Jules Verne
Der Chancellor


Der Nordwind treibt den Chancellor. (S. 5.)

1. Capitel

I.

Charleston, am 27. September 1869. – Um drei Uhr Nachmittags verlassen wir den Batterie-Quai. Rasch führt uns die Ebbe dem freien Meere zu. Kapitän Huntly hat alle Segel beisetzen lassen, und der Nordwind treibt den Chancellor quer durch die Bai von Charleston. Bald ist das Fort [6] Sumter umschifft und liegen uns die Batterien, welche den Hafen bestreichen, zur Linken. Um vier Uhr passirt unser Schiff die enge Einfahrt, durch die bei sinkendem Wasser eine schnelle Strömung fluthet. Von hier aus ist die eigentliche offene See freilich noch ziemlich weit entfernt und nur durch enge gefährliche Wasserstraßen zwischen ausgedehnten Sandbänken zu erreichen. Kapitän Huntly biegt in das Fahrwasser nach Südwesten ein und hält auf den Leuchtthurm an der linken Spitze des Fort Sumter zu. Die Segel werden so dicht als möglich gegen den Wind gestellt, und um sieben Uhr Abends bleibt der letzte Ausläufer der Sandbänke hinter unserem Fahrzeuge zurück, das nun in den Atlantischen Ocean hinaussteuert.

Der »Chancellor«, ein schöner Dreimaster von 900 Tonnen, gehört dem reichen Hause der Gebrüder Leard in Liverpool. Das Schiff ist zwei Jahre alt, mit Kupfer bekleidet, aus Teakholz gebaut und führt, außer dem Besanmaste, Untermaste und Takelage aus Eisen. Das solide und schöne Schiff, beim Bureau Veritas unter A. I. classificirt, vollendet eben seine dritte Reise zwischen Charleston und Liverpool. Bei der Abfahrt von Charleston hißte es die englische Flagge; ein Seemann hätte aber auch ohne diese seinen Ursprung auf den ersten Blick erkannt: es war wirklich, für was es sich ausgab, d.h. englisch von der Wasserlinie bis zur Mastspitze.

An Bord des Chancellor, der jetzt nach England zurücksegelt, habe ich mich aus folgenden Gründen eingeschifft:

Zwischen Süd-Carolina und dem Vereinigten Königreiche besteht keine directe Dampferverbindung. Um eine transatlantische Linie zu erreichen, müßte man entweder nach Norden hinauf bis New-York gehen oder nach Süden hinunter, bis New-Orleans. Zwischen New-York und der alten Welt unterhalten verschiedene englische, deutsche und französische Gesellschaften eine häufige und sichere Verbindung, und von dort aus hätte mich eine Scotia, Holsatia oder ein Pereire (bekannte Schiffe jener Linien) schnell genug meinem Bestimmungsorte zugeführt. Zwischen New-Orleans und Europa verkehren die Dampfer derNational Steam navigation Co., die sich an die französische Linie nach Colon und Aspinwall anschließen. Als ich aber auf den Quais in Charleston dahinging, sah ich den Chancellor. Das Schiff gefiel mir, und ich weiß nicht, welcher Instinct mich an Bord desselben trieb. Es ist übrigens recht bequem eingerichtet, und bei günstigem Wind und Meere, – wobei die Schnelligkeit, die der Dampfer fast erreicht –, ziehe ich es nach allen Seiten [6] hin vor, mit einem Segelschiff zu reisen. Zu Anfang des Herbstes hält sich in diesen niedrigen Breiten die Witterung noch sehr schön. Ich entschied mich also für die Ueberfahrt auf dem Chancellor.

Habe ich daran wohl gethan? Werde ich es zu bereuen haben? Die Zukunft wird es lehren. Ich will meine Beobachtungen tagtäglich notiren, und jetzt, da ich schreibe, weiß ich selbst noch nicht mehr als die Leser dieses Tagebuchs, wenn dasselbe überhaupt jemals Leser findet.

2. Capitel

II.

Am 28. September. – Ich erwähnte schon, daß der Kapitän des Chancellor Huntly heißt, – mit Vornamen John Silas. Er ist ein Schotte aus Dundee, gegen fünfzig Jahre alt und macht den Eindruck eines erfahrenen Oceanschiffers. Bei nur mittlerer Körpergröße sind seine Schultern nicht breit, sein Kopf, den er aus Gewohnheit immer nach der linken Seite neigt, etwas klein. Ohne Physiognomiker ersten Ranges zu sein, glaube ich schon, trotzdem ich Kapitän Huntly erst seit wenigen Stunden kenne, ein Urtheil über denselben abgeben zu können.

Daß Silas Huntly das Aussehen eines guten Seemanns habe und in seinem Fache wohlunterrichtet sei, dem widerspreche ich nicht; daß in diesem Manne aber ein fester Charakter stecke, der unbeugsam jeder Prüfung entgegenträte, nein, das ist nicht möglich.

In der That erscheint die Haltung des Kapitäns etwas schwerfällig, sein Körper ziemlich abgespannt. Er ist nachlässig, das sieht man an seinem unsicheren Blicke, den passiven Bewegungen der Arme und seinem Schwanken, bei dem er von einem Beine auf das andere fällt. Dieser Mann ist nicht energisch, kann es nicht sein, nicht einmal starrköpfig, denn seine Augen haben kein Feuer, sein Kinn ist sein und weich und seine Hände scheinen sich gar nicht ballen zu können; außerdem fällt mir an ihm noch ein eigenthümliches Wesen auf, das ich mir noch nicht zu erklären vermag, doch werde ich ihm auch ferner diejenige Aufmerksamkeit schenken, welche der Befehlshaber eines Schiffes verdient, auf dem er sich »nach Gott den Nächsten« nennt.


Robert Kurtis, der zweite Officier. (S. 8.)

[7]

Wenn ich nicht irre, befindet sich aber zwischen Gott und Silas Huntly noch ein Anderer an Bord, der gegebenen Falls eine hervorragende Stelle einzunehmen bestimmt scheint, das ist der zweite Officier des Chancellor, den ich noch nicht genügend studirt habe und von dem zu sprechen ich mir für später vorbehalte.


Die Passagiere des Chancellor. (S. 10)

Die Besatzung des Chancellor besteht aus Kapitän Huntly, dem zweiten Officier Robert Kurtis, dem Lieutenant Walter, einem Hochbootsmann und [8] vierzehn Matrosen, lauter Engländer oder Schotten, zusammen also achtzehn Seeleute, – eine Anzahl, welche zur Führung eines Dreimasters von 900 Tonnen Gehalt völlig hinreichend ist. Die Männer scheinen ihr Geschäft Alle gut zu verstehen. Was ich bis jetzt davon sah, beschränkt sich freilich darauf, daß sie unter dem Commando des zweiten Officiers in dem engen Fahrwasser vor Charleston sehr geschickt manoeuvrierten.

[9] Ich vervollständige das Verzeichniß der auf dem Chancellor eingeschifften Personen durch Erwähnung des Steward Hobbart, des Negerkochs Jynxtrop und durch Hinzufügung einer Liste der Passagiere.

Von Letzteren zähle ich, wenn ich mich einrechne, acht Personen. Noch kenne ich sie kaum, doch werden die Eintönigkeit einer längeren Ueberfahrt, die kleinen Vorkommnisse jedes Tages, die unumgängliche Berührung mehrerer in so engem Raume zusammen wohnender Leute, das natürliche Bedürfniß, seine Gedanken auszutauschen und die dem Menschenherzen eingeborene Neugier uns zeitig genug einander näher bringen. Bis jetzt haben uns noch der Wirrwarr der Einschiffung, die Besitznahme der Cabinen, die Einrichtungen, welche eine Reise von drei bis vier Wochen nöthig macht, und verschiedenerlei andere Geschäfte noch von einander fern gehalten. Gestern und heute erschienen noch nicht einmal Alle bei Tische, und vielleicht leiden Einige an der Seekrankheit. Noch habe ich sie nicht einmal Alle gesehen, weiß aber, daß sich unter den Passagieren zwei Damen befinden, die in der hintersten Cabine wohnen, deren Fenster in dem Spiegel des Fahrzeugs angebracht sind.

Hier folge eine Liste, wie ich sie der Schiffsrolle entnehme:


Mr. und Mrs. Kear, Amerikaner, aus Buffalo,
Miß Herbey, Engländerin, Gesellschaftsdame der Mrs. Kear;
Mr. Letourneur und Sohn, André Letourneur, Franzosen, aus Havre;
William Falsten, Ingenieur aus Manchester, und
John Ruby, Kaufmann aus Cardiff, Beide Engländer, endlich
J. R. Kazallon aus London, der Verfasser dieser Zeilen.

3. Capitel

III.

Am 29. September. – Das Connaissement des Kapitän Huntly, d.h. die Acte, in welcher die im Chancellor verladenen Waaren aufgeführt und die Frachtbedingungen festgestellt sind, lautet wörtlich folgendermaßen:


[10] »Herren Bronsfield und Co., Commissionäre,


Charleston.


Ich, John Silas Huntly aus Dundee (Schottland), Commandant des Schiffes Chancellor, neunhundert Tonnen Last, gegenwärtig in Charleston, um mit dem ersten günstigen Winde auf kürzestem Wege und unter dem Schutze Gottes abzufahren und bis vor die Stadt Liverpool zu segeln, – bekenne hiermit von den Herren Bronsfield und Co., Handelscommissionären in Charleston, unter das sonst leere Oberdeck des erwähnten Schiffes siebenzehnhundert Ballen Baumwolle im Werthe von 26.000 Pfd. Sterl. 1, Alles in gutem Zustande, markirt und numerirt laut Buch, angeliefert erhalten zu haben, welche Waaren ich, abgesehen von den Gefahren und Zufällen des Meeres, in bestem Zustande in Liverpool an die Herren Gebr. Leard oder deren Ordre abliefern und mich für meine Frachtspesen mit 2000 Pfd. Sterl. 2, nicht mehr, laut Charterbrief bezahlt machen werde; Havarieschäden nach Seegebrauch und Herkommen. Zur Bekräftigung dieses habe ich verpflichtet und verpflichte hiermit meine Person, mein Vermögen und das genannte Fahrzeug mit allem Zubehör.

Zu dem Zwecke habe ich drei gleichlautende Connaissemente unterzeichnet und sollen nach Erledigung eines derselben die anderen null und nichtig sein.

Geschehen zu Charleston, am 13. September 1869.

J. S. Huntly.«


Der Chancellor führt also 1700 Ballon Baumwolle nach Liverpool. Absender: Bronsfield & Co. in Charleston. Empfänger: Gebrüder Leard in Liverpool.

[11] Da das Schiff eigens zum Baumwollentransport eingerichtet ist, so wurde die Ladung mit größter Sorgfalt verstaut. Bis auf einen kleinen für das Passagiergepäck freigelassenen Theil nehmen jene Ballen den ganzen Schiffsraum ein und bilden, da sie mittels Winden sehr fest verschnürt sind, nur eine äußerst compacte Masse. Kein Eckchen des unteren Raumes ist auf diese Weise unbenutzbar geblieben, ein günstiger Umstand für ein Schiff, welches dabei seine volle Waarenladung aufzunehmen vermag.

Fußnoten

1 520,000 Mark.

2 40,000 Mark.

4. Capitel

IV.

Vom 30. September bis 6. October. – Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, läßt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so daß man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meere wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.

Der Ocean ist vom Winde nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird Niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Uebrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Ueberfahrt und sind Alle mehr oder weniger mit dem Meere vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tische leer.

Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmälig Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger mit einander.

Mr. Letourneur ist mein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wuchse, weißem Haar und ergrauendem Barte. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, – eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt die ser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopfe leicht erkennt.

Nie lacht er, nur selten lächelt er, und dann nur seinem Sohne gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten [12] Schleier. Sein Gesicht verräth eine ganz charakteristische Mischung von Kümmerniß und Liebe, und seine ganze Erscheinung athmet eine gewisse wohlwollende Güte.

Man kommt auf den Gedanken, daß Mr. Letourneur über irgend ein unverschuldetes Unglück traure.

So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!

Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohne André, einem sanften, einnehmenden jungen Manne, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Aehnlichkeit mit seinem Vater, aber – und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des Letzteren, – André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so daß er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar nicht gehen kann.

Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, daß dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von Neuem. Er verläßt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf Alles, was Jener thut. Seine Arme gehören mehr dem Sohne, als ihm selbst, sie umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.

Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, und spricht unausgesetzt von seinem Kinde.

Heute sprach ich ihn folgendermaßen an:

»Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, Mr. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.

– Ja wohl, Mr. Kazallon, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, eine schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.

– Er liebt Sie sehr.

– Das gute Kind! flüstert den Kopf senkend Mr. Letourneur. O, fährt er dann fort, Sie können es nicht mit fühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!

[13] – Mr. Letourneur, erwiderte ich ihm, bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, theilen Sie die Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter, als ein Seelenleiden, und das Letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn; und wenn ihm irgend Etwas nahe geht, so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre persönliche Bekümmerniß ist ...

– Die ich ihm gegenüber stets verberge! fällt mir Mr. Letourneur schnell in's Wort. Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung André's habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.

– Ja, mein Herr, ... gewiß ..., sage ich.

– Aber wenn er auch vergäße, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedrucke, so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr, daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«

Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.

Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Ueberfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck [14] bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urtheil über den zweiten Officier, Robert Kurtis, einen wohl gebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Thätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.

Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihn schärfer in's Auge und erstaune, daß er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blicke und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein energischer Mann, der den kalten Muth wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muß.

Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessirt sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.

Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Officier und nimmt an der Unterhaltung theil.

Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis theilt uns einiges über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.

Mr. und Mrs. Klear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichthümer der Ausbeutung der Petroleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der Nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herum wühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller Anderen, trägt er eine affectirte Theilnahmlosigkeit für Alles, was ihn nicht direct angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum er an Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Comfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht gewähren kann.

[15] Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht Nichts; sie hört wohl, aber versteht Nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.

Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miß Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Oelbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.

Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet.

Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nergeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miß Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.

William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Carolina und geht jetzt nach Europa, um neue, vervollkommnetere Maschinen kennen zu lernen, unter Anderem die Centrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für Nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrade darin gefesselt.

Mr. Ruby endlich repräsentirt den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts gethan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im Allgemeinen theurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht [16] und reflectirt nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascal's: »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«

5. Capitel

V.

Am 7. October. – Wir haben Charleston vor zehn Tagen verlassen, und wie mir scheint, gute Fahrt gemacht. Ich plaudere häufig mit dem zweiten Officier, und es hat sich zwischen uns eine gewisse Vertrautheit ausgebildet.

Heute meldet mir Robert Kurtis, daß wir uns nicht weit mehr von den Bermuden-Inseln, d.h. gegenüber dem Cap Hatteras, befinden. Die Beobachtung hat 32°20' nördliche Breite und 64°50' westliche Länge von Greenwich ergeben.

Wir werden die Bermuden, und speciell die Insel St. Georg, noch vor Nacht in Sicht bekommen, sagte mir der zweite Officier.

– »Wie, habe ich ihm geantwortet, wir steuern auf die Bermuden? Ich war der Meinung, daß ein von Charleston nach Liverpool segelndes Schiff nach Norden halten und dem Golfstrome folgen müsse.

– Gewiß, Mr. Kazallon, antwortete Robert Kurtis, gewöhnlich schlägt man diese Richtung ein, es scheint aber, als habe der Kapitän für dieses Mal die Absicht, davon abzugehen.

– Warum?

– Das weiß ich nicht, er hat aber befohlen nach Osten zu steuern, so geht der Chancellor nach Osten!

– Haben Sie ihm aber nicht bemerkt, daß ...

– Ich habe ihm bemerkt, daß das nicht der gebräuchliche Weg sei, und er hat mir geantwortet, daß er schon wisse, was er zu thun habe.«

Bei diesen Worten zog Robert Kurtis mehrmals die Augenbrauen zusammen, strich mit der Hand über die Stirn und schien mir nicht Alles auszusprechen, was er sagen wollte.

[17] »Inzwischen, Mr. Kurtis, habe ich ihm gesagt, wir sind schon am 7. October, und das scheint mir keine geeignete Zeit, neue Schiffswege versuchsweise zu befahren. Wenn wir noch vor Eintritt der schlechten Jahreszeit in Europa anlangen wollen, haben wir keinen Tag zu verlieren.

– Nein, Mr. Kazallon, nicht einen Tag!

– Halten Sie mich für indiscret, Mr. Kurtis, wenn ich die Frage an Sie richte, was Sie von Kapitän Huntly halten?

– Ich denke, antwortete mir der zweite Officier, ich denke, daß ... er mein Kapitän ist!«

Diese ausweichende Antwort konnte nicht zu meiner Beruhigung dienen.

Robert Kurtis hatte sich nicht getäuscht. Gegen drei Uhr meldete der auslugende Matrose: Land in Sicht im Nordosten! Noch ist dasselbe freilich nur wie eine Dunstschicht sichtbar.

Um sechs Uhr begab ich mich mit den beiden Herren Letourneur auf das Verdeck, und wir betrachteten die im Allgemeinen sehr flachen Bermuden-Inseln, welche eine Kette gefährlicher Risse umschließt

Da liegt also der reizende Archipel, beginnt André Letourneur, die pittoreske Gruppe, welche Ihr heimatlicher Dichter, Thomas Moore, in seinen Oden gepriesen hat! Schon im Jahre 1643 lieferte der verbannte Walter eine enthusiastische Beschreibung derselben, und wenn ich nicht irre, wollten englische Damen eine Zeit lang keine anderen Hüte tragen, als solche, die aus gewissen Blättern einer bermudischen Palme geflochten waren.

– »Sie haben recht, lieber André, antwortete ich, der Bermuden-Ahrchipel war im siebenzehnten Jahrhundert sehr in Mode; jetzt ist er indessen ganz in Vergessenheit gerathen.

– Uebrigens, Herr André, sagte da Robert Kurtis, die Dichter, welche mit Enthusiasmus von diesem Archipel sprechen, stimmen mit den Seeleuten keineswegs überein; denn das Land, dessen Anblick so verführerisch erscheint, ist zu Schiffe sehr schwierig zu erreichen, und der Klippengürtel, der sich halbkreisförmig in der Entfernung von zwei bis drei Stunden um dasselbe zieht, wird von den Seefahrern mit Recht gefürchtet. Was die ewige Heiterkeit des Himmels betrifft, die von den Bewohnern der Bermuden so gern hervorgehoben wird, so unterbrechen dieselbe ziem lich häufig gerade die heftigsten Stürme. Ueber diese Inseln rasen die Ausläufer der Wirbelstürme, die in den Antillen oft so viel Unheil anrichten, ja, und eben jene Ausläufer sind, ebenso wie der [18] Schweif des Walfisches, am meisten zu fürchten. Ich für meinen Theil möchte aber Seefahrern auf dem Atlantischen Oceane nicht rathen, den Berichten eines Walter oder Thomas Moore zu viel Glauben beizumessen.

– Herr Kurtis, hebt da lächelnd André Letourneur an, Sie mögen wohl recht haben. Die Dichter gleichen häufig den Sprichwörtern, das eine widerspricht immer dem anderen. Hat Thomas Moore und Walter diesen Archipel als einen wundervollen Aufenthalt gepriesen, so hat dagegen der größte Ihrer Dichter, Shakespeare, der ihn ohne Zweifel besser kannte, die schrecklichsten Scenen seines ›Sturmes‹ dahin verlegen zu sollen geglaubt.«

In der That sind die Umgebungen des Bermuden-Archipels eine sehr gefährliche Gegend. Die Engländer, denen die Inselgruppe seit ihrer Entdeckung gehört, benutzen sie nur als einen zwischen den Antillen und Neu-Schottland eingeschobenen Militärposten.

Uebrigens scheint jener, und zwar in großem Maßstabe, zu wachsen bestimmt. Mit der Zeit – dem Principe, dem die größten Schöpfungen der Natur ihre Entstehung verdanken – dürfte dieser Archipel, der jetzt schon über hundertundfünfzig Inseln zählt, deren eine noch weit größere Menge aufweisen, denn unablässig sind die Sternkorallen thätig, neue Bermuden aufzubauen, die sich nach und nach unter einander verbinden, und wohl einen neuen Continent zu bilden berufen sind.

Weder die drei anderen Passagiere, noch Mrs. Kear haben sich die Mühe genommen, das Verdeck zu besteigen, um den merkwürdigen Archipel zu betrachten. Was Miß Herbey angeht, so war diese nur auf dem Oberdeck erschienen, als sich schon die näselnde Stimme der Mrs. Kear vernehmen ließ und das junge Mädchen wieder neben ihrer launischen Herrin Platz zu nehmen nöthigte.

[19]

6. Capitel

VI.

Vom 8. bis 13. October. – Der Wind weht mit einer gewissen Heftigkeit aus Nordosten, und der Chancellor hat mit gerefften Marssegeln und den Focksegeln beilegen müssen.

Die See geht hoch und das Schiff arbeitet schwer. Die Zwischenwände der Cabinen seufzen mit einem nervenerschütternden Geräusche. Die Passagiere halten sich in der Hauptsache unter dem Deck auf.

Ich allein ziehe es vor, auf dem Verdeck zu bleiben. Aus der »frischen Brise« ist die Bewegung der Luftschichten in die der »scharfen Windstöße« übergegangen. Die Bramstengen sind herabgelassen. Der Wind legt jetzt in der Stunde fünfzig bis sechzig Meilen (d.h. gegen dreißig Meter in der Secunde) zurück. Seit zwei Tagen fahren wir so dicht als möglich am Winde. Trotz der guten Eigenschaften des Chancellor weicht das Schiff merklich ab und treiben wir mehr nach Süden. Der durch Wolken verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Sonnenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach nicht zu bestimmen vermag, so muß man sich mit einer Schätzung derselben begnügen.

Meinen Reisegefährten, gegen die sich der zweite Officier nicht ausgesprochen hat, ist es völlig unbekannt, daß wir einen ganz unerklärlichen Weg verfolgen. England liegt im Nordosten und wir segeln nach Südosten!

Robert Kurtis vermag sich die Hartnäckigkeit des Kapitäns nicht zu deuten, der doch mindestens versuchen sollte, nordwestlich zu steuern, um günstige Strömungen zu erreichen! Seitdem der Wind nach Nordosten gegangen ist, treibt der Chancellor mehr und mehr nach Süden.

Heute, als ich mich mit Robert Kurtis allein auf dem Oberdeck befand, sprach ich ihn darum an.

»Ist Ihr Kapitän von Sinnen? fragte ich.

– Das möchte ich Sie fragen, Herr Kazallon, antwortete mir Robert Kurtis, da Sie ihn aufmerksam beobachtet haben.

[20] – Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Herr Kurtis, doch gestehe ich, daß seine ganz eigenthümliche Physiognomie, seine verstörten Augen ... fahren Sie zum ersten Male mit ihm?

– Ja, er war mir früher unbekannt.

– Und Sie haben ihm Ihre Bemerkungen über den von uns eingeschlagenen Weg nicht vorenthalten?

– Gewiß nicht, doch er entgegnete mir, daß das der richtige sei.

– Herr Kurtis, fuhr ich fort, was denken aber Lieutenant Walter und der Hochbootsmann darüber?

– Sie denken wie ich.

– Und wenn Kapitän Huntly das Schiff nach China führte?

– So würden sie gehorchen wie ich.

– Der Gehorsam hat aber seine Grenzen?

– Nein, so lange die Führung des Kapitäns das Schiff nicht in Gefahr bringt.

– Wenn er aber geisteskrank wäre?

– Ja, wenn er das ist, Herr Kazallon, dann werde ich sehen, was zu thun ist!«

An solche Verhältnisse hatte ich freilich nicht gedacht, als ich mich auf dem Chancellor einschiffte.

Inzwischen ist das Wetter immer schlechter geworden; über den Atlantischen Ocean braust ein vollkommener Sturm. Das Schiff war gezwungen, mit dem großen Bramsegel und dem kleinen Focksegel beizulegen, d.h. es bietet dem Winde seine Breitseite. Trotzdem weicht es mehr und mehr ab, und immer weiter gelangen wir nach Süden.

Darüber kann kein Zweifel mehr sein, nachdem der Chancellor in der Nacht vom 11. zum 12. in die große Sargasso-See gelangt ist.

Diese Sargasso-See, welche der warme Golfstrom angehäuft hat, ist eine weite Wasserstrecke, bedeckt mit Varecpflanzen, welche die Spanier »Sargasso« nennen, und über welche die Schiffe des Columbus bei ihrer ersten Fahrt über den Ocean nur sehr schwer hinwegkamen.

Bei anbrechendem Tage bietet uns das Meer einen ganz eigenthümlichen Anblick, der auch die Herren Letourneur veranlaßt, trotz des brausenden Windes, der auf den metallenen Strickleitern spielt, als wären es Harfensaiten, auf Deck zu kommen. Unsere Kleider sind fest und eng an den Körper [21] gebunden, und würden zerrissen werden, wenn sie der Wind irgendwo erfassen könnte. Das Schiff schwankt auf diesem durch die fruchtbaren Fucus-Familien verdeckten Wasser, einer weiten Fläche von niederen Gewächsen, durch welche sich der Kiel wie eine Pflugschaar hindurch arbeitet, furchtbar hin und her. Manchmal treibt der Wind lange Faserschlingen hoch empor, die sich Um die Takelage wickeln und gleich grünen Guirlanden von einem Maste zum anderen hängen. Einige dieser oft mehrere hundert Fuß langen Algen umschlingen die Maste bis zu den Spitzen. Mehrere Stunden lang hat man gegen diesen wahrhaften Sturmangriff der Varecs anzukämpfen, und nachmals muß der Chancellor mit seinem von Hydrophyten und sonderbaren Lianen bedeckten Strickwerk mehr einem wandelnden Bosquet in einer ungeheuren Wiese ähnlich gesehen haben.

