. Nicht als Bruder bin ich hier bei Dir, sondern nur als Priester, der seines Amtes bei einem Verurtheilten walten will. Nur unter dieser Bedingung hat mir der Commandant des Forts Zutritt in Deine Zelle gestattet. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren... Du mußt auf der Stelle fliehen!...

[332] – Auf der Stelle, Joann? Aber wie?

– Du legst meine Kleidung an und gehst in der Priestertracht hinaus. Wir sind einander ähnlich genug, als daß Jemand diese Verwechslung bemerken könnte. Uebrigens ist es ja Nacht, und Du wirst beim Ueberschreiten des Ganges und des innern Hofes schwerlich von einer Fackel so deutlich beleuchtet werden. Verbirgst Du das Gesicht ein wenig unter diesem Hute, so ist es unmöglich, daß Dich Jemand erkennt. Wenn wir die Kleidung gewechselt haben, halte ich mich ein wenig im Hintergrunde der Zelle und rufe nach dem Sergeanten. Dieser wird, wie verabredet, öffnen. Er hat Befehl, mich nach dem Ausfallsthore zu begleiten... Nun führt er eben Dich dorthin...

– Joann, erwiderte der Gefangene, hast Du wirklich glauben können, daß ich ein solches Opfer Deinerseits annehmen würde?

– Du mußt, Johann! Deine Anwesenheit bei den Patrioten ist jetzt mehr als je von Nöthen.

– Haben sie denn nach der erlittenen schweren Niederlage noch nicht an dem Erfolge unserer nationalen Sache verzweifelt?

– Nein! Sie sammeln sich eben am Niagara, auf der Insel Navy, und rüsten sich, den Kampf von neuem zu beginnen.

– So mögen sie es ohne mich thun, lieber Bruder! Der Erfolg unserer Sache hängt nicht von einem einzelnen Manne ab!... Ich werde Dich nicht das Leben daran wagen lassen, um das meinige zu retten!

– Ist's denn nicht meine Pflicht, Johann?... Du kennst doch unser Ziel?... Haben wir das schon erreicht?... Nein! Wir haben noch nicht einmal sterben können, um den Schaden wieder gut zu machen, den...«

Die Worte Joanns gingen seinem Bruder tief zu Herzen, er ergab sich aber deshalb noch nicht.

Joann fuhr fort:

»Bitte, höre auf mich!... Sieh, Du fürchtest für mich, Johann; doch, was habe ich eigentlich zu fürchten? Was kann mir geschehen, wenn man mich morgen in dieser Zelle findet? Nichts!... Es wäre dann etwa nur ein armer Priester an Stelle eines Verurtheilten hier, und was könnte man diesem anhaben, als daß man ihn laufen ließe?...

– Nein!... Nein!... erklärte Johann, der ebenso gegen sich selbst, wie gegen die Bitten seines Bruders ankämpfte.

[333] – Genug der Worte! sagte Joann. Du mußt fort von hier, und wirst also gehen! Thue Deine Pflicht, wie ich die meinige gethan! Nur Du allein bist volksthümlich genug, um einen allgemeinen Aufstand zum Ausbruch zu bringen...

– Und wenn man Dich für die Mithilfe zu meiner Flucht verantwortlich machen will?

– Man kann und wird mich nicht ohne Untersuchung verurtheilen, antwortete Joann, nicht ohne directen Befehl von Quebec, und da gehen immer noch einige Tage darüber hin!

– Einige Tage, Bruder?

– Gewiß, und Du gewinnst indessen die Zeit, Deine Waffengefährten auf der Insel Navy aufzusuchen und diese nach dem Fort Frontenac zu führen, um mich zu befreien...

– Es sind gut zwanzig Meilen vom Fort Frontenac bis nach der Insel Navy, Joann! Die Zeit wird mir mangeln...

– Du weigerst Dich also, Johann? Nun wohl, bis jetzt hab' ich gebeten... jetzt muß ich befehlen! Es ist nicht mehr der Bruder, der zu Dir spricht, sondern der Diener unseres Gottes! Wenn Du sterben mußt, so geschehe es im Kampfe für unsere gute Sache – sonst hast Du nichts erfüllt von der Lebensaufgabe, die Dir zufiel. Schlägst Du es dennoch ab, nun zu gehorchen, so werd' ich auch mich zu erkennen geben, und der Abbé Joann wird an der Seite Johanns ohne Namen unter den Kugeln fallen!

– Bruder!

– Geh', Johann!... Geh' fort von hier, ich will es!... Unsere Mutter will es!... Unser Vaterland verlangt es!«

Besiegt von den herzenswarmen Worten Joanns blieb Johann nichts Anderes übrig als zu gehorchen. Die Möglichkeit, binnen zwei Tagen mit einigen Hundert Patrioten im Fort Frontenac zurück zu sein, überwand auch seine letzten Bedenken.

»Ich bin bereit!« sagte er.

Der Austausch der Kleider ging schnell von statten. Unter der Priestertracht Joanns war es schwierig zu erkennen, daß jetzt sein Bruder dessen Stelle einnahm.

Darauf unterhielten sich Beide noch einige Augenblicke über die politische Lage und über die Stimmung im Lande seit den letzten Ereignissen. Endlich sagte der Abbé Joann:

[334] »Jetzt werd' ich den Sergeanten herbeirufen. Wenn er die Thür der Zelle geöffnet hat, trittst Du hinaus und wirst ihm ganz einfach längs des Ganges, den er mit seiner Fackel beleuchtet, folgen. Einmal aus dem Blockhause, hast Du nur noch den inneren Hof zu durchschreiten... eine Strecke von etwa fünfzig Schritten. Du kommst da an einem Wachposten zur Rechten an der Palissade vorüber... da wende den Kopf ein wenig seitwärts; dann stehst Du gleich am Thore. Außerhalb desselben gehe längs des Flusses hin, bis Du in der Entfernung einer halben Meile den Saum eines Waldes erreichst. Dort wirst Du Lionel finden...

– Lionel?... Den jungen Schreiber?...

– Ja, er hat mich begleitet und wird Dich bis zur Insel Navy begleiten. Nun, komm noch ein letztes Mal in meine Arme!

– Bruder! Liebster Bruder!« murmelte Johann, der sich Joann aus Herz warf.

Der Augenblick der Trennung war da; Joann rief mit lauter Stimme und zog sich nach dem Hintergrunde der Zelle zurück.

Der Sergeant öffnete die Thür und wendete sich an Johann, dessen Kopf unter dem breitkrämpigen Hute des Geistlichen fast verschwand.

»Sind Sie bereit?« fragte er.

Johann antwortete nur durch ein bejahendes Zeichen.

»So kommen Sie!«

Der Sergeant ergriff die Fackel, ließ Johann hinaustreten und verriegelte die Thür der Zelle.

In welcher Angst verbrachte Joann die nächstfolgenden Minuten! Was würde geschehen, wenn sich der Major Sinclair zufällig in dem Gange befand, während Johann diesen durchschritt, wenn er ihn aufhielt, ihn über den Zustand des Gefangenen ausfragte? Wurde die Unterschiebung entdeckt, so führte man den Gefangenen gewiß unverzüglich zum Tode. Ebenso konnten die Vorbereitungen zur Hinrichtung schon getroffen sein und die Mannschaft des Forts bereits die Befehle des Commandanten erhalten haben, so daß der Sergeant, in der Meinung, einen Priester vor sich zu haben, ihm davon auf dem Rückweg über den Hof zu sprechen anfing. Hörte Johann aber, daß die Execution so unmittelbar bevorstand, so würde dieser nach der Zelle zurückkehren wollen, da er sicherlich nie zugestimmt hätte, seinen Bruder an seiner Statt sterben zu lassen. Der Abbé Joann lauschte mit an die Thür gelegtem Ohre, und doch verhinderte ihn fast das laute Klopfen seines Herzens, von einem Geräusche draußen etwas zu vernehmen.

[335] Endlich drangen von weither unbestimmte Laute bis zu ihm. Mit heißem Danke gegen Gott sank Joann in die Knie.

Das Ausfallsthor war wieder geschlossen worden

»Frei!« murmelte Joann.

In der That war Johann nicht erkannt worden. Mit der Fackel in der Hand ihm vorausgehend, hatte der Sergeant ihn, ohne ein Wort zu sprechen, über den innern Hof bis zum Thore des Forts geführt. Officiere und Soldaten wußten noch nicht, daß die Hinrichtung in einer Stunde stattfinden sollte. Bei dem Wachposten angelangt, wo auch nur spärliches Licht brannte, hatte er den Kopf abgewendet, wie sein Bruder ihm empfohlen. Erst in dem Augenblick, wo er durch das Thor gehen wollte, hatte der Sergeant ihn gefragt:

»Werden Sie wiederkommen, dem Verurtheilten Ihren Beistand zu gewähren?...

– Ja!« hatte Johann durch Nicken mit dem Kopfe geantwortet.

Einen Moment darauf hatte er das Thor hinter sich.

Nichtsdestoweniger entfernte sich Johann nur langsamen Schrittes von dem Fort Frontenac, als ob noch eine Fessel ihn mit seinem Gefängnisse verknüpfte – eine Fessel, die er nicht zu brechen wagte. Er machte sich Vorwürfe, den Bitten seines Bruders nachgegeben zu haben und an seiner Stelle fortgegangen zu sein. Alle Gefahren mit dieser Verwechslung traten ihm jetzt mit der erschreckendsten Deutlichkeit vor Augen. Er sagte sich, daß man wenige Stunden später, wenn es wieder Tag geworden, in die Zelle kom men und seine Entweichung entdecken werde; dann war sein Bruder Joann den rohesten Mißhandlungen ausgesetzt, wenn er für seine heldenmüthige Aufopferung nicht vielleicht gar mit dem Tode büßen mußte.

Bei diesem Gedanken fühlte sich Johann fast gedrängt, umzukehren. Doch nein! Er mußte ja eiligst bei den Patrioten auf der Insel Navy eintreffen und die aufständische Bewegung damit eröffnen, daß er sich auf das Fort Frontenac warf, um seinen Bruder zu befreien. Da galt es also keinen Augenblick zu verlieren.

Johann ging in schräger Richtung über das Uferland, und dann noch am Fuße der Palissadenumwallung am See nach dem Walde zu, wo Lionel ihn erwarten sollte.

Das Schneegestöber wüthete noch ungeschwächt weiter. Die Eisschollen am Ufer des Ontario krachten gegeneinander wie die Eisberge eines arktischen [336] Meeres. In dichten Wirbeln jagte der Schnee dahin, so daß er das Sehen fast zur Unmöglichkeit machte.

Durch die Flockenhausen, die jeder Windstoß vor sich hertrieb, fast begraben, und unsicher darüber, ob er sich auf der erstarrten Fläche des Sees oder noch auf dem Uferlande befinde, sachte Johann sich zu orientiren, indem er geraden Wegs auf den Wald zuging, von dem er bei der herrschenden Finsterniß kaum etwas wahrnehmen konnte. Nachdem er fast eine halbe Stunde gebraucht, um eine halbe Meile zurück zulegen, gelangte er dorthin.


Der Sergeant hatte ihn über den Hof geführt. (S. 336.)

Offenbar hatte Lionel seine Annäherung nicht bemerken können, denn sonst wäre ihm dieser sicher entgegengegangen.

Johann schlüpfte unter die Bäume mit größter Unruhe, den jungen Schreiber an dem verabredeten Orte [337] nicht aufzufinden, und wollte dessen Namen nicht rufen, um sich keiner Gefahr auszusetzen, im Falle er von einem verspätet heimkehrenden Fischer gehört würde.

Da erinnerte er sich der beiden letzten Zeilen aus der Ballade des jungen Dichters, derselben, welche er auf der Farm von Chipogan recitirt hatte! Und etwas weiter in den Wald eindringend, wiederholte er mit halblauter Stimme:


Mit Dir entstehn, Du Wandelflamme,

Mit Dir vergehn, Du irrend Licht!


Sofort tauchte Lionel aus einem Dickicht in der Nähe auf und lief auf ihn zu mit den Worten:

»Sie, Herr Johann... Sie?

– Ja, Lionel.

– Und der Abbé Joann?...

– In meiner Zelle! – Doch jetzt schnell, nach der Insel Navy! Binnen achtundvierzig Stunden müssen wir mit unseren Genossen im Fort Frontenac zurück sein!«

Johann und Lionel traten eiligst wieder aus dem Walde heraus und schlugen eine Richtung nach Süden ein, um am Ufer des Ontario bis zu den Gebieten des Niagara hinunter zu gehen.

Das war der kürzeste und gleichzeitig derjenige Weg, welcher die geringsten Gefahren bot. Schon fünf Meilen von hier mußten sie, nach Ueberschreitung der amerikanischen Grenze, gegen jede Verfolgung gesichert sein und konnten die Insel Navy dann unaufgehalten erreichen.

Um dieser Richtung zu folgen, sahen sich Johann und Lionel freilich genöthigt, noch einmal am Fort vorüberzugehen. In dieser schrecklichen Nacht und inmitten des ungestümen Schneegestöbers liefen sie indeß wenig Gefahr, von einem Wachthabenden bemerkt zu werden, selbst wenn Beide zusammen das schmale Uferland überschritten. Wäre die Fläche des Ontario nicht durch jene Anhäufung von Eismassen an seinen Ufern unzugänglich und der See schiffbar gewesen, so hätte es sich gewiß empfohlen, einen Fischer aufzusuchen, der die Flüchtlinge dann schnell bis zur Einmündung des Niagara hätte bringen können. Doch daran war jetzt nicht zu denken.

[338] Johann und Lionel gingen so eilig dahin, wie es der heulende Sturm irgend zuließ. Sie befanden sich nur noch in geringer Entfernung vom Fort, als das scharfe Knattern einer Gewehrsalve die Luft zerriß.

Eine Täuschung war nicht möglich; das war ein Pelotonfeuer im Innern der Umplankung.

»Joann!«... stieß Johann hervor.

Als wäre er selbst von den Kugeln der Soldaten im Fort Frontenac getroffen gewesen, stürzte er zusammen.

Joann war für seinen Bruder, für sein Vaterland gestorben.

Kaum eine halbe Stunde nach dem Weggange Johanns hatte der Major Sinclair Befehl zur Vollziehung der Hinrichtung gegeben, wie das die von Quebec eingetroffenen Anordnungen verlangten.

Joann war aus der Zelle und nach dem Hofe geschleppt worden, wo er den Tod finden sollte.

Der Major hatte dem Gefangenen das Urtheil vorgelesen.

Joann gab darauf keine Antwort.

In diesem Augenblicke hätte er ja rufen können:

»Ich bin gar nicht Johann ohne Namen!... Ich bin der Priester, der an seine Stelle getreten ist, um Jenen zu retten!«

Der Major wäre damit gezwungen gewesen, die Execution aufzuschieben und neue Verhaltungsmaßregeln vom General-Gouverneur einzuholen.

Johann mußte indeß noch zu sehr in der Nähe des Fort Frontenac sein. Die Soldaten wären zu seiner Verfolgung entsendet worden und hätten ihn ohne Zweifel auch gefunden. Dann wurde dieser doch erschossen – Johann ohne Namen durfte aber nicht anders als auf dem Schlachtfelde sterben!

Joann schwieg, er lehnte sich ein wenig an die Wand und mit den Worten : »Mutter!... Bruder!... Vaterland!« stürzte er von vielen Kugeln durchbohrt zusammen.

Die Soldaten hatten ihn lebend nicht erkannt und erkannten ihn auch jetzt im Tode nicht. In einem außerhalb der Umplankung ausgehobenen Grabe wurde er sofort verscharrt. Die Regierung mußte annehmen, mit ihm den gefährlichsten Helden der Unabhängigkeitsbestrebungen unschädlich gemacht zu haben. Das war das erste Opfer dieser Sühne für das Verbrechen eines Simon Morgaz!

[339]
9. Capitel
Neuntes Capitel.
Die Insel Navy.

Es war im Jahre 1668 und unter dem Befehle des Cavalier de la Salle, als die Franzosen das erste französische Fahrzeug auf dem Gewässer des Ontario segeln ließen. An dem südlichen Ende desselben angekommen, wo sie das Fort Niagara errichteten, drang ihr Schiff in den Fluß gleichen Namens ein bis zu dessen Stromschnellen, drei Meilen von den berühmten Wasserfällen. Dann wurde ein zweites Fahrzeug, stromaufwärts von letzteren gebaut und vom Stapel gelassen, welches auf den Erie-See einfuhr und seine kühne Reise bis zum Michigan-See fortsetzte.

Der Niagara ist ja in der That weiter nichts als ein natürlicher Canal von etwa sechzehn (englische) Meilen Länge, der den Gewässern des Erie-Sees Abfluß nach dem Ontario-See gestattet. Fast genau in der Mitte dieses Canals fällt dessen Grund plötzlich um hundertsechzig Fuß, und zwar an der Stelle, wo der Strom eine Biegung macht und eine Art Hufeisen bildet. Ein Eiland – Goat-Island – schneidet denselben in zwei ungleiche Theile. Zur Rechten wälzt der amerikanische, zur Linken der canadische Fall brausend und donnernd furchtbare Wassermassen in einen Abgrund, über den unablässig dichte Wolken von zerstäubtem Wasser hin- und herwallen.

Die Insel Navy liegt stromaufwärts von diesen Fällen, also nach der Seite des Erie-Sees zu, zehn Meilen von der Stadt Buffalo und drei Meilen von dem Dorfe Niagara-Falls, welch' letzteres am obern Theile der Fälle erbaut ist, deren Namen es trägt.

Hier hatten die Patrioten gleichsam die letzte Schutzwehr des Aufstandes errichtet, eine Art Feldlager, mitten im Niagara zwischen Canada und Amerika, an der natürlichen Grenze beider Länder.