7. Capitel

VII.

Am 14. October. – Endlich hat der Chancellor das Vegetabilienmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich vermindert, und wir kommen mit zweigerefften Marssegeln rasch vorwärts.

Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuchtet jetzt mit hohem Glanze. Es fängt allmälig an sehr warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbestimmung ergeben 21°33' nördlicher Breite und 50°17' westlicher Länge. Der Chancellor ist also um mehr als zehn Breitengrade nach Süden gesegelt.

Noch immer hält er den südöstlichen Cours!

Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren des Kapitän Huntly Aufschluß zu verschaffen gesucht und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen. Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich weiß es noch nicht. Im Allgemeinen spricht er vernünftig. Steht er unter dem Einflusse einer partiellen Verrücktheit, einer Geistesabwesenheit, welche sich gerade bezüglich seines Geschäftes äußert? Derartige Fälle wurden schon wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich davon spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Officier wiederholt seine frühere Aussage, daß er nicht das [22] Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, so lange nicht durch einen wohl constatirten Act des Wahnsinns der Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortlichkeit für jenen angedeuteten Schritt ist eine sehr ernste.

Gegen acht Uhr Abends bin ich in meine Cabine zurückgekehrt, habe bei dem Lichte meiner Schwebelampe noch eine Stunde gelesen und meinen Gedanken nachgehangen, dann aber mich niedergelegt und bin bald eingeschlafen.

Einige Stunden später durch ein ungewohntes Geräusch erweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Gespräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst hin und her zu laufen. Was mag der Grund dieser außergewöhnlichen Bewegung sein? Wahrscheinlich eine Veränderung der Segelstellung behufs Aenderung des Schiffscourses ... Doch nein, das ist's wahrscheinlich nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht verändert worden. Die Bewegungen des Chancellor sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.

Am folgenden Morgen des 14. begebe ich mich schon um sechs Uhr auf Deck und betrachte das Fahrzeug. An Bord ist scheinbar nichts geändert. Wir segeln unter Backbordhalfen mit den unteren Mars- und Focksegeln. Der Chancellor hält sich prächtig auf dem von der frischen Brise etwas bewegten Meere. Seine Schnelligkeit ist beträchtlich und kann jetzt nicht unter elf Meilen (Seemeilen, 4 = 1 geographische Meile) betragen.

Bald erscheinen auch die beiden Herren Letourneur auf dem Verdeck, ich helfe dem jungen Manne heraufsteigen. Mit großem Wohlbehagen schlürft André die belebende Morgenluft.


Das Schiff schwankt furchtbar hin und her. (S. 22.)

Ich frage die Herren, ob sie diese Nacht nicht durch ein Geräusch erweckt worden seien, das eine gewisse Bewegung an Bord verrathen habe.

»Ich für meinen Theil nicht, antwortet André Letourneur, ich habe in einem fort geschlafen.

– Du schliesst ganz ruhig, liebes Kind, sagte Herr Letourneur, ich bin jedoch auch durch das Geräusch, von dem Mr. Kazallon spricht, munter gemacht worden. Ich glaubte die Worte zu vernehmen: ›Schnell! Schnell! Nach den Luken! Nach den Luken!‹

– Um wieviel Uhr war das wohl? fragte ich?

– Etwa um drei Uhr Morgens.

– Und die Ursache dieses Geräusches ist Ihnen unbekannt geblieben?

[23] – Vollkommen, Mr. Kazallon, sie kann aber nur unbedeutend gewesen sein, da Niemand von uns nach dem Verdeck gerufen worden ist.«

Ich fasse die Luken, welche vor und hinter dem großen Maste angebracht sind und nach dem Kielraume hinabführen, in's Auge. Wie gewöhnlich sind sie geschlossen, doch fällt es mir auf, daß sie sorgsam mit Pfortsegeln überdeckt erscheinen, als habe man sie möglichst hermetisch verschließen wollen. Warum ist das geschehen? Hier liegt Etwas zu Grunde, das ich mir nicht zu [24] erklären vermag. Robert Kurtis wird mir ohne Zweifel darüber Aufschluß geben. Ich warte also, bis der zweite Officier an die Wache kommt und halte meine eigenen Gedanken zunächst zurück, da es mir besser scheint, sie den Herren Letourneur jetzt nicht mitzutheilen.


»Nun ja, sagt er, es ist Feuer an Bord!« (S. 29.)

Der Tag verspricht schön zu werden, die Sonne ist prächtig und fast ganz dunstfrei aufgegangen. Ein gutes Vorzeichen. Noch sieht man über dem westlichen Horizonte die Sichel des Mondes, der vor zehn Uhr siebenundfünfzig [25] Minuten nicht untergehen wird. In drei Tagen werden wir letztes Viertel und am 24. Neumond haben. Ich schlage in meinem Kalender nach und sehe, daß an demselben Tage eine starke Springfluth sein muß. Bei unserer Fahrt auf dem offenen Meere können wir freilich nichts davon wahrnehmen, an den Küsten aller Continente und Inseln aber wird das Phänomen merkwürdig zu beobachten sein, denn der Neumond muß die Wassermassen zu außergewöhnlicher Höhe emporheben.

Ich bin jetzt auf dem Oberdeck allein. Die Herren Letourneur sind zum Thee wieder hinab gegangen, und ich erwarte den zweiten Officier.

Um acht Uhr beginnt die Wache Robert Kurtis', der den Lieutenant Walter ablöst, und ich gehe diesem mit einem Händedrucke entgegen.

Noch ehe er mir guten Tag sagt, läßt Robert Kurtis seinen Blick über das Verdeck schweifen, und seine Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen. Dann beobachtet er den Zustand des Himmels und die Takelage, um sich hierauf dem Lieutenant Walter zu nähern.

»Der Kapitän? fragte er.

– Ich sah ihn heute noch nicht.

– Nichts Neues?

– Nichts.«

Dann unterhalten sich Robert Kurtis und Lieutenant Walter einige Augenblicke mit leiser Stimme.

Auf eine an ihn gerichtete Frage antwortet Walter mit einem verneinenden Zeichen.

»Schicken Sie mir den Hochbootsmann herauf, Walter«, ruft der zweite Officier dem abgelösten Lieutenant nach.

Bald erscheint der Gerufene und Robert Kurtis stellt einige Fragen an ihn, auf welche dieser mit leiser Stimme, aber mit Achselzucken antwortet. Auf den Wink des zweiten Officiers läßt der Hochbootsmann durch die Deckwache die Pfortsegel über der großen Luke neu begießen.

Einige Augenblicke später nähere ich mich Robert Kurtis, und unser Gespräch dreht sich zunächst um unwichtige Dinge. Da es mir scheint, als wolle der zweite Officier nicht selbst auf den Gegenstand meines lebhaften Interesses eingehen, sage ich zu ihm:

»Ich bitte, Mr. Kurtis, was ist denn diese Nacht an Bord vorgekommen?«

[26] Robert Kurtis betrachtet mich aufmerksam, giebt aber keine Antwort.

»Ja, fahre ich fort, ich wurde durch ein ungewöhnliches Geräusch erweckt, ebenso Mr. Letourneur; was ist geschehen?

– Nichts Besonderes, Mr. Kazallon, erwidert Robert Kurtis, eine falsche Steuerbewegung des Untersteuermannes machte es plötzlich nöthig, zu brassen, was eine gewisse Bewegung auf dem Verdeck veranlaßt haben mag. Bald war der Fehler wieder gut ge macht und der Chancellor lief in seinem gewohnten Course weiter.«

Mir scheint, daß der sonst so offene Robert Kurtis diesmal nicht die Wahrheit gesagt hat.

8. Capitel

VIII.

Vom 15. bis 18. October. – Die Fahrt geht ganz in derselben Weise weiter, der Wind hält sich aus Nordosten, und für Jeden nicht tiefer Blickenden hat es den Anschein, als ob an Bord Alles in bester Ordnung sei.

Indeß, »es liegt etwas in der Luft«. Die Matrosen stecken die Köpfe zusammen und murmeln unter einander, schweigen aber bei unserer Annäherung. Wiederholt habe ich das Wort »Luke« gehört, das schon Mr. Letourneur aufgefallen war. Was befindet sich nur im Kielraum des Chancellor, das so besondere Vorsicht nöthig machen kann? Warum sind die Luken so luftdicht verwahrt? Wahrlich, wenn eine empörte Schiffsmannschaft im Zwischendeck gefangen gehalten würde, könnte man strengere Maßregeln zu ihrer Bewachung nicht wohl ergreifen.

Am 15., als ich mich auf dem Vordercastell erging, hörte ich den Matrosen Owen zu seinen Kameraden sagen:

»Ihr Anderen wißt es also, ich warte nicht, bis es zu spät ist. Jeder ist sich selbst der Nächste.

– Was willst Du aber thun, Owen? fragte ihn Jynxtrop, der Koch.

– Ei nun! hat der Matrose geantwortet, die Schaluppen sind doch nicht für Meerschweinchen erfunden!«

[27] Das Gespräch wurde plötzlich unterbrochen, und ich konnte nicht mehr vernehmen.

Ist etwa eine Verschwörung gegen die Schiffsoberleitung im Entstehen? Hat Robert Kurtis Vorzeichen einer Empörung bemerkt? Den bösen Willen mancher Matrosen hat man stets zu fürchten, und muß Jenen eine eiserne Disciplin entgegen setzen.

Drei Tage sind verflossen, ohne daß mir etwas Bemerkenswerthes aufgefallen wäre. An Robert Kurtis erkenne ich jedoch Zeichen von Ungeduld, was mich bei einem Manne, der seiner so sehr Herr ist, wie er, desto mehr verwundert; dennoch scheint mir Kapitän Huntly in Folge wiederholter Einsprache seiner Officiere nur noch hartnäckiger auf seinem Willen zu beharren. Uebrigens muß er an einer Ueberreizung leiden, deren Ursache mir noch dunkel ist.

Während der Mahlzeiten haben wir, Mr. Letourneur und ich, die Schweigsamkeit des Kapitäns und die Unruhe des zweiten Officiers wiederholt beobachtet. Dann und wann versucht Robert Kurtis eine Conversation zu unterhalten, doch schweigt sie meist sofort wieder, und weder der Ingenieur Falsten noch Mr. Kear sind die Leute dazu, eine solche zu führen.

Ruby natürlich ebenso wenig. Inzwischen fangen die Passagiere, und das nicht ohne Grund, an, sich über die lange Dauer der Fahrt zu beklagen. Mr. Kear, ein Mann, vor dem sich selbst die Elemente beugen müssen, scheint Kapitän Huntly für diese Verzögerung verantwortlich machen zu wollen und sagt ihm das in's Gesicht.

Im Verlaufe des 17. und von da ab auch später wird das Verdeck auf Anordnung des zweiten Officiers wiederholt begossen. Gewöhnlich geschieht das nur am Morgen, jetzt mag die öftere Wiederholung dieses Verfahrens durch die hohe Temperatur veranlaßt sein, in der wir uns befinden, da wir so weit nach Süden herab getrieben sind. Die Pfortsegel über den Luken werden sogar stets ganz naß erhalten, und ihr dadurch eingelaufenes Gewebe bildet eine ganz undurchdringliche Decke. Der Chancellor besitzt Pumpen, welche das Ueberfluthen mit Wasser sehr bequem ausführen lassen. Ich glaube kaum, daß das Verdeck der luxuriösesten Goëletten peinlicher rein gehalten wird. Die Mannschaft des Schiffes hätte eigentlich Ursache, sich über die ihr mehr aufgebürdete Arbeit zu beklagen, aber »sie beklagt sich nicht«.

[28] Während der Nacht vom 23. zum 24. erscheint mir die Temperatur in den Cabinen wahrhaft erstickend. Trotz des starken Meerganges habe ich die kleine Lichtpforte meiner Cabine in der Steuerbordwand des Schiffes offen lassen müssen.

Man kann nicht im Zweifel sein, daß wir uns in den Tropen befinden.

Mit Tagesgrauen bin ich nach dem Verdeck gegangen. Zu meiner Verwunderung habe ich die Lufttemperatur nicht entsprechend der im Innern des Fahrzeuges gefunden. Der Morgen ist sogar recht kühl, denn die Sonne ist kaum über dem Horizont herauf, und doch habe ich mich nicht getäuscht, es war gewiß sehr warm im Schiffe.

Eben sind die Matrosen mit dem unvermeidlichen Abwaschen des Verdecks beschäftigt, die Pumpen speien Wasser, das je nach der Lage des Schiffes durch die Schanzenkleidung der Backbord- oder Steuerbordseite abläuft.

Die Seeleute laufen in dem Wasser mit bloßen Füßen umher. Ich weiß nicht, warum mich die Lust anwandelt, es ihnen nachzuthun. Ich entledige mich also der Stiefeln und der Strümpfe und pläntschere in dem frischen Seewasser herum.

Zu meinem größten Erstaunen fühle ich, daß das Verdeck des Chancellor sehr warm ist, und kann einen Ausruf darüber nicht zurückhalten.

Robert Kurtis hört mich, wendet sich um, kommt auf mich zu und beantwortet mir eine Frage, die ich noch gar nicht an ihn gestellt habe:

»Nun ja, sagt er, es ist Feuer an Bord!«

9. Capitel

IX.

Am 19. October. – Jetzt wird mir Alles klar, das gegenseitige Zuzischeln der Matrosen, ihr unruhiges Aussehen, die Worte Owen's, das Begießen des Verdecks, das man in fortwährend angefeuchtetem Zustande zu erhalten trachtet, und ebenso die Wärme, welche sich in den Wohnräumen entwickelt und nach und nach unerträglich wird. Die Passagiere haben davon [29] gelitten, ebenso wie ich, und vermögen sich diese abnorme Temperatur gar nicht zu erklären.

Nachdem er mir diese sehr ernste Mittheilung gemacht, versinkt Robert Kurtis wieder in Stillschweigen.

Er scheint meine Frage zu erwarten, doch gestehe ich, daß mich zunächst ein kalter Schauer vom Kopf bis zu den Füßen überlief. Von allen Unfällen, die eine Seefahrt nur treffen können, ist jener der furchtbarste, und kein Mensch, er sei noch so kaltblütig, wird ohne ein leises Erzittern die Worte hören können: »Es ist Feuer an Bord!«

Indessen gewinne ich die Herrschaft über mich selbst, und meine erste Frage lautet:

»Seit wann besteht diese Feuersbrunst?

– Seit sechs Tagen!

– Seit sechs Tagen! rufe ich. Es war also in jener Nacht ...?

– Ja, erwiderte mir Robert Kurtis, seit der Nacht, während der die sonderbare Aufregung auf dem Verdeck des Chancellor herrschte. Die wachthabenden Matrosen hatten einen leichten Rauch bemerkt, der aus den Fugen am Deckel der großen Luke quoll. Der Kapitän und ich waren sofort bei der Hand. Kein Zweifel! Die Waaren im Kielraum hatten Feuer gefangen, und es gab keinen Weg, nach dem Herde der Entzündung zu gelangen. Wir haben gethan, was unter solchen Verhältnissen nur allein möglich ist, d.h. wir haben die Luken, so dicht als es irgend anging, verschlossen, um jeden Zutritt der Luft nach dem Innern des Fahrzeugs abzuhalten. Ich hoffte, wir würden dadurch im Stande sein, die Feuersbrunst im Entstehen zu ersticken, und die ersten Tage glaubte ich wirklich, wir wären ihrer Herr geworden. Seit drei Tagen steht es aber fest, daß das Feuer Fortschritte macht. Die Hitze unter unseren Füßen nimmt zu, und ohne die Vorsichtsmaßregel, das Verdeck immer im feuchten Zustande zu erhalten, wäre es hier nicht zum Aushalten. Alles in Allem, Mr. Kazallon, ist es mir lieber, daß Sie von dem Stande der Dinge unterrichtet sind, deshalb sage ich Ihnen das.«

Schweigend lausche ich dem Berichte des zweiten Officiers. Ich durchschaue den ganzen Ernst der Situation gegenüber einer Feuersbrunst, die von Tag zu Tag mehr Ausbreitung gewinnt und welche zuletzt vielleicht keine menschliche Macht mehr zu dämpfen vermag.

[30] »Ist Ihnen die Entstehung des Feuers bekannt? frage ich.

– Sehr wahrscheinlich ist sie in einer Selbstentzündung der Baumwolle zu suchen.

– Kommt eine solche häufig vor?

– Häufig? Nein! Aber dann und wann; denn wenn die Baumwolle zur Zeit der Einschiffung nicht vollkommen trocken ist, kann sie unter den Verhältnissen, in denen sie sich später befindet, d.h. bei der feuchten Luft eines Kielraumes, der nur sehr unzulänglich zu lüften ist, sich ganz von selbst entzünden. In mir steht die Ueberzeugung fest, daß die Feuersbrunst an Bord keine andere Ursache hat.

– Doch, die Ursache fällt für uns jetzt nicht ins Gewicht. Ist etwas dagegen zu thun, Mr. Kurtis?

– Nein, Mr. Kazallon, antwortet mir Robert Kurtis; doch wiederhole ich Ihnen, daß wir alle für den gegebenen Fall gebotenen Vorsichtsmaßregeln ergriffen haben. Ich hatte daran gedacht, das Schiff in der Wasserlinie an einer Stelle zu öffnen, um eine gewisse Menge Wasser einströmen zu lassen, welches die Pumpen später leicht herausgeschafft hätten; da wir aber zu der Ueberzeugung kamen, daß das Feuer jedenfalls in der Mitte des Cargo entstanden ist, hätten wir den ganzen Kielraum unter Wasser setzen müssen, um jenes zu erreichen. Inzwischen habe ich an mehreren Stellen des Verdecks kleine Oeffnungen anbringen lassen, durch welche während der Nacht Wasser eingegossen wird, doch erweist sich das als unzureichend. Nein, es ist wirklich nur ein Weg offen, – derselbe, welchen man in solchen Fällen immer einschlägt, das Feuer zu ersticken, indem man ihm jeden Luftzutritt von Außen abschneidet und dadurch den die Verbrennung unterhaltenden Sauerstoff raubt.

– Und das Feuer ist trotzdem im Wachsen?

– Ja, und das liefert den Beweis für das Eindringen von Luft in den Schiffsraum durch eine Oeffnung, die wir trotz alles Nachsuchens nicht zu entdecken im Stande sind.

– Hat man Beispiele dafür, Mr. Kurtis, daß Schiffe unter solchen Verhältnissen ausgehalten haben?

– O gewiß, Mr. Kazallon; es kommt gar nicht so sehr selten vor, daß mit Baumwolle befrachtete Schiffe in Liverpool oder Havre mit zum Theil verzehrtem Cargo anlangten. In diesen Fällen hatte man freilich das [31] Feuer zu löschen, mindestens in Schranken zu halten vermocht. Mir ist mehr als ein Kapitän bekannt, der so, mit dem Feuer unter den Füßen, in den Hafen eingelaufen ist. Dann mußte natürlich eiligst die Ladung gelöscht werden, wodurch mit dem unversehrten Theile derselben auch das Schiff gerettet wurde. Bei uns liegen die Dinge leider schlimmer, und ich verhehle mir nicht, daß das Feuer, anstatt beschränkt zu werden, täglich weitere Fortschritte macht. Nothwendiger Weise existirt irgend eine Oeffnung die sich [32] unserem Nachsuchen entzieht, und welche durch Zuführung frischer Luft den Brand ernährt.


Die Matrosen hatten Rauch bemerkt. (S. 30.)

– Erschiene es da nicht angezeigt, umzukehren, und sobald als möglich Land zu erreichen zu suchen?

– Vielleicht, entgegnet mir Robert Kurtis; das ist eine Frage, welche der Lieutenant, der Hochbootsmann und ich noch heute mit dem Kapitän besprechen wollen; doch ich gestehe, ich sage das Ihnen, Mr. Kazallon, daß ich es schon auf mich genommen habe, den bis jetzt gesteuerten Cours zu ändern; wir haben jetzt den Wind im Rücken und fahren nach Südwesten, d.h. nach der Küste zu.

– Die Passagiere wissen nichts von der ihnen drohenden Gefahr? frage ich den zweiten Officier.

– Nichts, und ich bitte Sie auch um Stillschweigen über die Ihnen gewordenen Mittheilungen. Es ist unnöthig, durch den Schrecken der Frauen und vielleicht kleinmüthiger Männer unsere Verlegenheiten zu vermehren. Auch die Mannschaft hat Befehl, nicht darüber zu sprechen.«

Mir leuchten die gewichtigen Gründe des Mannes, also zu sprechen, ein, und ich versichere ihn meiner unbedingtesten Verschwiegenheit.

10. Capitel

X.

Am 20. und 21. October. – Unter diesen Umständen setzt der Chancellor seine Fahrt mit so vielen Segeln fort, als seine Masten tragen können. Manchmal beugen sich seine Obermasten so, als ob sie brechen sollten, aber Robert Kurtis wacht aufmerksam. Er bleibt immer neben dem Steuerrade, da der Mann daselbst nicht sich allein überlassen sein soll. Durch kleine geschickte Schwenkungen giebt er der Brise nach, wenn die Sicherheit des Fahrzeugs compromittirt sein könnte, und so weit, als es möglich ist, verliert der Chancellor unter der Hand, die ihn regiert, nichts an seiner Schnelligkeit.

Heute, am 20. October, sind alle Passagiere auf das Oberdeck gekommen. Sie haben offenbar die abnorme Temperaturerhöhung im Innern [33] bemerken müssen; da sie indeß die Wahrheit nicht ahnen, so verursacht ihnen dieselbe keinerlei Unruhe. Da sie Alle starkes Schuhwerk tragen, so haben sie auch die Wärme, welche trotz der Begießung mit Wasser durch das Verdeck dringt, nicht gefühlt. Die fortwährende Thätigkeit der Pumpen hätte zwar ihre Aufmerksamkeit erregen sollen, doch nein, meist strecken sie sich auf die Bänke aus und lassen sich vollkommen ruhig von dem Rollen des Schiffes wiegen.

Mr. Letourneur allein scheint erstaunt, daß sich die Mannschaft einer auf Kauffahrtei-Schiffen ganz ungewohnten Reinlichkeit befleißigt. Er spricht darüber einige Worte zu mir, und ich antworte ihm in gleichgiltigem Tone. Dieser Franzose ist übrigens ein energischer Mann, ihm könnte ich wohl Alles mittheilen; ich habe Robert Kurtis jedoch versprochen zu schweigen, also schweige ich.

Wenn ich mir aber die möglichen Folgen der bevorstehenden Katastrophe vergegenwärtige, dann steht mir das Herz fast still. Achtundzwanzig Personen sind wir an Bord, vielleicht ebenso viele Opfer, denen die Flammen keine rettende Planke übrig lassen werden!

Heute hat die Conferenz zwischen dem Kapitän, dem zweiten Officier, dem Lieutenant und dem Hochbootsmann stattgefunden. Kapitän Huntly ist, wie vorauszusehen war, ganz gebrochen. Er hat weder kaltes Blut noch Energie, und überläßt das Commando des Schiffes an Robert Kurtis. Die Fortschritte der Feuersbrunst im Innern sind nun unbestreitbar, und schon kann man in dem am Vordertheile gelegenen Mannschaftsraum kaum noch verweilen. Offenbar ist man nicht im Stande, das Feuer zu beschränken, und früher oder später muß es zum Ausbruch kommen.

Was wird nun zu thun sein? Es giebt nur ein Mittel: So bald als möglich das Land erreichen! Das nächstgelegene Land ist den Beobachtungen nach die Inselgruppe der kleinen Antillen, und kann man wohl hoffen, bei fortdauerndem Nordostwinde schnell dahin zu gelangen.

Da man sich in dieser Ansicht geeinigt hat, so will der zweite Officier die schon seit vierundzwanzig Stunden eingeschlagene Richtung weiter beibehalten. Die Passagiere, denen auf dem unendlichen Oceane jeder Anhaltepunkt fehlt, und die mit den Compaßangaben sehr wenig vertraut sind, haben die Aenderung in der Richtung des Chancellor nicht wahrnehmen können, der jetzt [34] mit dem ganzen Segelwerk die Antillen zu gewinnen sucht, von denen er noch gegen 600 Meilen entfernt ist.

Auf eine von Mr. Letourneur an ihn hierüber gerichtete Frage antwortet Robert Kurtis, daß er, da man gegen den Wind nicht aufzukommen vermöge, im Westen günstige Strömungen aufzusuchen beabsichtige.

Es bildet das die einzige Bemerkung, welche die dem Chancellor ertheilte andere Richtung hervorgerufen hat.

Am anderen Tage, am 21. October, hat sich in unserer Lage nichts geändert. In den Augen der Passagiere geht die Fahrt unter den gewöhnlichen Umständen von Statten, und die Lebensweise an Bord erleidet keinerlei Abweichung.

Uebrigens verrathen sich die Fortschritte des Feuers äußerlich noch auf keine Weise, und das ist ein gutes Zeichen. Alle Oeffnungen sind so hermetisch verschlossen, daß kein Rauch den Brand im Innern bemerken läßt. Vielleicht wird es doch noch möglich, das Feuer auf den Kielraum zu beschränken, und vielleicht verlöscht es gar noch ganz oder glimmt nur langsam fort, ohne die ganze Ladung zu ergreifen. Hierauf gründet Robert Kurtis seine Hoffnung und hat aus übermäßiger Vorsicht sogar die Oeffnungen der Pumpen verstopfen lassen, deren im Kielraum mündendes Rohr einige Lufttheilchen eintreten lassen könnte.

Möge uns der Himmel zu Hilfe kommen, denn wir sind nicht im Stande, selbst etwas Weiteres für uns zu thun!

Dieser Tag wäre ohne weitere Ereignisse vergangen, wenn der Zufall mich nicht zum Hörer weniger Worte eines Gesprächs gemacht hätte, aus welchen hervorgeht, daß unsere ohnehin sehr ernste Lage jetzt wahrhaft schrecklich wurde.

Man urtheile selbst.

Ich saß auf dem Oberdeck; zwei der Passagiere plauderten mit leiser Stimme ohne zu ahnen, daß es mir dort verständlich sein könnte. Diese beiden Passagiere waren der Ingenieur Falsten und der Kauf mann Ruby, welche sich Beide öfter mit einander unterhalten.

Meine Aufmerksamkeit wird erst durch einige ausdrucksvolle Gesten des Ingenieurs erregt, der seinemVis-à-Vis lebhafte Vorwürfe zu machen scheint. Ich kann nicht umhin, zu lauschen, und höre denn dabei Folgendes:

[35] »Aber das ist ein Wahnsinn! wiederholt Falsten, wie können Sie so unklug sein!

– Bah, antwortet Ruby ganz sorglos, es wird ja nichts geschehen!

– Im Gegentheil, es kann das schlimmste Unheil geschehen! versetzte der Ingenieur.

– Gut, gut, erwiderte der Kaufmann, es ist nicht das erste Mal, daß ich mit dem Zeuge umgehe.

– Ein Stoß genügt aber schon, eine Explosion hervorzurufen.

– Das Gefäß ist sorgfältig verpackt, Mr. Falsten, und ich wiederhole Ihnen, daß Nichts zu fürchten ist.

– Weshalb haben Sie den Kapitän nicht davon unterrichtet?

– Ei, weil er mein Colli dann nicht mitgenommen hätte.«

Der Wind hat sich seit einigen Augenblicken gelegt und trägt mir die Worte nicht mehr zu; offenbar leistet aber der Ingenieur noch immer Widerstand, während Ruby sich begnügt, mit den Achseln zu zucken.

Jetzt, jetzt dringen auf's Neue einzelne Worte an mein Ohr.

»Doch, doch, sagte Falsten, der Kapitän muß davon erfahren. Das Colli muß in's Meer geworfen werden; ich verspüre keine Lust, mich in die Luft sprengen zu lassen!«

In die Luft sprengen! Ich erhebe mich rasch bei diesen Worten. Was will der Ingenieur damit sagen? Worauf spielt er an? Er kennt ja die Situation des Chancellor nicht und weiß nicht, daß eine Feuersbrunst seine Fracht verzehrt!

Aber ein Wort, – ein »furchtbares« unter den thatsächlichen Verhältnissen, jagt mich auf. Und dieses Wort »Natron-Pikrat« kommt mehrmals vor.

Im Augenblick bin ich neben den beiden Männern und unwillkürlich fasse ich mit unwiderstehlicher Gewalt Ruby beim Kragen.

»Es ist Pikrat an Bord?

– Ja, antwortet Falsten, ein Colli mit etwa dreißig Pfund.

– Und wo?

– Im Raum, bei der Schiffsfracht!«

[36]

11. Capitel

XI.

Fortsetzung am 21. October. – Ich kann es nicht schildern, was bei den Worten des Ingenieurs in mir vorging. Das ist kein Erschrecktsein mehr, es ist eine Art Resignation. Mir scheint sich die Situation dadurch zu klären, der Knoten vielleicht eher zu lösen. Kühl bis an's Herz suche ich Robert Kurtis auf, der sich auf dem Vordercastell befindet.

Auf die Nachricht hin, daß ein Colli mit dreißig Pfund Pikrat, – d.h. eine hinreichende Menge, um einen Berg in die Luft zu sprengen –, an Bord ist, und zwar im Schiffsraume, nahe dem Herde des Feuers selbst, und daß der Chancellor jeden Augenblick in die Luft gehen kann, entsetzt sich Robert Kurtis keineswegs, kaum runzelt sich seine Stirn und erweitert sich sein Auge.

»Gut, antwortet er mir, nicht ein Wort hiervon. Wo ist dieser Ruby?

– Auf dem Verdeck.

– Kommen Sie mit mir, Mr. Kazallon.«

Wir steigen Beide nach dem Oberdeck hinauf, wo der Kaufmann und der Ingenieur noch im Gespräch waren.

Robert Kurtis geht geraden Wegs auf sie zu.

»Sie haben das gethan? fragt er Ruby.

– Nun ja, das habe ich gethan!« antwortet seelenruhig Ruby, der sich höchstens eines Betrugs schuldig gemacht zu haben glaubt.

Einen Augenblick erscheint es mir, als wolle Robert Kurtis den unseligen Passagier zermalmen, der die Tragweite seiner Unklugheit gar nicht zu begreifen scheint! Dem zweiten Officier gelingt es aber, sich zu bemeistern, und ich sehe, wie er die Hand auf dem Rücken ballt, um nicht verleitet zu werden, Ruby bei der Gurgel zu nehmen.

Dann richtet er mit ruhiger Stimme einige Fragen an Ruby. Dieser bestätigt die von mir gemeldete Thatsache. Zwischen seinem Gepäck befindet sich ein Colli, welches dreißig Pfund jener so höchst gefährlichen Substanz [37] enthält. Der Passagier hat hier mit derselben Nachlässigkeit und Unklugheit gehandelt, die, wie man gestehen muß, der anglo-sächsischen Race angeboren ist, und hat jenen explosiven Körper in dem Raume des Fahrzeugs unterbringen lassen, wie ein Franzose etwa eine Flasche Wein. Wenn er den Inhalt dieses Colli falsch declarirt hatte, so kam es daher, daß er die Weigerung des Kapitäns, dasselbe mitzunehmen, vorher vollkommen kannte.

»Nun, nun, das ist doch kein Grund, einen Menschen zu hängen! Wenn das Ding Ihnen so sehr unangenehm ist, so mögen Sie es meinetwegen in's Meer werfen. Mein Gepäck ist versichert!«

Bei dieser Antwort kann ich mich nicht mehr zurückhalten, denn mir fehlt Robert Kurtis' kaltes Blut, und der Zorn übermannt mich. Bevor mich der zweite Officier daran hindern kann, stürze ich mich auf Ruby und schreie:

»Elender, Sie wissen also wohl nicht, daß an Bord Feuer ist!«

Kaum ist mir das Wort entflohen, so gereut es mich schon. Doch es ist zu spät! Die Wirkung dieser Nachricht auf den Kaufmann Ruby ist gar nicht zu beschreiben. Den Unglücklichen erfaßt eine convulsivische Furcht. Sein Körper zuckt, seine Haare sträuben sich, sein Auge weitet sich erschreckend aus, sein Athem wird keuchend, wie der eines Asthmatikers, er vermag nicht zu sprechen, der Schreck erreicht in ihm seinen Höhepunkt. Plötzlich bewegen sich seine Arme krampfhaft; er stiert auf das Verdeck des Chancellor, das jeden Moment in die Luft gehen kann, er läuft vom Oberdeck herab und wieder hinauf, durch das ganze Schiff und gesticulirt wie ein Wahnsinniger. Endlich kommt ihm die Sprache wieder, und seinem Munde entringen sich die fürchterlichen Worte:

»Es ist Feuer an Bord! Es ist Feuer an Bord!«

Bei diesem Rufe läuft die ganze Mannschaft auf dem Verdeck zusammen, offenbar in dem Glauben, daß die Flammen einen Weg nach Außen gefunden haben und es nun Zeit sei, in die Boote zu entfliehen. Die Passagiere kommen hinzu, Mr. Kear, seine Gattin, Miß Herbey, die beiden Letourneur. Robert Kurtis versucht Ruby Ruhe zu gebieten, doch dieser will keine Vernunft annehmen.

Die Unordnung erreicht ihren Höhepunkt. Mrs. Kear ist bewußtlos auf dem Deck zusammen gebrochen. Ihr Mann bekümmert sich nicht im mindesten um sie und überläßt sie der Sorgfalt der Miß Herbey. Die Matrosen [38] haben sich schon an die Winden der Schaluppen gemacht, um diese in's Meer zu bringen.

Indessen theile ich den Mr. Letourneur mit, was sie noch nicht wissen, daß Feuer an Bord ist; der nächste Gedanke des Vaters gehört seinem Sohne, den er umschlingt, als wolle er ihn schützen. Der junge Mann bewahrt sein kaltes Blut und beruhigt den Vater durch die Versicherung, daß es ja keine unmittelbare Gefahr habe. Robert Kurtis hat mit Unterstützung des Lieutenants inzwischen seine Leute wieder zur Ordnung gebracht. Er versichert ihnen, daß die Feuersbrunst keine weiteren Fortschritte gemacht, daß Passagier Ruby keine Vorstellung von dem habe, was er thue oder sage, daß man nicht übereilt handeln solle und daß man, wenn der Augenblick gekommen, das Schiff verlassen werde ...

Der größte Theil der Matrosen hört auf die Stimme des zweiten Officiers, den sie lieben und achten. Dieser erreicht bei ihnen, was dem Kapitän Huntly nicht gelungen wäre, und die Schaluppe verbleibt auf ihrem Lager.

Glücklicher Weise hat Ruby von dem im Kielraum eingeschlossenen Pikrat nicht weiter gesprochen Wenn die Mannschaft die ganze Wahrheit wüßte, wenn sie hörte, daß das Schiff eigentlich nur noch ein Vulkan ist, der sich jeden Augenblick unter ihren Füßen öffnen kann, kämen sie gewiß aus Rand und Band, und Niemand würde im Stande sein, ihr Entfliehen zu hindern.

Der zweite Officier, Ingenieur Falsten und ich, wir sind die Einzigen, welche die schreckliche Complication der Feuersbrunst kennen, und es ist gut, daß es dabei bleibt.

Nach wiederhergestellter Ordnung suchen wir, Robert Kurtis und ich, den Ingenieur wieder auf dem Oberdeck. Dieser ist noch dort und steht mit gekreuzten Armen da; wahrscheinlich denkt er über ein mechanisches Problem nach – mitten unter dem allgemeinen Schrecken. Wir empfehlen ihm dringend, nichts von der Verschlechterung unserer Lage zu sagen, die wir der Unklugheit Ruby's verdanken.

Falsten verspricht darüber zu schweigen. Dem Kapitän Huntly, der auch noch nicht unterrichtet ist, übernimmt es Robert Kurtis, Alles mitzutheilen.

Vorher muß er sich aber der Person Ruby's versichern, denn der Unglückliche ist vollkommen geistig gestört.


Den Unglücklichen erfaßt eine convulsivische Furcht. (S. 38)

Er weiß nicht mehr, was er thut, und läuft nur mit dem Rufe: »Feuer! Feuer!« auf dem Oberdeck umher.

Robert Kurtis befiehlt einigen Matrosen, sich des Passagiers zu bemächtigen, den man fesselt und unschädlich macht. Dann wird er in seine Cabine ge [39] bracht und sorgfältig bewacht.

Das schreckliche Wort ist nicht über seine Lippen gekommen!


Feuer! Feuer! (S. 40.)
[40]

12. Capitel

XII.

Am 22. und 23. October. – Robert Kurtis hat dem Kapitän Alles mitgetheilt.

Kapitän Huntly ist, wenn auch nicht in der That, so doch dem Wortlaute nach sein Vorgesetzter, und er darf ihm nichts verheimlichen.

[41] Bei dieser Nachricht hat Kapitän Huntly kein Sterbenswörtchen geantwortet, sondern ist nur mit der Hand über die Stirn gefahren, wie ein Mensch, der sich irgend einen Gedanken vertreiben will; dann ist er ruhig in seine Cabine zurückgekehrt, ohne einen Befehl zu ertheilen.

Robert Kurtis, der Lieutenant, der Ingenieur Falsten und ich, wir treten zu einer Berathung zusammen, und ich erstaune über die Kaltblütigkeit, die Jeder unter diesen Umständen an den Tag legt.

Alle Möglichkeiten einer Rettung werden erwogen, und Robert Kurtis faßt unsere Lage in folgende Worte zusammen:

»Die Feuersbrunst kann unmöglich beschränkt werden, und schon ist der Mannschaftsschlafraum am Vordertheil kaum noch zu bewohnen. Der Augenblick muß also, und das vielleicht bald, kommen, an dem die Flammen das Verdeck durchbrechen. Wenn vor Eintritt dieser Katastrophe das Meer es erlaubt, wer den wir das Schiff auf den Booten verlassen. Ist es uns dagegen unmöglich, den Chancellor zu verlassen, so kämpfen wir gegen das Feuer bis zum letzten Athemzuge. Wer weiß, ob wir seiner nicht leichter Herr werden, wenn es zum Durchbruch gekommen ist. Vielleicht bekämpfen wir den Feind, der sich offen zeigt, erfolgreicher, als den, der sich verbirgt!

– Das entspricht meiner Ansicht, bemerkte ruhig der Ingenieur.

– Auch der meinigen, setzte ich hinzu. Doch, Mr. Kurtis, ziehen Sie gar nicht in Betracht, daß dreißig Pfund jener furchtbaren explosiven Substanz sich im Kielraum befinden?

– Nein, Mr. Kazallon, antwortet Robert Kurtis, mit einem Uebermaße von kaltem Blute, das ist nur ein Detail, welches mich nicht besonders kümmert. Warum sollte es auch? Kann ich das gefahrdrohende Colli mitten aus dem brennenden Cargo heraussuchen? Und das aus einem Raume, dem wir jeden Luftzutritt verwehren müssen? Nein, daran denke ich gar nicht! Noch bevor ich ausspreche, kann das Pikrat seine entsetzliche Wirkung äußern, das ist wohl war. Indeß entweder erreicht das Feuer jenes oder nicht! Der erschwerende Umstand, den Sie anführen, ist für mich nicht weiter vorhanden. Es liegt in der Hand Gottes und nicht in der meinigen, uns diese schreckliche Katastrophe zu ersparen!«

Robert Kurtis hat diese Worte in ernstem Tone gesprochen, und wir senken die Köpfe, ohne darauf zu antworten. Da der Zustand des Meeres eine [42] Benutzung der Boote ganz unmöglich macht, so dürfen wir an jenen besonderen Umstand nicht weiter denken.

»Die Explosion ist ja nicht unbedingt nothwendig, hätte wohl ein Formalist gesagt, sie ist nur eine zufällige!«

Eine ähnliche Bemerkung äußerte der Ingenieur auch wirklich.

»Auf eine Frage möchte ich Sie noch um eine Antwort bitten, Mr. Falsten, sagte ich. Kann das Natron-Pikrat sich auch ohne Stoß entzünden?

– Gewiß, entgegnete der Ingenieur. Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist das Pikrat nicht mehr entzündlich, als das Pulver, aber ebenso wie dieses.«

Falsten hatte das Wort »ergo« gebraucht. Sollte man nicht glauben, er docire in einem Cursus der Chemie?

Wir sind nach dem Verdeck zurückgegangen. Robert Kurtis ergreift meine Hand.

»Mr. Kazallon, sagt er, ohne einen Versuch seine Erregung zu verbergen, diesen Chancellor, dieses schöne Schiff, das ich so sehr liebe, durch Feuer zerstören zu sehen, ohne etwas dagegen thun zu können ...

– Mr. Kurtis, Ihre Erregung ...

– Ich könnte sie nicht bezwingen! Sie allein sind Zeuge dessen, wie viel ich leide. – Doch, es ist vorüber, fügte er hinzu, – aber ich sah den Kampf, den er bestand.

– Ist die Situation ganz verzweifelt? fragte ich darauf.

– Nun, unsere Lage ist folgende, antwortete wieder ruhig Robert Kurtis. Wir befinden uns über einer Miene, deren Lunte schon entzündet ist. Jetzt ist nur die Frage die, wie lang diese Lunte wohl ist.«

Dann zieht er sich zurück.

Jedenfalls ist es der Mannschaft und den übrigen Passagieren noch unbekannt, wie ungeheuer ernst unsere Lage ist.

Seit er von der Feuersbrunst gehört hat, beschäftigt sich Mr. Kear damit, seine werthvollsten Objecte zusammen zu raffen und denkt an seine Frau natürlich gar nicht. Nachdem er gegen den zweiten Officier halb befehlend den Wunsch geäußert hat, das Feuer zu löschen, und ihn für alle Folgen desselben verantwortlich gemacht, zieht er sich in seine Cabine im Hintertheil zurück und kommt nicht wieder zum Vorschein. Mrs. Kear seufzt und stöhnt und findet trotz ihrer sonstigen Lächerlichkeiten doch allgemeines Mitleid. Miß [43] Herbey glaubt sich unter diesen Umständen von den Pflichten gegen ihre Herrin nur um so weniger entbunden, und widmet Jener die erdenklichste Sorgfalt. Ich muß das Benehmen dieses jungen Mädchens bewundern, der ihre Pflicht über Alles geht.

Am nächsten Tage, dem 23. October, läßt der Kapitän den zweiten Officier nach seiner Cabine rufen. Zwischen Ihnen entspinnt sich folgendes Gespräch, dessen Inhalt mir Robert Kurtis mitgetheilt hat.

»Mr. Kurtis, sagt der Kapitän mit irrem Blicke und den offenbaren Anzeichen geistiger Störung, ich bin doch wohl Seemann, nicht war?

– Gewiß, Herr Kapitän.

– Nun gut, stellen Sie sich vor, daß ich von meinem Geschäfte nichts verstehe ... ich weiß nicht, was mit mir vorgeht ... ich vergesse ... ich bin mir unklar. Sind wir seit unserer Abreise von Charleston nicht nach Nordosten gesegelt?

– Nein, antwortet der zweite Officier, wir fuhren auf Ihren Befehl nach Südosten.

– Wir haben aber doch nach Liverpool geladen?

– Gewiß.

– Und der ...? Wie heißt doch das Schiff, Mr. Kurtis?

– Der Chancellor.

– Ah, richtig, der Chancellor! Wo befindet er sich jetzt?

– Im Süden des Wendekreises.

– Gut, gut; ich verpflichte mich auch nicht, ihn nach Norden zurückzuführen! Nein! Nein! Das könnte ich nicht ... ich wünsche meine Cabine nicht wieder zu verlassen ... ich kann den Anblick des Meeres nicht ertragen! ...

– Herr Kapitän, antwortet Robert Kurtis, ich hoffe, daß unsere Sorgfalt ...

– Ja, ja, ist schon gut, ... wir werden später sehen – indeß, ich habe einen Befehl für Sie, den letzten, den Sie von mir empfangen werden.

– Ich höre, entgegnete der zweite Officier.

– Mein Herr, nimmt der Kapitän das Wort, von jetzt ab existire ich nicht mehr an Bord und Sie übernehmen das Commando des Schiffes ... Die Verhältnisse sind stärker als ich, ... ich vermag nicht zu [44] widerstehen ... Mein Kopf schwindelt! ... O, ich leide sehr, Mr. Kurtis«, fügt Silas Huntly hinzu und drückt seine beiden Hände gegen die Stirn.

Aufmerksam betrachtet der zweite Officier Den, der bisher an Bord befehligte und begnügt sich zu antworten:

»Es ist gut, Herr Kapitän.«

Nach dem Verdeck zurückgekehrt, erzählt er mir das Vorgefallene.

»Ja wohl, sage ich, wenn der Mann auch noch nicht ganz von Sinnen ist, so leidet er doch am Gehirn und es ist besser, daß er sich seines Mandats freiwillig begeben hat.

– Ich trete unter sehr ernsten Umständen an seine Stelle, erwidert mir Robert Kurtis. Doch, wie dem auch sei, ich werde meine Pflicht zu thun wissen.«

Nach diesen Worten ruft der zweite Officier einen Matrosen herbei und befiehlt ihm, den Hochbootsmann zu suchen.

Der Hochbootsmann erscheint in kurzer Zeit.

»Hochbootsmann, sagt Robert Kurtis zu ihm, lassen Sie die Mannschaften sich am Großmast versammeln.«

Der Hochbootsmann zieht sich zurück und wenige Minuten später umringen die Leute des Chancellor den bezeichneten Platz.

Robert Kurtis begiebt sich mitten unter sie.

»Jungens, sagt er mit ruhig ernster Stimme, in der Lage, in welcher wir uns befinden, und aus anderen mir bekannten Gründen hat Mr. Silas Huntly sein Commando als Kapitän niederlegen zu sollen geglaubt. Von heute an commandire ich an Bord.«

So vollzog sich dieser Wechsel, der nur zu unser Aller Besten dienen kann. Jetzt haben wir einen energischen und verläßlichen Mann an der Spitze, der vor keiner für das allgemeine Wohl erforderlichen Maßnahme zurückschrecken wird. Die Herren Letourneur, Ingenieur Falsten und ich bringen Robert Kurtis unsere Glückwünsche dar, wobei der Hochbootsmann und der Lieutenant sich uns anschließen.

Das Schiff steuert nach Südwesten, und Robert Kurtis, der so viele Segel als möglich beisetzen läßt, sucht die nächste Insel der Kleinen Antillen auf kürzestem Wege zu erreichen.

[45]

13. Capitel

XIII.

Vom 24. bis 29. October. – Während der nun folgenden fünf Tage geht das Meer sehr hohl Der Chancellor hat es aufgeben müssen, dagegen anzukämpfen, und trotzdem er jetzt mit dem Winde und den Wellen geht, wird er doch ganz außerordentlich umhergeworfen. Bei dieser Fahrt auf einem Brander ist uns auch kein Augenblick der Ruhe gegönnt. Man betrachtet das Wasser, welches das Schiff umgiebt und anzuziehen scheint, fast mit Vergnügen.

»Warum aber, habe ich zu Robert Kurtis gesagt, wollen Sie das Verdeck nicht öffnen? Warum keine Tonnen mit Wasser in den Kielraum eingießen? Und wenn das Schiff damit angefüllt würde, was thäte das? Wenn das Feuer gelöscht ist, werden die Pumpen das Wasser ja leicht wieder entfernen.

– Mr. Kazallon, antwortet mir Robert Kurtis, ich habe Ihnen schon gesagt und wiederhole es Ihnen, wenn wir der Luft einen auch noch so geringen Zutritt gestatten, so wird das Feuer sich sofort durch das ganze Schiff verbreiten und die Flammen werden dasselbe vom Kiel bis zu den Mastspitzen ergreifen. Wir sind zur Unfähigkeit verurtheilt und befinden uns unter Verhältnissen, in denen man den Muth haben muß, Nichts zu thun!«

Ja! Jede Oeffnung hermetisch verschließen, das ist noch immer das einzige Mittel, die Feuersbrunst zu bekämpfen, und das vernachlässigt auch die Mannschaft nicht.

Inzwischen schreitet das Feuer unablässig fort, und vielleicht schneller, als wir es annehmen. Nach und nach ist die Hitze so unleidlich geworden, daß die Passagiere haben auf das Verdeck flüchten müssen und nur die Cabinen im Hintertheil, welche die größeren Fenster im Spiegel haben, sind noch einigermaßen bewohnbar.

Die eine derselben verläßt die Mrs. Kear niemals, die andere hat Robert Kurtis für den Kaufmann Ruby in Beschlag genommen. Ich habe den Unglücklichen mehrmals besucht; er ist vollkommen närrisch geworden und [46] muß gefesselt gehalten werden, um ihn am Zertrümmern der Thür zu hindern. Sonderbar! In seiner Verwirrtheit hat er doch das Gefühl des furchtbarsten Schreckens noch bewahrt und stößt entsetzliche Schreie aus, als leide er wirklich unter schmerzhaften Brandwunden.

Wiederholt habe ich auch dem Ex-Kapitän einen Besuch abgestattet, und fand in ihm einen ruhigen Mann, der ganz vernünftig spricht, nur nicht über sein Geschäft. Ueber letzteres sind ihm nur ganz allgemeine Anschauungen verblieben. Ich erbiete mich, ihn zu pflegen, denn er leidet offenbar; doch er weist es ab, und will seine Cabine auf keinen Fall verlassen. Heute ist der wachthabende Matrose durch den scharfen und ekeln Rauch, der durch die Fensterritzen dringt, von der gewohnten Stelle vertrieben worden. Es steht fest, daß die Feuersbrunst nach dieser Seite fortschreitet, und wenn man das Ohr an die Zwischenwände legt, hört man ein dumpfes Prasseln. Woher nimmt dieses Feuer die Luft zum Brennen? Wo ist die Oeffnung, die jeder Nachforschung entgeht? Die schreckliche Katastrophe kann nunmehr nicht fern sein! Vielleicht handelt es sich nur noch um wenige Tage, vielleicht nur um Stunden, und zum Unglück geht das Meer so hoch, daß man an eine Einschiffung in die Boote gar nicht denken kann.

Auf Befehl Robert Kurtis ist die Zwischenwand nach den Schlafräumen der Mannschaften mit einem nassen Segel belegt worden. Trotz alledem verbreitet sich der Rauch bei einer feuchten und heißen Temperatur, welche die Luft fast unathembar macht.

Zum Glück sind der große und der Besanmast aus Eisen, sonst wären die unteren Theile derselben gewiß schon durchgebrannt, und sie selbst niedergestürzt, wir aber rettungslos verloren.

Robert Kurtis läßt so viel Segel als möglich beisetzen, und der Chancellor läuft bei dem auffrischenden Nordostwinde mit großer Schnelligkeit.

Schon sind seit Ausbruch des Feuers vierzehn Tage vergangen, immer hat dasselbe zugenommen, da wir nicht im Stande waren, es zu beschränken.


Eine lange Flamme leckt in die Höhe. (S. 51.)

Der Dienst an Bord wird allmälig sehr beschwerlich. Auf dem Oberdeck, dessen Fußboden mit dem Kielraum nicht in unmittelbarer Verbindung steht, kann man wohl noch einher gehen, auf dem Verdeck bis zum Vorderkastell ist das aber, selbst mit starken Schuhen, fast unmöglich geworden. Das Wasser reicht nicht mehr hin, die Bretter abzukühlen, an denen die Flammen lecken und die sich auf ihren Balken krümmen.