Diejenigen der Führer, welchen es gelang, den Verfolgungen der Loyalisten zu entgehen, nachdem diese bei St. Denis und St. Charles den Sieg behielten, hatten das canadische Gebiet verlassen und die Grenze überschritten, um sich auf der Insel Navy zu sammeln.

[340] Entschied das Waffenglück gegen sie und gelang es den Königlichen, den linken Arm des Stromes zu überschreiten und sie von der Insel zu vertreiben, so blieb ihnen doch noch immer der Ausweg, nach dem anderen Ufer zu entweichen, wo es ihnen an thatkräftiger Theilnahme nicht fehlen konnte. Jedenfalls sollte es nur eine kleine Anzahl sein, welche bei den Amerikanern dann Asyl sachte, denn Alle waren bereit, in diesem letzten Kampfe bis aufs Aeußerste auszuhalten.

Die gegenseitige Stellung der französischen Canadier und der von Quebec aus entsandten königlichen Truppen war anfangs December die folgende:

Die Reformer – und genauer Diejenigen, welche man als »Blaumützen« bezeichnete – hielten die Insel Navy besetzt, welche zur Vertheidigung des Stromes freilich nicht hinreichte.

Trotz der herrschenden außerordentlichen Kälte blieb der Niagara nämlich noch immer schiffbar, was durch die Schnelligkeit seines Laufes bedingt ist. In Folge dessen war also auch eine Verbindung mittelst Booten zwischen der Insel Navy und den beiden Ufern nicht behindert. Die Amerikaner und Canadier verkehrten denn auch fortwährend zwischen dem Lager und dem Dorfe Schlosser am rechten Ufer des Niagara. Sehr häufig glitten größere und kleinere Boote über diesen Flußarm, von denen die einen Schießbedarf, Waffen und Nahrungsmittel brachten, die anderen von Fremden besetzt waren, welche in der Voraussicht eines bevorstehenden Angriffs der Königlichen in Schlosser zusammenströmten.

Ein Bürger der Vereinigten Staaten, Wills mit Namen und Eigenthümer des kleinen Dampfers »Caroline«, benützte diesen zu täglichen Fahrten gegen ein geringes Entgelt, welches die Neugierigen gern entrichteten.

Am entgegengesetzten Ufer des Niagara und folglich Schlosser gegenüber lagen die Engländer unter dem Befehle des Obersten Mac Nab in dem Dorfe Chippewa.

Ihre Truppenstärke war hinlänglich groß, um die auf der Insel Navy versammelten Farmer einfach zu erdrücken, wenn es ihnen nur gelang, nach der Insel hinüber zu kommen. Zum Zwecke eines Landungsversuches waren denn in Chippewa auch große Boote bereit gelegt, und jener sollte, sobald die Vorbereitungen des Oberst Mac Nab vollendet waren, das heißt schon in einigen Tagen, unternommen werden. Der Ausgang dieses letzten Kampfes an der Grenze Canadas war also von ausschlaggebender Bedeutung.

[341] Es kann nicht Wunder nehmen, daß die Persönlichkeiten, welche in den verschiedenen Entwickelungsstufen dieser Erzählung schon mehrfach besonders hervortraten, sich auf der Insel Navy zusammengefunden hatten. André Farran, der unlängst von seinen Wunden genesen, war ebenso wie William Clerc nach dem Lagerplatze geeilt, wo sich auch Vincent Hodge bald bei ihnen einfand. Nur der noch im Gefängniß zu Montreal schmachtende Abgeordnete Sebastian Gramont hatte seine Stelle unter den Waffengefährten noch nicht wieder eingenommen.

Nachdem es ihm seinerzeit gelungen, die Heimkehr Bridgets und Clarys de Vaudreuil zu sichern, welche Dank seinem Dazwischentreten das geschlossene Haus wieder erreichen konnten, war es Vincent Hodge gelungen, sich sowohl von den betrunkenen Soldaten, die ihn umringten, als von denen, die ihm den Rückzug abzuschneiden drohten, glücklich zu befreien.

Er flüchtete hierauf durch den Wald und befand sich schon mit Tagesanbruch außer Gefahr, den Königlichen in die Hände zu fallen. Achtundvierzig Stunden später erreichte er St. Albans, jenseits der Grenze. Als sich seine Landsleute auf der Insel Navy zu sammeln begannen, begab er sich dorthin mit einigen Amerikanern, welche der Sache der canadischen Unabhängigkeit mit Leib und Seele anhingen.

Hier befand sich auch Thomas Harcher mit seinen vier Söhnen, Pierre, Jacques, Tomy und Michel; nachdem sie dem Gemetzel bei St. Charles entgangen, wäre eine Rückkehr nach Chipogan die größte Unklugheit gewesen, und zwar nicht nur in Bezug auf sie selbst, sondern auch wegen Catherine Harcher's. Sie hatten sich deshalb nach dem Dorfe St. Albans geflüchtet, wo Catherine sie durch Boten über ihr Schicksal und das der übrigen Kinder unterrichtet halten konnte. Von der ersten Woche des December ab hatten auch sie sich nach der Insel Navy zurückgezogen, fest entschlossen, noch einmal in den Kampf einzutreten, und bereit, den Tod Remys zu rächen, der unter den Kugeln der Loyalisten gefallen war.

Was den Meister Nick betrifft, so wäre von ihm der hellsehendste Weissager des Far-West, der ihm prophezeit hätte: »Der Tag wird noch kommen, wo Du, königlicher Notar, friedlich von Charakter, klug durch Passion, Dich an der Spitze eines Huronenstammes gegen die von Gott verordneten Behörden Deiner Heimat schlagen wirst!« – dieser Weissager wäre von ihm für würdig erachtet worden, unverzüglich in das nächste Irrenhaus eingesperrt zu werden.

[342] Und dennoch befand sich der Meister Nick jetzt an der Spitze der Krieger dieses Stammes. Nach einer feierlichen Verhandlung waren die Mahogannis dahin überein gekommen, sich den Patrioten anzuschließen. Ein großer Häuptling, in dessen Adern das Blut der Sagamores rollte, konnte da nicht zurückbleiben. Vielleicht wagte er noch zuletzt einige Einwendungen... Diese wurden gar nicht angehört. Am nächstfolgenden Tage, nachdem Lionel, der den Abbé Joann begleitete, Walhatta verlassen und das Feuer in der Mitte des Berathungsplatzes erloschen, hatte sich Meister Nick, gefolgt – doch nein, angeführt von etwa fünfzig Kriegern, nach dem Ontario-See begeben, um nach dem Dorfe Schlosser zu gelangen.

Der freundliche Leser begreift gewiß leicht, welcher Empfang hier dem Meister Nick zu Theil wurde. Thomas Harcher drückte ihm die Hand so übermäßig kräftig, daß es ihm vierundzwanzig Stunden lang unmöglich war, den Bogen oder Tomahawk zu handhaben. Dieselbe Bewillkommnung erfuhr er von Seiten Vincent Hodge's, Farran's, Clerc's und aller Derjenigen, welche seine Freunde oder in Montreal seine Clienten gewesen waren.

»Ja... ja freilich... stammelte er, ich hielt mich für verpflichtet... oder vielmehr diese wackeren Leute hier...

– Die Krieger Ihres Stammes?... fragten Mehrere.

– Ja... meines Stammes!« antwortete er.

Wenn der vortreffliche Mann auch selbst eine höchst klägliche Rolle spielte, der gegenüber sich Lionel um seinetwillen geschämt hätte, so begrüßte man es doch mit Freuden, daß die Huronen herbeikamen, um der nationalen Sache ihre Hilfe zu leihen. Folgten jetzt die anderen Stämme ebenfalls ihrem Beispiele und verbanden sich deren Krieger aus denselben Beweggründen mit den Reformern, so konnte die Regierung kaum im Stande sein, der aufständischen Bewegung Herr zu werden.

In Folge der letzten Vorkommnisse hatten die Patrioten freilich aus der Offensive zur Defensive übergehen müssen. Und im Fall, daß die Insel Navy in die Gewalt des Obersten Mac Nab fiel, war die Sache der Unabhängigkeit unwiderruflich verloren.

Die Anführer der Blaumützen hatten sich bemüht, den Widerstand mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu organisiren. An verschiedenen Stellen der Insel hatte man hierzu Wälle aufgeworfen, um jeden Landungsversuch unter besseren Verhältnissen zurückweisen zu können, und Waffen, Schießbedarf, [343] sowie Proviant, der nach dem Dorfe Schlosser kam, wurden in größter Eile und mit rühmlichstem Eifer besorgt. Am schwersten empfanden es die Patrioten, daß sie hier verurtheilt waren, einen Angriff abzuwarten, statt einen solchen selbst zu unternehmen, da es ihnen an Transportmitteln, den Niagara zu überschreiten, vollständig fehlte. Wie konnten sie sich aber ohne diese Hilfsmittel auf das Dorf Chippewa stürzen und zum Sturm auf das am linken Stromufer errichtete und befestigte Lager vorgehen?

Begreiflicher Weise mußte sich ihre Lage, je länger sie in dieser Weise andauerte, nur weiter verschlimmern. Wirklich erhielten die Streitkräfte des Oberst Mac Nab immer noch Verstärkungen, während die Vorbereitungen zur Ueberschreitung des Niagara mit allem Eifer betrieben wurden. Bis zur Grenze zurückgedrängt, hätten die Vertheidiger der franco-canadischen Sache gewiß vergeblich gesucht, mit den Bevölkerungen der Provinzen Ontario und Quebec im Einvernehmen zu bleiben. Wie sollten sich denn aber die Kirchspiele sammeln, um die Waffen zu ergreifen, und wer hätte sich jetzt an ihre Spitze stellen sollen, wo die Colonnen der Königlichen alle Grafschaften am St. Lorenzo durchzogen?

Ein Einziger hätte das vermocht. Ein Einziger hatte genug Einfluß auf die Volksmassen, das war Johann ohne Namen. Seit der Niederlage von St. Charles aber war dieser verschwunden, und alle Wahrscheinlichkeiten sprachen dafür, daß derselbe unbemerkt den Tod gefunden hatte, da er an der amerikanischen Grenze noch nicht erschienen war. Die Annahme, daß er erst neuerlich der Polizei in die Hände gefallen sein könne, erschien unhaltbar; seine Gefangennahme wäre von den Behörden in Quebec und Montreal gewiß nicht geheim gehalten worden.

Ebenso verhielt es sich bezüglich des Herrn de Vaudreuil. Vincent Hodge, Farran und Clerc wußten nicht, was aus ihm geworden sei. Ihnen war nur bekannt, daß er bei St. Charles eine schwere Verwundung erhalten; Niemand hatte aber gesehen, daß Johann ihn vom Schlachtfeld weggetragen und in Sicherheit gebracht hatte, und eine Nachricht von seiner Gefangennahme war auch nicht eingetroffen. Was Clary de Vaudreuil betrifft, so hatte Vincent Hodge nach dem Augenblicke, wo er sie aus den Händen der umherschweifenden betrunkenen Soldaten befreite, ihre Spur nicht wiederfinden können.

Nun stelle man sich die Freude vor, welche alle Freunde Herrn de Vaudreuil's empfinden mußten, als sie diesen im Laufe des 10. December in Begleitung seiner Tochter und einer bejahrten Frau, welche Niemand kannte, auf der Insel Navy eintreffen sahen.


»Ja, die Krieger meiner Tribus«, antwortete Meister Nick. (S. 343.)

[344] [347]Diese Frau war Bridget.

Nach dem Weggange Johanns wäre es ohne Zweifel das Beste gewesen, auch noch ferner im geschlossenen Hause zu bleiben, da Herr de Vaudreuil hier kaum noch Gefahr lief, entdeckt zu werden. Wo hätte seine Tochter ein anderes und sichereres Obdach finden sollen? Die durch die Freiwilligen bei ihrem Zuge durch die Insel Jesus niedergebrannte Villa Montcalm war nur noch eine Ruine. Uebrigens wußte Herr de Vaudreuil noch nicht, aus welchem Grunde Rip im geschlossenen Hause keine weiteren Untersuchungen hatte anstellen lassen. Clary hatte das Geheimniß dieser befleckenden Protection bewahrt, und er wußte also nicht, daß er der Gast einer Bridget Morgaz war.

Mehr für seine Tochter als für sich selbst das wiederholte Eindringen von Polizisten fürchtend, hatte Herr de Vaudreuil an dem einmal entworfenen Plan nichts geändert sehen wollen. Am Nachmittage des nächstfolgenden Tages, und als er sicher war, daß die Königlichen St. Charles verlassen, hatte er mit Clary und Bridget in dem Planwagen des Farmers Archambaud Platz genommen. Alle Drei begaben sich ohne Aufenthalt nach dem Süden der Grafschaft St. Hyazinthe, und sobald sie von der Wiederansammlung der Patrioten auf der Insel Navy erfuhren, beeilten sie sich, die amerikanische Grenze zu erreichen. Am Abend vorher und nach einer recht beschwerlichen und nicht minder gefährlichen Fahrt in Schlosser angelangt, befanden sie sich jetzt inmitten ihrer Freunde.

Bridget hatte also zugestimmt, Clary de Vaudreuil zu folgen, obwohl diese ihre Vergangenheit kannte?... Ja, die unglückliche Frau hatte ihren Bitten nicht zu widerstehen vermocht.

Die Abreise war unter folgenden Verhältnissen vor sich gegangen:

Als sie nach der Flucht Johanns ebenso wie dieser es empfand, daß sie ihren Gästen nur ein Gegenstand des Entsetzens sein könne, hatte sich Bridget nach ihrem Zimmer zurückgezogen. Welch' schreckliche Nacht verbrachte hier das arme Weib! Wußte sie doch nicht, ob Clary ihrem Vater verheimlichen würde, was sie erfahren hatte. Nein, wahrscheinlich nicht; und am nächsten Tage schon mußte dann Herr de Vaudreuil nichts Eiligeres zu thun haben, als das geschlossene Haus zu fliehen... ja, zu fliehen, selbst auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen; lieber zu fliehen, als noch eine Stunde unter dem Dache der Morgaz zu verweilen.

[347] Auch Bridget wollte ja selbst nicht länger in St. Charles bleiben. Sie wollte es nicht abwarten, unter öffentlicher Beschimpfung von hier vertrieben zu werden. Weit, weit fort wollte sie gehen und von Gott erflehen, daß er sie von diesem entsetzlichen Leben bald erlöse.

Am folgenden Morgen schon mit Tagesanbruch sah Bridget aber das junge Mädchen in ihr Zimmer treten. Sie wollte eben daraus weggehen, um nicht mit ihr zusammenzutreffen, als Clary sie mit trauriger und doch so theilnehmender Stimme anredete.

»Frau Bridget, begann sie, ich habe vor meinem Vater Ihr Geheimniß bewahrt. Er weiß nichts und wird nie etwas wissen von Ihrer Vergangenheit, und auch ich will dieselbe vergessen. Ich werde mich nur erinnern, daß, wenn Sie die unglücklichste der Frauen, Sie doch auch die ehrenwertheste von allen sind!«

Bridget erhob nicht einmal den Kopf

»Hören Sie mich an, fuhr Clary fort. Ich hege für Sie gern und willig die Achtung, auf welche Sie ein so volles Recht haben, und ich habe für Ihr Unglück das Mitgefühl, die Theilnahme, welche dasselbe verdient. Nein!... Sie sind nicht verantwortlich für das Verbrechen, das Sie so grausam gesühnt haben. Jenen abscheulichen Verrath haben Ihre Söhne überreichlich gut gemacht; Sie werden noch einmal gerechte Anerkennung finden; für jetzt lassen Sie mich Sie lieben, als wären Sie meine Mutter. Ihre Hand, Frau Bridget, geben Sie mir Ihre Hand!«

Gegenüber dieser rührenden Darlegung ihrer innersten Gefühle, welcher sie so ungewohnt war, ließ sich die Unglückliche erweichen und preßte die Hand des jungen Mädchens, während ihr große Thränen aus den Augen perlten.

»Und nun, nahm Clary wieder das Wort, nun sei davon niemals mehr die Rede, denken wir vielmehr an die Gegenwart. Mein Vater fürchtet, daß Ihre Wohnung doch erneuten Haussuchungen schwerlich entgehen werde. Er will, daß wir zusammen schon nächste Nacht, wenn die Straßen frei geworden sind, abfahren. Sie, Frau Bridget, können und dürfen nicht länger in St. Charles bleiben. Ich erwarte von Ihnen das Versprechen, daß Sie uns folgen werden. Wir suchen unsere Freunde wieder auf, finden Ihren Sohn wieder, und ihm gegenüber werd' ich wiederholen, was ich Ihnen soeben gesagt, und was ich für eine die Vorurtheile der Menschen weit überwiegende Wahrheit halte, deren Quelle in meinem Herzen liegt. – Hab' ich Ihr Versprechen, Frau Bridget?

[348] – Ich werde von hier fortgehen, Clary de Vaudreuil.

– Mit meinem Vater und mit mir?...

– Ja, und doch wär's besser, mich in der Fremde an Unglück und Schande ruhig sterben zu lassen.«

Clary mußte Bridget, die schluchzend zu ihren Füßen lag, emporrichten.

Am Abend des folgenden Tages hatten alle Drei das geschlossene Haus verlassen.

Vierundzwanzig Stunden später, auf der Insel Navy, vernahmen sie die für die nationale Sache so schmerzliche Neuigkeit:

Johann ohne Namen sei durch den Polizeihauptmann Comeau gefangengenommen und nach dem Fort Frontenac gebracht worden.

Dieser letzte Schlag vernichtete Bridget. Was aus Joann geworden, wußte sie nicht; was Johann erwartete – das wußte sie nur zu gut... Ihm drohte der Tod in allernächster Zeit.

»Ach, wenn wenigstens Niemand erfährt, daß sie die Söhne Simon Morgaz' sind!« murmelte sie.