»Das Pikrat! Das Pikrat!« (S. 51.)

Das Harz des Holzes schwitzt um [47] die Aststellen aus, die Fugen öffnen sich und der durch die Hitze geschmolzene Theer läuft in wunderbaren Windungen, je nach der Bewegung des Schiffes, überall umher.

Um das Unheil voll zu machen, springt der Wind plötzlich nach Nordosten um, und weht mit aller Kraft. Es erhebt sich ein wahrhafter Orkan, wie sie in jenen Gegenden nicht selten sind, und verschlägt uns von den Antillen, nach denen wir steuern. Robert Kurtis will erst beizulegen suchen, [48] das Wasser wird aber so schwer, daß der Chancellor seinem Andrängen von der Seite nicht zu widerstehen vermag.

Am 29. erreicht der Sturm seine größte Heftigkeit. In wilder Empörung schäumt der Ocean und die Wellen fluthen über den Chancellor. Ein jetzt in's Meer gelassenes Boot müßte sofort umschlagen und sinken. Wir haben uns, die Einen auf das Oberdeck, die Anderen auf das Vorderkastell geflüchtet. Keiner spricht ein Wort. Das Colli mit Pikrat kommt uns fast gar[49] nicht mehr in den Sinn. Wir haben dieses Detail vergessen, um mit Robert Kurtis zu reden. Ich weiß wirklich nicht, ob die Explosion des Schiffes, die unsere angstvolle Lage auf einmal beendigen wurde nicht zu wünschen wäre. Ich glaube hiermit die Gedanken aller Uebrigen auszusprechen. Wenn dem Menschen eine Gefahr lange Zeit droht, so wünscht er sie endlich wohl herbei, denn die Erwartung einer unvermeidlichen Katastrophe ist stets schlimmer als die Wirklichkeit selbst.

So lange es noch Zeit war, hat Kapitän Kurtis eine gewisse Menge Nahrungsmittel aus der Cambuse, welche man jetzt nicht mehr betreten könnte, herausschaffen lassen. Schon hat die Hitze viel davon verdorben. Doch sind einige Fässer Salzfleisch und Schiffszwieback, ein Tönnchen Branntwein und einige Behälter mit Wasser auf dem Verdeck untergebracht worden, denen man etwas an Decken, Instrumenten, eine Bussole und Segelleinwand hinzufügt, um im Falle der Noth das Fahrzeug unverweilt verlassen zu können.

Um acht Uhr Abends hören wir trotz des tobenden Orkanes ein entsetzliches Geräusch. Die Luken des Decks haben sich unter dem Druck der erhitzten Luft gehoben, und schwarzer Rauch wirbelt aus ihnen empor, so wie der Dampf unter der Platte des Sicherheitsventils an einem Dampfkessel ausströmt.

Die Mannschaft eilte auf Robert Kurtis zu, als erwarte sie seine Befehle. Ein einziger Gedanke erfaßt uns, der, diesen Vulkan, der sich unter unseren Füßen öffnet, zu fliehen!

Robert Kurtis schaut auf den Ocean hinaus, dessen Wogen sich schäumend überstürzen. Der Schaluppe vermag man sich jetzt nicht einmal zu nähern; nur das Boot, welches in den Krahnen an der Steuerbordseite hängt, ist zu erreichen, so wie die kleine Jolle am Hintertheil des Schiffes. Die Matrosen stürzen auf das Boot zu.

»Nein, ruft ihnen Robert Kurtis zu, nein! Das wäre ein zu verwegenes Spiel, sich jetzt dem Meere anzuvertrauen!«

Einige Matrosen, Owen an der Spitze, wollen dennoch halb von Sinnen das Boot in's Meer herablassen. Da eilt Robert Kurtis nach dem Oberdeck und ergreift eine Axt:

»Dem Ersten, der an die Taue rührt, ruft er, zerspalte ich den Schädel!«

Die Matrosen ziehen sich zurück. Einige klettern in die Maschen der Strickleitern; Andere flüchten bis in die Mastkörbe.

[50] Um elf Uhr hört man im Kielraum heftige Detonationen. Die Zwischenwände springen, und öffnen der heißen Luft und dem Rauche den Weg. Sofort wälzen sich Dampfströme aus der Treppenkappe der Mannschaftskajüte, und eine lange Flamme leckt am Besanmast in die Höhe.

Da tönt ein Schrei. Mrs. Kear verläßt, unterstützt von Miß Herbey, ihre Cabine, welche das Feuer erreicht. Dann erscheint Silas Huntly, das Gesicht von Rauch geschwärzt, und ruhig begiebt er sich, nach einem Gruße gegen Robert Kurtis, nach der Strickleiter des Besanmastes.

Die Erscheinung Silas Huntly's erinnert mich noch an einen anderen Menschen, der unter dem Oberdeck eingeschlossen geblieben ist, in der Cabine, welche die Flammen in kurzer Zeit verzehren müssen.

Soll man den unglücklichen Ruby umkommen lassen? Ich eile nach der Treppe ... da zeigt sich der Irrsinnige, der seine Fesseln gesprengt hat, schon mit verbrannten Haaren und brennenden Kleidern. Ohne einen Schrei auszustoßen, geht er auf dem Verdecke. Ihn brennt es nicht an die Füße. Er stürzt sich in die Rauchwirbel hinein, der Rauch erstickt ihn nicht! Er macht den Eindruck eines menschlichen Salamanders, der durch die Flammen geht! Eine neue Detonation! Die Schaluppe berstet; die Luke in der Mitte fliegt in die Höhe und zerreißt die übergedeckten Segelstücken. Eine Feuergarbe schießt bis zur Hälfte des Hauptmastes empor.

Da stößt der Irrsinnige ein schreckliches Geschrei aus und ruft:

»Das Pikrat! Das Pikrat! Wir fliegen alle in die Luft! Alle! Alle!« ...

Noch ehe es möglich ist, ihn zurück zu halten, springt er durch die Luke in den glühenden Abgrund.

14. Capitel

XIV.

Während der Nacht des 29. Octobers. – Die Scene war schrecklich, und erfüllte trotz der verzweifelten allgemeinen Lage Jedermann mit Entsetzen.

Ruby existirt nicht mehr, doch eines seiner letzten Worte sollte noch die traurigsten Folgen haben.

[51] Die Matrosen haben ihn rufen hören: »Das Pikrat! Das Pikrat!« Sie sind unterrichtet, daß das Schiff jede Minute in die Luft gehen kann und daß sie nicht nur die Feuersbrunst, sondern auch die gräßlichste Explosion bedroht.

Einige Leute, die ganz außer sich sind, wollen um jeden Preis und ohne Verzug entfliehen.

»Das Boot! Das Boot!« rufen sie.

Sie sehen es nicht, nein, sie wollen es nicht sehen, diese Verblendeten, daß das Meer in wilder Empörung ist, daß kein Boot ihm trotzen kann, ohne von den furchtbaren, schäumenden Wellen verschlungen zu werden. Nichts vermag sie zurück zu halten, sie hören die Stimme ihres Kapitäns gar nicht mehr.

Robert Kurtis eilt mitten unter seine Mannschaft. Vergebens. Der Matrose Owen reizt seine Kameraden an. Die Leinen des Canots werden gelöst; und das kleine Boot hinaus geworfen.

Einen Augenblick schwankt es in der Luft und stößt in Folge des Rollens unseres Schiffes gegen seinen Aufzug. Die Matrosen stoßen es ab; eben, als es schon fast das Wasser berührt, erfaßt es eine ungeheure Welle von unten, entfernt es zunächst ein wenig und schleudert es dann mit einer solchen Gewalt gegen die Wände des Chancellor, daß es zertrümmert wird.

Schaluppe und Boot sind nun zerstört; es bleibt uns nichts mehr übrig, als die kleine zerbrechliche Jolle.

Wie vom Donner gerührt, stehen die Matrosen dabei. Man hört nichts mehr als das Pfeifen des Windes im Takelwerk und das Prasseln der Flammen. Tief gähnt der Gluthofen in der Mitte des Fahrzeuges, und Ströme von Dampf und Rauch drängen sich aus der Luke empor. Man kann nicht mehr vom Vorderkastell bis zum Oberdeck sehen, eine Barrière von Feuer trennt den Chancellor in zwei Theile.

Die Passagiere und zwei oder drei von der Mannschaft haben sich nach dem Oberdeck geflüchtet.

Mrs. Kear liegt ohne Bewußtsein ausgestreckt da, Miß Herbey weicht nicht von ihrer Seite. Mr. Letourneur hält seinen Sohn in den Armen und preßt ihn an sein Herz. Eine nervöse Erregtheit hat sich meiner bemächtigt, [52] die ich nicht zu bezwingen vermag. Der Ingenieur Falsten sieht seelenruhig nach der Uhr und bemerkt die Zeit in seinem Notizbuche.

Was mag auf dem Vordertheil vorgehen, wo sich ohne Zweifel der Lieutenant, der Hochbootsmann und die anderen Mannschaften befinden, welche wir jetzt nicht zu sehen vermögen? Zwischen den beiden Hälften des Fahrzeuges ist jede Verbindung unterbrochen, und Niemand könnte durch die Wand von Flammen dringen, welche aus den Luken emporwirbelt.

Ich nähere mich Robert Kurtis.

»Alles verloren? frage ich ihn.

– Nein, antwortet er, da die Luke einmal offen ist, werden wir versuchen, Ströme von Wasser in die Gluth zu leiten und sie vielleicht zu löschen.

– Wer soll aber auf dem brennenden Verdeck die Pumpen bedienen, Mr. Kurtis? Wie wollen Sie den Matrosen durch jene Flammen hindurch Ihre Befehle zukommen lassen?«

Robert Kurtis erwidert kein Wort.

»Es ist Alles verloren, nicht wahr? frage ich noch einmal.

– Nein, Herr, sagt Robert Kurtis, nein, so lange ich noch ein Brett unter meinen Füßen fühle, verzweifle ich noch nicht!«

Die Wuth der Feuersbrunst nimmt zu, die Wellen des Meeres färben sich mit röthlichem Scheine. Ueber uns spiegelt sich der Feuerschein an den niedrigeren Wolken. Lange Feuerstrahlen schießen jetzt aus den Deckluken, und wir haben uns nach dem Hackbord hinter dem Oberdeck zurück gezogen.

Mrs. Kear ist in der Jolle niedergelegt worden, die noch an ihren Trägern hängt und Miß Herbey hat neben ihr Platz genommen.

Welch' entsetzliche Nacht! Welche Feder wäre im Stande, ihre Schrecken zu schildern!

Der entfesselte Orkan bläst wie ein ungeheurer Ventilator in diesen Schmelzofen. Der Chancellor, trotzdem er schon viel Segel eingebüßt hat, fliegt wie ein riesiger Brander durch die Finsterniß dahin. Wir haben offenbar keine Wahl. Entweder in's Meer springen, oder in den Flammen umkommen!

[53] Aber das Pikrat fängt kein Feuer! Der Vulkan öffnet sich nicht unter unseren Füßen! Ruby hat doch wohl gelogen! Es ist gar keine explosive Substanz im Raume!

Um elf ein halb Uhr, das Meer tobt gerade furchtbarer als je, hört man ein von den Seeleuten so gefürchtetes Scharren und Kratzen durch den Lärm der Elemente hindurch, und vom Vordertheil dringt ein Schrei bis zu uns.

»Risse! Risse auf der Steuerbordseite!«

Robert Kurtis springt auf die Schanzkleidung, überfliegt mit einem raschen Blicke die weißlichen Wellen und ruft mit lautester, gebieterischer Stimme:

»Backbord steuern! Backbord!«

Doch, es ist zu spät. Ich fühle, wie der Rücken einer ungeheuren Welle uns emporhebt und ein plötzlicher Stoß erfolgt. Das Schiff schleift mit dem Hintertheil, stößt wiederholt auf, und der Besanmast stürzt, dicht über Deck abbrechend, in's Meer.

Der Chancellor sitzt unbeweglich fest!

15. Capitel

XV.

Fortsetzung der Nacht vom 29. October. – Noch ist es nicht Mitternacht, kein Mond am Himmel, rings tiefes Dunkel. Wo das Schiff aufgefahren ist, können wir jetzt unmöglich wissen. Ob es wohl durch den Sturm verschlagen wieder an die Küste Amerikas getrieben ist? Zeigt sich vielleicht, wenn es Tag wird, Land?

Ich sagte, daß der Chancellor, nachdem er wiederholt aufstieß, unbeweglich sitzen blieb. Bald nachher belehrte Robert Kurtis ein Geräusch von rasselnden Ketten, daß man die Anker herablasse.

»Gut! Gut! sagte er, der Lieutenant und der Bootsmann lassen die Anker fallen; hoffentlich werden sie fassen!«

Dann sehe ich Robert Kurtis auf der Schanzkleidung hinlaufen, bis ihm die Flammen jedes Weitergehen verwehren. Er gleitet auf die Rüsten am [54] Steuerbord, nach welchem das Schiff geneigt liegt, und hält sich dort einige Minuten, trotzdem das Meer ihn mit Wellen überspült. Ich sehe, wie er aufmerksam horcht. Man sollte meinen, er höre ein eigenthümliches Geräusch neben dem Geheul des Sturmes.

Nach einer Viertelstunde kehrt Robert Kurtis nach dem Oberdeck zurück.

»Es dringt Wasser ein, sagt er zu mir, und dieses Wasser – Gott stehe uns bei – wird vielleicht die Feuersbrunst bewältigen!

– Aber nachher? sage ich.

– Mr. Kazallon, antwortet er mir, ›nachher‹ wie Gott will. Wir denken jetzt nur an das Nächste!«

Das Nächstliegende wäre nun wohl gewesen, sich mittels der Pumpen vom Stande des Wassers zu überzeugen, aber diese kann Niemand mitten in dem Flammenmeer erreichen. Wahrscheinlich gestattet ein Leck im Grunde des Fahrzeuges dem Wasser, in vollen Strömen einzudringen, denn es will mir scheinen als vermindere sich das Feuer schon ein wenig. Man vernimmt jetzt ein betäubendes Gezisch, den Beweis, daß beide Elemente mit einander kämpfen. Unzweifelhaft ist der Untertheil des Feuerherdes erreicht und das erste Lager der Baumwollenballen schon überschwemmt. Nun wohl, möge dieses Wasser das Feuer löschen, dann werden wir auch mit ihm fertig zu werden wissen! Vielleicht ist es minder zu fürchten als das Feuer! Das Wasser ist ja des Seemanns Element, das er zu besiegen gewohnt ist!

Die nachfolgenden drei Stunden dieser Schreckensnacht verbringen wir in fürchterlicher Angst. Wo sind wir? Eins nur steht fest, daß jetzt Ebbe einzutreten scheint, und die Wuth der Wellen sich zu mäßigen beginnt. Der Chancellor muß eine Stunde nach der Fluth aufgestoßen sein, doch ist das ohne Rechnung und Beobachtung nicht möglich, sicher zu bestimmen. Wenn es so ist, darf man hoffen, sich nach Löschung des Feuers bei steigender Fluth wieder flott zu machen.


Wir erblicken eine geschwärzte Gruppe Menschen. (S. 55)

Gegen vier ein halb Uhr Morgens vermindert sich die Flamme, welche einen Vorhang zwischen dem Vorder- und dem Hintertheile des Schiffes bildete, nach und nach, und wir erblicken eine geschwärzte Gruppe Menschen. Das ist die Mannschaft, die sich auf dem engen Vorderkastell zusammen gedrängt hat. Bald wird die Verbindung zwischen den beiden Enden des Fahrzeuges wieder hergestellt und kommen der Lieutenant und der Bootsmann zu uns nach dem[55] Oberdeck, indem sie auf dem Barkholz hingehen, da es noch unmöglich ist, den Fuß auf das Verdeck zu setzen.

Kapitän Kurtis, der Lieutenant und der Hochbootsmann berathen in meiner Gegenwart und stimmen in dem einen Punkte völlig überein, daß vor Anbruch des Tages nichts zu unternehmen sei. Wenn das Land nicht entfernt, das Meer einigermaßen fahrbar ist, wird man die Küste, und wäre es auf einem Flosse, zu erreichen suchen. Wenn aber kein Land in Sicht,[56] wenn der Chancellor auf einem ganz isolirten Risse gestrandet wäre, wird man versuchen, ihn wieder flott zu machen, um dann die nächstgelegene Küste anzulaufen.

»Jedoch, sagt Robert Kurtis, dessen Meinung auch von den beiden Anderen getheilt wird, es ist sehr schwierig, zu beurtheilen, wo wir uns befinden. Der Nordwestwind muß den Chancellor weit nach Süden verschlagen haben. Ich habe schon längere Zeit keine Messung der Sonnenhöhe [57] vornehmen können, und da mir in diesem Theile des Atlantischen Oceans keine Klippen bekannt sind, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß wir an irgend einem Punkte Amerikas strandeten.


Ein Mann, der sich an den Mastkorb anklammert. (S. 59.)

– Wir befinden uns aber immer, warf ich ein, vor einer drohenden Explosion. Sollten wir den Chancellor nicht verlassen können und uns flüchten?

– Auf dieses Riff etwa? antwortet Robert Kurtis. Welche Gestalt hat es? Wird es nicht zur Zeit der Fluth überschwemmt? Können wir es bei dieser Dunkelheit überhaupt erkennen? Lassen Sie es erst hell werden, dann wollen wir davon reden.«

Ich theile diese Worte Robert Kurtis' sofort den übrigen Passagieren mit. Sie sind doch nicht besonders beruhigender Natur, aber Keiner hat ein Einsehen für die neue Gefahr, welche uns bedroht, wenn das Schiff auf ein in der offenen See isolirtes Riff aufgestoßen ist, das vielleicht Hunderte von Meilen vom Lande entfernt liegt. Alle haben nur einen einzigen Gedanken, den, daß das Wasser jetzt erfolgreich gegen das Feuer ankämpft und also die Explosionsgefahr vermindert.

In der That dringt statt der leuchtenden Flammen jetzt ein dicker schwarzer Rauch in feuchten Wirbeln aus der großen Luke heraus. Einige Feuerbüschel züngeln zwar noch manchmal zwischen dem Höllenqualm auf, doch sie verlöschen meist sofort wieder. Dem Prasseln und Knackern des Feuers folgt nun das Zischen des Wassers, das auf dem Herde im Inneren verdampft. Sicher erfüllt jetzt das Meer das, was unsere Pumpen und Eimer niemals erreicht hätten, und diese Feuersbrunst, welche mitten in 1700 Ballen Baumwolle ausgebrochen war, konnte eben nur durch eine Ueberschwemmung überwunden werden!

[58]

16. Capitel

XVI.

Am 30. October. – Das erste Tageslicht beginnt den Horizont zu färben, durch den Dunst über dem Wasser bleibt der Blick jedoch auf einen engen Umkreis beschränkt. Kein Land ist in Sicht und vergeblich schweift unser Auge nach Süden und Westen über den Ocean.

Jetzt ist das Meer fast vollkommen gefallen und steht das Schiff nur sechs Fuß tief im Wasser, während es bei voller Ladung sonst etwa fünfzehn Fuß tief eintaucht. Da und dort überragen einige Felsenspitzen die Oberfläche des Meeres, und man erkennt aus einer gewissen Färbung des Grundes, daß dieses Riff rein aus Basalt aufgebaut ist. Auf welche Weise hat aber der Chancellor auf dasselbe gelangen können? Gewiß hob ihn eine ungeheure Welle, wenigstens hatte ich ein ähnliches Gefühl, bevor wir aufliefen. Nachdem ich die Lagerung der Felsen, die uns umringen, genauer betrachtet habe, stelle ich mir die Frage, wie wir von denselben wohl wieder los kommen werden. Das Schiff liegt von hinten nach vorn zu gesenkt, wodurch das Gehen auf dem Verdeck sehr schwierig wird, und außerdem hat es sich mit der eingetretenen Ebbe sehr auffällig nach Backbord geneigt. Robert Kurtis hat sogar befürchtet, daß es bei tiefer Ebbe kentern würde; jetzt nimmt die seitliche Neigung aber nicht weiter zu, und unsere Besorgniß ist verschwunden.

Um sechs Uhr Morgens machen sich ziemlich heftige Stöße bemerkbar. Sie rühren von dem Besanmaste her, der nach seinem Bruche erst weggetrieben wurde und jetzt wieder an die Breitseite des Chancellor anschlägt. Zugleich hören wir wiederholte Schreie und unterscheiden mehrmals den Namen »Robert Kurtis.«

Wir blicken nach der Richtung hin, aus welcher die Rufe zu kommen scheinen, und sehen einen Mann, der sich an den Mastkorb anklammert. Es ist Silas Huntly, den der Sturz des Mastes mitgerissen und ein Wunder vom Tode errettet hat.

Robert Kurtis eilt seinem früheren Kapitän zu Hilfe und bringt ihn, tausend Gefahren trotzend, glücklich an Bord zurück. Ohne ein Wort zu [59] sprechen, setzt sich Silas Huntly sofort in die entlegenste Ecke des Oberdecks. Der Mann ist vollkommen passiv geworden; er zählt gar nicht mehr mit.

Nach manchen Anstrengungen gelingt es, den Mast unter den Wind zu bringen, wonach er mit dem Schiffe, dessen Planken er nicht ferner bedroht, fest verbunden wird. Vielleicht soll dieses Trümmerstück uns noch Dienste leisten, wer kann es wissen?

Es ist nun völlig Tag geworden; die Nebel steigen. Schon vermag der Blick den Horizont auf drei Meilen Entfernung zu erreichen, doch Nichts zeigt sich, was einer Küste ähnlich sähe. Im Norden nur taucht eine Art Eiland auf. Seine unregelmäßige Gestalt verdankt es einer launenhaften Aufhäufung von Felsmassen, die sich etwa zweihundert Faden von der Stelle, an der der Chancellor strandete, und zu einer Höhe von vielleicht fünfzig Fuß erhebt. Sie muß also auch die stärkste Hochfluth überragen. Ein sehr schmaler, doch bei niedrigem Wasser gangbarer Weg eröffnet sich uns für den Nothfall nach jenem Eilande. Darüber hinaus nimmt das Meer wieder eine dunklere Färbung an. Dort ist tiefes Wasser; dort endet das Riff.

Eine schmerzliche Enttäuschung, gerechtfertigt durch die Lage des Fahrzeuges, bemächtigt sich Aller. Es ist wirklich zu fürchten, daß diese Klippen mit keinem benachbarten Lande in Verbindung stehen.

In diesem Augenblick, – es ist um sieben Uhr, – ist nun heller Tag und sind die Dunstmassen verschwunden. Vollkommen deutlich zeichnet sich der Horizont rund um den Chancellor ab, aber die Grenzlinie des Wassers und die des Himmels verschwimmen in einander und das Meer erfüllt den ganzen, weiten Raum.

Unbeweglich beobachtet Robert Kurtis den Ocean und vorzüglich im Westen. Mr. Letourneur und ich stehen nahe bei einander, achten auf seine geringsten Bewegungen und errathen alle Gedanken, die sich in seinem Gehirne jagen. Sein Erstaunen scheint groß zu sein, denn er mußte uns nahe dem Lande glauben, da das Schiff von den Bermuden aus immer nach Süden getrieben worden war, und doch ist kein Land in Sicht.

In diesem Augenblicke verläßt Robert Kurtis das Oberdeck, begiebt sich auf die Schanzkleidung bis nach der Strickleiter des Großmastes, erklettert diese bis zum Mastkorb und von da aus an den Seilen noch höher hinauf, bis er auf einer oberen Segelstange steht. Von dort aus schweift sein [60] Blick aufmerksam über den ganzen Umkreis, und nach Verlauf einiger Minuten gleitet er an einem Taue bis zu dem Barkholz herab und kommt zu uns zurück.

Wir sehen ihn fragend an.

»Kein Land!« sagt er sehr kalt.

Da tritt Mr. Kear vor und spricht in offenbar übler Laune:

»Wo sind wir, Herr?

– Das weiß ich nicht, mein Herr.

– Das sollten Sie aber wissen! erwidert ärgerlich der Oelhändler.

– Möglich, – aber ich weiß es nicht!

– Nun, fährt Mr. Kear fort, so hören Sie denn, daß ich keine Lust habe, ewig auf Ihrem Schiffe zu bleiben, mein Herr, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie nun weiter segeln!«

Robert Kurtis begnügte sich, mit den Achseln zu zucken.

Dann wandte er sich zu Mr. Letourneur und zu mir:

»Wenn sich die Sonne zeigt, sagt er, werde ich eine Aufnahme ausführen und werden wir dann erfahren, auf welchem Punkte des Atlantischen Oceans wir uns befinden.«

Hierauf läßt Robert Kurtis zunächst an die Passagiere und die Mannschaften Lebensmittel vertheilen. Wir brauchen solche recht nöthig, denn Alle sind von Hunger und Anstrengung erschöpft. Es wird Schiffszwieback und etwas conservirtes Fleisch genossen, worauf der Kapitän sofort gewisse Maßnahmen zum Wiederflottmachen des Schiffes vorbereitet.

Das Feuer hat sich jetzt noch weiter vermindert, und keine Flamme dringt mehr nach Außen. Auch der Rauch ist, wenn auch noch schwarz, doch minder reichlich. Gewiß steht im Kielraume des Chancellor eine große Menge Wasser, doch kann man sich darüber nicht vergewissern, da das Verdeck ungangbar ist.

Deshalb läßt Robert Kurtis die glühheißen, halbbrennenden Planken begießen, und nach zwei Stunden können die Matrosen wieder auf dem Verdecke gehen.

Jetzt ist es die erste Sorge, zu sondiren, ein Geschäft, dem sich der Hochbootsmann unterzieht. Seiner Messung nach stehen fünf Fuß Wasser im Raume; der Kapitän läßt dasselbe jedoch noch nicht auspumpen, da er will, [61] daß es seine Arbeit ganz vollende. Erst mit dem Feuer fertig werden, mit dem Wasser später.

Erscheint es nun wohl gerathen, das Schiff sofort zu verlassen und sich auf die Klippe zu flüchten? Kapitän Kurtis' Ansicht, der auch der Lieutenant und der Hochbootsmann zustimmen, ist das nicht. Wirklich, bei schwerem Wellengange dürfte die Position selbst auf den am meisten hervorragenden Felsen nicht haltbar sein. Die Wahrscheinlichkeit einer Explosion des Fahrzeugs ist ja wesentlich gemindert; gewiß hat das Wasser im Raume eine solche Höhe erreicht, daß Ruby's Gepäck und folglich auch sein Colli mit Pikrat überschwemmt ist. Es wird also entschieden, daß weder die Mannschaften noch die Passagiere den Chancellor verlassen.

Dafür bemüht man sich, auf dem Oberdeck eine Art Lagerstätte zuzurichten, und für die beiden Damen werden einige vom Feuer noch verschonte Matratzen dahin geschafft. Die Mannschaft, welche ihre Habseligkeiten gerettet hat, bringt diese unter das Vordercastell. Dort soll auch der Schlafraum sein, da die Cajüte der Leute völlig unbewohnbar geworden ist.

Zum Glück sind die Zerstörungen in der Cambuse weniger umfänglich, als man hätte annehmen sollen. Die Lebensmittel, ebenso wie die Wasserkisten hat das Feuer zum großen Theil verschont. Das ganz im Vordertheil liegende Segelmagazin erweist sich völlig unversehrt.

Vielleicht stehen wir vor dem Ende unserer Prüfungen. Man ist fast versucht, das zu glauben, denn seit dem Morgen hat sich der Wind sehr bedeutend abgeschwächt und der Seegang merklich ermäßigt. Letzteres ist ein ganz besonders günstiger Umstand, denn wenn den Chancellor jetzt heftige Wellenstöße träfen, müßte er an dem harten Basalte zerschellen.

Mit den Herren Letourneur habe ich ausführlich über die Schiffsofficiere gesprochen, ebenso über die Mannschaften und über das Benehmen Aller in dieser Zeit der Gefahr. Alle haben Proben des Muthes und der thatkräftigen Entschlossenheit abgelegt. Der Lieutenant Walter, der Hochbootsmann und der Schiffszimmermann Daoulas zeichneten sich ganz besonders aus, das sind wackere Männer, gute Seeleute, auf die man sich verlassen kann. Robert Kurtis ist über jedes Lob erhaben. Jetzt, wie immer, scheint er sich zu verdoppeln und ist überall zur Hand; Schwierigkeiten bieten sich nur, um von ihm überwunden zu werden; durch Wort und That feuert er [62] seine Matrosen an; er bildet gleichsam die Seele der ganzen Mannschaft, die nur durch ihn handelt.

Seit sieben Uhr Morgens begann das Meer inzwischen wieder zu steigen; jetzt, um elf Uhr, sind die Spitzen der Felsen bei der Fluth alle wieder verschwunden. Es steht zu erwarten, daß das Wasser im Schiffsraum um ebenso viel steigen wird, als das Meer außerhalb. Das geschieht wirklich. Die Sonde ergiebt neun Fuß, und wiederum sind neue Schichten der Ballen überschwemmt, worüber wir uns jedoch nur Glück wünschen.

Seit Eintritt der vollen Fluth ist der größte Theil der das Schiff umgebenden Felsmassen untergetaucht; nur die Umfassung einer Art kleinen Beckens bleibt noch sichtbar, das einen Durchmesser von 250 bis 300 Fuß hat und dessen nördlichen Winkel der Chancellor einnimmt. Das Meer erscheint recht ruhig, und seine Wellen gelangen nicht bis zum Schiffe; – glücklicher Umstand, denn da es ganz unbeweglich fest liegt, würde es ebenso, wie eine Klippe gepeitscht werden.

Um elfeinhalb Uhr wird die Sonne, die bis dahin von einigen Wolken verdeckt blieb, recht zur gelegenen Zeit sichtbar. Schon am Morgen gelang es dem Kapitän, einen Stundenwinkel zu messen, jetzt bereitet er sich zur Aufnahme der Mittagshöhe, die er um 12 Uhr ganz genau ermittelt.

Er begiebt sich nach seiner Cabine, führt die nöthigen Berechnungen aus und kommt nach dem Oberdeck zurück.

»Wir befinden uns, meldet er hierüber, unter achtzehn Grad fünfundvierzig Minuten nördlicher Breite und fünfundvierzig Grad dreiundfünfzig Minuten westlicher Länge.«


Man bemüht sich, auf dem Oberdeck eine Art Lagerstätte zuzurichten. (S. 62.)

Der Kapitän erläutert unsere Lage noch Denjenigen, die mit der Bedeutung dieser Zahlen weniger vertraut sind. Robert Kurtis sucht mit Recht Nichts zu verheimlichen, er will, daß sich Jeder darüber klar sei, was er unter den gegebenen Verhältnissen zu erwarten habe.


Die Umschiffung des Riffs. (S. 69.)

Der Chancellor ist also unter 18°45' nördlicher Breite und 45°53' westlicher Länge auf einem noch auf keiner Seekarte verzeichneten Risse gescheitert. Wie kann aber ein solches in diesem Theile des Atlantischen Oceans vorhanden sein, ohne daß man von ihm Kenntniß hat? Sollte das Eiland erst von jüngerer Bildung und durch irgend eine plutonische Erhebung entstanden sein? Ich sehe wenigstens keine andere Erklärung jener Thatsache.

[63] Doch dem sei, wie es will, jedenfalls befindet sich das Eiland mindestens 800 Meilen von Guyana, das ist das nächstbenachbarte Land, entfernt. Die Eintragung des Punktes auf der Karte hat das unzweifelhaft ergeben.

Der Chancellor ist also bis zum achtzehnten Breitengrade nach Süden hinab gelangt, zuerst in Folge der sinnlosen Hartnäckigkeit Silas Huntly's nachher durch den Nordweststurm, der ihn zum Entfliehen nöthigte. Der [64] Chancellor hat demnach noch 800 Meilen weit zu segeln, bevor er das nächst gelegene Land anlaufen kann.

So gestaltet sich unsere Lage. Sie ist wohl ernst, doch machte die offenherzige Mittheilung des Kapitäns keinen üblen Eindruck, – wenigstens für den Augenblick. Welch' neue Gefahren hätten uns auch so bedrohlich erscheinen können, nachdem wir dem Feuer und der Explosion so glücklich entgangen waren? Jedermann vergißt, daß der Kielraum mit Wasser gefüllt ist, daß [65] das rettende Land uns so fern liegt, daß der Chancellor, wenn er wieder flott wird, leicht sinken kann ... Jetzt stehen die Gemüther noch unter dem Eindruck des jüngsten Schreckens und neigen in einem Augenblick der Ruhe weit mehr zum Vertrauen hin.

Was wird Robert Kurtis nun zunächst vornehmen? Ganz einfach das, was der gesunde Menschenverstand empfiehlt: das Feuer vollständig löschen, die ganze Fracht, oder doch einen Theil derselben über Bord werfen, das Colli mit Pikrat nicht zu vergessen, den Leck verschließen und nach Erleichterung des Schiffes dasselbe unter Mithilfe der Fluth wieder flott zu machen suchen.

17. Capitel

XVII.

Fortsetzung vom 30. October. – Gelegentlich eines unsere jetzige Lage betreffenden Gespräches mit Mr. Letourneur habe ich ihm die Versicherung geben zu können geglaubt, daß unser Aufenthalt auf dem Risse nur von kurzer Dauer sein werde, wenn uns die Umstände nur irgend begünstigen. Mr. Letourneur scheint meine Ansicht aber nicht zu theilen.

»Im Gegentheil, sagt er, ich glaube, wir werden auf diesem Felsen lange Zeit zurückgehalten bleiben.

– Und warum? erwidere ich; einige hundert Ballen Baumwolle über Bord zu werfen ist doch weder eine lange, noch allzu beschwerliche Arbeit, die in zwei bis drei Tagen recht wohl geschehen sein kann.

– Gewiß, Mr. Kazallon, das möchte schnell genug gehen wenn sich die Manschaft nur heute schon an's Werk machen könnte. Vorläufig ist es absolut unmöglich, in den Kielraum des Chancellor hinabzusteigen, denn die Luft darin ist völlig irrespirabel, und wer weiß, ob nicht mehrere Tage vergehen, ehe sich das ändert, da die mittleren Lagen des Cargo noch immer in Brand sind. Uebrigens, wenn wir nun wirklich Herr des Feuers geworden sind, werden wir deshalb auch weiter schiffen können? Nein; erst muß die Eintrittsstelle des Wassers, die eine ziemliche Ausdehnung haben mag, verschlossen werden, und zwar mit größter Sorgfalt, wenn wir nicht sinken wollen, nachdem wir der Gefahr zu verbrennen entgangen waren. Nein, nein, [66] Mr. Kazallon, ich mache mir keine Illusion und werde es als einen glücklichen Umstand betrachten, wenn wir das Riff nach drei Wochen wirklich verlassen haben werden. Nun gebe nur der Himmel, daß kein Sturm ausbricht, noch bevor wir wieder flott sind, denn der Chancellor müßte an diesen Klippen wie ein Glas zerschellen!«

In der That ist hierin die größte Gefahr zu suchen, welche uns drohen könnte. Das Feuer wird nun vollends gelöscht werden, das Fahrzeug wird wieder flott gemacht werden, mindestens haben wir allen Grund es zu glauben – aber wir leben vor der Hand von der Gnade eines Windstoßes! Zugegeben auch, daß der höchste Theil des nahen Risses während eines Sturmes als Zuflucht dienen könnte, was soll aus den Passagieren und Mannschaften des Chancellor werden, wenn ihr Schiff in Stücke ginge!

»Mr. Letourneur, habe ich diesen darauf gefragt, Sie haben Vertrauen zu Robert Kurtis?

– Ein vollkommenes Vertrauen, Mr. Kazallon. Und ich sehe es für eine Gnade Gottes an, daß der Kapitän Huntly ihm das Commando des Schiffes abgetreten hat. Ich bin überzeugt, daß Robert Kurtis alles thun wird, was nöthig und möglich ist, um uns aus dieser schlimmen Lage zu reißen.«

Auf meine Frage an den Kapitän, auf wie lange er den entstehenden Aufenthalt veranschlage, antwortet er mir, daß er das jetzt, da es von verschiedenen Umständen abhänge, noch nicht abzuschätzen im Stande sei, er hoffe aber wenigstens, daß die Witterung nicht allzu ungünstig sein werde.

Wirklich steigt das Barometer ununterbrochen, ohne das gewöhnliche Auf- und Abschwanken der Quecksilbersäule, das ihr eigen ist, so lange die Luftschichten noch nicht vollkommen in's Gleichgewicht gekommen sind. Jene Erscheinung ist also ein Vorzeichen dauernder Ruhe – ein wahres Glück für unsere nothwendigen Arbeiten.

Uebrigens wird keine Stunde vergeudet, und Jeder geht freudig an seine Thätigkeit.

Vor allem Andern hat Robert Kurtis die Absicht, die Feuersbrunst vollkommen zu löschen, welche noch in den oberen Lagen der Baumwollballen, über dem Niveau des Wassers im Kielraum, fortdauert. Es kann sich aber nicht darum handeln, die Ladung zu schonen, offenbar gilt es nur, das Feuer [67] zwischen zwei Wasserschichten zu ersticken. Die Pumpen beginnen ihr Werk demnach auf's Neue.

Bei diesen ersten Vornahmen reichen die Mannschaften zur Bedienung der Pumpen aus. Die Passagiere werden nicht an Anspruch genommen, obgleich wir Alle zur Hilfe bereit sind; doch dürfte unsere Unterstützung nicht zu unterschätzen sein, wenn man zur Entlastung des Fahrzeuges vorschreiten wird. Die Mr. Letourneur und ich, wir verbringen unsere Zeit entweder mit Plaudern oder mit Lectüre, und außerdem verwende ich täglich einige Stunden auf die Fortführung meines Tagebuches. Der wenig mittheilsame Ingenieur Falsten ist ganz von seinen Ziffern in Anspruch genommen und entwirft fortwährend Maschinen im Aufriß, wie im Durchschnitte. Wenn es doch dem Himmel gefiele, ihn einen kräftigen Apparat ersinnen zu lassen, der den Chancellor wieder flott zu machen vermöchte! Die beiden Kear halten sich abseits und ersparen uns dadurch das langweilige Anhören ihrer unablässigen Entschädigungsansprüche; leider ist auch Miß Herbey genöthigt, an der Seite Jener zu verbleiben, und sehen wir das junge Mädchen sehr wenig oder gar nicht. Silas Huntly bekümmert sich um nichts, was auf das Schiff Bezug hat, der Seemann in ihm ist gestorben und der Mann vegetirt nur noch mühsam. Der Steward Hobbart versieht seinen Dienst, wie gewöhnlich, als befinde sich das Schiff auf der regelmäßigsten Ueberfahrt. Dieser Hobbart ist ein unterwürfiger Kriecher und unterscheidet sich sehr auffallend von seinem Koch Jynxtrop, einem häßlichen Neger mit brutalen und unverschämten Manieren, der sich mehr als nöthig zu den Matrosen hält.

Zerstreuungen können an Bord natürlich nicht allzu häufig sein. Da kommt mir zum Glück der Gedanke, das unbekannte Riff, auf dem der Chancellor gestrandet ist, näher zu untersuchen. Der Ausflug wird weder weit sein, noch besondere Abwechselungen bieten, doch giebt er Gelegenheit, das Schiff auf einige Stunden zu verlassen und einen Boden zu untersuchen, der einen interessanten Ursprung haben muß.

Uebrigens ist es von Wichtigkeit, daß der Plan dieses Risses, das man noch auf keiner Karte verzeichnet findet, sorgfältig aufgenommen wird. Ich glaube mit den Herren Letourneur diese hydrographische Arbeit ausführen zu können, wobei wir dem Kapitän Kurtis natürlich die Sorge überlassen, sie durch genaue Aufnahme der geographischen Länge und Breite zu vervollständigen.

[68] Die Herren Letourneur stimmen meinem Vorschlage bei. Ein Boot nebst Tiefloth wird uns zur Verfügung gestellt, dazu ein Matrose zur Leitung desselben, und am Morgen des 31. Octobers verlassen wir den Chancellor.

18. Capitel

XVIII.

Vom 31. October bis 5. November. – Wir haben damit begonnen, das Riff, dessen Länge eine Viertelmeile betragen mag, zu umfahren.

Diese kleine »Umschiffung« ist bald beendigt, und wir bestätigen, die Sonde in der Hand, daß die Ränder des Gesteins unter Wasser sehr steil abfallen. Das Meer zeigt sich noch ganz nahe daran sehr tief, und es unterliegt kaum einem Zweifel, daß eine auf plutonische Kräfte zurückzuführende plötzliche Erhebung, ein heftiger Druck von unten, das Riff über die Meeresfläche gedrängt haben.

Auch über den rein vulkanischen Ursprung des ganzen Eilandes ist gar nicht zu streiten. Durchweg besteht es aus ungeheuren Basaltblöcken, deren regelmäßige Prismen ihm das Aussehen einer gigantischen Krystallisation verleihen. Das Meer ist rund um den Rand des Risses ganz wunderbar durchsichtig, und läßt die sonderbaren Bündel prismatischer Schafte erkennen, welche den merkwürdigen Bau tragen.

»Das ist ein eigenthümliches Gebilde, bemerkt Mr. Letourneur, und gewiß neueren Ursprunges.

– Ohne Zweifel, Vater, antwortet der junge André, und ich füge noch hinzu, daß es dieselbe Ursache, welcher z.B. die Insel Julia an der Küste Siciliens und die Insel Santorin im griechischen Archipel ihre Entstehung verdanken, gewesen ist, die dieses Eiland zur gelegenen Zeit schuf, um den Chancellor darauf stranden zu lassen.

– Eine Bodenerhebung in diesem Theile des Atlantischen Oceans, bestätige ich, muß nothwendig stattgefunden haben, da dieses Riff auch auf den neuesten Karten sich nicht verzeichnet findet, und schwerlich konnte es doch den Augen der Seeleute in dieser vielbefahrenen Gegend des Oceans bis jetzt [69] entgehen. Wir wollen es deshalb sorgfältig untersuchen und zur Kenntniß der Seefahrer bringen.

– Wer weiß, ob es nicht in Folge eines ähnlichen Processes, wie dessen, der es erhob, nicht auch bald wieder verschwinden wird? antwortet André Letourneur. Sie wissen, Mr. Kazallon, daß solche vulkanische Inseln häufig nur von ganz ephemerem Bestande sind, und wenn die Geographen diese hier in ihre Karten eingetragen haben, existirt sie vielleicht schon nicht mehr.

– Das thut Nichts, liebes Kind, wendet Mr. Letourneur ein. Es ist besser, vor einer nicht mehr vorhandenen Gefahr zu warnen, als eine thatsächlich bestehende geringschätzig zu übergehen, und die Seeleute werden sich deshalb nicht zu beklagen haben, wenn sie ein Riff auch nicht mehr da antreffen, wo wir ein solches fanden.

– Du hast recht, mein Vater, erwidert André, nach Allem ist es ja auch möglich, daß ihm eine ebenso lange Dauer bestimmt ist, wie unseren Continenten. Wenn es aber verschwinden soll, so würde es Kapitän Kurtis gewiß gern sehen, daß es nach einigen Tagen, wenn er seine Havarien ausgebessert hat, geschähe, denn das würde ihm die Mühe ersparen, sein Schiff wieder flott zu machen.

– Wahrlich, André, rief ich da scherzend, Sie wollen wohl mit der Natur ganz nach eigenem Gutdünken schalten und walten! Sie verlangen, daß jene ein Riff ganz nach Ihrem Willen hebe oder senke, so ganz nach Ihrem höchsteigenen persönlichen Bedürfnisse, und nachdem sie diese Felskanten ganz speciell geschaffen hat, um den brennenden Chancellor löschen zu können mag sie dieselben, nur auf die Berührung Ihrer Wünschelruthe wieder versenken, um denselben wieder frei zu machen?

– Nein, nein, Mr. Kazallon, erwidert der junge Mann lächelnd, ich will gar nichts, als Gott danken, daß er uns so sichtbar beschützt hat. Er hat unser Fahrzeug auf dieses Riff werfen wollen und er wird es schon wieder schwimmen lassen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.

– Und wir werden dazu mit allen Kräften helfen, nicht wahr, meine Freunde?

– Gewiß, Mr. Kazallon, erwidert Mr. Letourneur, denn es ist eine unabweisliche Pflicht, sich selbst zu helfen; dennoch thut André sehr recht daran, sein Vertrauen auf Gott zu setzen. Wenn sich der Mensch auf das [70] Meer hinauswagt, so wendet er die ihm von Natur verliehenen Fähigkeiten in weitestem Umfange an, auf dem grenzenlosen Oceane fühlt er aber auch, wenn die Elemente sich entfesseln, wie zerbrechlich das Fahrzeug, das ihn trägt, wie schwach und ohnmächtig er selbst ist! Deshalb meine ich, sollte die Devise des Seemanns lauten: Vertrauen zu sich selbst und Glauben an Gott!

– Wie wahr ist das, Mr. Letourneur, habe ich geantwortet. Auch glaube ich, es wird nur wenig Seeleute geben, deren Herzen religiösen Eindrücken hartnäckig verschlossen sind!«

Also sprechend untersuchen wir die Felsmassen, welche die Basis des Eilandes bilden, mit aller Sorgfalt, und überzeugen uns immer mehr von dessen ganz neuerlichem Ursprunge. Nirgends findet sich eine Muschel oder ein Varecbüschel an die Basaltwände geheftet. Ein Liebhaber der Naturkunde möchte bei der Durchsuchung dieser Steinhaufen schwerlich auf seine Kosten kommen, hier, wo weder Thier- noch Pflanzenreich ihren Stempel aufgedrückt haben. Schalthiere fehlen ebenso vollständig wie Wasserpflanzen. Noch hat der Wind kein Samenkörnchen hierher geweht und haben die Seevögel hier kein Obdach gesucht. Dem Geologen allein böte sich vielleicht Stoff zu interessanten Forschungen über dieses basaltische Gebilde, welches die Spuren seines plutonischen Herkommens noch unverwischt an der Stirn trägt.


Eine Basaltsäule, welche den höchsten Felsen des Eilandes krönt. (S. 71.)

Eben jetzt erreicht unser Canot die Südspitze des Eilandes, neben der der Chancellor aufgefahren ist. Ich schlage meinen Begleitern vor, an's Land zu gehen, sie gehen mit großem Vergnügen darauf ein.

»Im Fall das Eiland wieder untergehen sollte, sagte der junge André lachend, müssen ihm menschliche Wesen wenigstens einen Besuch abgestattet haben!«

Das Canot landet, und wir betreten den Basaltfelsen. André geht bei dem ziemlich bequem zu ersteigenden Steinboden voraus, der junge Mann braucht keinen Arm, der ihn stützte. Sein Vater bleibt etwas hinter ihm, in meiner Nähe, zurück, und so ersteigen wir das Riff auf einem sanften Abhange, der zu seinem Gipfel empor führt.

In einer Viertelstunde legten wir die Entfernung bis dahin zurück und setzten uns alle Drei auf eine Basaltsäule, welche den höchsten Felsen des Eilands krönt. André Letourneur zieht dann ein Notizbuch aus der [71] Tasche und beginnt, das Riff, dessen Ränder sich von dem grünlichen Wasser deutlich vor unseren Augen abheben, sorgsam abzuzeichnen.

Der Himmel ist rein und das jetzt niedrige Meer entblößt auch die letzten Felsenvorsprünge im Süden, welche eine schmale Straße zwischen sich lassen, die der Chancellor vor dem Auffahren passirt hat.

[72] Die Gestalt des ganzes Riffs erscheint sehr eigenthümlich und erinnert lebhaft an die eines »Yorker Schinkens«, dessen mittlerer Theil bis zu der Höhe anschwillt, die wir jetzt einnehmen.


Oefter fischen wir auch am Ufer des Eilandes ... (S. 75.)

Nachdem André die Umrisse des Eilandes zu Papier gebracht hat, sagt sein Vater:

[73] »Du zeichnest ja da einen Schinken, mein Kind!

– Ja wohl, Vater, aber einen Schinken von Balsalt, dessen Größe wohl auch einen Riesen zufrieden stellen würde, und wenn Kapitän Kurtis zustimmt, werden wir das Riff ›Ham-Rock‹ (d.i. Schinken-Stein) taufen.

– Herrlich, rufe ich, ein gut erfundener Name! Das Schinkenstein-Riff! Mögen sich ihm die Seefahrer immer in respectvoller Entfernung halten, denn sie haben die Zähne nicht hart genug, dasselbe anzubeißen!«

An der Südspitze des Eilandes ist der Chancellor aufgefahren, d.h. auf dem Knochen oder Stiel des Schinkens und in der kleinen Ausbuchtung, welche seine Biegung bildet. Er neigt gerade jetzt sehr stark nach Steuerbord, da es eben tiefe Ebbe ist.

Nach Vollendung der Skizze durch André Letourneur steigen wir über eine andere schiefe, nach Westen zu abfallende Ebene wieder herab und treffen bald auf eine hübsche, niedliche Grotte. Zuerst möchte man sie für ein Werk der Architektur halten, und ähnelt sie sehr den von der Natur in den Hebriden geschaffenen, und speciell der Grotte auf der Insel Staffa. Die Herren Letourneur, welche die Fingalshöhle besucht haben, wollen diese, wenn auch in kleinerem Maßstabe, hier vollständig wieder finden; hier zeigt sich dieselbe Anordnung concentrischer Prismen, welche von der Art der Erstarrung des Basaltes herrührt; dieselbe Decke schwarzer Balken, deren Fugen mit einer gelblichen Masse verkittet erscheinen; dieselbe Reinheit der Krystallkanten, wie sie der Meißel eines Bildhauers nicht sauberer herzustellen vermöchte, endlich dasselbe Klingen in den tönenden Basalten, aus denen die gäëlische Volkssage Harfen der Schatten Fingal's gemacht hat. Auf Staffa bildete aber das Meer den Boden der Höhle, der hier nur von hohen Wogen erreicht werden kann, wo eine Schicht von Basaltschäften einen festen Grund darstellt.

»Uebrigens, bemerkt André Letourneur, ist die Grotte auf Staffa eine ungeheure gothische Kathedrale, diese hier aber nur eine Capelle zu jener. Wer hätte jedoch ein solches Wunder auf einem unbekannten Risse des Oceans zu finden erwartet?«

Nach einstündigem Ausruhen in der Ham-Rock-Grotte gehen wir längs dem Ufer des Eilandes hin und kommen nach dem Chancellor zurück. Robert Kurtis wird von den Resultaten unseres Ausfluges in Kenntniß gesetzt und verzeichnet auf der Karte das Eiland unter dem ihm von André Letourneur beigelegten Namen.

[74] Die folgenden Tage haben wir niemals versäumt, einen Spaziergang nach der Ham-Rock-Grotte zu machen, in der wir so manche Stunde verbringen. Auch Robert Kurtis besuchte sie, doch ist er jetzt mit hunderterlei anderen Dingen zu sehr beschäftigt, um zur Bewunderung der Natur gestimmt zu sein. Falsten begab sich nur einmal dahin, um die Natur des Gesteins kennen zu lernen, und mit der für Schönheiten an sich unempfindlichen Ruhe des Geologen einige Brocken loszubrechen. Mr. Kear hat sich darum nicht incommodiren wollen, er ist an Bord geblieben. Der Mrs. Kear habe ich das Anerbieten gemacht, uns bei einer solchen Excursion zu begleiten, aber die Unannehmlichkeit, sich nach dem Boote zu begeben und vielleicht einiger Anstrengung ausgesetzt zu sein, hat sie veranlaßt, es abzuschlagen.