Nur Fräulein de Vaudreuil allein kannte dieses Geheimniß. Doch was hätte sie sagen können, um Bridget zu trösten?

An dem Schmerze, den sie beim Eintreffen jener Nachricht empfand, fühlte Clary nur zu deutlich, daß ihre Liebe zu Johann keine Einbuße erlitten habe. Sie sah in ihm nichts Anderes als den glühenden, dem Tode geweihten Patrioten.

Die Gefangennahme Johanns ohne Namen hatte übrigens im Lager der Insel Navy große Entmuthigung erzeugt, und auf diese Wirkung rechnete die Regierung ganz besonders, als sie jene Nachricht möglichst geräuschvoll verbreitete. Sobald dieselbe nach Chippewa gelangte, gab der Oberst Mac Nab Befehl, sie in der ganzen Provinz bekanntzumachen.

Wie war diese Kunde auch über die canadische Grenze gekommen?... Davon hatte Niemand eine Ahnung. Ganz unerklärlich schien es obendrein, daß sie auf der Insel Navy sogar noch eher bekannt war als im Dorfe Schlosser. – Doch änderte das ja nichts an der Sachlage.

Leider war jene Verhaftung nur zu gewiß, und Johann ohne Namen mußte zu der Stunde fehlen, wo das Schicksal Canadas sich auf dem letzten Schlachtfelde entscheiden sollte.

[349] Gleich nach Bekanntwerden der Gefangennahme wurde im Laufe des 11. December eine Berathschlagung abgehalten.

Mit Vincent Hodge, André Farran und William Clerc wohnten derselben die hervorragendsten Anführer bei.

Herr de Vaudreuil, als Befehlshaber des Lagers auf der Insel Navy, führte dabei den Vorsitz.

Vincent Hodge äußerte sich zunächst in dem Sinne, ob es nicht möglich sei, Johann ohne Namen durch einen Gewaltstreich zu befreien.

»In Fort Frontenac ist er eingeschlossen, sagte er; die Garnison dieses Forts ist nur schwach an Zahl, und so etwa hundert entschlossene Männer würden sie zwingen können, sich zu ergeben. Es erscheint mir nicht unmöglich, das binnen vierundzwanzig Stunden auszuführen.

– Vierundzwanzig Stunden, wiederholte Herr de Vaudreuil. Vergessen Sie denn ganz, daß Johann ohne Namen schon verurtheilt war, ehe man ihn gefangen hatte? Mindestens noch in dieser Nacht oder in höchstens zwölf Stunden müßten wir in Frontenac sein, um etwas ausrichten zu können.

– Wir werden dort sein, erklärte Vincent Hodge. Längs des Ontario-Flusses kann uns kein Hinderniß aufhalten bis zur Grenze des St. Lorenzo, und da die Königlichen von unserem Plane nicht unterrichtet sind, werden sie uns das Ueberschreiten desselben nicht streitig machen können.

– So versuchen Sie Ihr Heil, sagte Herr de Vaudreuil, doch marschieren Sie ganz im Geheimen ab. Die Spione des Lagers von Chippewa dürfen nichts von Ihrem Aufbruche bemerken!«

Nachdem der kühne Zug einmal beschlossene Sache war, fiel es nicht schwer, die hundert Mann, welche daran theilnehmen sollten, zusammenzubringen. Um Johann ohne Namen dem Tode zu entreißen, hatten alle Patrioten sich angeboten. Das von Vincent Hodge geführte Detachement setzte nach der rechten Seite des Niagara, nach Schlosser über, und schräg über das amerikanische Gebiet hinziehend, gelangte es gegen drei Uhr Morgens an das rechte Ufer des St. Lorenzo, dessen Eisdecke die Männer leicht überschreiten konnten. Das Fort Frontenac lag von hier aus nur noch fünf Meilen nach Norden zu. Vor Tagesanbruch konnte Vincent Hodge die Besatzung desselben überrumpelt und den Verurtheilten befreit haben. Den Canadiern war aber, direct von Chippewa geschickt, ein reitender Bote vorausgeeilt. Die den Wachtdienst längs der Grenze versehenden Truppen hielten das linke Stromufer besetzt.

[350] Deshalb mußte man auf jeden Weitermarsch verzichten; das Detachement wäre einfach aufgerieben worden und kein Mann nach der Insel Navy zurückgekehrt.

Vincent Hodge und seine Begleiter sahen sich gezwungen, wieder nach Schlosser zu umzukehren.

Der gegen das Fort Frontenac geplante Handstreich war also offenbar nach dem Lager von Chippewa gemeldet worden.

Daß die durch die Zusammenziehung von hundert Mann nöthig werdenden Vorbereitungen nicht vollständig geheim verlaufen konnten, lag ja am Ende auf der Hand, erklärte aber noch nicht, wie der Oberst Mac Nab davon Kenntniß erhalten hatte. Jedenfalls legte das den Gedanken nahe, daß sich unter den Patrioten ein, wenn nicht gar mehrere Spione befänden, welche mit dem Lager von Chippewa durch Zeichen sich zu verständigen vermochten. Schon bei anderen Gelegenheiten war der Verdacht aufgestiegen, daß die Engländer von dem unterrichtet würden, was auf der Insel vorging; dieses Mal konnte man nicht länger daran zweifeln, da jene an der Grenze von Canada liegenden Truppen zeitig genug benachrichtigt worden waren, um Vincent Hodge an der Ueberschreitung derselben zu verhindern.

Uebrigens hätte der von Herrn de Vaudreuil organisirte Versuch eine Befreiung des Verurtheilten gar nicht herbeizuführen vermocht. Vincent Hodge wäre doch zu spät nach dem Fort Frontenac gekommen.


Sie hatten in dem Planwagen des Farmers Platz genommen. (S. 347.)

Am folgenden Tage, schon zeitig des Morgens, verbreitete sich die Nachricht, daß Johann ohne Namen am Vortage innerhalb der Umplankung des Forts erschossen worden sei.

Die Loyalisten aber wünschten sich Glück, nichts mehr von diesem volksthümlichen Helden zu fürchten zu haben, der von jeher die Seele der franco-canadischen Aufstandsversuche gewesen war.

[351]
10. Capitel
Zehntes Capitel.
Bridget Morgaz.

Inzwischen sollten zwei andere, nicht minder furchtbare Schläge die nationale Partei treffen und die letzten Vertheidiger des Lagers auf der Insel Navy noch weiter entmuthigen.

[352] In der That war zu befürchten, daß die Reformisten allmählich eine Beute der Verzweiflung würden, angesichts der sich wiederholenden Mißerfolge, welche das Unglück auf sie häufte.

In erster Linie machte die im Bezirke von Montreal erfolgte Erklärung des Standrechtes ein Einvernehmen zwischen den Kirchspielen am St. Lorenzo fast unmöglich. Einerseits ermahnte der canadische Clerus, ohne sich jeder Hoffnung auf die Zukunft zu begeben, doch die widerstrebenden Mengen, sich zu unterwerfen; andererseits war es sehr schwierig, ohne Hilfe der Vereinigten [353] Staaten den Sieg zu erringen. Abgesehen von der nächsten Grenzbevölkerung, schien aber auf eine solche Hilfe nichts hinzudeuten. Die Bundesregierung lehnte es ausdrücklich ab, für die Nachbarn französischen Ursprungs offen Partei zu ergreifen. Gute Wünsche... ja; Thaten... nicht die geringste! Außerdem bemühten sich noch eine Anzahl Canadier, unter Vorbehalt ihrer Rechte und unter Protest gegen offenbare Mißbräuche, die Gemüther möglichst zu beruhigen.


Die Truppen hielten das linke Stromufer besetzt. (S. 350)

Dieser Zustand der Dinge verursachte es, daß die kampfbereiten Patrioten im letzten Monate des Jahres 1837 nicht mehr als etwa tausend Mann zählten, welche noch überdies im Lande verstreut waren. An Stelle einer Revolution hatte die Geschichte damit nur noch eine Revolte in ihre Bücher einzutragen.

Inzwischen wurden in Swanton einige isolirte Aufstandsversuche unternommen. Auf Anrathen Papineau's und O'Callaghan's drang eine kleine Truppe von achtzig Mann in das canadische Gebiet ein, gelangte hier bis Moore's-Corner und stürzte sich auf einen Haufen von vierhundert Kronfreiwilligen, welche den Patrioten den Weg verlegten. Letztere schlugen sich mit rühmenswerthem Muthe, wurden aber doch zurückgedrängt und mußten die canadische Grenze wieder rückwärts überschreiten.

Als die Colonialregierung von dieser Seite nichts zu fürchten hatte, konnte sie ihre Streitkräfte mehr nach Norden hin zusammenziehen.

Am 14. December kam es zu einem Gefechte in St. Eustache, in der Grafschaft Deux-Montagnes, nördlich vom St. Lorenzo. Hierbei zeichnete sich inmitten seiner kühnen Kampfgenossen, wie Lorimier, Ferréol und Andere, durch Entschlossenheit und Todesverachtung vorzüglich der Doctor Chénier aus, auf dessen Kopf ein Preis ausgeschrieben war. Zweitausend von Sir John Colborne entsandte Soldaten, neun Kanonen, hundertzwanzig Mann Cavallerie und eine Compagnie von achtzig Freiwilligen griffen St. Eustache an. Chénier und die Seinigen leisteten heldenhaften Widerstand. Den Vollkugeln und den Gewehrsalven ausgesetzt, mußten sie sich nach dem Pfarrhause, dem Kloster und in die Kirche zurückziehen; die Meisten besaßen nicht einmal Flinten, und als sie solche zu haben verlangten, antwortete Chénier kaltblütig:

»Ihr nehmt die Gewehre Derjenigen, welche schon gefallen sind!«

Der Kreis der Angreifer zog sich jedoch um das Dorf immer enger zusammen, und auch eine Feuersbrunst kam den Königlichen zu Hilfe.

Chénier sah sich gezwungen, die Kirche zu verlassen; da streckte ihn eine Kugel zu Boden. Er raffte sich noch einmal auf und feuerte; jetzt traf ihn eine[354] Kugel mitten in die Brust, so daß er auf der Stelle todt zusammensank. Siebenzig seiner Gefährten fielen mit ihm.

Man sieht wohl noch heute die Zerstörungen an der Kirche, in der jene Verzweifelten kämpften, und die Canadier haben niemals aufgehört, den Ort zu besuchen, wo der muthige Arzt den Tod fand. Im ganzen Lande pflegt man noch immer zu sagen: »muthig wie Chénier.«

Nach der erbarmungslosen Niederwerfung der Aufständischen in St. Eustache sandte Sir John Colborne seine Truppen nach St. Benoit, wo sie am folgenden Tage eintrafen.

Es war das ein Schloß und reiches Dorf, einige Meilen nördlich in der Grafschaft Deux-Montagnes.

Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen, die sich von Anfang an hatten unterwerfen wollen. Wie hätten sie auch nur die Möglichkeit gehabt, sich gegen die von St. Eustache kommenden regulären Truppen und gegen die von St. Andrew heranziehenden Freiwilligen zu vertheidigen, welche zusammen mehr als sechstausend Mann zählten und von dem General persönlich angeführt wurden?

Verwüstungen, Zerstörungen, Plünderungen, Feuersbrünste und Diebstähle – alle Ausschreitungen einer wüthenden Soldatesca, welche weder Alter noch Geschlecht schonte, Kirchenschändung, Entweihung heiliger Gefäße durch die Benützung zu den gemeinsten Zwecken, Entwendung von Meßgewändern, welche sie an den Hals ihrer Pferde banden – das waren die Acte des Vandalismus und der Unmenschlichkeit, deren Schauplatz dieses Kirchspiel wurde.

Und wenn die Freiwilligen großen Antheil an diesen Schändlichkeiten nahmen, so ist doch anzuführen, daß die Soldaten der regulären Armee nur wenig oder gar nicht von ihren Vorgesetzten davon zurückgehalten wurden. Wiederholt ertheilten letztere sogar selbst den Befehl, verschiedene Häuser von Vornehmen den Flammen zu übergeben.

Als die Nachrichten hiervon am 16. December nach der Insel Navy kamen, erregten sie natürlich einen Sturm der Entrüstung. Die Blaumützen wollten mit aller Gewalt den Niagara überschreiten und das Lager Mac Nab's angreifen, so daß Herr de Vaudreuil die größte Mühe hatte, sie zurückzuhalten.

Nach der ersten Erregung des Zornes jedoch griff eine tiefe Entmuthigung Platz. Sogar schon einzelne Desertionen begannen die Reihen der Patrioten zu lichten, wobei vielleicht ein Hundert nach der amerikanischen Grenze übertraten.

[355] Endlich sahen auch selbst die Führer ihren Einfluß sich abschwächen und geriethen in so manchen Zwiespalt untereinander. Vincent Hodge, Farran und Clerc kamen häufig in Meinungsverschiedenheiten mit anderen Führern. Nur Herr de Vaudreuil vielleicht hätte diese Reibereien schlichten können, welche in der verzweifelten Lage ihren Ursprung fanden. Zum Unglücke fühlte er, bei fortdauernder geistiger Energie trotz schlecht verheilter Wunden, seine Körperkraft täglich abnehmen und sagte sich, daß er eine letzte Niederlage nicht überleben werde. Inmitten der Besorgnisse, welche ihm die nächste Zukunft einflößte, beschäftigte sich Herr de Vaudreuil auch mit dem traurigen Zustand, in dem er seine Tochter hinterlassen würde.

André Farran, William Clerc und Vincent Hodge bemühten sich fortwährend, die Niedergeschlagenheit ihrer Kampfgenossen zu bannen. Wenn die Partie auch diesmal verloren ging, wiederholten sie, so werde man nur die geeignete Stunde zur Wiederaufnahme derselben abzuwarten haben. Nachdem die Keime zu einer späteren allgemeinen Schilderhebung einmal gelegt seien, würden sich die Patrioten auf das Gebiet der Vereinigten Staaten zurückziehen, um sich hier zum neuen Feldzuge gegen ihre Unterdrücker vorzubereiten.

Nein, man durfte an der Zukunft nicht verzweifeln, und das war sogar die Meinung des Meister Nick, der gelegentlich zu Herrn de Vaudreuil sagte:

»Wenn der Aufstand vorläufig auch noch nicht siegen konnte, so müssen die Forderungen der Reformer schon allein durch die Gewalt der Thatsachen erfüllt werden. Canada wird seine Rechte früher oder später zurückerlangen, wird sich seine Selbstständigkeit erkämpfen und höchstens noch dem Namen nach mit England zusammenhängen. Sie werden das ja noch erleben, Herr de Vaudreuil; wir finden uns schon einmal wieder mit Ihrer lieben Clary in der aus den Ruinen entstandenen Villa Montcalm zusammen. Und ich – o, ich rechne stark darauf, nach endlicher Ablegung des Herrschermantels der Sagamores, der mir kaum bis an die Notarschultern reicht, in meine Expedition nach Montreal zurückzukehren.«

Sprach Herr de Vaudreuil, der sich um die Zukunft seiner Tochter sorgte, darüber mit Thomas Harcher, so antwortete ihm der Farmer:

»Gehören wir nicht auch etwas zu Ihrer Familie, gnädiger Herr? Wenn Sie für Fräulein Clary fürchten, warum senden Sie diese nicht zu meiner Frau Catherine? Dort, in der Farm von Chipogan wird sie in Sicherheit sein; dort finden Sie sie wieder, sobald die Verhältnisse das gestatten.«

[356] Herr de Vaudreuil machte sich jedoch keine Illusionen bezüglich seines Zustandes, und da er den Tod in seinem Innern nagen fühlte, wollte er die Zukunft Clarys unter schon längst von ihm gewünschten Umständen sichergestellt wissen.

Da er Vincent Hodge's Liebe für sein Kind wohl kannte, mußte er annehmen, daß diese Liebe auch erwidert würde. Niemals hätte er geahnt, daß Clarys Herz von dem Gedanken an einen Anderen erfüllt sein könne. Unzweifelhaft mußte sie ja, wenn sie an die Verlassenheit dachte, die ihr nach des Vaters Ableben drohte, selbst die Nothwendigkeit fühlen, eine Stütze in dieser Welt zu haben. Und gab es da eine verläßlichere als die Liebe Vincent Hodge's, der an sie schon durch die Bande des wärmsten Patriotismus gefesselt war?

Herr de Vaudreuil beschloß nun demgemäß zu handeln, um die Erfüllung seines liebsten Herzenswunsches zu erreichen. Er zweifelte ja nicht an den Empfindungen Hodge's und konnte an denen Clarys noch weniger zweifeln. So wollte er sie Beide vor sich kommen lassen, mit ihnen reden und ihre Hände ineinanderlegen. Wenn er dann starb, würde er nur noch ein Bedauern haben – das Bedauern, der Heimat ihre Unabhängigkeit noch nicht haben wiedergeben zu können.

Vincent Hodge wurde eingeladen, sich am Abend des 16. December bei ihm einzufinden.

Es war ein kleines Haus an der Ostküste der Insel, gegenüber dem Dorfe Schlosser, das Herr de Vaudreuil mit seiner Tochter bewohnte.

Bridget wohnte ebenfalls da, sie verließ dasselbe aber am Tage niemals. Meist ging das arme Weib nur mit der Dämmerung aus, versenkt in das Angedenken an ihre beiden Söhne, Johann, der für die nationale Sache gestorben war, und Joann, von dem sie keine Nachrichten mehr erhalten, und der vielleicht in einem Gefängnisse Quebecs oder Montreals nur die Stunde erwartete, wo auch er den Tod finden sollte.

Uebrigens sah sie auch niemals Jemand in dem Hause, wo Herr und Fräulein de Vaudreuil ihr die Gastfreundschaft vergalten, welche sie im geschlossenen Hause genossen hatten. Hier quälte sie nicht die Furcht, erkannt zu werden, oder die Besorgniß, daß man ihr ihren Namen ins Gesicht schleudern könne; denn wer hätte in ihr die Gattin Simon Morgaz' vermuthen können? Es war für sie aber schon zuviel, daß sie unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil [357] wohnte, und daß Clary ihr die Liebe und Achtung einer Tochter für ihre Mutter entgegenbrachte.

Vincent Hodge stellte sich pünktlich zur bestimmten Stunde ein. Als er eintraf, war es um acht Uhr Abends.

Bridget, welche ausgegangen war, durchirrte die Insel.

Vincent Hodge drückte Herrn de Vaudreuil die Hand und wandte sich dann zu Clary, welche ihm die ihrige entgegenstreckte.

»Ich habe über ernste Dinge mit Ihnen zu sprechen, lieber Hodge, begann Herr de Vaudreuil.

– Ich lasse Dich allein, lieber Vater, sagte Clary, sich nach der Thür begebend.

– Nein, mein Kind. Was ich zu sagen habe, geht Euch Beide an.«

Er machte Vincent Hodge ein Zeichen, sich vor seinem Lehnstuhle niederzusetzen. Clary nahm auf einem anderen Stuhle neben ihm Platz.

»Mein Freund, nahm er nun das Wort, ich habe nicht mehr lange zu leben; ich fühle es, daß meine Kräfte tagtäglich mehr schwinden. So hören Sie mich denn an, als säßen Sie am Bette eines Sterbenden, um dessen letzte Worte zu vernehmen.

– Mein lieber Vaudreuil, antwortete Hodge rasch, Sie übertreiben...

– Und Du machst uns rechten Schmerz, liebster Vater! setzte das junge Mädchen hinzu.

– Ihr Beide würdet mir noch mehr bereiten, erwiderte Herr de Vaudreuil, wenn Ihr es abschlügt, meinen Worten zu lauschen.«

Er sah Beide lange Zeit an. Dann wandte er sich an Vincent Hodge.

»Mein Freund, sagte er, bisher haben wir miteinander von nichts anderem gesprochen, als von der Angelegenheit, der wir Beide, Sie und ich, unser ganzes Leben widmeten. Meinerseits war das ja etwas sehr Natürliches, da ich von französischem Geblüt bin, und ich nur für den Triumph des französischen Canada gekämpft habe. Sie aber, der unserem Vaterlande nicht durch die Bande der Geburt angehört, Sie haben ebenfalls nicht gezaudert, in die vordersten Reihen der Patrioten einzutreten...

– Sind die Amerikaner und Canadier nicht Brüder? antwortete Vincent Hodge. Und wer weiß denn, ob Canada nicht dereinst einen Theil der amerikanischen Union bildet?...

– O, möchte dieser Tag doch kommen! rief Herr de Vaudreuil.

[358] – Ja, mein Vater, er wird kommen, ließ sich da Clary vernehmen, er wird kommen und Du wirst ihn noch sehen...

– Nein, mein Kind, ich werde ihn nicht sehen.

– Halten Sie denn dafür, daß unsere Sache für immer verloren ist, weil sie dieses Mal besiegt wurde? fragte Vincent Hodge.

– Eine gerechte Sache muß immer zuletzt triumphiren, antwortete Herr de Vaudreuil. Die Zeit, die mir fehlt, wird doch Ihnen nicht fehlen, diesen Triumph mit anzusehen. Ja, Hodge, Sie werden Zeuge desselben sein, und gleichzeitig werden Sie auch Ihren Vater gerächt haben, Ihren Vater, der durch den Verrath eines Morgaz auf dem Schaffot sein Leben aushauchte!«

Nach diesem so unerwartet ausgesprochenen Namen fühlte sich Clary wie ins Herz getroffen. Fürchtete sie wohl, die Röthe sehen zu lassen, die ihr Gesicht überflog?

Ja, wahrscheinlich, denn sie erhob sich und nahm an einem Fenster Platz.

»Was fehlt Ihnen, Clary? fragte Vincent Hodge, der zu dem jungen Mädchen herantrat.

– Du bist leidend? setzte Herr de Vaudreuil hinzu, und machte schon eine Anstrengung, den Armstuhl zu verlassen.

– Nein, mein Vater, es ist nichts!... Ein wenig frische Luft macht Alles wieder gut!«

Vincent Hodge öffnete die Fensterflügel und wandte sich an Herrn de Vaudreuil zurück.

Dieser wartete einige Minuten. Als dann Clary wieder an seine Seite gekommen, ergriff er ihre Hand, indem er gleichzeitig das Wort an Vincent Hodge richtete:


»Ihr nehmt die Gewehre derjenigen, welche schon gefallen sind,« antwortete Chénier. (S. 355.)

»Mein Freund, sagte er, obwohl nur der Patriotismus bisher Ihre Brust erfüllt hat, ließ er in Ihrem Herzen doch noch für eine andere Empfindung Raum. Ja, Hodge, ich weiß es, Sie lieben meine Tochter, und ich weiß auch, welche Hochachtung diese für Sie hegt. Ich würde weit ruhiger sterben, wenn ich wüßte, daß Sie das Recht und die Pflicht hätten, über sie zu wachen, wenn sie allein in der Welt steht. Wenn sie nun dazu Ja sagte, würden Sie Clary als Weib nehmen?«

Clary hatte die Hand aus der ihres Vaters gezogen; die Augen auf Vincent Hodge gerichtet, erwartete sie dessen Erklärung.

[359] »Mein lieber Vaudreuil, antwortete Vincent Hodge, Sie bieten mir da die Erfüllung des höchsten Glücks, das ich mir je geträumt, das, mich durch ein süßes Band an Sie zu fesseln. Ja, Clary, ich liebe Sie – schon seit langer Zeit – von ganzem Herzen; doch bevor ich Ihnen von meinen Empfindungen sprach, hatte ich die Sache unseres Volkes triumphiren sehen wollen. Jetzt sind die Verhältnisse freilich sehr ernste geworden und die jüngsten Ereignisse haben die Lage der Patrioten geändert, so daß wohl mehrere Jahre vergehen können, ehe es zu erneutem Kampfe kommt.

[360] Nun also, wollen Sie diese Jahre an meiner Seite und in dem Amerika, welches ja fast auch Ihr Vaterland ist, verleben? Wollen Sie mir das schöne Recht einräumen, den Vater an Ihrer Seite zu ersetzen, ihm die Freude gewähren, mich seinen Sohn zu nennen?... Sprechen Sie, Clary, ist das auch Ihr Wille?«

Das junge Mädchen schwieg.

Vincent Hodge senkte diesem Schweigen gegen über den Kopf und wagte keine Wiederholung seiner Frage.


Hier begannen die Soldaten ein Gemetzel unter waffenlosen Menschen. (S. 355.)

»Nun, mein Kind, nahm Herr de Vaudreuil wieder das Wort, Du hast mich verstanden?... hast gehört, was Hodge darauf sagt?... Es hängt jetzt nur davon ab, ob ich auch sein Vater sein kann, und ob ich, nach [361] so vielen Leiden in diesem Leben, als letzte Tröstung die haben soll, Dich mit einem Patrioten, der Dich liebt und Deiner würdig ist, vereinigt zu sehen!«

Da gab Clary mit tief erregter Stimme eine Antwort, welche freilich jede solche Hoffnung abschnitt.

»Du weißt, mein Vater, daß ich Dir gewiß stets die größte Achtung bewahrt habe; auch für Sie, Herr Hodge, empfand ich von jeher die aufrichtigste Hochachtung und die Liebe einer Schwester; Ihre Gattin aber kann ich nicht werden!

– Du kannst nicht, Clary? murmelte Herr de Vaudreuil, den Arm seiner Tochter erfassend.

– Nein, lieber Vater!

– Und weshalb nicht?...

– Weil mein Leben einem Anderen gehört.

– Einem Anderen?... rief Vincent Hodge, in dem sich unwiderstehlich ein Gefühl der Eifersucht regte.

– Seien Sie nicht eifersüchtig, Hodge, fuhr das junge Mädchen fort. Warum sollten Sie das auch sein, mein Freund? Derjenige, den ich liebe und gegen den ich von dieser Liebe niemals eine Silbe sprach, der... ist nicht mehr! Auch wenn er noch lebte, wär' ich vielleicht sein Weib nicht geworden. Doch er ist todt, gestorben für sein Vaterland, und ich... ich werde seinem Andenken treu bleiben...

– Es ist also Johann?... rief Herr de Vaudreuil.

– Ja, Vater, es ist, oder es war Johann...«

Clary konnte ihre Antwort nicht vollenden.

»Morgaz!... Morgaz...« so ertönte es plötzlich aus einem wüsten, jetzt noch ziemlich entfernten Geschrei hervor; gleichzeitig hörte man ein Lärmen unruhiger Massen, welches vom Norden der Insel und vom Ufer des Niagara herkam, an dem das Haus des Herrn de Vaudreuil sich erhob.

Bei diesem geräuschvoll ausgerufenen Namen, der ja den Johanns jetzt so seltsam vervollständigte, wurde Clary leichenblaß.

»Was hat der Lärm zu bedeuten? fragte Herr de Vaudreuil.

– Und warum dieser Name?« fragte Vincent Hodge.

[362] Er erhob sich, trat an das noch offene Fenster und beugte sich hinaus.

Das Uferland lag ziemlich hell vor ihm. Gegen hundert Patrioten, viele derselben mit Fackeln aus Birken- oder Buchenrinde, drängten sich am hohen Stromufer daher.

Männer, Frauen und Kinder umringten, den verhaßten Namen ausstoßend, eine alte Frau, welche ihren thätlichen Mißhandlungen nicht entfliehen konnte, da sie sich kaum selbst weiter zu schleppen vermochte.

Es war Bridget.

In diesem Augenblicke stürzte Clary aus Fenster und erkannte das Opfer der Volkswuth, deren Grund sie recht wohl errieth.

»Bridget!...« rief sie.

Sofort sprang das junge Mädchen nach der Thür, riß diese auf und eilte hinaus, ohne ihrem Vater, der ihr mit Vincent Hodge folgte, noch eine Erklärung zu geben.

Die Volksmenge befand sich jetzt kaum noch fünfzig Schritte vom Hause und das Geschrei nahm immer mehr zu. Einige warfen Bridget Straßenkoth ins Gesicht; wüthende Hände streckten sich drohend nach ihr aus, und viele sammelten Steine von der Erde, um sie damit zu werfen.

Im nächsten Augenblick stand Clary neben Bridget und deckte diese mit ihren Armen, während die Menge desto heftiger heulte und ihr zurief:

»Das ist Bridget Morgaz!... Das ist das Weib des Simon Morgaz!... Zum Tode mit ihr!... Zum Tode!«

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge, welche sich schon zwischen die rasenden Leute hatten stürzen wollen, hielten plötzlich still. Bridget, die Gattin Simon Morgaz'!... Bridget trug diesen... diesen von Allen verfluchten Namen!

Clary unterstützte die Unglückliche, welche in die Knie gesunken war; deren Kleid war zerrissen und beschmutzt. Die weißen, jetzt wirr herabhängenden Haare verhüllten ihr Gesicht.

»Tödtet mich!... Tödtet mich! murmelte sie flehend.

– Unglücksel'ge! rief Clary, sich an die Nächststehenden wendend, welche sie bedrohten, Achtung vor dieser Frau!

– Vor der Frau des Verräthers Simon Morgaz'! heulten hundert wüthende Stimmen.

[363] – Ja... vor der Frau des Verräthers, erwiderte Clary so laut sie konnte, doch auch der Mutter Desjenigen...«

Sie wollte den Namen Johanns aussprechen, den Namen, der Bridget vielleicht allein zu schützen und zu retten vermochte.

Bridget aber, die sich noch einmal mit aller Kraft aufrichtete, flüsterte ihr zu:

»Nein, Clary, nein!... Aus Mitleid für meinen Sohn... aus Mitleid gegen sein Andenken!«

Und wiederum erschallten die Rufe lauter und wurden die Drohungen schlimmer. Die Menge war angewachsen und schien besessen von jenem unbesieglichen Wahnwitz, der oft zu den schrecklichsten Thaten treibt.

Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge wollten versuchen, dem Volke sein Opfer zu entreißen, und einige Freunde derselben, welche den Tumult gehört, kamen ihnen bereits zur Hilfe. Vergebens versuchten sie aber Bridget, und mit dieser Clary, die sich an sie klammerte, zu befreien.

»Zum Tode!... Zum Tode mit dem Weibe Simon Morgaz'«! brüllten zahllose Stimmen.

Plötzlich erschien ein Mann unter der Menge, die er mit kraftvollem Arme theilte. Er entriß Bridget den Armen, welche schon geschwungen waren, ihr den Tod zu geben.

»Meine liebste Mutter!« rief der Mann.

Es war Johann ohne Namen, war Johann Morgaz!

11. Capitel
Elftes Capitel.
Sühne.

Der Name Simon Morgaz war unter den Vertheidigern der Insel Navy unter folgenden Umständen wieder genannt worden.

Dem Leser wird erinnerlich sein, daß die Vorbereitungen zum Widerstande, die Punkte, welche befestigt wurden, um einen Ueberfall seitens der [364] Königlichen abzuschlagen, und einzelne Versuche, die Passage über den Niagara mit Gewalt zu erzwingen, zu wiederholten Malen nach dem Lager Mac Nab's hinüber gemeldet worden waren. Offenbar befand sich ein Spion unter den Reihen der Patrioten und hielt den Feind auf dem Laufenden über Alles, was auf der Insel vorging. Vergebens hatte man sich schon bemüht, diesen Spion zu entdecken und kurzer Hand abzustrafen, doch war er bis jetzt allen Nachsuchungen, welche bis auf die Dörfer am amerikanischen Ufer ausgedehnt wurden, entgangen.

Dieser Spion war kein Anderer als Rip.

Gereizt durch seine letzten Mißerfolge, welche seinem »Handelshause« immerhin beträchtliche Verluste zufügten, hatte der Chef der Agentur Rip & Compagnie das Letzte daran gewagt, seine Geschäfte durch einen höchst kühnen Versuch, der die erlittenen Schlappen ausgleichen sollte, wieder aufzubessern.

Bei dem Handgemenge in der Farm von Chipogan, wo seine Begleitmannschaft hatte zum Rückzuge blasen müssen, war sein Unternehmen gescheitert, und von St. Charles her wissen wir, wie er selbst dem im geschlossenen Hause verborgenen Johann ohne Namen die Möglichkeit bot, zu entfliehen; und endlich war es nicht er mit seinen Leuten, sondern der Polizeihauptmann Comeau mit den seinigen, dem die endliche Ergreifung des Proscribirten gelang.

Entschlossen, sich dafür Genugthuung zu verschaffen, hatte Rip, für den das »Geschäft bezüglich Johanns ohne Namen« abgethan war, da man wohl annehmen konnte, daß diesen in Fort Frontenac die Kugeln der Soldaten hingestreckt hatten, den Plan ausgeklügelt, sich verkleidet nach der Insel Navy zu begeben. Mittels verabredeter Signale meldete er dann von hier aus dem Oberst Mac Nab alle Vertheidigungsarbeiten und wies ihn auf die Punkte hin, wo am leichtesten eine Landung an der Insel zu bewerkstelligen sein würde. Gewiß wagte er seinen Kopf daran, sich auf diese Weise unter die Patrioten zu mischen, denn wenn er erkannt wurde, hatte er sicherlich auf keine Gnade zu hoffen. Gewiß erschlug man ihn wie einen Hund. Andererseits winkte ihm als Preis eine sehr beträchtliche Summe, wenn er die Einnahme der Insel erleichterte, welche mit dem Verschwinden der hervorragendsten Anführer dem Aufstande des Jahres 1837 voraussichtlich ein Ende bereiten mußte.

In dieser Absicht also begab sich Rip nach dem amerikanischen Ufer des Niagara, auf diesem nach Schlosser und fuhr dann auf der »Caroline« als einfacher Besucher, wie so viele Andere, nach der Insel Navy hinüber.

[365] Dank seiner Verkleidung, dem Vollbarte, den er jetzt trug, der geschickten Veränderung seiner gewöhnlichen Kleidung und endlich der verstellten Stimme, war dieser tollkühne Geheimpolizist in der That kaum wiederzuerkennen. Und doch fanden sich hier Leute, welche ihn trotzdem unter dieser Maske herausgefunden haben würden: Herr de Vaudreuil und seine Tochter, Thomas Harcher und seine Söhne, mit denen er ja vor nicht gar zu langer Zeit in der Farm zu Chipogan zusammengetroffen war, und endlich auch Meister Nick, dem er vielleicht am wenigsten auf dieser Insel zu begegnen erwartet hätte. Glücklicher Weise war seine Verkleidung aber eine so vollkommene, daß Niemand nach dieser Richtung Verdacht schöpfte. So konnte er, ohne sich bloßzustellen, sein Geschäft als Spion betreiben und, wenn nöthig, mit Chippewa correspondiren; so kam es auch, daß er dem Obersten Mac Nab den von Vincent Hodge geplanten Ueberfall des Fort Frontenac rechtzeitig hatte melden können.

Da sollte ein reiner Zufall ihn verderben.

Während der acht Tage seit seinem Eintreffen hier hatte er, in der Tracht der Blaumützen auftretend, zwar öfter schon Thomas Harcher, Meister Nick und Anderen gegenübergestanden, war aber Bridget noch nirgends begegnet; und wie hätte er auch deren Anwesenheit auf der Insel Navy muthmaßen sollen? Die Gattin Simon Morgaz' inmitten der Patrioten, das war etwas, woran er in der Welt am wenigsten gedacht hätte, zumal da er wußte, daß sie unlängst noch in dem geschlossenen Hause war, wo er selbst sie mit den Repressalien, welche die übrigen Einwohner von St. Charles trafen, verschont hatte. Im Uebrigen waren sie seit zwölf Jahren, das heißt seit der Zeit, wo er damals mit ihr und ihrer Familie in Chambly zusammentraf, einander nicht wieder begegnet, außer an jenem Abend, wo in St. Charles die Haussuchungen vorgenommen wurden, so daß er fast sicher sein konnte, weder von ihr, noch von Meister Nick oder Thomas Harcher wiedererkannt zu werden.