Mr. Letourneur hat auch Miß Herbey gefragt, ob sie Lust habe, das Riff zu besuchen. Das junge Mädchen glaubte dazu Ja sagen zu dürfen, glücklich, der launischen Tyrannei ihrer Herrin, wenn auch nur auf eine kurze Stunde, zu entfliehen. Als sie aber Mrs. Kear um die Erlaubniß bittet, das Schiff verlassen zu dürfen, schlägt diese es ihr rundweg ab.

Mich ärgert das, und ich lege bei Mrs. Kear ein Wort für Miß Herbey ein. Ich habe zwar meine Noth mit Jener, da ich aber früher schon Gelegenheit hatte, der Egoistin einige Dienste zu leisten, und sie nicht weiß, ob sie meiner vielleicht später wieder bedarf, so giebt sie endlich meinen Bitten nach.

Miß Herbey begleitet uns also nun mehrere Male beim Spaziergange über die Felsen. Oefter fischen wir auch am Ufer des Eilandes und verzehren heiter ein Frühstück in der Grotte, wozu die Basaltharfen im Winde tönen. Wir sind selbst ganz beglückt über das Vergnügen Miß Herbey's, sich einige Stunden frei zu fühlen. Das Eiland ist gewiß nur klein, aber niemals ist dem jungen Mädchen Etwas in der Welt größer erschienen. Auch wir lieben dieses dürre, trostlose Riff, und bald giebt es keinen Stein mehr, den wir nicht kennten, keinen Pfad, den wir nicht fröhlich gewandelt wären. Gegen den Chancellor gehalten, ist es immer ein großes Gebiet, und ich weiß bestimmt, daß wir es zur Stunde der Abfahrt nur ungern verlassen werden.

Bezüglich der Insel Staffa theilt uns André Letourneur noch mit daß sie der Familie Mac-Donald gehöre, welche sie für den jährlichen Zins von zwölf Pfund Sterling 1 verpachtet hat.

[75] »Nun, meine Herren, begann darauf Miß Herbey, glauben Sie, daß man für diese hier mehr als eine halbe Krone verlangen würde?

– Keinen Pfennig, Miß, antwortete ich lachend. Hätten Sie Lust, dieselbe in Pacht zu nehmen?

– Nein, Mr. Kazallon, erwidert das junge Mädchen mit einem unterdrückten Seufzer, und doch ist hier vielleicht der einzige Ort, an dem ich glücklich gewesen bin!

– Und ich auch!« sagt halblaut André.

Welch heimliches Leiden spricht aus dieser Antwort Miß Herbey's! Das junge Mädchen in ihrer Armuth, ohne Eltern oder Freunde hat noch nirgends ein Glück – das Glück einiger flüchtiger Minuten – gefunden, als auf einem unbekannten Felsen des Atlantischen Oceans!

Fußnoten

1 240 Mark.

19. Capitel

XIX.

Vom 6. bis 15. November. – Während der fünf ersten Tage nach der Strandung sind dem Kielraum des Chancellor stets dicke, beißende Dämpfe entströmt, dann haben sie sich nach und nach vermindert und am 6. November kann man die Feuersbrunst als erloschen ansehen. Aus Fürsorge aber läßt Robert Kurtis die Pumpen noch fortarbeiten, so daß der Schiffsrumpf jetzt bis zum Zwischendeck mit Wasser gefüllt ist. Nur zur Zeit der Ebbe sinkt das Wasser im Raum, und stellen sich die Oberflächen im Inneren und Aeußeren auf gleiches Niveau.

»Es beweist das, sagt Robert Kurtis zu mir, daß der Leck ein ziemlich beträchtlicher sein muß, da das Wasser mit solcher Schnelligkeit nachsinkt.«

Wirklich beträgt die Oberfläche der Oeffnung im Rumpfe nicht weniger als vier Quadratfuß. Einer der Matrosen, Flaypol, ist in's Meer getaucht und hat die Stelle und Ausdehnung der Havarie untersucht. Die Eintrittsöffnung des Wassers befindet sich etwa dreißig Fuß vom Steuer nach vorn zu; es sind drei Planken durch eine Felsenspitze eingedrückt, und zwar zwei Fuß über der Kielfuge. Der Anprall muß ein sehr starker gewesen sein denn [76] das Fahrzeug war schwer beladen und das Meer ging hoch. Fast möchte man bewundern, daß der Rumpf sich nicht an noch mehr Stellen geöffnet hat. Ob der Leck leicht zu stopfen sein wird, läßt sich erst dann beurtheilen, wenn die Ladung entweder entfernt oder doch weggeräumt ist, so daß der Zimmermann denselben erreichen kann. Zwei Tage dürfen indeß noch vergehen, um in den Raum des Chancellor eindringen zu können und diejenigen Baumwollenballen zu entfernen, welche das Feuer noch unversehrt gelassen hat.

Während dieser Zeit bleibt Robert Kurtis nicht müßig, und es werden, unter thatkräftiger Unterstützung der Mannschaft, sehr wichtige Arbeiten ausgeführt. So läßt der Kapitän den Besanmast, der beim Auffahren abgebrochen war, wieder herstellen, da es gelungen ist, denselben mit seinem ganzen Takelwerk anzuholen. Mittels starker Stützbalken am Hintertheile gelangt man dazu, ihn auf seinen früheren Stumpf wieder aufzusetzen, nachdem der Zimmermann diesen mit Zapfenlöchern versehen hat. Angelegte Wangen, welche durch eiserne Bänder und tüchtige Bolzen gehalten sind, sichern die Verbindung der beiden Bruchstücke.

Nachdem das geschehen, mustert man sorgfältig die Strickleitern und das Tauwerk, prüft die Stagen, wechselt einige Segel aus, ordnet die laufenden Seile, und so dürfen wir hoffen, mit aller Sicherheit segeln zu können.

Am Vorder- und Hintertheile des Schiffes giebt es viel Arbeit, denn das Oberdeck und die Mannschaftscajüte sind von den Flammen arg mitgenommen. Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, Alles wieder in Stand zu setzen, was natürlich einige Zeit und Mühe fordert. An Zeit fehlt es nicht, an Mühe spart man nicht, und bald können wir in unsere Cabinen zurückkehren.

Erst am 8. kann die Entladung des Chancellor mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden. Da die Baumwollenballen von dem Wasser, das bei der Fluth den ganzen Kielraum erfüllt, durchnäßt sind, bringt man über den Deckluken Krahnen an, und wir gehen der Mannschaft mit zur Hand, die schweren Ballen herauf zu winden, die sich zum größten Theile zerstört zeigen. Einer nach dem anderen wird auf die Jolle verladen und nach dem Riff geschafft.

Nach Löschung der obersten Schicht des Cargo wird es nothwendig, das Wasser aus dem Raume mindestens zum Theil auszupumpen. Das erfordert aber einen möglichst guten Verschluß des Leckes, welchen der Felsen [77] in den Rumpf gestoßen hat. Eine schwere Arbeit; doch der Matrose Flaypol und der Hochbootsmann unternehmen diese mit dem lobenswerthesten Eifer. Zur Zeit der Ebbe ist es ihnen geglückt, unter die Steuerbordseite zu tauchen, und eine Kupferplatte über die Oeffnung zu nageln; da dieses Blech aber dem Drucke von außen schwerlich Widerstand zu leisten im Stande sein kann, wenn sich in Folge des Pumpens das Niveau im Innern senkt, so versucht Robert Kurtis dasselbe durch Baumwollenballen, welche gegen die eingedrückten Planken gepreßt werden, zu unterstützen. Material ist ja genug vorhanden und bald ist der Grund des Chancellor wie gepolstert mit jenen schweren und undurchdringlichen Ballen, welche die Widerstandsfähigkeit des Kupferbleches erhöhen sollen.

Das Verfahren des Kapitäns hatte den gewünschten Erfolg. Man erkennt es deutlich, seitdem die Pumpen in Thätigkeit sind, denn das Wasserniveau im Raume sinkt immer mehr, und die Leute setzen die Entladung rüstig fort.

»Es wird nun wahrscheinlich, sagt Robert Kurtis zu uns, daß wir bis zu der Havarie hinunter gelangen und sie vom Inneren aus wieder ausbessern können. Freilich wäre es gerathener, das Schiff zu kielholen, doch fehlen mir dazu die Hilfsmittel gänzlich. Ich würde mich davon auch durch die Befürchtung abhalten lassen, daß schlechtes Wetter einträte, während das Schiff auf der Seite läge. Nichts destoweniger glaube ich Ihnen versichern zu können, daß der Zugang des Wassers auf geeignete Weise verschlossen werden wird, und daß wir in nicht zu ferner Zeit und unter Verhältnissen, welche eine genügende Sicherheit garantiren, nach der nächsten Küste absegeln können.«

Nach zweitägiger Arbeit war das Wasser zum größten Theile ausgepumpt, und die Entladung der letzten Ballen des Cargo ging ohne Schwierigkeit von statten. Auch wir haben bei den Pumpen jetzt mit Hand anlegen müssen, um die Mannschaft abzulösen, und haben das gewissenhaft gethan. Trotz seiner Schwäche hat sich auch André Letourneur uns angeschlossen, und Jeder erfüllt seine Pflicht nach besten Kräften.

Doch, das war eine anstrengende Arbeit; wir vermochten sie nicht lange fortzusetzen, ohne einmal auszuruhen. Die fortwährende auf- und abgehende Bewegung brach uns fast die Arme, und ich begreife recht wohl daß die Matrosen sich gern von ihr wegzustehlen suchen. Wir befinden uns dabei noch [78] unter günstigen Verhältnissen, da das Schiff auf festem Grunde liegt und unter unseren Füßen kein Abgrund gähnt. Wir vertheidigen jetzt nicht unser Leben gegen das anstürmende Meer und bekämpfen kein Wasser, welches ebenso wie es ausgeschöpft wird, immer wieder nachdringt! Gebe der Himmel, daß wir nie auf einem sinkenden Schiffe eine solche Prüfung auszuhalten haben.

20. Capitel

XX.

Vom 15. bis 20. November. – Heute endlich hat man den Schiffsraum eingehender untersuchen können; endlich ist das Colli mit dem Pikrat ganz hinten an einer Stelle aufgefunden worden, welche das Feuer glücklicher Weise nicht erreicht hat. Das Colli zeigt sich unversehrt, nicht einmal durch das Wasser hat sein Inhalt Schaden genommen, und man bringt es an einem sicheren Platze an der Spitze des Eilandes unter. Warum es nicht sofort ins Meer geworfen wurde? – Ich weiß es nicht, mit einem Worte: es ist nicht geschehen.

Robert Kurtis und Daoulas haben gelegentlich ihrer Untersuchung das Deck und seine Tragbalken minder zerstört gefunden, als man erwartete. Die intensive Hitze der sie ausgesetzt gewesen sind, hat sie zwar verzogen, ohne sie tief anzunagen, und scheint sich die Wirkung des Feuers mehr gegen die Seiten des Schiffrumpfes geäußert zu haben.

Wirklich sind die Weger 1 auf eine große Strecke hin von den Flammen verzehrt; da und dort ragen die Köpfe verkohlter Holzpflöcke hervor, und leider ist das ganze Rippenwerk sehr tiefgehend ergriffen worden. Das Werg an den Stoßverbindungen und in den Fugen muß bald verbrannt gewesen sein, und man darf es als reines Wunder betrachten, daß das Fahrzeug sich nicht schon längst geöffnet hat.

Man muß zugeben, daß das mißliche Umstände sind. Die Beschädigungen sind thatsächlich so ernster Natur, daß Robert Kurtis, wenn er sich jetzt auf einer Insel und nicht auf einem, jeden Augenblick dem Wogenschwalle [79] preisgegebenen Risse befände, gar nicht zögern würde, das ganze Schiff zu demoliren, und daraus ein kleineres, aber verläßlicheres zu erbauen.

Robert Kurtis ist sich jedoch über die Situation völlig klar; er läßt uns Alle, Mannschaften und Passagiere auf dem Deck des Chancellor zusammentreten.

»Meine Freunde, beginnt er, unsere Havarien erweisen sich weit bedeutender, als sie vorher angenommen wurden und ist der Rumpf des Schiffes ganz besonders schwer betroffen. Da uns einerseits jedes Mittel abgeht, jenen wieder zu repariren, und wir andererseits auf diesem Eilande, nur abhängig von der Gnade des Windes, keine Zeit haben, ein anderes Fahrzeug zu erbauen, so geht mein Vorschlag dahin: wir verstopfen den Leck so gut als nur möglich und suchen den nächsten Hafen zu erreichen. Wir sind nur achthundert Meilen von der Küste von Paramaribo, das den nördlichen Theil des holländischen Guyana bildet, entfernt und können dort bei einigermaßen günstigem Winde schon in zehn bis zwölf Tagen eine Zuflucht finden!«

Wirklich war ja nichts Anderes zu thun; so wurde denn Robert Kurtis' Vorschlag einstimmig gebilligt.

Daoulas und seine Gehilfen bemühen sich nun, den Leck auch von Innen her zu verschließen, und verstärken die angekohlten Rippenpaare auf's Beste. Trotz alledem leuchtet es ein, daß der Chancellor für eine längere Fahrt die nöthige Sicherheit nicht bietet und da er im ersten besten Hafen, den er anläuft, condemnirt werden wird.

Der Zimmermann kalfatert auch die äußeren Fugen der Verplankung, soweit diese während der Ebbe bloßgelegt wird; denjenigen Theil aber, der auch zu dieser Zeit unter Wasser bleibt, kann er nicht untersuchen und muß sich begnügen, denselben inwendig möglichst auszubessern.

Diese verschiedenen Arbeiten dauern bis zum 20. November; nun, nachdem man alles Mögliche gethan hat, das Schiff wieder in Stand zu setzen, beschließt Robert Kurtis, es wieder in tieferes Wasser zu bringen.

Es versteht sich von selbst, daß der Chancellor, seit der Entfernung der Frachtgüter und des Wassers aus dem Raume selbst, vor Eintritt der vollen Fluth sich schwimmend erhielt. Da man die Vorsicht gebraucht hatte, ihn an beiden Enden zu verankern, so wurde er nicht weiter auf die Klippe gehoben, sondern verblieb in dem kleinen natürlichen Bassin, das zur Rechten und zur Linken von Felsen begrenzt ist, die sich auch während des höchsten Standes [80] der Fluth nicht mit Wasser bedecken.


Die Matrosen holen Spitzhauen herbei. (S. 85.)

Das Bassin erweist sich auch geräumig genug, um das Schiff zu wenden, was mit Hilfe starker Taue leicht ausgeführt wird, so daß sein Vordertheil jetzt nach Süden zu gekehrt ist.

Es erscheint demnach gar nicht so schwierig, den Chancellor ganz frei zu machen, entweder durch Aufhissen der Segel, wenn der Wind dazu günstig wäre, oder durch Schleppen desselben durch die Einfahrtsöffnung bei conträrer [81] Luftströmung. Der Ausführung dieses Vorhabens stellen sich freilich Hindernisse anderer Art entgegen, die dabei zu überwinden sind.

Der Eingang der Durchfahrt ist nämlich durch eine quer vorliegende Basaltbarrière verschlossen, welche auch beim höchsten Stande der Fluth kaum so hoch mit Wasser überdeckt ist, als es der Tiefgang des Chancellor, trotz der möglichsten Entlastung desselben, erfordert. Wenn er vor seiner Strandung dennoch über diesen Felsengrat hinweg gekommen ist, so erklärt sich das, ich wiederhole es, dadurch, daß er von einer gewaltigen Welle emporgehoben und in das Bassin hinein geworfen wurde. Dazu kommt noch, daß an jenem Tage nicht die gewöhnliche beim Neumond eintretende, sondern die stärkste Hochfluth des Jahres war, und dauert es einige Monate, bis sich eine so hohe äquinoctiale Springfluth wiederholt.

Nun leuchtet es aber ein, daß Robert Kurtis nicht mehrere Monate lang warten kann. Heute ist Syzygien-Springfluth; er muß diese benutzen, um sein Schiff zu befreien; gelangt es erst bis über das Bassin hinaus, so soll es auf's Neue so weit belastet werden, um Segel tragen und Fahrt machen zu können.

Glücklicher Weise weht ein erwünschter Nordostwind in der Richtung der Durchfahrt. Der Kapitän ist aber mit Recht zu vorsichtig, mit vollen Segeln gegen ein Hinderniß anzufahren, das ihn doch vielleicht aufhalten könnte, noch dazu mit einem Fahrzeuge, dessen Haltbarkeit jetzt so fraglich geworden ist. Nach einer Berathung mit dem Lieutenant Walter und dem Hochbootsmann entscheidet er sich dahin, den Chancellor zu schleppen. In Folge dessen wird unter seinem Hintertheile ein Anker eingelegt, um für den Fall des Mißlingens der Operation das Schiff nach dem Ankerplatze zurückwinden zu können. Zwei weitere Anker werden außerhalb der kaum zweihundert Fuß langen Durchfahrt auf den Grund gelassen. Die Ketten derselben legt man an die Spille, die Mannschaften begaben sich an die Drehbalken derselben und um vier Uhr Nachmittags setzt sich der Chancellor in Bewegung.

Um vier Uhr dreiundvierzig Minuten muß die Fluth am höchsten sein. Schon zehn Minuten vorher ist das Schiff so weit angeholt, als es sein Tiefgang gestattet; bald aber streifte der vordere Theil des Kiels die Felskante und mußte es anhalten.

Jetzt, wo der Vorderstern schon über das Hinderniß hinweg ist, hat Robert Kurtis keine Ursache mehr, die Kraft des Windes nicht der mechanischen [82] Wirkung der Spille beizugesellen; man entfaltet also möglichst viele Segel und stellt sie rechtwinkelig gegen den Wind.

Jetzt gilt es! Die Fluth steht. Passagiere und Matrosen sind an den Balken der Spille. Robert Kurtis befindet sich auf dem Oberdeck zur Beobachtung der Segel, der Lieutenant auf dem Vordercastell, der Hochbootsmann am Steuer.

Der Chancellor erzittert von einigen Stößen, und ein wenig hebt ihn auch das zum Glücke ruhige Meer.

»Nun vorwärts, meine Freunde, ruft Robert Kurtis mit seiner ruhigen, Vertrauen erweckenden Stimme, jetzt mit vereinten Kräften – los!«

Die Balken der Spille werden in Bewegung gesetzt, daß das Holz ächzt, die angezogenen Ketten scharren und klirren in den Klüsen. Da erhebt sich etwas Wind und weil das Schiff ihm nicht nachgeben und sich fortbewegen kann, biegen sich die Masten unter seinem Drucke. Wir gewinnen gegen zwanzig Fuß. Ein Matrose stimmt eines jener monotonen Lieder an, deren Rhythmus die Gleichzeitigkeit der Bewegungen sichert. Wir verdoppeln unsere Anstrengungen der Chancellor erzittert ...

Vergeblich; das Meer sinkt schon wieder. Wir kommen nicht hindurch.

Auf der schmalen Felskante kann aber das Schiff unmöglich gelassen werden, da es bei voller Ebbe zerbrechen müßte. Auf Befehl des Kapitäns werden die Segel schleunigst wieder eingezogen und der hinter uns versenkte Anker soll nun in Anspruch genommen werden. Kein Augenblick ist jetzt zu verlieren. Man dreht rückwärts, es sind Augenblicke der entsetzlichsten Angst ... Doch, der Chancellor gleitet auf dem Kiele und gelangt in das Bassin, jetzt sein Gefängniß, zurück.

»Nun, Kapitän, fragt da der Hochbootsmann, wie werden wir durchkommen?

– Ich weiß es noch nicht, antwortet Robert Kurtis, aber wir müssen hindurch.«

[83]

Fußnoten

1 Eine Art Futterdielen.

21. Capitel

XXI.

Vom 21. bis 23. November. – In der That ist es nothwendig, dieses beschränkte Bassin, und zwar sobald als möglich, zu verlassen. Das Wetter, welches uns während des ganzen Monats November begünstigt hat, droht umzuschlagen. Seit gestern ist das Barometer gesunken und rings um den Ham-Rock geht die See höher. Das Eiland bietet den Windstößen zu wenig Widerstand; der Chancellor müßte hier ohne Zweifel zertrümmert werden.

Während der Ebbe am heutigen Abend haben wir, Robert Kurtis, Falsten, der Hochbootsmann, der Zimmermann und ich, uns nach der jetzt freiliegenden Basaltbarrière begeben. Ein Passiren derselben ist nur zu erzwingen, wenn die Felskante in einer Breite von etwa zehn und einer Länge von sechs Fuß mit der Spitzhaue bearbeitet wird. Eine Tieferlegung von acht bis neun Zoll muß für den Chancellor schon das nöthige Wasser schaffen, und wenn man diesem kleinen Canale mit der nöthigen Vorsicht folgt, kann der Chancellor ihn, ohne Schaden zu nehmen, durchfahren und dicht außerhalb desselben in tiefes Fahrwasser gelangen.

»Dieser Basalt ist aber so hart wie Granit, bemerkt der Hochbootsmann, und das wird um so mehr eine lange Zeit beanspruchende Arbeit werden, als sie nur während der Tiefebbe, d.h. während zwei Stunden von vierundzwanzigen, vorgenommen werden kann.

– Ein Grund mehr, Hochbootsmann, um keine Secunde zu verlieren, erwidert ihm Robert Kurtis.

– Ei, Kapitän, sagt Daoulas, einen Monat über werden wir damit zu thun haben! Ging' es denn gar nicht an, die Felsen zu sprengen? Pulver ist ja an Bord.

– Zu dem Zwecke zu wenig!« erklärt der Hochbootsmann.

Die Situation wird sehr ernst. Einen Monat lang Arbeit! Vor Verlauf eines Monats wird aber das Schiff durch die Wellen zerstört sein.

»Wir haben ja etwas Vorzüglicheres, als Pulver, sagt da Falsten.

– Und was? fragt Robert Kurtis mit einer Wendung nach dem Ingenieur.

[84] – Das Natron-Pikrat!« antwortet der Ingenieur

Das Natron-Pikrat, wahrhaftig! Das von dem unglücklichen Ruby herein gepaschte Colli. Die explosive Substanz, welche nahe daran gewesen ist, das Schiff zu zersplittern, soll nun dazu dienen, unser Fahrthinderniß zu beseitigen!

Ein Sprengloch in den Basalt, und die Felskante existirt nicht mehr!

Das Pikratcolli ist, wie gesagt, auf dem Riff an sicherer Stelle niedergelegt worden. Es darf als ein Glück betrachtet werden, daß man jenes nach seiner Entfernung aus dem Raume nicht in's Meer geworfen hat.

Die Matrosen holen Spitzhauen herbei, und Daoulas beginnt unter Leitung Falsten's einen Minengang in derjenigen Richtung, welche den umfassendsten Effect zu erzielen verspricht, auszuarbeiten. Alles berechtigt zu der Hoffnung, daß derselbe während der Nacht vollendet werden wird und daß morgen mit Tagesanbruch nach stattgehabter erfolgreicher Explosion die Durchfahrt frei gelegt sein werde.

Bekanntlich ist die Pikrinsäure ein krystallinischer Körper von bitterem Geschmacke, den man aus Steinkohlentheer gewinnt, und welcher mit Natron eine gelbgefärbte Verbindung, eben jenes Natron-Pikrat, bildet. Die explosive Gewalt dieser Substanz erreicht zwar die der Schießbaumwolle noch nicht, übertrifft indessen die des gewöhnlichen Pulvers um ein Bedeutendes. Seine Entzündung erfolgt schon durch einen heftigen, kurzen Stoß, wir werden sie aber auch durch Zündpillen leicht ermöglichen können.

Daoulas hat zwar, so gut wie seine Leute, tüchtig gearbeitet, bei Tagesanbruch ist das Sprengloch aber noch weit von seiner Vollendung entfernt. Wirklich kann an demselben nur zur Zeit der tiefsten Ebbe, d.h. immer nur eine Stunde lang gearbeitet werden. Bier Gezeiten werden vorübergehen müssen, jenem die gewünschte Tiefe zu geben.

Erst am Morgen des 23. ist die mühsame Arbeit vollbracht. Die Basaltmauer ist mit einem schräg nach unten verlaufenden Sprengloche versehen, hinreichend für gut zehn Pfund des explosiven Salzes, und diese Mine soll sofort geladen werden.

Gerade vor dem Einbringen des Pikrats in das Loch bemerkt Falsten:

»Wir sollten unser Sprengmittel mit gewöhnlichem Pulver vermischen, das erlaubt uns, die Mine durch eine Lunte in Brand zu setzen, was jedenfalls geeigneter erscheint, als die Explosion einer Zündpille durch einen Schlag [85] zu veranlassen. Uebrigens hat man sich überzeugt, daß die gleichzeitige Anwendung von Pulver und Pikrat bei harten Felsarten bessere Resultate erzielt. Das seiner Natur nach sehr plötzlich wirkende Pikrat arbeitet dabei, wie es scheint, dem Pulver vor, welches, sich langsamer entzündend, den Basalt dann vollends zur Seite wirst.«

Sehr oft spricht der Ingenieur Falsten nicht, aber wenn er es thut, sind es Worte von Gehalt. Sein Rath wird befolgt. Man vermengt die beiden Substanzen und bringt nach vorhergegangener Einführung einer Lunte die Mischung in das Sprengloch, das sorgfältig verschlossen wird.

Der Chancellor liegt weit genug von der Mine entfernt, so daß für ihn von der Explosion Nichts zu fürchten ist; doch haben sich Passagiere und Mannschaften aus Vorsicht bis nach den entfernteren Theilen des Riffs und in die Grotte zurückgezogen, und auch Mr. Kear hat sich bequemen müssen, trotz seiner Einwendungen, das Schiff zu verlassen.

Falsten entzündet die Lunte, welche eine Brenndauer von zehn Minuten haben muß, und gesellt sich dann zu uns.

Die Explosion erfolgt. Sie ist dumpf und weniger laut gewesen, als man erwartet hätte, doch soll das bei allen tief angelegten Minen der Fall sein.

Wir eilen hinzu ... Die Operation ist vollkommen geglückt. Die Basaltwand ist buchstäblich zerstäubt, und jetzt durchsetzt ein kleiner Canal, den die Fluth eben anzufüllen beginnt, das Hinderniß und gewährt uns einen unbehinderten Durchgang.

Ein allgemeines Hurrah! Die Kerkerthür ist offen, wir brauchen nur zu entfliehen!

Nach eingetretenem Hochwasser wird der Chancellor mittels seiner Anker angeholt, passirt den Canal und schwimmt im freien Wasser!

Noch einen Tag lang müssen wir uns jedoch bei dem Eilande aufhalten, denn in seinen jetzigen Verhältnissen vermag das Schiff nicht zu segeln und muß erst noch Ballast einnehmen, um seine Stabilität zu sichern. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden beschäftigt sich die Mannschaft also mit der Einladung von Steinen und derjenigen Baumwollenballen, welche am wenigsten Havarie erlitten haben.

Heute unternehmen die Mr. Letourneur, Miß Herbey und ich noch einen letzten Spaziergang durch die Felsen des Riffs, welches wir nie [86] wiedersehen sollen und auf oder neben dem wir drei Wochen verlebten. Der Name des Chancellor, der des Riffs selbst, das Datum der Strandung werden von André in eine Wand der Grotte kunstgerecht eingemeißelt, und wir rufen ein letztes Lebewohl dem dürren Felsen zu, auf dem wir manche Tage und Zwei von uns vielleicht bis dahin die glücklichsten ihres Lebens verbrachten!

Endlich am 24. November schmückt sich der Chancellor zur Zeit der Morgenfluth mit seinen unteren Segeln, und zwei Stunden später verschwindet die letzte Spitze des Ham-Rock unter dem Horizonte.

22. Capitel

XXII.

Vom 24. November bis 1. December. – Nun schwimmen wir also auf dem Meere, und das auf einem Fahrzeuge, dessen Festigkeit nur sehr zweifelhaft ist; doch haben wir ja zum Glück keine allzu weite Fahrt vor uns. Es handelt sich nur um 800 Meilen, und wenn der Nordostwind nur einige Tage anhält, so wird der Chancellor, der vom Wind im Rücken nicht so arg angegriffen wird, die Küste von Guyana mit Sicherheit erreichen.

Beim Cours nach Südwesten nimmt das Leben an Bord nun wieder seinen gewohnten Lauf.

Die ersten Tage vergehen ohne weitere Zufälle. Die Richtung des Windes bleibt immer günstig, doch vermeidet Robert Kurtis zu viel Segel beisetzen zu lassen, da er eine Wiedereröffnung des Lecks fürchtet, wenn das Schiff zu schnell fährt.

Eine traurige Fahrt, wenn man zu dem Schiffe, das einen trägt, kein Zutrauen haben kann. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und an Bord entwickelt sich nicht jene lebhafte Mittheilungslust, wie bei einer raschen und sicheren Seefahrt.

Während des 29. geht der Wind um ein Viertel nach Norden zurück. Die Segelstellung muß geändert und die Steuerbordhalfen müssen beigesetzt werden. In Folge dessen neigt sich das Schiff stark nach der Seite.


Die Explosion erfolgt. (S. 86.)

Robert Kurtis zieht die Bramstengen ein, denn er bemerkt wohl, wie stark die Seitenneigung den Chancellor belästigt. Er thut recht daran, denn es handelt sich weniger darum, eine schnelle Ueberfahrt auszuführen, als ohne neuen Unfall einen Hafen zu errei [87] chen.


»Ich rathe Ihnen, mich nicht anzurühren«, sagt Owen. ( S, 93.)

Die Nacht vom 29. zum 30. ist dunkel und dunstig. Die Brise frischt immer mehr auf und unglücklicher Weise droht der Wind nach Nordwesten umzuschlagen. Die meisten Passagiere halten sich in ihren Cabinen auf, Kapitän [88] Kurtis verläßt dagegen das Oberdeck niemals, und die ganze Mannschaft verbleibt auf dem Verdecke.

Noch immer neigt sich das Schiff ganz bedeutend, trotzdem es gar kein Obersegel mehr trägt.

Gegen zwei Uhr Morgens will auch ich mich in meine Koje zurückziehen, als einer der Matrosen, der im Kielraum gewesen war, eiligst daraus hervorkommt und ausruft:

[89] »Zwei Fuß Wasser!«

Robert Kurtis und der Bootsmann eilen die Leiter hinab und finden die traurige Neuigkeit nur allzuwahr. Ob sich der Leck trotz aller Vorsichtsmaßregeln wieder geöffnet hat, oder ob einige schlecht kalfaterte Fugen auseinander gewichen sind, läßt sich noch nicht sagen, jedenfalls dringt das Wasser wieder in den Kielraum ein.

Der Kapitän kommt auf das Verdeck zurück, läßt das Schiff wieder vor den Wind legen, damit es weniger umher geworfen wird, und so erwartet man den Tag.

Beim Sondiren am Morgen findet man drei Fuß Wasser ...

Ich sehe Robert Kurtis an. Eine leichte Blässe fliegt über sein Angesicht, doch bewahrt er seine Kaltblütigkeit. Die Passagiere, von denen einige auf das Verdeck gekommen sind, werden von dem Vorfall unterrichtet, den zu verheimlichen doch schwierig gewesen wäre!

»Ein neues Unglück, sagt Mr. Letourneur zu mir.

– Das war vorauszusehen, habe ich geantwortet, indessen können wir nicht weit vom Lande entfernt sein, und hoffe ich, daß wir es erreichen.

– Gott möge Sie erhören! erwiderte Mr. Letourneur.

– Ist denn Gott an Bord? fragt Falsten mit Achselzucken.

– Er ist gegenwärtig, mein Herr«, fällt da Miß Herbey ein.

Der Ingenieur schweigt bei diesen Worten, dem Ausfluß eines frommen Glaubens, über den nicht zu streiten ist.

Inzwischen ist auf Anordnung Robert Kurtis' der Dienst an den Pumpen organisirt worden. Mit mehr Resignation als Eifer geht die Mannschaft an die Arbeit; aber es geht um den Kopf, und die in zwei Rotten getheilte Mannschaft löst sich an den Pumpenstangen ab.

Im Laufe des Tages wiederholt der Hochbootsmann die Sondirungen, und man erkennt, daß das Meer langsam, aber unablässig in den Schiffsraum eindringt.

Zum Unglück kommen die Pumpen häufig in Unordnung; sie verstopfen sich entweder durch Asche oder Baumwollenbällchen, welche sich noch im unteren Theile des Kielraumes befinden. Bei der nothwendig werdenden Reinigung verlieren wir natürlich eine gewisse Zeit und die Erfolge unserer Mühe.

[90] Am folgenden Morgen ergiebt eine neue Untersuchung fünf Fuß Wasser im Raume. Wenn das Herausschaffen desselben aus irgend einem Grunde ausgesetzt werden müßte, so würde das Schiff also sinken. Ueberhaupt kann das ja nur eine Frage der Zeit, und zwar einer sehr kurzen Zeit sein. Schon ist die Schwimmlinie des Chancellor um einen Fuß gesunken und sein Stampfen wird stärker, da er sich nur schwerfällig mit den Wellen hebt. Den Kapitän Kurtis sehe ich auch die Augenbrauen runzeln, sobald ihm der Lieutenant oder der Hochbootsmann eine Meldung machen. Das ist kein gutes Vorzeichen!

Die Arbeit an den Pumpen ist den ganzen Tag und die Nacht über fortgesetzt worden. Dennoch nimmt das Wasser zu. Die Mannschaft ist erschöpft; unter den Leuten werden Anzeichen von Entmuthigung bemerkbar. Inzwischen gehen der Lieutenant und der Hochbootsmann mit ihrem Beispiel voran, und die Passagiere nehmen an den Pumpenhebeln Platz.

Jetzt ist die Lage freilich nicht dieselbe, wie zur Zeit, als der Chancellor auf dem festen Grunde des Ham-Rock aufsaß; unser Fahrzeug schwebt über einem Abgrunde, in den es jeden Augenblick versinken kann.

23. Capitel

XXIII.

Am 2. und 3. December. – Noch vierundzwanzig Stunden lang kämpfen wir mit aller Macht und verhindern ein Steigen des Wasserniveaus im Innern des Raumes, doch es liegt auf der Hand, daß die Zeit kommen wird, wo die Pumpen nicht mehr hinreichen werden, dieselbe Menge Wasser auszuwerfen, welche durch den Leck im Rumpfe eindringt.

Im Verlaufe dieses Tages geht Robert Kurtis, der sich keinen Augenblick der Ruhe gönnt, selbst an eine Untersuchung des Kielraumes, bei der der Zimmermann und der Hochbootsmann ihn begleiten; auch ich schließe mich Jenen an. Wir schaffen einige Baumwollenballen zur Seite und hören bei einiger Aufmerksamkeit ein Rauschen von Wasser, oder um es richtiger zu bezeichnen, ein »Gluck! Gluck!« Robert Kurtis will auf jeden Fall versuchen, [91] den Schiffsrumpf am Hintertheil durch Einhüllung desselben mit getheerten Segeln trocken zu legen. Vielleicht gelingt es, dadurch wenigstens vor der Hand jede Communication mit dem Meere zu unterbrechen. Wenn das Nachströmen des Wassers nur momentan aufzuhalten ist, wird man erfolgreicher pumpen und das Schiff wahrscheinlich wieder heben können.

Die Ausführung dieser Absicht ist umständlicher, als man glauben sollte. Zunächst muß die Schnelligkeit des Fahrzeugs gemäßigt werden, und nachdem die großen Segel, welche die Jölltaue halten, bis nach dem Kiel hinuntergeglitten sind, leitet man sie bis zu der Stelle des früheren Lecks und versucht den ganzen Theil des Chancellor vollkommen einzuhüllen.

Von jetzt ab wirken die Pumpen etwas bemerkbarer, und wir gehen mit neuem Muthe an die Arbeit. Dennoch hat Kapitän Kurtis die größtmögliche Menge Segel beibehalten lassen, denn er weiß zu gut, daß der Rumpf des Chancellor nicht lange aushalten kann und er große Eile hat, irgend ein Land zu erreichen. Wenn ein anderes Schiff in Sehweite vorüber käme, würde er nicht zögern, Nothsignale zu geben, seine Passagiere, selbst die Mannschaften auszuschiffen und allein an Bord zurückzubleiben bis zum Versinken des Chancellor unter seinen Füßen.

Alle unsere Hilfsmittel sollten aber vergeblich sein!

In der Nacht hat die Segelhülle dem Drucke von Außen nachgegeben, und am Morgen des 3. December meldet der Hochbootsmann mit einigen kräftigen Flüchen:

»Wieder sechs Fuß Wasser im Raum!«

Die Thatsache ist nur zu richtig! Das Schiff füllt sich auf's Neue an, es sinkt merklich tiefer, und schon taucht seine Schwimmlinie weit unter das Wasser. Indessen arbeiten wir an den Pumpen mit mehr Anstrengung als je, und setzen unsere letzten Kräfte daran. Unsere Arme sind halb gebrochen, unsere Hände bluten, und trotz allen Quälens läuft uns das Wasser den Rang ab.

Robert Kurtis läßt nun noch an der großen Luke eine Kette bilden, und schnell fliegen die Eimer von Hand zu Hand.

Alles ist vergebens! Um acht ein halb Uhr Morgens ergiebt die Messung einen noch weiteren Zuwachs des Wassers im Raume. Schon bemächtigt sich die Verzweiflung einiger der Matrosen. Robert Kurtis treibt sie an, weiter zu arbeiten. Sie verweigern es.

[92] Unter den Leuten ist Einer von sehr widerspenstigem Sinne, ein Anführer, von dem ich schon gesprochen habe, der Matrose Owen. Er mag vierzig Jahre alt sein. Sein Gesicht endet mit einem röthlichen Spitzbarte am Kinne, während die Wangen haarlos sind; seine Mundwinkel verlaufen nach unten, und seine fahlen Augen zeichnen sich durch einen rothen Punkt an der Verbindungsstelle mit den Lidern aus. Er hat eine scharfe Nase, weit abstehende Ohren und seine Stirn ist durch häßliche Falten tief gefurcht.

Dieser verläßt zuerst seinen Posten.

Fünf oder sechs Kameraden folgen seinem Beispiele; unter ihnen bemerke ich den Koch Jynxtrop; ebenfalls ein verdächtiges Subject.

Auf den Befehl Robert Kurtis', an die Pumpen zurückzukehren, antwortet Owen mit einem trotzigen Nein.

Der Kapitän wiederholt seinen Befehl.

Owen bleibt bei seiner Weigerung.

Robert Kurtis nähert sich dem aufsässigen Matrosen.

»Ich rathe Ihnen, mich nicht anzurühren«, sagt Owen in kaltem Tone und steigt nach dem Vordercastell hinaus.

Robert Kurtis begiebt sich nach dem Oberdeck, geht in seine Cabine und kehrt mit einem geladenen Revolver in der Hand daraus zurück.

Einen Moment sieht Owen Robert Kurtis an, doch Jynxtrop macht ihm ein Zeichen, und Alle nehmen ihre Arbeit wieder auf.

24. Capitel

XXIV.

Am 4. December. – Der erste Versuch einer Empörung ist durch das energische Auftreten Robert Kurtis' vereitelt worden. Wird der Kapitän in Zukunft ebenso glücklich sein? Man muß es hoffen, denn eine undisciplinirte Mannschaft müßte die ohnehin ernste Situation ganz unerträglich machen.

Auch während der Nacht dürfen die Pumpen nicht feiern. Die Bewegungen des Schiffes sind schwerfällig; da es sich kaum mit den Wellen erhebt, [93] so überfluthen es auch häufig Sturzseen, deren Wasser durch die geöffneten Luken eindringt und das schon im Raume vorhandene vermehrt.

Unsere Lage wird nun bald ebenso bedrohlich, wie in den letzten Tagen der Feuersbrunst. Passagiere, Mannschaften, Alle merken es, daß das Fahrzeug ihnen unter den Füßen schwindet, und sehen langsam, aber ununterbrochen das Wasser in demselben wachsen, das ihnen jetzt eben so furchtbar erscheint, wie früher die Flammen.

Dennoch arbeitet die Mannschaft unausgesetzt unter den Drohungen Robert Kurtis', und wohl oder übel kämpfen die Matrosen zwar mit aller Energie, doch fangen die Kräfte ihnen an zu schwinden. Ausschöpfen können sie dieses Wasser, das sich unablässig erneuert und dessen Niveau von Stunde zu Stunde wächst, doch nicht mehr. Die, welche die Eimer handhaben, sind gezwungen, den Raum zu verlassen, wo sie, schon bis an den Leib im Wasser stehend, zu ertrinken befürchten müssen. Nun giebt es nur noch einen Ausweg, zu dem man sich am nächsten Tage, dem 4., nach einer Berathung zwischen dem Lieutenant, dem Hochbootsmann und Robert Kurtis entschließt, nämlich den, das Schiff zu verlassen. Da die Jolle, das einzige uns verbliebene Boot, nicht Alle zu fassen vermag, so soll sofort ein Floß gezimmert werden, die Mannschaft indessen an den Pumpen thätig bleiben bis zu dem Augenblick des Befehls zur Einschiffung.

Der Zimmermann Daoulas wird in Kenntniß gesetzt, und man kommt dahin überein, das Floß aus den Reserveraaen und dem entbehrlichen Mastwerk, das vorher in Stücke von gewünschter Länge zerschnitten werden soll, zu erbauen. Das verhältnißmäßig ruhige Meer erleichtert dieses selbst unter den günstigsten Umständen ziemlich schwierige Werk.

Ohne Zeitverlust gehen Robert Kurtis, der Ingenieur Falsten, der Zimmermann und zehn Matrosen mit Sägen und Aexten daran, die Ragen zu zerschneiden, bevor sie in's Meer geworfen werden. So hat man diese nur noch haltbar zu verbinden und eine Unterlage herzustellen, auf welche die Plateform des Flosses zu liegen kommen soll, die man in einer Länge von vierzig und einer Breite von fünfundzwanzig Fuß projectirt hat.

Wir anderen Passagiere und der Rest der Mannschaft bleiben fortwährend an den Pumpen beschäftigt. Neben mir müht sich André Letourneur nach Kräften ab, den sein Vater fortwährend mit zärtlicher Erregung ansieht. Was soll aus seinem Sohne werden, wenn er gegen die Wellen ankämpfen [94] muß, unter Umständen, aus denen sich kaum ein gesunder und kräftiger Mensch zu retten vermag? Jedenfalls werden wir Zwei sein, die ihn nicht verlassen.

Der Mrs. Kear hat man die drohende Gefahr verhehlt, da eine anhaltende Ohnmacht ihr fast jedes Bewußtsein raubt.

Mehrmals ist Miß Herbey auf dem Verdeck erschienen, doch nur während einiger Augenblicke. Zwar haben die Strapazen sie blässer gemacht, doch immer ist sie stark und muthig. Ich empfehle ihr, sich auf Alles gefaßt zu machen.

»Ich bin immer bereit, mein Herr Doctor«, antwortet mir Miß Herbey, und kehrt sofort zu Mrs. Kear zurück.

André Letourneur's Blicke folgen dem jungen Mädchen, und sein Gesicht überfliegt ein Schatten von Traurigkeit.

Gegen acht Uhr Abends ist das Untergestell des Flosses nahezu vollendet. Man ist jetzt dabei, leere, luftdicht verspundete Fässer hinabzuschaffen, welche die Schwimmkraft des Apparates erhöhen sollen, und die man sorgfältig zwischen den Stämmen anbringt.

Zwei Stunden später erschallt ein lautes Geschrei auf dem Oberdeck, und Mr. Kear kommt mit dem Ausrufe herauf:

»Wir sinken! Wir sinken!«

Sogleich erblicke ich auch Miß Herbey, wie sie die bewußtlose Mrs. Kear herausschleppt.

Robert Kurtis eilt nach seiner Cabine, aus der er eine Karte, einen Sextanten und eine Bussole geholt hat.

Unter lautem Verzweiflungsgeschrei herrscht die größte Verwirrung an Bord, und die Mannschaft stürzt nach dem Flosse, dessen Gestell ohne Ueberbau sie ja doch noch nicht aufzunehmen vermag.

Es ist mir unmöglich, weder die Gedanken zu schildern, die jetzt durch mein Gehirn jagen, noch das schnelle Vorüberziehen der Bilder aus meinem ganzen Leben zu malen! Meine ganze Existenz scheint sich in diesen letzten Augenblick, der sie abschließen soll, zusammen zu drängen! Ich fühle, wie sich die Planken unter meinen Füßen beugen, und sehe das Wasser rings um das Schiff aufsteigen, so als ob der Ocean sich unter ihm aushöhlte.

Einige Matrosen flüchten sich auf die Strickleitern und stoßen verzweifelte Flüche aus. Ich versuche ihnen zu folgen [95] Eine Hand hält mich zurück, und ich sehe Mr. Letourneur, der auf seinen Sohn hinweist, während ihm große Thränen aus den Augen perlen.

»Ja wohl, sage ich und drücke ihm krampfhaft die Hand, wir Zwei, wir werden ihn retten!«

Noch bevor ich aber bis zu ihm gelange, hat Robert Kurtis schon André Letourneur umfaßt und trägt ihn nach dem Mastkorbe des großen Mastes, während der Chancellor, den der Wind bislang noch ziemlich schnell forttreibt, plötzlich still hält. Es folgt eine heftige Erschütterung des Fahrzeuges.

Das Schiff sinkt! Das Wasser erreicht schon meine Beine. Instinctiv erfasse ich ein Seil ... aber plötzlich steht das Schiff wieder, und bleibt der Chancellor, nachdem das Verdeck etwa zwei Fuß unter das Wasser versunken ist, unbeweglich!

25. Capitel

XXV.

Die Nacht vom 4. zum 5. December. – Robert Kurtis hat den jungen Letourneur aufgehoben, eilt mit ihm über das überschwemmte Verdeck und setzt ihn auf die Strickleiter am Steuerbord. Sein Vater und ich, wir klettern zu ihm hin.

Dann blicke ich um mich. Die Nacht ist hell genug, um erkennen zu können, was ringsum vorgeht. Robert Kurtis ist auf seinen Posten zurückgekehrt und steht auf dem Oberdeck. Ganz rückwärts, nahe dem noch nicht überflutheten Hackbord, gewahre ich Mr. Kear, seine Frau, Miß Herbey und Falsten; auf der äußersten Spitze des Vordercastells den Lieutenant und den Bootsmann, in den Mastkörben und auf den Strickleitern den Nest der Mannschaft.

André Letourneur ist nach dem Mastkorbe des Großmastes geklettert, mit Hilfe seines Vaters, der ihm den Fuß Stufe für Stufe heben mußte, und trotz des Rollens ist er ohne Unfall hinausgekommen. Mrs. Kear Vernunft beizubringen, ist freilich unmöglich gewesen; sie verbleibt auf dem Oberdeck und läuft Gefahr, von den Wellen weggespült zu werden, wenn der Wind [96] noch mehr auffrischt. Auch Miß Herbey hält bei ihr aus, da sie jene nicht verlassen will.

Robert Kurtis erste Sorge nach dem Aufhören des Sinkens war es alle Segel abnehmen und alle Stengen und die Obermaste herabsenken zu lassen. Hierdurch hofft er das Kentern des Chancellor zu verhindern. Kann er aber nicht jeden Augenblick ganz untergehen? Ich begebe mich zu Robert Kurtis und richte diese Frage an denselben.


Das Schiff sinkt! (S. 96.)

[97] »Das kann ich nicht wissen, erwidert er mir mit dem ruhigsten Tone, denn das hängt ganz von dem Zustande des Meeres ab. Gewiß ist für jetzt nur, daß das Schiff sich im Gleichgewicht befindet; leider können sich diese Verhältnisse aber in jeder Minute verschlimmern.

– Kann der Chancellor noch, mit zwei Fuß Wasser über dem Deck, segeln?

– Nein, Mr. Kazallon, wohl aber kann er unter dem Einflusse des Windes und der Strömung abweichen, und wenn er sich einige Tage so hält, doch irgend einen Küstenpunkt anlaufen. Uebrigens haben wir als letzte Zuflucht das Floß, das in wenig Stunden fertig sein muß, und auf welchem wir uns, sobald der Tag anbricht, dann einschiffen können.

– Sie haben also noch immer nicht alle Hoffnung aufgegeben? fragte ich Robert Kurtis sehr erstaunt.

– Die Hoffnung darf nie zu Schanden werden, Mr. Kazallon, selbst unter den allerschlimmsten Verhältnissen nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß, wenn unter hundert Chancen neunundneunzig gegen uns sind, doch die hundertste uns gehört. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, so befindet sich der halbversunkene Chancellor genau in derselben Lage, wie im Jahre 1795 der Dreimaster Juno. Länger als zwanzig Tage hat dieses Schiff halb im Wasser sich schwebend erhalten. Passagiere und Mannschaften waren in die Takelage geflüchtet, und als man endlich an's Land trieb, wurden Alle, die nicht den Strapazen und dem Hunger erlegen waren, glücklich gerettet. Es ist das ein in den Annalen der Seefahrten zu bekanntes Factum, als daß es mir gerade jetzt nicht wieder in den Sinn kommen sollte. Nun, Mr. Kazallon, es liegt kein Grund vor, daß die Ueberlebenden des Chancellor nicht eben so viel Glück haben sollten, als die der Juno.«

Man konnte Robert Kurtis wohl so Manches dagegen einhalten, aus dem Gespräch geht aber doch hervor, daß unser Kapitän noch nicht jede Hoffnung verloren habe.

Da sich die Bedingungen des Gleichgewichts jeden Augenblick ändern können, werden wir doch den Chancellor früher oder später verlassen müssen. Auch bleibt es dabei, daß morgen, sobald der Zimmermann mit dem Flosse fertig ist, dasselbe bestiegen werden soll.

Nun stelle man sich die dumpfe Verzweiflung der Mannschaft vor, als Daoulas gegen Mitternacht die Bemerkung macht, daß das Gestell des Flosses [98] verschwunden ist. Die Leinen, trotzdem man darauf gesehen hatte nur haltbare zu verwenden, waren bei dem Auf- und Abschwanken des Fahrzeuges gerissen, und etwa seit einer Stunde trieb der Unterbau des Rettungsstoffes in der weiten See.

Als die Matrosen dieses neue Unglück vernahmen, ließen sie manchen Verzweiflungsschrei erschallen

»In's Meer! In's Meer! Die Masten kappen!« riefen sie halb von Sinnen.

Sie wollen die Taue zerschneiden und die Untermasten in's Wasser stürzen, um sofort ein neues Floß daraus herzurichten.

Aber Robert Kurtis mischt sich ein.

»Auf Euern Posten, Jungens! ruft er. Daß kein Faden ohne meinen Befehl zerschnitten wird! Der Chancellor ist im Gleichgewicht! Der Chancellor geht noch nicht unter!«

Bei der entschiedenen Stimme ihres Kapitäns gewinnt die Mannschaft wieder einige Besinnung, und trotz der bösen Absicht Einiger unter ihnen begiebt sich Jeder wieder auf den ihm angewiesenen Platz.