Bridget erkannte ihn auch in der That nicht; vielmehr war er es selbst, der sich unter Umständen verrieth, welche er trotz peinlichster Vorsicht doch außer Acht gelassen hatte.

An jenem Abend, am 16. December, als Vincent Hodge sich auf die Einladung des Herrn de Vaudreuil hin daselbst einfand, hatte Bridget das Haus verlassen. Tiefdunkle Nacht verhüllte das Thal des Niagara und eine ungestörte Stille herrschte ebenso in dem von den englischen Truppen besetzten Dorfe, wie im Lager der Reformer. Nur einzelne Wachtposten [366] wandelten am Ufer auf und ab, um den linken Arm des Stromes im Auge zu behalten.

Ohne sich von der von ihr eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, war Bridget nach der stromaufwärts liegenden Spitze der Insel gelangt. Nachdem sie hier wenige Augenblicke gerastet, wollte sie eben zurückkehren, als ihr Auge von einem Lichtscheine getroffen wurde, der sich am Fuße des steilen Ufers hin und her bewegte. Ueberrascht und beunruhigt zugleich, begab sich Bridget nach der Uferkante, welche den Niagara an dieser Stelle überragte.

Hier schwang ein Mann eine Laterne, deren Licht auf dem Ufer von Chippewa bequem erkennbar sein mußte. Wirklich antwortete demselben auch sofort ein anderer Lichtschein aus dem dortigen Lager.

Bridget konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den Austausch dieser verdächtigen Signale bemerkte.

Durch Bridgets Schrei aufmerksam gemacht, war jener Mann mit wenigen Sätzen den Felsenabhang hinaufgeeilt, trat der Frau gegenüber und leuchtete ihr mit seiner Laterne voll ins Gesicht.

»Bridget Morgaz!« rief er erstaunt.

Diesem Manne, der ihren Namen nannte, gegenüber anfangs ganz sprachlos, wich Bridget einen Schritt zurück. Die Stimme, welche er unachtsamer Weise jetzt nicht verstellt hatte, verrieth ihr jedoch, wer der Spion sei.

»Rip!... stammelte sie. Rip... hier!

– Ja, ich.

– Rip... hier als...

– Gewiß, Bridget, antwortete Rip leiser, thue ich nicht hier dasselbe, was zu thun auch Sie hierher gekommen sind? Weshalb sollte sich die Gattin eines Simon Morgaz im Lager der Patrioten befinden, wenn sie aus demselben nicht anderen Leuten Mittheilung machen...

– Elender! rief Bridget.

– O, schweigen Sie, rief Rip, sie kräftig am Arme packend. Schweigen Sie still oder...«

Es hatte nur eines Stoßes bedurft, um sie in die Strömung des Niagara zu werfen.

»... Oder Sie wollen mich umbringen? fiel ihm Bridget ins Wort, während sie sich loszureißen sachte. Das wird wenigstens nicht geschehen, ehe ich Leute herbeigerufen, ehe ich Sie denselben angegeben habe!«

[367] Dabei rief sie auch schon mit allen Kräften:

»Hierher!.. Zu Hilfe!... Hierher!«

Fast sofort ließ ein Geräusch erkennen, daß die Wachtposten nach der Seite, woher diese Rufe drangen, herzueilten.


»Hierher!... Zu Hilfe... Hierher!« rief Bridget. (S. 368.)

Rip sah ein, daß er Bridget nicht werde abthun können, ehe diese Hilfe käme.

»Nehmen Sie sich in Acht, Bridget, erklärte er drohend; sagen Sie, wer ich bin, so sag' auch ich, wer Sie sind!...


»Ja, ich bin Johann Morgaz. Schlagt uns nieder!« (S. 372.)

– Thun Sie, was Ihnen gefällt!« antwortete Bridget, auf welche selbst diese Drohung ohne Wirkung blieb.

Dann wiederholte sie, womöglich noch durchdringender:

»Zu Hilfe!... Hier... hierher!«

[368]

Schon umringte sie eine Anzahl Patrioten. Andere liefen von verschiedenen Seiten hinzu.

»Dieser Mann, erklärte Bridget, ist der Geheimagent Rip, er dient hier als Spion für die Königlichen...

[369] – Und diese Frau, sagte Rip mit schlecht verhehltem Ingrimm, diese Frau ist die Gattin des Verräthers Simon Morgaz!«

Die Wirkung dieses verabscheuten Namens war überraschend. Der Rip's erlosch fast ganz vor demselben. Nur die Rufe: »Bridget Morgaz! Bridget Morgaz!« tönten aus dem Lärmen hervor, und nur gegen das unglückliche Weib wendeten sich alle Drohungen und Schimpfreden. Rip wußte sich das zu Nutze zu machen. Immer seine kühle Ueberlegenheit bewahrend, bemerkte er schnell, daß die Aufmerksamkeit sich von ihm gänzlich abwandte, und verschwand im Dunkel. Jedenfalls fuhr er noch in derselben Nacht über den rechten Arm des Niagara, gelangte nach Schlosser und schlug sich auf Umwegen in das Lager von Chippewa, denn keine spätere Nachforschung ergab von dem Schurken auch nur die geringste Kunde.

Wir wissen jetzt wie es kam, daß Bridget, umringt von einer tosenden Volksmenge, in der Richtung nach dem Hause des Herrn de Vaudreuil zu verfolgt wurde.

Im letzten Augenblicke, als sie den Mißhandlungen der Wüthenden zu erliegen nahe war, erschien noch Johann auf der Bildfläche, und durch die Worte: »Meine Mutter!« hatte er das Geheimniß seiner Geburt verrathen.

Johann ohne Namen war der Sohn des Simon Morgaz!

Es sei hier kurz mitgetheilt, wie es kam, daß der Flüchtling sich jetzt auf der Insel Navy befand.

Bei dem Krachen der Salve innerhalb der Umplankung des Forts Frontenac war Johann bewegungslos in die Arme Lionels gesunken. Er hatte die Bedeutung jener Schüsse verstanden – Joann starb dort an seiner Statt! Es bedurfte der größten Sorgfalt seines jungen Begleiters, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Nach Ueberschreitung der Eisdecke des St. Lorenzo gelangten dann Beide an das Ufer des Ontario und waren mit Tagesanbruch schon weit vom Fort Frontenac entfernt.

Johann war entschlossen, in den Reihen der Aufständischen gegen die königlichen Truppen zu kämpfen und sich endlich tödten zu lassen, wenn auch diese letzte Anstrengung scheiterte.

Auf dem Wege durch die dem See benachbarten Gebiete, wohin sich die Nachricht von seiner Hinrichtung verbreitet hatte, konnte er die Ueberzeugung gewinnen, daß die Anglo-Canadier von ihm befreit zu sein annahmen. Nun [370] wohl, er wollte an der Spitze der Patrioten wieder auftauchen, wollte wie der Blitz über die Söldlinge Colborne's hereinbrechen. Vielleicht verursachte sein, sozusagen wunderbares Wiedererscheinen schon allein einen Todesschrecken in deren Reihen, während die Söhne der Freiheit daraus einen unwiderstehlichen Kampfesmuth schöpfen mußten.

Wie Johann und Lionel sich aber auch beeilten, nach dem Niagara zu gelangen, so verzögerte sich das doch wegen der bedeutenden Umwege, die sie zu machen gezwungen waren. Bis an die Grenze des amerikanischen Gebietes drohten ihnen Gefahren, und so konnten sie ihren Weg nur in der Nacht fortsetzen. In Folge dessen trafen sie erst am Spätabend des 16. December im Dorfe Schlosser und bald darauf im Lager bei der Insel Navy ein.

Jetzt stand nun Johann Auge in Auge der brüllenden Menge gegenüber, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

Der durch den Namen Simon Morgaz aufs neue erweckte Abscheu erwies sich aber als so mächtig, daß das Geschrei nicht aufhörte. Die Männer hatten ihn recht wohl wiedererkannt... Das war Johann ohne Namen, der volksthümliche Held, den man unter den englischen Kugeln gefallen glaubte. Doch trotzdem erblaßte in diesem Augenblicke die Legende, welche einst seine Erscheinung umgab. Zu den Drohungen, welche gegen Bridget ausgestoßen wurden, kamen auch noch andere gegen ihren Sohn.

Johann hielt ganz ruhig Stand. Mit dem einen Arme seine Mutter unterstützend, stieß er mit dem anderen die wüthenden Männer zurück. Herr de Vaudreuil, Farran, Clerc und Lionel bemühten sich vergeblich, die Menge zurückzuhalten. Als Vincent Hodge sich dem Sohne des Angebers seines Vaters gegenüber sah, den er von Clary de Vaudreuil geliebt wußte, da wallte in ihm der Zorn auf und drohte ihn zu übermannen. Dennoch unterdrückte er seine Rachegelüste und dachte nur daran, das junge Mädchen gegen die feindseligen Angriffe zu schirmen, die ihr die edle Ergebenheit gegen Bridget Morgaz einbrachte.

Daß derartige Empfindungen sich gegen diese beklagenswerthe Frau äußern konnten, daß man die Verantwortlichkeit für den abscheulichen Verrath des Simon Morgaz auch noch auf ihre Schultern überwälzte, war gewiß eine empörende Ungerechtigkeit und ließ sich nur begreifen von einer erregten Volksmenge, der im ersten Augenblicke jede Ueberlegung abging; daß aber auch die Erscheinung Johanns ohne Namen diese nicht in ihrem Wahnwitze gebändigt, nach Allem, was man doch von diesem wußte, das überschritt jede Grenze.

[371] Die Empörung, welche Johann gegenüber solcher niedrigen Gesinnung empfand, war so groß, daß er, jetzt bleich vor Zorn und nicht mehr roth vor Scham, mit einer den Lärm übertönenden Stimme ausrief:

»Ja, ich bin Johann Morgaz und das ist Bridget Morgaz!... So schlagt uns doch nieder!... Wir verlangen weder Euer Mitleid, noch mögen wir Eure Verachtung! Du aber, meine Mutter, richte Dich noch einmal auf, vergieb denen, die Dich beschimpften, Dich, die beste, die ehrbarste aller Frauen!«

Dieser Haltung gegenüber hatten sich die erhobenen Arme wieder gesenkt, dennoch riefen noch viele wilde Stimmen:

»Hinaus mit der Familie des Verräthers!... Hinaus mit Allem, was Morgaz heißt!«

Wiederum drängte sich die Menge näher heran an die Opfer des Wahnsinns, um diese von der Insel zu verjagen.

Da sprang Clary vor.

»Unselige, Ihr werdet ihn anhören, ehe Ihr seine Mutter und ihn von hier vertreibt!« rief sie dem tollen Haufen entgegen.

Verblüfft durch den energischen Eingriff des jungen Mädchens schwiegen Alle still.

Da begann Johann mit einer Stimme, aus der die Verachtung ebenso herausklang wie seine Empörung:

»Ich brauche hier nicht darzulegen, was meine Mutter durch die Ehrlosigkeit ihres Namens schon Alles hat leiden und erdulden müssen; wissen sollt Ihr aber, was sie Alles gethan, um dieses Brandmal auszulöschen. Ihre beiden Söhne hat sie einzig erzogen in dem Gedanken, sich zu opfern und auf alles Erdenglück zu verzichten. Deren Vater hatte die canadische Heimat verrathen – sie sollten nur zu dem Zwecke leben, dieser ihre Unabhängigkeit wieder zu geben. Und nachdem sie einen Namen abgelegt, der überall gerechten Abscheu erregte, da zog der Eine durch die Grafschaften, von Kirchspiel zu Kirchspiel, um Parteigänger für die nationale Sache zu werben, während der Andere sich bei jedem Aufstande in die vordersten Reihen der Patrioten stellte. Der Letztere steht hier vor Euch. Der Andere, der Aeltere, war der Abbé Joann, der meine Stelle im Fort Frontenac einnahm, der unter den Kugeln der Henker gefallen ist...

– Joann... Joann todt! rief Bridget schluchzend.

– Ja, meine Mutter, todt, wie Du uns hast schwören lassen zu sterben... todt für sein Vaterland!«

[372] Bridget war neben Clary de Vaudreuil niedergesunken, welche, ihre Arme um die schluchzende Frau legend, ihre Thränen mit denen der unglücklichen Mutter mischte.

Aus der durch diesen rührenden Auftritt gefesselten Menge hörte man jetzt nur noch ein dumpfes Gemurmel, aus dem sich jedoch immer noch der unüberwindliche Abscheu vor dem Namen Morgaz herausfühlen ließ.

Da fuhr Johann mit lebhafter Stimme fort:

»Das, das haben wir gethan, nicht etwa in der Absicht, einen Namen wieder zu Ehren zu bringen, der einmal für immer gebrandmarkt ist, einen Namen, den hier der Zufall Euch wieder verrathen und den wir mit unserer von Allen verdammten Familie für ewig begraben zu haben hofften. Gott hat es nicht gewollt! Und nachdem ich Euch nun Alles gesagt, werdet Ihr noch immer nur mit Worten der Verachtung, mit dem Geschrei nach Rache antworten?«

Ja, der durch die Erinnerung an den Verräther neu aufgestachelte Widerwillen ging so weit, daß einer der Tollsten ausrief:

»Wir werden niemals dulden, daß die Frau und der Sohn des Simon Morgaz durch ihre Gegenwart das Lager der Patrioten beschimpfen!

– Nein! Nein!... stimmten Andere zu, welche sich vom Zorne hinreißen ließen.

– Ihr Elenden!« rief Clary.

Bridget hatte sich aufgerichtet.

»Mein Sohn, bat sie, verzeihe ihnen!... Wir haben nicht das Recht, Verzeihung zu verweigern!

– Verzeihen! rief Johann in der Erregung, welche sein ganzes Wesen gegen diese Ungerechtigkeit sich aufbäumen machte. Denen verzeihen, die uns die Verantwortlichkeit zuwälzen für ein Verbrechen, das nicht das unsere ist, und trotz Allem, was wir gethan, jenes zu sühnen. Denen verzeihen, welche den Verrath noch in der Gattin Desjenigen verfolgen, der ihn beging, in dessen Söhnen, von denen schon Einer sein Blut für sie hingegeben und der Andere nur danach verlangt, es für sie verspritzen zu dürfen! Nein!... Nimmermehr!... Wir, wir wollen nicht mehr vereint bleiben mit diesen Patrioten, welche sich durch unsere Anwesenheit beschimpft nennen!... Komm' Mutter, komm'!

– Mein Sohn, sagte Bridget, Du mußt leiden lernen!... Das ist unsere Aufgabe hienieden... das ist die Sühne!...

[373] – Johann!« flüsterte Clary.

Noch hörte man zuweilen einige Rufe – dann wurde Alles still. Die Reihen hatten sich vor Bridget und ihrem Sohne geöffnet. Beide begaben sich nach dem Ufer zu.

Bridget fehlte fast die Kraft, selbst einen Schritt zu thun. Dieser entsetzliche Auftritt hatte sie gelähmt, vernichtet. Clary unterstützte sie mit Hilfe Lionels, konnte sie aber nicht trösten.

Während Vincent Hodge, Clerc und Farran noch inmitten der Volksmenge standen, um diese zu beruhigen, war Herr de Vaudreuil seiner Tochter nachgefolgt. Wie sie, fühlte auch er sein Herz sich empören gegen dieses Uebermaß von Ungerechtigkeit, gegen die Greuelthaten dieser Verblendeten, welche die menschliche Verantwortung bis über alle Grenzen trieben. Für ihn, wie für sie, erlosch die Vergangenheit des Vaters vor der leuchtenden Vergangenheit der Söhne. Und als Bridget und Johann eines der Boote erreicht, welche die Verbindung mit Schlosser aufrecht erhielten, sagte er:

»Ihre Hand, Frau Bridget!... Ihre Hand, Johann! Erinnern Sie sich nicht der tödtlichen Beleidigungen, welche jene Unseligen Ihnen angethan haben... Diese werden noch erkennen, daß Sie über deren Schmähungen erhaben dastehen!... Sie werden schon eines Tages selbst kommen, Sie um Verzeihung zu bitten...

– Niemals! rief Johann, bereit in das Boot zu steigen, das zum Abstoßen vom Ufer fertig war.

– Wohin denken Sie zu gehen? fragte Clary.

– Dahin, wo wir nicht mehr zu fürchten brauchen, daß die Menschen uns zur Zielscheibe ihrer Beleidigungen machen!

– Frau Bridget, wandte sich das junge Mädchen an diese noch so laut, daß Alle es verstehen mußten, ich achte und liebe Sie wie eine Mutter! Vor wenig Minuten nur, als ich noch glauben mußte, daß Ihr Sohn nicht mehr unter den Lebenden wandle, hab' ich geschworen, dem Andenken Desjenigen treu zu bleiben, dem ich mein Leben weihen wollte!... Johann, ich liebe Dich!... Kannst Du von mir gehen?...«

Blaß vor tiefer innerer Erregung wäre Johann bald dem jungen Mädchen zu Füßen gesunken.

»Clary, sagte er, Sie bereiten mir eben die einzige Herzensfreude, die ich empfunden, seit ich dieses elende Leben führe. Und doch, Sie haben es selbst [374] gesehen, nichts vermag den Abscheu zu bannen, den mein Name den Bethörten einflößt, und diesen Abscheu dürfen Sie niemals mit mir zu theilen haben!

– Nein, fügte Bridget hinzu, das Weib eines Morgaz darf Clary de Vaudreuil niemals werden!

– Komm' Mutter, komm'!« bat Johann.

Bridget mit sich fortziehend, brachte er diese in das Boot, welches sich allmählich entfernte, während der Name des Verräthers noch immer aus hundert Kehlen schallte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Am folgenden Tage vernahm Johann, in einer vereinzelten Hütte außerhalb des Dorfes Schlosser, wohin er seine Mutter gebracht, neben dieser knieend ihre letzten Worte.

Niemand wußte, daß diese Hütte die Gattin und den Sohn Simon Morgaz' verbarg. Uebrigens sollte das nicht lange währen.

Bridget lag im Sterben. Binnen wenigen Stunden sollte ein Leben zu Ende gehen, das den Becher des Unglücks bis zur Neige gekostet und die Last alles Elends getragen hatte, welches das Schicksal einem menschlichen Wesen nur aufzubürden vermochte.

Wenn seine Mutter nicht mehr wäre, wenn er ihre alten treuen Augen zugedrückt, er die Erde sich über deren Leiche hatte schließen sehen, dann war Johann entschlossen, dieses Land zu fliehen, das ihn ja von sich stieß.


Gegen elf Uhr Vormittags begann das Vorspiel des Angriffs. (S. 382.)

Er dachte zu verschwinden, glaubte, daß man seiner nicht mehr erwähnen werde – nicht einmal, nachdem der Tod endlich gekommen sein würde, auch ihn zu erlösen.


Es wäre unmöglich gewesen, sich zu schützen. (S. 382.)

Die letzten Worte seiner Mutter ließen ihn aber wieder auf die Absicht verzichten, die Aufgabe zu verlassen, der er sich ergeben, um das Verbrechen sei nes Vaters zu sühnen.

Mit einer Stimme, aus welcher schon ihre letzten Seufzer hervorklangen, sagte Bridget:

»Mein Sohn, Dein Bruder ist todt und ich... ich werde sterben, nachdem ich genug gelitten! Ich beklage mich nicht! Gott ist gerecht! Das ist die Sühne, welche er auferlegt; um diese aber voll zu machen, Johann, mußt Du alle Beschimpfungen vergessen und erst Dein Werk wieder aufnehmen. Du hast nicht das Recht, dasselbe zu verlassen... Deine Pflicht, mein Johann, ist es, Dich Deinem Vaterlande zu weihen, bis auch Du einen ehrenvollen Untergang findest«...

[375] Mit diesen Worten hatte sich Bridgets Seele der irdischen Hülle entrungen.

Johann schloß die Todte in seine Arme und drückte sanft die Augen zu, welche so viel geweint hatten.

[376]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Die letzten Tage.

Die Lage der Patrioten auf der Insel Navy war allmählich eine sehr kritische geworden und konnte so offenbar nicht lange andauern. Die Entscheidung war nur noch eine Frage von Tagen – vielleicht nur von Stunden.

[377] Wenn der Oberst Mac Nab auch noch immer zögerte, den Uebergang über den Niagara zu unternehmen, so machte er doch das Lager der Aufständischen mehr und mehr unhaltbar. Am Ufer bei Chippewa hatten die Königlichen eine Batterie aufgefahren, und die Blaumützen sahen sich außer Stande, dieser zu antworten, da sie nur über eine einzige Kanone verfügten. Einige Hundert Gewehre – die einzige Waffe, von der sie in der Entfernung Gebrauch machen konnten, um einen Landungsversuch abzuschlagen – blieben natürlich wirkungslos gegen die Artillerie der königlichen Truppen.

Die Amerikaner interessirten sich zwar ohne Zweifel für den Erfolg des franco-canadischen Aufstandes, desto beklagenswerther war es aber, daß die Regierung der Vereinigten Staaten aus politischer Rücksichtnahme von Beginn des Kampfes an die strengste Neutralität beachten zu müssen glaubte. Diese allein hätte die Geschütze liefern können, an denen es den Reformern fehlte; damit wären jedoch die Einsprüche Englands hervorgerufen worden, und das gerade zu einer Zeit, wo der geringste Zwischenfall einen Bruch herbeizuführen drohte, wie das wenige Monate später wirklich eintraf. Die Vertheidigungsmittel der Insel Navy waren also sehr beschränkte. Sogar an Munition und Proviant konnte leicht Mangel eintreten, obwohl sie in dieser Beziehung von Schlosser, Buffalo und Niagara-Falls aus versorgt wurde, soweit es die Hilfsquellen des Landes zuließen. Deshalb fuhren denn große und kleine Boote ununterbrochen auf dem rechten Stromarme hin und her, und der Oberst Mac Nab hatte in Folge dessen oberhalb und unterhalb Chippewas einige Geschütze aufstellen lassen, um diese stromauf- und stromabwärts der Insel von der Seite her zu bestreichen.

Wie erwähnt, unterhielt eines dieser Boote, der kleine Dampfer »Caroline«, eine schnelle Verbindung zwischen dem Lager und dem Ufer von Schlosser. Dieser war immer stark besetzt mit Neugierigen, welche sich drängten, den Vertheidigern der Insel Navy einen Besuch abzustatten.

Unter solchen Umständen bedurfte es für die Anführer dieser Handvoll Männer einer ganz außergewöhnlichen Energie, um den Kampf nicht aufzugeben. Leider verringerte sich überdies die Zahl der Combattanten von Tag zu Tag, und Viele, die den Muth verloren hatten, ließen sich nach Schlosser übersetzen, um nicht wieder zurückzukehren.

Seit jenem traurigen Auftritte, der mit dem Fortgange Johanns geendet und dem er selbst beigewohnt, hatte Herr de Vaudreuil das Haus noch nicht wieder[378] verlassen. Er vermochte sich kaum aufrecht zu erhalten und seine Tochter verließ ihn keinen Augenblick. Beiden erschien es, als wären sie sozusagen durch die Schmach, welche Bridget und deren Sohn widerfahren war, selbst mit befleckt worden. Niemand hatte mehr als sie gelitten von den Beleidigungen, mit denen die verblendete Menge damals die unglückliche Familie überhäufte, welche noch von der Schande eines Namens verfolgt wurde, den sie längst abgelegt hatte. Und doch, wenn sie an das Verbrechen des Simon Morgaz dachten, an die heldenmüthigen Opfer, welche die traurige That des Verräthers aufs Schaffot geführt hatte, beugten sich Beide vor der Schwere eines Geschicks, welches kein Gerechtigkeitsgefühl ganz aufzuwiegen im Stande war.

Hier, wo sich tagtäglich die Freunde des Herrn de Vaudreuil zusammenfanden, unterließ übrigens Jeder selbst die geringste Anspielung auf das, was unlängst vorgegangen war. Vincent Hodge hielt sich mit einer seines Charakters völlig würdigen Discretion sehr zurück, da er strengstens Alles zu vermeiden suchte, was gleich einem Tadel der von Clary geoffenbarten Empfindungen hätte erscheinen können. Hatte sie denn nicht ein Recht dazu gehabt, dieses junge muthige Mädchen, gegen häßliche Vorurtheile aufzutreten, welche die Verantwortlichkeit für Schuldige auf noch völlig Unschuldige ausdehnen, welche eine Vererbung der Schande, wie der geistigen oder leiblichen Aehnlichkeit, von den Vätern auf die Kinder anzunehmen geneigt scheinen?

Wenn Johann, der jetzt ganz allein in der Welt dastand, an diese seine entsetzliche Lage dachte, empörte sich dagegen sein ganzes Sein und Wesen. Daß Joann für sein Vaterland gestorben, daß Bridget der auf ihr lastenden Schmach erlegen war, alles das bildete noch kein Gegengewicht für die Vergangenheit? ... Nein, nein!... Und wenn er dann ausrief: »Das ist ungerecht!« so schien die Stimme seines Gewissens zu antworten: »Es ist doch vielleicht nur gerecht!«

Dann erblickte Johann wieder Clary, wie sie sich den Drohungen jener sinnlosen Rotte, die ihn verfolgte, ungescheut aussetzte. Sie, ja, sie hatte den Muth gehabt, einen Morgaz zu vertheidigen! Sie hatte sich sogar erboten, ihr Leben an das seinige zu knüpfen. Er mußte dieses Opfer jedoch abschlagen, damals und für immer. Und dann irrte er am Ufer des Niagara umher, wie jener Nathaniel Bumpo der Mohikaner, der sich lieber von dessen Cataracten hätte verschlingen lassen, als sich von Mabel Denham zu trennen.

Während des ganzen 18. December weilte Johann neben der Leiche seiner Mutter und beneidete diese fast um die friedliche Ruhe, die ihr endlich zu Theil[379] geworden war; sein innigster Wunsch wäre es gewesen, sich bald wieder mit der Geliebten zu vereinen. Da erinnerte er sich jedoch ihrer letzten Worte, und daß er nicht das Recht hatte, anders den Tod zu suchen, als in den Reihen der Patrioten. Das war seine Pflicht... er wollte sie erfüllen.

Als die Nacht gekommen, eine dunkle Nacht, kaum erhellt durch den »Blink« der Schneefläche – eine Art weißliche Widerspieglung, welche man in polaren Gegenden am Himmel wahrnimmt – verließ Johann das Haus, in dem die sterblichen Ueberreste Bridgets lagen. Wenige Schritte davon und unter dem Schutze rauchfrostgeschmückter Bäume, hob er mit seinem großen canadischen Messer ein Grab aus. Hier am Rande des Waldes, über dem undurchdringliche Finsterniß lagerte, konnte ihn Niemand sehen und er wollte auch nicht gesehen werden. Niemand würde wissen, wo Bridget ihre letzte Ruhestätte gefunden – kein Kreuz würde ihr Grab bezeichnen. Wenn Joann in dem unbekannten Winkel des Fort Frontenac der Auferstehung entgegenschlummerte, so deckte seine Mutter wenigstens die Erde Amerikas, die geliebte Erde ihrer Heimat. Johann selbst hoffte im nächsten Kampfe den Tod zu finden, und seine Leiche mußte dann, mit so vielen anderen Dahingerissenen, in den Stromschnellen des Niagara verschwinden.

Dann würde nichts – nicht einmal eine Erinnerung – mehr übrig sein von dem, was einst die Familie Morgaz gewesen war.

Als das Grab tief genug erschien, daß für die darin ruhende Todte nichts von den Klauen der Raubthiere zu fürchten war, kehrte Johann nach der Hütte zurück, nahm den Körper Bridgets in die Arme, trug ihn unter die Bäume, drückte einen letzten Abschiedskuß auf die Stirn der geliebten Todten und legte sie, in seinen Mantel aus vaterländischem Stoffe eingehüllt, nieder. Dann bedeckte er sie mit Erde, kniete nieder und betete, bis er mit den Worten schloß:

»Ruhe in Frieden, Du arme, arme Mutter!«

Der Schnee, welcher eben herabzuwirbeln begann, hatte bald die Stelle verhüllt, unter der Diejenige ruhte, welche nicht mehr war, welche nie hätte sein sollen!

Dann aber, wenn die Soldaten Mac Nab's eine Landung auf der Insel Navy versuchen würden, wollte Johann wieder in die vordersten Reihen der Kämpfenden eilen, um einen rühmlichen Tod zu finden.

Schon am nächstfolgenden Tage, dem 19. December, in den ersten Morgenstunden erkannte man, daß der Oberst Mac Nab zu einem unmittelbaren Angriff[380] überzugehen beabsichtigte. Große flache Boote lagen in Reihen längs des Ufers unterhalb des Lagers von Chippewa. Aus Mangel an Artillerie waren die Blaumützen außer Stande, jene Boote zu zerstören, ehe sie sich in Bewegung gesetzt, noch sie aufzuhalten, wenn sie über den Strom daherkamen. Ihr Heil lag nur darin, sich einer gewaltsamen Landung zu erwehren, indem sie sich an dem bedrohten Punkte sammelten, und doch vermochten wenige Hundert Mann sich kaum jener Ueberzahl von Angreifern zu erwehren, wenn diese gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Insel aus Land gingen. Hatten die Königlichen aber einmal Fuß gefaßt, so mußte ein Sturm auf das Lager unmittelbar folgen, und die Vertheidiger desselben, welche immerhin zu zahlreich waren, um in den Booten von Schlosser auf einmal Platz zu finden, mußten niedergemetzelt werden, ehe sie sich auf amerikanischen Boden flüchten konnten.

Diese bedrohlichen Aussichten beunruhigten vor Allem Herrn de Vaudreuil und dessen Freunde. Sie begriffen zu gut die Gefahren einer solchen Lage. Um denselben zu entgehen, hätten sie freilich sich nur nach Schlosser zurückzuziehen brauchen, so lange der Wasserweg dahin noch frei war. Doch Keiner derselben wollte von der Stelle weichen, ehe er nicht bis zum letzten Blutstropfen gekämpft hatte.

Vielleicht hielten sie sich auch für stark genug, um ernsthaften Widerstand zu leisten, und stellten sie sich die Schwierigkeiten einer Landung größer vor, als diese thatsächlich waren.

Jedenfalls gab sich indeß Einer von ihnen darüber keiner Täuschung hin. Dieser Eine war Meister Nick, der sich so gänzlich wider Willen in diesen Kampf verwickelt sah. Seine Stellung an der Spitze der Mahoganni-Krieger erlaubte ihm aber nicht, seinen Befürchtungen Ausdruck zu geben.

Was Lionel anging, so erhob diesen sein Patriotismus über jeden Zweifel.

Der junge Schreiber kam übrigens mit dem Erstaunen über das unerwartete Wiedererscheinen seines Helden gar nicht hinweg. – Johann ohne Namen war der Sohn eines Simon Morgaz!... Der Abbé Joann der Sohn eines Verräthers!

»Nun wohl, wiederholte er sich dann, sind deshalb Beide weniger gute Patrioten? Und hatte Fräulein Clary nicht ganz Recht, für Johann und seine Mutter einzutreten? O, die wackere junge Dame!... Das war edel von ihr!... Das war einer Vaudreuil würdig!«

[381] So war der Gedankengang Lionels, der mit seinem Enthusiasmus nicht feilschte und nimmer glauben konnte, daß Johann die Insel Navy verlassen habe, um diese nicht wieder zu betreten. Nein, nein! Johann ohne Namen würde wiedererscheinen, und wäre es nur, um bei der Vertheidigung der nationalen Sache zu sterben!

Dann kam der junge Schreiber auch bald zu folgender, ganz gerechtfertigter Anschauung:

»Warum sollten die Kinder eines Simon Morgaz nicht die besten Menschen sein können, da ja der letzte Abkömmling einer kriegerischen Rasse ebenfalls nicht das Geringste von seinen Vorfahren geerbt hatte, da der Stamm der Sagamores – sogar in einen Notar auslief!«

Was Lionel von Johann ohne Namen glaubte, das glaubten ebenso Thomas Harcher und seine Söhne, die ihn ja schon lange in seinem Thun und Treiben beobachten konnten. Hatte denn Johann, indem er hundertmal sein Leben in die Schanze schlug, das Verbrechen Simon Morgaz' noch immer nicht wett gemacht? Wahrlich, wären sie bei jenem häßlichen Auftritte anwesend gewesen, sie hätten sich nicht beherrschen können, hätten sich auf die tobende Menge gestürzt und jene abscheulichen Schmähungen mit dem Blute der Verblendeten abgewaschen. Und hätten sie gewußt, wohin Johann sich zurückgezogen hatte, so gingen sie bestimmt dahin ihn zu suchen, ihn zu den Blaumützen zurückzuführen und an deren Spitze zu stellen.

Zur Ehre der Menschheit müssen wir übrigens erkennen, daß sich seit der Vertreibung Johanns und Bridgets eine völlige Umwandlung der Gemüther vollzogen hatte. Die Gefühle Lionels und der Familie Harcher wurden jetzt von der Mehrzahl der Patrioten getheilt.

Gegen elf Uhr Vormittags begann nun das Vorspiel des Angriffs. Die ersten Vollkugeln der Batterie von Chippewa sausten über das Lager hinweg und einige Bomben trugen Tod und Verderben über die Insel. Es wäre unmöglich gewesen, sich gegen diese Geschosse zu schützen, da das Terrain ziemlich flach, nur von einzelnen Baumgruppen unterbrochen und durch ziemlich dünne Hecken abgetheilt war, während den Vertheidigern nur einige Schulterwehren, welche nach der Seite des Stromes zu mit beraster Erde bedeckt waren, zu Gebote standen. Der Oberst Mac Nab suchte offenbar erst den Uferabhang zu säubern, ehe er den Uebergang über den Niagara unternahm – eine Operation, welche trotz der beschränkten Anzahl der Vertheidiger immerhin ihre Schwierigkeiten hatte.

[382] Die meisten Kämpfer umringten jetzt das Haus des Herrn de Vaudreuil, das wegen seiner Lage am rechten Ufer, gegenüber von Schlosser, dem Feuer der Geschütze weniger ausgesetzt war.

Beim ersten Kanonendonner hatte Herr de Vaudreuil Befehl gegeben, daß alle Personen, welche nicht Combattanten waren, sich auf amerikanisches Gebiet begeben sollten. Die Frauen und Kinder, welche bisher hier geduldet worden waren, mußten sich also einschiffen, nachdem sie ihren Gatten, ihren Vätern und Brüdern Lebewohl gesagt, und wurden nach dem anderen Ufer übergeführt. Auch das war nicht ohne Gefahr, denn die stromauf- und stromabwärts von Chippewa aufgestellten Geschütze bedrohten die Boote von beiden Seiten. Einige Kugeln schlugen sogar auf amerikanischen Boden ein – was natürlich die berechtigtsten Reclamationen seitens der Bundesregierung hervorrief.

Herr de Vaudreuil hatte auch von seiner Tochter verlangt, daß diese nach Schlosser entfliehen sollte, um daselbst den Ausgang des Kampfes abzuwarten. Clary weigerte sich aber ihn zu verlassen.

»Mein Vater, erklärte sie, ich muß in Deiner Nähe weilen und werde also dableiben. Das ist meine heilige Pflicht.

– Und wenn ich den Königlichen in die Hände falle?...

– O, so werden sie mir nicht verwehren, Dein Gefängniß zu theilen.

– Und wenn ich getödtet werde, Clary?«...

Das junge Mädchen antwortete nicht; Herrn de Vaudreuil gelang es jedoch nicht, ihren Widerstand zu beugen. Ja, sie stand an seiner Seite, als er in den Reihen der vor dem Hause versammelten Patrioten Platz nahm.

Die Kanonen krachten jetzt mit erschreckender Gewalt; das Lager mußte bald nicht mehr zu halten sein. Immerhin war ein eigentlicher Landungsversuch noch nicht gemacht worden, sonst hätten das die hinter den schwachen Uferverschanzungen stehenden Blaumützen sicherlich gemeldet

Vor dem Hause befanden sich jetzt Vincent Hodge, Clerc und Farran, Thomas, Pierre, Michel und Jacques Harcher. Hier standen auch Meister Nick und Lionel mit den Mahoganni-Kriegern, welch' letztere ihre gewohnte Ruhe selbst in diesem gefährlichen Augenblicke bewahrten.

Da nahm Herr de Vaudreuil das Wort.

»Kampfgenossen, sagte er, wir stehen vor der Aufgabe, das letzte Bollwerk unserer Unabhängigkeit zu vertheidigen. Wenn Mac Nab uns besiegt, so ist der Aufstand niedergeschlagen, und wer weiß, wann einmal neue Anführer und [383] neue Kämpfer die Waffen einst wieder erheben können. Werfen wir die Angreifer zurück, gelingt es, uns hier zu halten, so wird auch aus Canada von überall her Hilfe herbeieilen. Unsere Parteigänger werden neue Hoffnung schöpfen, und dann machen wir aus dieser Insel eine uneinnehmbare Festung, in der die nationale Sache stets einen sicheren Stützpunkt findet. – Seid Ihr bereit, sie zu vertheidigen?

– Bis zum Tode! antwortete Vincent Hodge.

– Bis zum Tode!« wiederholten dessen Genossen.

Da schlugen einige Vollkugeln etwa zwanzig Schritte davon in die Erde ein, ricochettirten eine Strecke hin und wirbelten eine mächtige Schneewolke auf.

Keiner der Blaumützen machte die geringste Bewegung. Sie erwarteten die Befehle ihres Führers.

Herr de Vaudreuil fuhr also fort:

»Es ist nun Zeit, uns nach dem Ufer zu begeben. Die Artillerie von Chippewa muß bald schweigen, denn die Königlichen werden den Uebergang zu erzwingen suchen. Zerstreut Euch also längs des Uferabhanges, sucht Schutz hinter den Felsen und wartet, bis die Boote in Schußweite herankommen. Die Söldner Mac Nab's dürfen nicht aus Land kommen...

– Sie werden keinen Fuß darauf setzen, sagte William Clerc, und wenn es ihnen doch gelänge, treiben wir sie in den Niagara zurück!

– Auf unsere Posten, Freunde! rief Vincent Hodge.

– Ich werde mit Euch gehen, erklärte Herr de Vaudreuil, so lange mich die Kräfte nicht verlassen...

– Bleibe hier zurück, Vaudreuil, bat Farran. Wir werden immer in Verbindung mit Dir sein...

– Nein, Freund, erwiderte Herr de Vaudreuil, ich werde da sein, wo ich sein muß!... Kommt!...

– Ja, vorwärts, Patrioten!... Die Boote sind schon vom canadischen Ufer abgestoßen!«

Alle drehten sich bei diesen mit lautschallender Stimme gesprochenen Worten um.


Der Uebergang wurde mit Gewalt erzwungen. (S. 389.)

Johann stand vor ihnen. In der verwichenen Nacht hatte ein Boot ihn wieder nach der Insel geschafft, Niemand aber ihn erkannt. Nachdem er sich auf der Seite nach Chippewa zu verborgen gehalten, hatte er die Vorbereitungen des Oberst Mac Nab beobachtet, ohne sich um die Geschosse zu bekümmern, [384] [387]welche den Uferabhang zerrissen. Als er dann bemerkte, daß die Angreifer sich zum gewaltsamen Uebergang anschickten, war er gekommen – offenen Gesichts gekommen, seine Stelle unter den früheren Waffengefährten einzunehmen.

»Ich wußte es doch!« rief Lionel.

Clary de Vaudreuil war an den jungen Patrioten herangetreten, gleichzeitig mit Thomas Harcher und dessen Söhnen, die sich um ihn drängten.

Herr de Vaudreuil bot Johann die Hand.

Johann nahm dieselbe nicht.

»Ihr Vertheidiger der Insel Navy, sagte er, meine Mutter ist todt, ist der Schmach erlegen, die Ihr der Armen angethan habt. Jetzt ist von der Familie, welche ein unseliges Geschick der Verachtung preisgegeben, Niemand mehr übrig als ich! Unterwerft Euch der Schande, einen Morgaz an Eurer Seite kämpfen und für die Freiheit der französischen Canadier sterben zu sehen!«

Begeisterte Beifallsrufe erschallten nach diesen Worten, alle Hände streckten sich Johann entgegen – doch auch jetzt verhinderte er es, daß sie die seinigen berührten.

»Leb' wohl, Clary de Vaudreuil! sagte er.

– Leb' wohl, Johann! antwortete das junge Mädchen.

– Ja, und... zum letzten Male!«

Dann stürmte er, Herrn de Vaudreuil, seinen Gefährten und allen denen voraus, die wie er den Tod suchen wollten, nach dem linken Ufer der Insel.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Die Nacht des 20. December.

Eben schlug es die dritte Nachmittagsstunde am Glockenthurm der kleinen Kirche von Schlosser. Ein grauer eisiger Nebel verhüllte das feuchte Thal des Niagara und dazu herrschte eine scharfe Kälte. Der Himmel war mit unbeweglichen Wolken bedeckt, welche die geringste Erhöhung der Temperatur bei eintretendem östlichen Winde hätte zu Schnee verdichten müssen.

[387] Der Donner der Kanonen von Chippewa zerriß die Luft. Zwischen dem Krachen derselben vernahm man deutlich das entfernte Rauschen der Wasserfälle.

Eine Viertelstunde, nachdem sie das Haus des Herrn de Vaudreuil verlassen, waren die Patrioten, indem sie zwischen den Baumgruppen und längs der Hecken und Einhegungen hinschlichen, am linken Ufer des Stromes angelangt.

Mehrere Kämpfer fehlten bereits; die einen hatten, von Kanonenkugeln verletzt, zurückkehren müssen, andere lagen auf dem Schnee, um sich nie wieder zu erheben. So waren etwa zwanzig von den zweihundert Streitern abzuziehen.

Die in Chippewa aufgefahrenen Geschütze hatten auf der Oberfläche der Insel schon recht schwere Verheerungen angerichtet. Die berasten Erdwälle, welche den Blaumützen die Möglichkeit bieten sollten, einigermaßen gedeckt zu feuern, waren fast vollständig zerstört, und es blieb nun nichts weiter übrig, als am Fuße des Uferabhanges zwischen den von dem Strome halb überspülten Felsen Stellung zu nehmen. Von hier aus wollte Johann mit seinen Waffengefährten versuchen, die Landung zu verhindern, bis die Munition zu Ende ging.

Die Bewegung auf der Insel war inzwischen auch von Chippewa aus gesehen worden. Der Oberst Mac Nab, der früher seine Nachrichten durch die Signale Rip's erhielt und jetzt aus dem Berichte des Spions entnahm, der sich in seinem Lager eingefunden hatte, ließ das Feuer verdoppeln und vorzüglich auf die befestigten Punkte richten. Rings um Johann wurden wohl dreißig seiner Gefährten von Felstrümmern getroffen, welche der Anprall der Eisenkugeln weithin verstreute.

Johann bewegte sich am Ufer hin und her und beobachtete, trotz der Geschosse, die zu seinen Füßen einschlugen oder über ihm die Luft zerrissen, alle Manöver des Feindes.

Eben lösten sich die großen Flachboote, welche mit Rudern ausgestattet waren, eines nach dem anderen von dem canadischen Ufer los.

Um die ins Auge genommene Landungsstelle zu säubern, donnerten noch einige Salven über die Boote hinweg und deren Kugeln bohrten sich in den Boden der Insel ein oder sprangen, ganz flach auffallend, weit über diesen dahin.

Johann wurde nicht einmal gestreift.

»Patrioten, rief er, jetzt seid bereit!«

Alle warteten, bis die Boote in Schußweite waren, um erst dann das Feuer ihrerseits zu eröffnen.

[388] Die Angreifer, welche sich platt niedergeworfen hatten, um den Gewehrkugeln weniger Ziel zu bieten, mochten gegen drei- bis vierhundert zählen und bestanden aus regulären Truppen und Kronfreiwilligen.

Wenige Minuten später, als die Boote sich auf der Mitte des Stromes befanden, waren sie der Insel bereits so nahe, daß die Artillerie von Chippewa ihr Feuer einstellen mußte.

Da knatterten die ersten Flintenschüsse hinter den Felsen hervor. Die Besatzung der Boote antwortete fast augenblicklich, doch da diese dem Feuer vom Uferabhang her weit offener ausgesetzt war, arbeiteten die Ruder nun mit verdoppelter Kraft.

Kurze Zeit genügte, um aus Land zu stoßen, und jetzt galt es denn, auf der einen Seite wie auf der anderen, sich auf ein Handgemenge einzulassen.

Johann befehligte inmitten eines Kugelhagels, der gleich Kartätschen rings um ihn niederprasselte.

»Suchen Sie Deckung! rief ihm Vincent Hodge zu.

– Ich? »antwortete er.

Und mit lauter Stimme rief er den Angreifern, welche das Ufer zu erklimmen begannen, zu:

»Ich bin Johann ohne Namen!«

Dieser Name erregte wirklich die größte Verblüffung, denn die Königlichen mußten doch glauben, daß Johann ohne Namen schon im Fort Frontenac den Kugeln erlegen sei.

Dann rief Johann, auf die ersten Boote losstürzend:

»Vorwärts, Blaumützen!... Drauf auf die Rothröcke!«

Der Kampf wurde bald äußerst hitzig und die ersten Boote mußten wirklich noch einmal abstoßen. Einige Verletzte fielen in die Strömung, welche sie nach den Wasserfällen zu wegschwemmte. Die Patrioten verließen ihre Deckung unter den Felsstücken und schlugen sich mit einer so ungestümen Wuth, daß der Vortheil anfangs auf ihrer Seite war. Schon sah es aus, als ob alle Boote zurückweichen müßten. Da kamen diesen aber schon noch weitere zu Hilfe und mehreren hundert Mann gelang es, die Insel selbst zu betreten. Der Uebergang auf dieselbe wurde mit Gewalt erzwungen und die Zahl siegte über den Muth.

Gegenüber diesem ihnen weit überlegenen Feinde sahen sich die Vertheidiger gezwungen, das Vorland am Ufer aufzugeben; und wenn sie nicht zurückwichen, [389] ohne dem Feinde schweren Schaden zugefügt zu haben, so erlitten sie doch auch die grausamsten Verluste.

So wurden Thomas Harcher, Pierre und Michel, die von den Kugeln gefallen waren, durch die wildwüthenden Freiwilligen, welche keinen Pardon gaben, getödtet. William Clerc und André Farran fielen, Beide verwundet, in Gefangenschaft, nachdem sie einen Kreis von Blut um sich gezogen hatten. Ohne das Dazwischentreten eines Officiers wären sie demselben Loose wie der Farmer und seine Söhne verfallen gewesen. Der Oberst Mac Nab hatte aber ausdrücklich befohlen, die Anführer so viel wie möglich zu verschonen, da die Regierung sie vor die Kriegsgerichte in Quebec und Montreal zu stellen beabsichtigte. Nur aus diesem Grunde entgingen Clerc und Farran jetzt dem Tode.

Es erwies sich übrigens völlig unmöglich, der Ueberzahl zu widerstehen. Die Blaumützen, welche sich wie verzweifelt geschlagen, und mit ihnen die Mahogannis, die sich mit dem kaltblütigen Muthe vertheidigt hatten, der die Indianer ihrer Rasse auszeichnet, mußten, von Hecke zu Hecke verfolgt, über die Insel zurückweichen; so wurden sie bis an deren Rand getrieben und von rückwärts her noch in Menge getödtet. Es war ein richtiges Wunder zu nennen, daß Lionel nicht zwanzigmal den Tod fand und daß selbst Meister Nick dem Blutbade entrann. Von den Huronen freilich sollten sehr viele nicht wieder nach ihrem Wigwam in Walhatta zurückkehren.

Als er wieder in die Nähe des Hauses des Herrn de Vaudreuil kam, wollte Meister Nick Clary bestimmen, eines der Boote zu besteigen, um sie nach Schlosser hinüber zu bringen.

»So lange mein Vater noch auf der Insel ist, erwiderte sie, verlasse ich diese auch nicht!«

Ja, ihr Vater, und wohl auch Johann, obgleich sie wußte, daß dieser nur hierher gekommen war, um zu sterben.

Gegen fünf Uhr Nachmittags überzeugte sich Herr de Vaudreuil, daß ein, fernerer Widerstand gegen mehrere hundert Angreifer, welche schon den größten Theil der Insel eingenommen hatten, der reine Wahnsinn wäre. Wollten die Ueberlebenden sich noch retten, so konnte das nur dadurch geschehen, daß sie das rechte Ufer des Niagara zu erreichen suchten. Es blieb freilich fraglich, ob auch Herr de Vaudreuil sich noch auf den Füßen halten und Kraft genug haben würde, das Haus, wo seine Tochter ihn erwartete, zu erreichen und sich mit dieser einzuschiffen.

[390] Vincent Hodge bemühte sich, ihn mit sich fortzuziehen. In demselben Augenblicke wurde Herr de Vaudreuil von einer Kugel mitten in die Brust getroffen und konnte nur noch die Worte murmeln:

»Meine Tochter!... Hodge!... Meine Tochter!«

Johann, der herbeigeeilt war, hörte das.

»Retten Sie Clary!« rief er Vincent Hodge zu.

Bei diesem Ausruf stürzten sich wohl ein Dutzend Freiwilliger auf ihn. Sie hatten den Helden wiedererkannt. Welches Glück für sie, wenn sie sich des berühmten Johann ohne Namen bemächtigen und ihn lebendig in das Lager von Chippewa befördern konnten!

Mit einer letzten Anstrengung streckte Johann zwei Freiwillige, die ihn schon packen wollten, nieder und verschwand inmitten einer Gewehrsalve, von der ihn keine Kugel traf.

Der schwerverwundete Vincent Hodge dagegen wurde neben der Leiche des Herrn des Vaudreuil zum Gefangenen gemacht.

Wohin wendete sich aber Johann ohne Namen? Kam ihm vielleicht der Gedanke, jetzt noch weiter zu leben, nachdem die besten Patrioten getödtet oder in die Hände der Königlichen gefallen waren?

O nein – doch das letzte Wort des Herrn de Vaudreuil war ja der Name seiner Tochter gewesen...

Da Vincent Hodge diese jetzt nicht mehr retten konnte, wollte er das thun, wollte sie zwingen, zu entfliehen, sie nach dem amerikanischen Ufer begleiten, und dann gedachte er zu seinen noch kämpfenden Gefährten zurückzukehren.

Allein vor dem Hause stehend, horchte Clary auf das Getöse des Kampfes – auf die Aufschreie der Wuth, auf die Klagen des Schmerzes, welche sich mit dem Knattern der Gewehre mischten.


Clary stützte knieend seinen Kopf und sprach zu ihm. (S. 394.)

Dieses Getöse kam gleichzeitig mit dem Aufleuchten des Flintenfeuers immer näher an sie heran. Schon hatten sich gegen fünfzig, meist verwundete Patrioten in die Boote geworfen und steuerten nach dem Dorfe Schlosser hinüber.

An der Insel befand sich nichts mehr als der kleine Dampfer »Caroline«, schon überfüllt von Flüchtlingen, der eben den südlichen Arm des Niagara überschreiten sollte.


Die »Caroline« neigte sich über den Abgrund und verschwand im Wogenschaume. (S. 397.)

Plötzlich erschien Johann überdeckt mit Blut – mit dem Blute der Königlichen – aber heil und gesund, nachdem er vergeblich den Tod gesucht und diesen zwanzigmal ausgetheilt hatte.

[391] Clary lief auf ihn zu.

»Mein Vater? fragte sie.

– Ist todt!«

Johann antwortete ihr so ohne Umschweife, damit Clary sich nicht weigern wollte, die Insel zu verlassen.

Johann fing das junge Mädchen, welches umzusinken drohte, in dem Augenblick in seinen Armen auf, wo die Freiwilligen schon das Haus umzingeln wollten, um ihm den Rückzug abzuschneiden. Mit der theuren Last [392] dahin springend, eilte er auf die »Caroline« zu und legte das junge Mädchen auf dem Deck derselben nieder; dann richtete er sich wieder auf.

»Gott befohlen, Clary!« sagte er.

Schon betrat er wieder den Landgang des Fahrzeuges, um aufs Ufer zu springen.

Bevor sein Fuß aber die Erde berührte, wurde Johann, von zwei Kugeln getroffen, auf das Hintertheil des Schiffes hingestreckt, während die »Caroline« unter vollem Dampfe davonfuhr.

[393] Beim Aufblitzen der Gewehrschüsse war Johann von ihn verfolgenden Freiwilligen erkannt worden, welche unaufhörlich schrien:

»Eine Kugel für Johann ohne Namen!... Hurrah, getödtet!«

Bei diesen Ausrufen fand Clary die Besinnung wieder und erhob sich vom Verdeck.

»Todt!... stammelte sie, während sie sich zu ihm hinschleppte.

Einige Minuten später lag die »Caroline« schon am Quai von Schlosser fest. Hier konnten die Flüchtlinge, welche sich an Bord derselben befanden, sich in Sicherheit glauben, da sie jetzt unter dem Schutze der Bundesbehörden standen.

Einige begaben sich denn auch aus Land; da der einzige Gasthof des Dorfes aber sehr schnell überfüllt war und bis zu den Gasthäusern des Niagara-Falls ein Weg von mindestens drei Meilen längs des rechten Stromufers zurückzulegen war, zogen es die Meisten vor, in den Cabinen des kleinen Dampfbootes zu bleiben.

Es war jetzt um acht Uhr Abends.

Auf dem Verdeck ausgestreckt, ruhte Johann noch immer. Clary kniete neben ihm, stützte seinen Kopf und sprach auf ihn... Er gab keine Antwort; vielleicht hörte er sie gar nicht.

Clary blickte um sich. Wo sollte sie Hilfe suchen inmitten dieser Verwirrung, in dem von Flüchtigen vollgestopften Dorfe mit den zahlreichen Verwundeten, denen Aerzte und Arzneimittel fehlten?

Da sah Clary ihr ganzes Leben an ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Ihr Vater gefallen für die nationale Sache!... Der, den sie liebte, sterbend in ihren Armen, nachdem er bis zur letzten Stunde heldenmüthig gekämpft! Jetzt stand sie allein in der Welt, ohne Vaterland, eine leichte Beute der Verzweiflung...

Nachdem sie Johann mit einer Sonnenzeltleinwand bedeckt, um ihn gegen die beißende Kälte zu schützen, untersuchte Clary, die sich über den Verwundeten neigte, ob sein Herz nicht noch leise schlüge, ob nicht ein Laut über seine Lippen kommen werde.

In der Ferne, an der anderen Seite des Flusses, krachten noch die letzten Flintenschüsse, deren Aufblitzen zuweilen die Baumgruppen der Insel Navy durchleuchtete.

Endlich schwieg Alles und das Thal des Niagara bettete sich in düstere Todtenstille.

Unwillkürlich stammelte das junge Mädchen den Namen ihres Vaters und auch den Johanns, da sie sich sagte – und das schnitt sie ins Herz – der [394] junge Patriot könne vielleicht mit dem Gedanken sterben, auch noch über das Grab hinaus von dem Fluche der Menschen verfolgt zu sein. Dann betete sie für den Einen wie für den Anderen.

Plötzlich erbebte Johann; sein Herz klopfte etwas lebhafter. Clary rief ihn an.

Johann antwortete nicht.

Zwei Stunden gingen so dahin; Alles ruhte an Bord der »Caroline«.

Kein Laut aus den Cabinen – kein Geräusch auf dem Verdeck. Nur Clary wachte hier allein, gleich einer barmherzigen Schwester am Lager eines Sterbenden.

Die Nacht war sehr dunkel. Schwerfällig wälzten sich die Wolken über dem Strome hin. Lange Nebelschleier hingen an den Skeletten der Bäume, deren von Rauhfrost bedeckte Zweige längs des Ufers hinausstarrten.

Kein Mensch vermochte da vier Boote wahrzunehmen, welche, die Spitze der Insel stromaufwärts umfahrend, geräuschlos an dem Ufer von Schlosser dahinglitten.

Diese Boote waren besetzt von ungefähr fünfzig Kronfreiwilligen unter dem Befehl des Lieutenant Drew, von der königlichen Miliz. Auf Anordnung des Oberst Mac Nab stand jener Officier unter Mißachtung allen Völkerrechts im Begriff, eine Missethat auszuführen, welche an roher Grausamkeit in amerikanischen Gewässern nicht ihres Gleichen hatte.

Unter seinen Leuten befand sich ein gewisser Mac Leod, der in der nächsten Folgezeit sehr ernste internationale Verwickelungen heraufbeschwören sollte.

Die vier durch Ruder ganz geräuschlos fortgeführten Boote glitten über den rechten Arm des Niagara, legten sich dicht neben die Bordwand der »Caroline« und begannen da ein schreckliches Gemetzel.

Die verwundeten oder schlafenden Passagiere konnten sich nicht wehren; sie stießen verzweifelte Schreie aus. Vergeblich. Nichts hätte die Wuth jener elenden Schurken zu dämpfen vermocht, unter denen Mac Leod, die Pistole in der einen, die Axt in der anderen Hand, wie ein Cannibale seine Opfer abschlachtete.

Johann hatte das Bewußtsein noch nicht wieder erlangt. Voller Entsetzen beeilte sich Clary das Zeltdach so weiter auszubreiten, daß es sie Beide verhüllte.

Inzwischen hatten doch einige Passagiere flüchten können, sei es, daß sie auf die Landungsbrücke von Schlosser oder gleich über Bord sprangen, um[395] schwimmend das Ufer zu erreichen, wo Mac Leod und seine Würger sie zu verfolgen nicht wagen durften. Uebrigens war jetzt auch im Dorfe Lärmen entstanden, und die Bewohner desselben liefen herbei, um Hilfe zu bringen.

Das Gemetzel hatte nur wenige Minuten angedauert und viele Opfer desselben wären gewiß verschont geblieben, wenn nicht Mac Leod, jenes Scheusal in Menschengestalt, an der Spitze der Mörder stand.

Dieser hatte in seinem Boote nämlich eine Menge leicht brennbaren Materials mitgebracht und das ließ der Elende auf das Deck der »Caroline« schaffen. Binnen wenigen Secunden standen nun Rumpf und Takelwerk in Flammen.

Gleichzeitig waren die Haltetaue durchschnitten worden und das kräftig vom Lande abgestoßene Fahrzeug schwankte hinaus in die Strömung.

Die Lage wurde entsetzlich.

Drei Meilen weiter unten stürzte der Niagara seine Wasserfluthen in den Abgrund der berühmten Fälle.

Auch jetzt sprangen noch fünf oder sechs Unglückliche, sinnlos vor Verzweiflung, in den rauschenden Strom, doch nur Wenigen gelang es, nach schwerstem Kampfe mit treibenden Eisschollen, das rettende Land zu erreichen.

Inzwischen schoß die »Caroline« gleich einem verderbenbringenden Brander zwischen den Ufern dahin. Die Feuersbrunst verbreitete sich schon nach dem Hinterdeck. Ihrer Sinne kaum mächtig, stand Clary allein noch aufrecht und rief...

Johann hörte sie endlich; er öffnete die Augen, richtete sich ein wenig auf und sah sie fragend an.

Beim Schein der lodernden Flammen sah man das Bild des Ufers rasch vorüberziehen.

Johann erkannte das junge Mädchen an seiner Seite.

»Clary!« murmelte er kaum hörbar.

Hätte er die Kräfte noch besessen, er würde sie in die Arme genommen, sich mit ihr in den Strom gestürzt und versucht haben, sie zu retten... Jetzt konnte er sich aber selbst nicht mehr erhalten und fiel auf das Verdeck zurück. Das dumpfe Rauschen der Wasserfälle war in der Entfernung von kaum einer halben Meile deutlich hörbar.

Das war der Tod für sie und für ihn, wie für die anderen Opfer, welche die »Caroline« den Niagara hinunter trug.

[396] »Johann, sagte da Clary, wir sterben, doch wir sterben vereint!... Johann, ich liebe Dich.. Ich wäre so stolz gewesen, Deinen Namen zu tragen!... Gott hat es nicht gewollt!...«

Johann hatte noch die Kraft, Clarys Hand zu drücken. Dann stammelten seine Lippen noch die letzten Worte seiner Mutter:

»Sühne!... Sühne!«

Das Fahrzeug schoß jetzt mit rasender Schnelligkeit dahin und flog fast um Goat-Island (die Ziegeninsel), welche den amerikanischen von dem canadischen Falle scheidet, und endlich – in der Mitte des Hufeisens, wo der Fall sich einen grünlich schillernden Abgrund ausgehöhlt hat – neigte sich die »Caroline« über diesen und verschwand im Wogenschaume des »Donnerers der Wasser«.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Die letzten Zuckungen des Aufstandes.

Die von den Engländern unter Verletzung des Völker-wie des Menschenrechtes begangene greuliche Schandthat fand in der Alten wie in der Neuen Welt einen ungeheuren Widerhall. Von den Behörden in Niagara-Falls wurde eine Untersuchung darüber eingeleitet. Mac Leod war von Einzelnen derjenigen, welchen es gelungen war, der Abschlachtung und dem Feuertode zu entgehen, erkannt worden; übrigens zögerte dieser Verruchte gar nicht, sich offen zu rühmen, daß er es gewesen sei, der »die Geschichte gegen die verdammten Yankees so prächtig durchgeführt habe«.

Und doch lief die traurige Angelegenheit nur auf eine an England gerichtete Indemnitätsforderung hinaus, als Mac Leod im November 1840 in den Straßen von New-York verhaftet worden war.

Fox, der Vertreter Englands, verlangte dessen Auslieferung; die Bundesregierung verweigerte dieselbe. In der Pairskammer wie im Hause der Gemeinen wurde das Ministerium angegangen, Mac Leod in Freiheit setzen zu lassen, da [397] dieser nur gemäß den Befehlen der Königin gehandelt habe. Der Congreß antwortete auf dieses Verlangen mit einer Erklärung, welche die Rechte des Staates New-York einfach bestätigte. Diese Erklärung wurde als wirklicher casus belli aufgefaßt und das Vereinigte Königreich traf diesbezügliche Maßregeln.

Seinerseits bewilligte das Bundesparlament, indem es den Mordbrenner unter Anklage des überlegten Mordes vor die Assisen verwies, die nöthigen Geldmittel, und ohne Zweifel wäre der Krieg entbrannt, hätte nicht Mac Leod einen, übrigens kaum annehmbaren Alibi-Beweis beigebracht, der den Engländern wie den Amerikanern Gelegenheit bot, die schmachvolle Affaire zu vertuschen, worauf man den Schurken straflos laufen ließ.

So wurden die Opfer jenes entsetzlichen Ueberfalles der »Caroline« gerächt.

Nach der Niederlage der Aufständischen auf der Insel Navy erhielt Lord Gosford die Mittheilung, daß die Reformer auf eine weitere Empörung gegen die englische Regierungsgewalt verzichteten. Uebrigens waren deren hervorragendste Anführer theils versprengt, theils in den Gefängnissen von Montreal und Quebec eingekerkert, und Johann ohne Namen existirte nicht mehr.

Nichtsdestoweniger kam es im Jahre 1838 noch zu vereinzelten Erhebungen an verschiedenen Punkten der canadischen Provinzen.

Im Monat März geschah der erste derartige Versuch, hervorgerufen durch Robert Nelson, den Bruder des Mannes, der bei St. Denis befehligte, aber schon bei diesem ersten Auftreten einen Mißerfolg zu verzeichnen hatte.

In Napierville loderte eine zweite Emeute auf, in welcher zweitausend Patrioten im Kampfe gegen nur sechshundert Mann reguläre Truppen Sir John Colborne's – ohne fünfhundert Indianer und vierhundert Freiwillige mitzuzählen – im Gefecht von Odelltown in die Flucht geschlagen wurden.

Im Monat November ereignete sich der dritte Fall von Insurrection. Die Reformisten aus den Grafschaften Chambly, Verchères, Laprairie, Acadien, Terrebonne und Deux-Montagnes, unter Anführung Brière's, der Lorimier, der Rochon u.a., theilten sich in zwei Haufen von je hundert Mann. Der eine derselben stürmte einen Edelsitz, der von Freiwilligen vergeblich vertheidigt wurde; der andere bemächtigte sich eines Dampfbootes am Quai des Fleckens Beauharnais. Ferner unternahmen in Châteauquai Cardinal, Duquet, Lepailleur und Ducharme, welche die Wilden von Caughnawaga zur Ablieferung ihrer Waffen zwingen wollten, eine Art Streifzug, welcher gänzlich scheiterte. Endlich [398] organisirten Robert in Terrebonne, die beiden Sanguinet in Sainte-Anne, ferner Bouc, Gravelles, Roussin, Marie, Granger, Latour und Guillaume Prévost nebst seinen Söhnen die letzten Aufstandsversuche, welche das Ende der insurrectionellen Periode der Jahre 1837 und 1838 bezeichneten.

Jetzt schlug die Stunde der Wiedervergeltung. Die hauptstädtische Regierung ging dabei mit einer so unerbittlichen Rücksichtslosigkeit vor, daß diese schon mehr an Grausamkeit grenzte.

Am 4. November hatte Sir John Colborne unter Vollmacht der obersten Regierungsbehörden das Standrecht verkündigt und die Habeas corpus-Acte vorläufig aufgehoben. Nach Errichtung eines Kriegsgerichtes fällte dieses seine Urtheile mit einer wahrhaft empörenden Parteilichkeit und Leichtfertigkeit. Auf das Schaffot schickte dasselbe unter Andern Cardinal, Duquet, Robert, Hamelin, die beiden Sanguinet, Descogne, Narbonne, Nicolas, Lorimier, Hindelang und Daunais, deren Namen in der Martyreologie der franco-canadischen Geschichte niemals erlöschen werden.

Diesen Namen haben wir noch die einiger Personen hinzuzufügen, welche in dieser unserer Erzählung hervortraten, wie der Advocat Sebastian Gramont, Vincent Hodge, der ebenso starb wie sein Vater, mit demselben Muthe und für dieselbe Sache.

Da William Clerc auf amerikanischem Boden seinen Wunden erlegen war, überlebte André Farran, der sich nach den Vereinigten Staaten geflüchtet hatte, seine Kampfgenossen ganz allein.

Hierzu kommt nun die Liste der Verbannten. Sie umfaßte etwa fünfzig der hervorragendsten Patrioten, und es sollten gar viele Jahre vergehen, ehe diese in ihr Vaterland zurückkehren konnten.

Was den Abgeordneten Papineau angeht, den Politiker, dessen Persönlichkeit diesen ganzen Zeitraum der Erhebung nationaler Ansprüche beherrschte, so gelang es ihm zu entkommen. Ein langes Leben gestattete ihm, Canada noch im Besitz seiner Selbstregierung, wenn auch nicht seiner völligen Selbständigkeit zu sehen.

Papineau starb erst unlängst an der äußersten Grenze eines mit Recht geehrten Alters.

Wir haben nun noch nachzutragen, was aus Catherine Harcher geworden war. Von ihren fünf Söhnen, welche ihren Vater nach St. Charles und nach der Insel Navy begleitet hatten, waren nur zwei nach mehrjähriger [399] Verbannung nach der Farm von Chipogan heimgekehrt, und haben diese seitdem nicht wieder verlassen.

Was die Mahogannis angeht, welche an der Entwickelung des Aufstandes theilgenommen hatten, so wollte die Regierung sich ihrer nicht erinnern, so wenig wie des vortrefflichen Mannes, der wider Willen in Sachen verwickelt worden war, die »ihn ja gar nichts angingen«.

Meister Nick kehrte denn – übrigens recht überdrüssig einer hohen Stellung, die er nicht erstrebt – nach Montreal zurück, wo er das frühere Leben wieder anfing. Und wenn Lionel wieder als zweiter Schreiber an seinem Pulte in der Expedition am Markte Bon-Secours unter der Fuchtel eines Sagamore Platz nahm, so geschah das doch mit einem Herzen voll der Erinnerung an das, wofür er wirklich gern sein Leben geopfert hätte.

Beide bewahrten für immer das Andenken an die Familie Vaudreuil, ebenso wie an den durch seinen Tod wieder zu Ehren gekommenen Johann ohne Namen, den sagenhaften Helden Canadas.

Wenn diese Aufstände aber auch gescheitert waren, so hatten sie doch keimfähigen Samen in die Erde gesenkt. Mit dem Fortschritte, den die Zeit gebiert, mußte dieser Same aufgehen. Nicht umsonst vergießen Vaterlandsfreunde ihr Herzblut, um angestammte Rechte wieder zu erlangen. Möge das von keinem Lande vergessen werden, dem die Pflicht obliegt, seine Unabhängigkeit wieder zu fordern!

Die nacheinander an die Spitze der Colonie gestellten Gouverneure, Sidenham, Bagot, Metcalfe, Elgin und Monck, traten nach und nach einige Theile der früheren Vorrechte der Krone ab. Dann stellte die Verfassung von 1867 die canadische Conföderation auf unerschütterliche Grundlagen. Das war zu derselben Zeit, wo die Frage, welche Stadt die Hauptstadt der Dominion sein sollte, zu Gunsten Quebecs in Fluß kam, später aber zu Gunsten Ottawas entschieden wurde.

Heute ist die Erschlaffung des Verbindungsbandes mit der Metropole fast eine vollständige.

Canada bildet im eigentlichen Sinne eine freie Macht unter dem Namen der Dominion of Canada, wo die angel-sächsischen und die franco-canadischen Elemente sich in vollkommener Gleichstellung berühren. Von den jetzigen fünf Millionen Einwohnern gehört noch der dritte Theil der französischen Rasse an.

[400] Jedes Jahr vereinigt eine wahrhaft rührende Ceremonie die Patrioten von Montreal am Fuße der Säule, welche dem Andenken der politischen Opfer von 1837 und 1838 an der Schneeküste errichtet wurde. Hier wurde am Einweihungstage von Euclide Roy, dem Präsidenten des Instituts, eine erschütternde Rede gehalten, und deren letzte Worte fassen die Lehre zusammen, welche aus unserer Schilderung hervorgeht:

»Den Opfermuth ehren, heißt Helden gebären!«


Ende.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Die Familie ohne Namen. Die Familie ohne Namen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-753D-D