Sobald der Tag graut, steigt Robert Kurtis so weit als möglich in die Höhe, und sein Blick durchschweift forschend den Umkreis um das Schiff.

Unnützes Suchen! Das Floß ist längst außer Seeweite! Soll man die Jolle bemannen und dasselbe aufzusuchen ausfahren? Auch das ist unmöglich, denn die See geht so hohl, daß das kleine Fahrzeug ihr nicht zu widerstehen vermag. Man muß sich demnach zur Construction eines neuen Flosses entschließen und ohne Zaudern an die Arbeit gehen.

Inzwischen sind die Wellen immer stärker geworden. Mrs. Kear hat sich endlich entschlossen, den Platz auf dem Oberdeck zu verlassen, auf dem sie übrigens in einem Zustande vollständiger Willenlosigkeit lag. Mr. Kear hat sich mit Silas Huntly im Mastkorbe des Besanmastes eingerichtet. Neben Mrs. Kear und Miß Herbey befinden sich die Herren Letourneur, Alle auf der in ihrem größten Durchmesser höchstens zwölf Fuß messenden Plateform enge an einander gedrückt. Von einer Strickleiter zur anderen hat man Seile angebracht, an die sich die Insassen bei dem Schwanken des Schiffes festhalten können. Robert Kurtis hat auch noch ein Dach zum Schutze der beiden Frauen über dem Mastkorbe anbringen lassen.

[99] Einige Fässer, welche nach dem Sinken zwischen den Masten schwimmen hat man rechtzeitig aufgefischt, und an den Stagen sicher befestigt. Es sind das Behälter mit Conserven und Zwieback, so wie einige Fässer Trinkwasser – unser ganzer Vorrath an Lebensmitteln!

26. Capitel

XXVI.

Am 5. December. – Der Tag ist warm. Unter dem sechszehnten Breitengrade ist der December kein Herbst-, sondern ein vollkommener Sommermonat. Wenn der Luftzug nicht die Gluth der Sonne mildert, dürften uns noch grausame Leiden durch dieselbe bevorstehen.

Die See geht noch immer sehr hohl. Der zu drei Viertheilen versunkene Schiffsrumpf wird wie eine Klippe von den Wellen gepeitscht. Der Schaum spritzt bis zu den Mastkörben hinauf und unsere Kleidungsstücke werden wie von einem seinen Regen durchnäßt.

Ueber der Meeresoberfläche befinden sich von dem Chancellor noch folgende Theile: die drei Masten mit den Mastkörben, das Bugspriet, an dem man jetzt die Jolle aufgehangen hat, um sie vor dem Anprall der Wogen zu sichern, ferner das Oberdeck und das Vordercastell, beide nur durch den schmalen Rahmen der Schanzkleidung verbunden. Das Verdeck dagegen befindet sich vollständig unter Wasser.

Die Communication zwischen den Mastkörben ist sehr beschwerlich; die Matrosen, welche an den Stagen hinklettern, können sich allein von dem einen zu dem anderen hin begeben. Unter ihnen, zwischen den Masten vom Hackbord bis zum Vordercastell schäumt das Meer, wie über einem Risse, und löst nach und nach die Wände des Schiffes ab, deren Planken man zu erhaschen sucht. Für die auf die engen Plateformen geflüchteten Passagiere gewährt es ein erschütterndes Schauspiel, unter ihren Füßen den Ocean zu sehen und zu hören. Die aus dem Wasser emporragenden Maste erzittern bei jedem Wellenschlage, und man möchte glauben daß sie weggerissen werden müßten.

[100] Besser ist es, die Augen zu schließen, und gar nicht nachzudenken, denn dieser Abgrund übt eine eigene Anziehungskraft aus, und man fühlt die Versuchung, sich hinein zu stürzen!

Inzwischen ist die gesammte Mannschaft unablässig mit der Herstellung eines zweiten Flosses beschäftigt. Dabei finden die Obermasten, die Marsraaen und Bramstengen Verwendung und widmet man unter Robert Kurtis Leitung dieser Arbeit alle mögliche Sorgfalt. Der Chancellor scheint wirklich nicht weiter zu sinken; wie der Kapitän es vorausgesagt, wird er voraussichtlich im Wasser sich eine Zeit lang schwebend erhalten. Robert Kurtis achtet also darauf, daß das Floß so solid als möglich gebaut wird.

Die Ueberfahrt wird bei der noch immer beträchtlichen Entfernung der nächsten Küste, der von Guyana nämlich, lange Zeit in Anspruch nehmen. Es empfiehlt sich also, lieber einen Tag länger in den Mastkörben auszuharren, und sich die nöthige Zeit zur Erbauung eines schwimmenden Gerüstes zu nehmen, auf welches man sich einigermaßen verlassen kann.

Die Matrosen selbst haben sich wieder mehr beruhigt, und jetzt geht die Arbeit ungestört von statten.

Ein alter, etwa sechzigjähriger Seemann allein, dem Bart und Haar im Seewinde gebleicht sind, ist nicht der Ansicht, den Chancellor zu verlassen. Es ist ein Ire, mit Namen O'Ready.

Als ich mich eben auf dem Oberdeck befand, gesellte er sich zu mir.

»Mein Herr, beginnt er, und schiebt mit bewundernswerther Gleichgiltigkeit sein Priemchen im Munde hin und her, meine Kameraden haben die Absicht, das Schiff zu verlassen. Ich nicht. Ich habe schon neunmal Schiffbruch gelitten – viermal auf offener See, fünfmal an der Küste. Es ist mein eigentliches Geschäft, zu scheitern. Ich kenne das aus dem Grunde. Nun, Gott soll mich verdammen, wenn ich nicht immer die Hasenherzen habe elend umkommen sehen, die sich auf Flößen oder Booten zu retten suchten! So lange ein Kasten schwimmt, soll man darauf bleiben. Lassen Sie sich das gesagt sein!«

Nach diesen sehr bestimmt gesprochenen Worten, welche die alte irländische Wasserratte zur Beruhigung seines eigenen Gewissens von sich zu geben schien, versank der Mann wieder in ein vollkommenes Schweigen.

An demselben Tage bemerke ich auch, gegen drei Uhr Nachmittags, Mr. Kear und den Ex-Kapitän Silas Huntly im Mastkorbe des Besanmastes [101] in eifrigem Gespräche. Der Petroleumhändler scheint dem Anderen heftig zuzusetzen, und dieser einem Vorschlage des genannten Mr. Kear gewisse Einwürfe entgegen zu halten. Lange Zeit betrachtet Silas Huntly wiederholt das Meer und den Himmel, und schüttelt mit dem Kopfe. Endlich, nach einer Unterhaltung von einer Stunde, gleitet er an den Besanstagen bis zur Spitze des Vordercastells, mischt sich unter die Matrosen, und ich verliere ihn aus den Augen.

Uebrigens erscheint mir dieser Vorfall ohne Bedeutung, und ich steige wieder nach dem Großmast hinauf, wo die Herren Letourneur, Miß Herbey, Falsten und ich noch einige Stunden im Gespräche verbringen. Die Sonne brennt gewaltig, und ohne das Segel, welches uns als Zeltdach dient, wäre es hier wohl kaum auszuhalten.

Um fünf Uhr nehmen wir gemeinsam einen Imbiß ein, der aus Schiffszwieback, gedörrtem Fleisch und einem halben Glase Wasser per Mann besteht. Mrs. Kear, welche in heftigem Fieber darnieder liegt, genießt nichts, Mrs. Herbey vermag ihr nur dadurch einige Erquickung zu verschaffen, daß sie die brennen den Lippen der Kranken von Zeit zu Zeit benetzt. Die unglückliche Frau leidet schwer; ich bezweifle, daß sie diesen Zustand lange aushalten wird.

Ihr Mann hat sich auch nicht einmal nach ihr erkundigt. Gegen drei Viertel auf sechs Uhr aber scheint es mir doch, daß das Herz dieses Egoisten zu klopfen beginnt. Mr. Kear ruft nach einigen Matrosen vom Vorderdeck und bittet sie, ihm zum Verlassen des Besanmastes behilflich zu sein. Will er sich nun vielleicht zu seiner Frau nach dem Großmast begeben?

Die Matrosen beachten den Ruf Mr. Kear's nicht sofort. Dieser wiederholt seine Bitten dringender und verspricht Denen eine gute Belohnung, die ihm diesen Dienst leisten würden.

Jetzt begeben sich zwei Matrosen, Burke und Sandon, über die Schanzkleidung hin nach dem Besanmast und steigen nach dem Mastkorbe.

Mit Mr. Kear feilschen sie lange um die Bedingungen für ihre Bemühung. Offenbar verlangen sie viel, und der Erdölbaron will nur wenig geben. Schon schicken sich die Seeleute wieder an, den Passagier an seinem Platze zurück zu lassen. Endlich wird man einig und zieht Mr. Kear ein Päckchen Papierdollars hervor, das er dem einen Matrosen einhändigt. Dieser[102] zählt die Summe sorgfältig durch, und scheint es mir, daß er wenigstens hundert Dollars in der Hand hat.

Es handelt sich nämlich, wie ich gewahr werde, darum, Mr. Kear längs der Besanstagen nach dem Vordercastell zu befördern. Burke und Sandon umwickeln Jenen mit einem Tau, das sie um die Stagen schlingen; dann lassen sie ihn unter Nachhilfe einiger Rippenstöße wie ein Colli vor sich hergleiten, was nicht ohne ein spöttisches Gelächter ihrer Kameraden abgeht.

Aber ich hatte mich getäuscht. Mr. Kear fiel es gar nicht ein, seine Frau im Mastkorbe aufsuchen zu wollen. Er bleibt auf dem Vordercastell in Gesellschaft Silas Huntly's und die eintretende Dunkelheit wehrt mir, etwas Weiteres zu erkennen.

Die Nacht bricht an; der Wind hat sich gelegt, aber die See geht hohl. Der Mond, schon seit vier Uhr Nachmittags am Horizonte, wird nur dann und wann zwischen Wolkenstreifen sichtbar. Die niedrigeren derselben färben sich am Horizonte mit röthlichem Tone, was für morgen eine steife Brise erwarten läßt. Gott gebe, daß sie aus Nordosten weht und uns nach dem Lande zu treibt, denn jede andere Windrichtung wäre für uns verderblich, wenn wir erst auf dem Flosse eingeschifft sind, das nur mit dem Wind im Rücken einige Fahrt machen kann!

Robert Kurtis ist gegen acht Uhr nach unserem Mastkorbe gekommen. Ich bin der Meinung, daß ihm der Anblick des Himmels Sorge verursacht und er im Voraus beobachten will, was für Witterung morgen sein werde. Eine Viertelstunde lang beobachtet er; dann drückt er mir, vor dem Herabsteigen, ohne ein Wort zu sagen, die Hand und nimmt seinen Platz auf dem Oberdeck wieder ein.


Ein alter, etwa sechzigjähriger Seemann allein, ... (S. 101.)

Ich versuche auf dem beengten Raume des Mastkorbes zu schlafen, kann aber nicht dazu gelangen. Böse Ahnungen beunruhigen mich. Die Atmosphäre kommt mir »gar zu ruhig« vor. Kaum streicht von Zeit zu Zeit ein Lüftchen durch das Takelwerk und läßt die Metallfäden in demselben ertönen.


Ich glaube einen dunklen Punkt wahrzunehmen. (S. 104.)

Indessen, das Meer »fühlt« etwas, denn es bleibt in hochgehender Bewegung und unterliegt offenbar der Rückwirkung eines entfernten Sturmes.

Gegen elf Uhr Nachts leuchtet einmal der Mond mit hellem Scheine in dem Zwischenraume zweier Wolken, und das Wasser erglänzt, als würde es von unten her erhellt.

[103] Ich erhebe mich und blicke hinaus. Sonderbar! Ich glaube einige Augenblicke einen dunklen Punkt wahrzunehmen, der sich mitten in der intensiven Weiße der Wellen hebt und senkt. Ein Felsen kann das nicht sein, da er die Bewegungen der See mitmacht, und wahrscheinlich hat mich eine Illusion getäuscht.

Dann verschleiert sich der Mond von Neuem, und wird es tief dunkel so daß ich mich nahe der Backbordstrickleiter wieder niederlege.

[104]

27. Capitel

XXVII.

Am 6. December. – Ich habe einige Stunden schlafen können. Um vier Uhr Morgens erweckt mich das Pfeifen des Windes, und ich vernehme Robert Kurtis' Stimme, welche noch das Brausen der Windstöße, unter denen die Masten erzittern, hörbar durchdringt.

[105] Ich erhebe mich, packe die um unseren lustigen Aufenthalt gezogenen Leinen und versuche mir darüber klar zu werden, was unter mir und um mich herum vorgeht.

Mitten durch die Dunkelheit grollt das Meer unter meinen Augen, und zwischen den Masten schäumen die jetzt mehr bleichen als weißen Wellen auf. Zwei schwarze Schatten ganz am Hintertheile heben sich von der helleren Farbe des Wassers ab. Diese Schatten sind der Kapitän Kurtis und der Hochbootsmann.

Ihre bei dem Klatschen der Wellen und dem Pfeifen der Brise nur wenig verständlichen Stimmen dringen nur wie ein zerrissenes Seufzen zu meinem lauschenden Ohre. Was geht wohl vor?

Da kommt ein Matrose, der in die Takelage gestiegen war, um ein Tau zu befestigen, an mir vorüber.

»Was ist geschehen? frage ich ihn.

– Der Wind ist umgesprungen ...«

Noch einige Worte fügt der Matrose hinzu, die ich nicht genau verstehen kann. Indessen glaubte ich die Worte »gerade umgekehrt« zu hören.

Gerade umgekehrt! Dann müßte der Wind aber von Nordosten nach Südwesten umgeschlagen sein, und er müßte uns jetzt in die offene See hinaustreiben! Meine Ahnungen trügten mich also nicht!

Nach und nach wird es heller. Der Wind hat sich zwar nicht vollkommen verkehrt, aber – ein ebenso verderblicher Umstand für uns, – er bläst aus Nordwesten und entfernt uns von dem Lande. Jetzt stehen nun fünf Fuß Wasser über dem Deck und die Linie der Schanzkleidung ist vollkommen verschwunden. Das Schiff sank in der Nacht noch tiefer ein, auch Vordercastell und Oberdeck befinden sich jetzt in gleichem Niveau mit dem Wasser, das ununterbrochen darüber hinströmt. Unter dem Winde arbeiteten Robert Kurtis und seine Leute an der Herstellung des Flosses, doch machen sie bei der bewegten See nur langsame Fortschritte, und erforderte es die aufmerksamste Fürsorge, die Balken des Unterbaues sich nicht verschieben zu lassen, bevor sie unverrückbar fest verbunden wurden.

Die Herren Letourneur stehen an meiner Seite; der Vater umschlingt mit den Armen den Sohn, den er bei dem heftigen Rollen des Schiffes zu halten sucht.

[106] »Dieser Mastkorb wird brechen!« ruft Mr. Letourneur, der in der beschränkten Plateform, die uns trägt, ein Krachen vernommen hat.

Miß Herbey erhebt sich bei diesen Worten und zeigt auf die neben ihr liegende Mrs. Kear.

»Was sollen wir thun, meine Herren? fragt sie.

– Wir müssen bleiben, wo wir sind, habe ich ihr geantwortet.

– Hier ist noch unsere sicherste Zuflucht, Miß Herbey, fügt André Letourneur hinzu. Fürchten Sie nichts, Miß ...

– O für mich fürchte ich auch nicht, erwidert das junge Mädchen mit ruhiger Stimme, aber für Diejenigen, welche Ursache haben, an ihrem Leben zu hängen!«

– Um acht ein viertel Uhr ruft der Bootsmann seinen Leuten zu:

»He! Ihr da auf dem Castell!

– Was wollen Sie, Meister, antwortet einer der Matrosen, ich glaube O'Ready.

– Habt ihr die Jolle dort?

– Nein, Meister.

– Nun, dann ist sie also weggeschwemmt worden.«

In der That hängt die Jolle nicht mehr am Bugspriet, fast gleichzeitig gewahrt man aber auch das Verschwundensein Mr. Kear's, Silas Huntly's und dreier Leute von der Mannschaft, eines Schotten und zweier Engländer. Jetzt wird mir der Gegenstand der gestrigen Unterhaltung zwischen Kear und dem Ex- Kapitän klar. In der Befürchtung, daß der Chancellor noch vor Fertigstellung des Flosses untergehen könne, sind sie überein gekommen, zu entfliehen, und haben drei Matrosen durch Geld bestochen, sich des kleinen Bootes zu bemächtigen. Auch über den schwarzen Punkt, den ich verwichene Nacht vorübergehend sah, geht mir nun ein Licht auf. Der Elende hat seine Frau im Stiche gelassen! Der unwürdige Kapitän sein Schiff! Sie haben uns die Jolle gestohlen, das einzige noch übrig gebliebene Boot.

»Fünf Gerettete! sagt der Bootsmann.

– Fünf Verlorene!« antwortet der alte Irländer.

Wirklich giebt der Zustand des Meeres O'Ready's Worten am meisten recht.

Wir sind nur noch Zweiundzwanzig an Bord. Wie weit wird sich diese Zahl noch vermindern?

[107] Bei dem Bekanntwerden jener feigen Flucht und des diebischen Schurkenstreichs macht sich die Stimmung der Mannschaft in einem Schwall von Flüchen über die Entflohenen Luft, und wenn der Zufall sie an Bord zurückführen sollte, würden sie ihren Verrath schwer zu büßen haben!

Ich halte es für gerathen, der Mrs. Kear die Flucht ihres Mannes zu verheimlichen. Die bedauernswerthe Frau wird vom Fieber furchtbar geschüttelt, gegen das wir völlig ohnmächtig dastehen, weil das Schiff so schnell gesunken ist, daß auch die Arzneikiste nicht zu retten war. Und wenn wir auch Arzneimittel gehabt hätten, welchen Erfolg hätten sie bei dem Zustande, in dem sich Mrs. Kear thatsächlich befand, wohl noch erzielen können?

28. Capitel

XXVIII.

Fortsetzung des 6. December. – Der Chancellor wird jetzt im Wasser nicht mehr ganz im Gleichgewicht gehalten, und er droht allmälig unterzugehen.

Glücklicher Weise soll das Floß noch diesen Abend fertig werden, und man wird sich auf demselben einrichten können, wenn Robert Kurtis es nicht vorzieht, damit bis zum Anbruch des Tages zu warten. Der Unterbau ist sehr fest ausgeführt. Die Balken desselben sind mit starken Tauen verbunden, und da sie kreuzweise übereinander liegen, so erhebt sich das Ganze etwa um zwei Fuß über das Wasser.

Die Plateform ist aus Planken der Schanzkleidung hergestellt, welche die Wellen abgerissen haben und die man geschickt verwendet hat. Schon im Laufe des Nachmittags beginnt man, es mit Allem, was an Lebensmitteln, Segelwerk, Instrumenten und Werkzeugen gerettet worden ist, zu beladen. Eile thut noth, denn der Mastkorb des Mittelmastes ragt nur noch zehn Fuß über das Meer empor, und vom Bugspriet ist nur die äußerste schief aufsteigende Spitze noch sichtbar. Ich würde mich sehr wundern, wenn der morgende Tag nicht der letzte des Chancellor wäre!

[108] Und in welchem moralischen Zustande befinden wir uns nun? Ich suche mir klar zu werden über mein eigenes Innere, und es scheint mir, daß ich mehr zu einer unbewußten Theilnahmlosigkeit hinneige, als zu dem Gefühl der Ergebung. Mr. Letourneur lebt ganz in seinem Sohne, der seinerseits wieder nur an den Vater denkt. André zeigt übrigens eine muthige, würdige, christliche Resignation, die ich nicht besser als mit derjenigen Miß Herbeys zu vergleichen vermag. Falsten ist stets der Alte, und, Gott verzeihe mir, der Ingenieur rechnet noch immer in seinem Notizbuche! Mrs. Kear geht trotz der Sorgfalt des jungen Mädchens und der meinigen der Auflösung mehr und mehr entgegen.

Von den Matrosen sind zwei oder drei ganz ruhig, die andern aber nahe daran, den Kopf zu verlieren, einige scheint ihr rohes Naturell zu Excessen zu verführen. Die Leute, welche dem verderblichen Einflusse Owens und Jynxtrop's unterliegen, werden schwer im Zaume zu halten sein, wenn wir mit ihnen auf dem beschränkten Flosse zusammen leben müssen!

Der Lieutenant Walter ist ganz entkräftet; trotz seines Muthes hat er darauf verzichten müssen, länger Dienst zu thun. Robert Kurtis und der Bootsmann sind energische, unerschütterliche Männer, welche die Natur »in ihrem besten Feuer geschmiedet hat«.

Gegen fünf Uhr Abends hat eine unserer Unglücksgefährtinnen aufgehört zu leiden. Mrs. Kear ist nach schmerzlichem Todeskampfe, doch wahrscheinlich ohne Bewußtsein unserer Lage, verschieden. Sie stieß nur einige Seufzer aus, und Alles war vorüber. Bis zum letzten Augenblicke hat Miß Herbey mit einer uns Alle tief ergreifenden Ergebenheit der Herrin alle ihre Sorgfalt gewidmet!

Die Nacht verging ohne allen weiteren Zufall. Am Morgen, beim ersten Tagesgrauen, habe ich die Hand der Todten ergriffen, welche schon ganz erkaltet und starr war. Den Körper konnten wir nicht länger im Mastkorbe behalten. Miß Herbey und ich, wir wickeln sie in ihre Kleider, sprechen ein stilles Gebet für die Seele der unglücklichen Frau und – das erste Opfer so vielen Elends stürzt in die Fluthen.

Da ruft Einer der Leute, die sich in den Strickleitern befinden, uns die entsetzlichen Worte zu:

»Da, um diese Leiche wird es uns noch leid thun!«

[109] Ich drehe mich um. Owen war es, der also sprach.

Dann beschleicht mich aber der Gedanke, daß die Lebensmittel uns wirklich mit der Zeit ausgehen könnten!

29. Capitel

XXIX.

Am 7. December. – Das Schiff sinkt weiter; das Meer ist nun bis zu den Spinnenköpfen des Besanmastes gestiegen. Oberdeck und Vordercastell sind vollständig überfluthet; die Spitze des Bugspriets ist verschwunden, und nur die drei Masten erheben sich noch über den Ocean.

Doch das Floß liegt bereit und ist mit Allem beladen, was zu retten war. Am Vordertheile desselben ist eine Oeffnung ausgespart, welche einen Mast aufnehmen soll, den Strickleitern von den Seiten der Plateform halten werden. Das große Topsegel ist für denselben bestimmt und treibt uns vielleicht nach der Küste.

Wer weiß, ob dieser gebrechliche Bretterhaufen, der nicht wohl untersinken kann, nicht zu Stande bringen wird, was dem Chancellor nicht gelingen sollte? Die Hoffnung wurzelt doch so fest im Menschenherzen, daß ich sie auch jetzt noch sich in mir regen fühle!

Es ist sieben Uhr Morgens, und wir sind eben im Begriff, uns einzuschiffen, als das Schiff plötzlich so schnell versinkt, daß der Zimmermann und die auf dem Flosse beschäftigten Leute gezwungen sind, die Taue zu kappen um nicht mit in den Wirbel hinabgezogen zu werden.

Unser bemächtigt sich eine unbeschreibliche Angst, denn in dem Augenblick, da das Schiff in den Abgrund versinkt, treibt unsere einzige rettende Planke mit der Strömung fort.

Zwei Seeleute und ein Schiffsjunge verlieren den Kopf, stürzen sich in das Meer, aber sie kämpfen vergebens gegen den Seegang. Es liegt auf der Hand, daß sie das Floß nicht erreichen, noch an Bord zurückgelangen werden, denn Wind und Wellen haben sie gegen sich. Robert Kurtis schlingt sich einen Strick um den Leib und versucht ihnen zu Hilfe zu eilen. Vergeblich! Noch [110] bevor er sie erreicht hat, sehe ich die drei Unglücklichen, welche mit aller Macht sich zu halten suchen, langsam verschwinden, nachdem sie vergeblich die Arme nach uns ausgestreckt haben.

Man zieht Robert Kurtis wieder heran, der selbst bei dem wildbewegten Wasser nicht ohne Verletzung an Bord gelangt.

Inzwischen mühen sich Daoulas und seine Leute mittels Balken, die sie als Ruder gebrauchen, ab, dem Schiffe wieder nahe zu kommen, doch erst nach einer Stunde – eine Stunde, die uns eine Ewigkeit scheint und während der das Wasser bis zu den Mastkörben steigt, – gelingt es, das Floß, welches sich auf zwei Kabellängen 1 von uns entfernt hatte, neben den Chancellor zu legen. Der Bootsmann wirst Daoulas eine Leine zu, und das Floß wird noch einmal an die Mastseile des Großmastes angebunden.

Jetzt ist kein Augenblick zu verlieren, denn ein furchtbarer Wirbel entsteht rings um den gesunkenen Schiffsrumpf, aus dem starke Luftblasen in großer Menge aufsteigen.

»Einschiffen! Einschiffen!« rief Robert Kurtis.

Wir stürzen auf das Floß. André Letourneur beobachtet erst, daß auch Miß Herbey auf dasselbe gelangt, und erreicht dann selbst glücklich die Plateform, wohin sein Vater ihm unmittelbar folgt. In kürzester Zeit sind wir Alle eingeschifft, – Alle, bis auf den Kapitän Robert Kurtis und den alten Matrosen O'Ready.

Robert Kurtis steht noch auf dem Mastkorbe des Großmastes und will sein Schiff nicht eher verlassen, als bis es in den Abgrund versinkt; das ist seine Pflicht und sein Recht. Man fühlt es mit, daß ihm fast das Herz bricht, da er den Chancellor, den er liebt und befehligt, aufzugeben gezwungen ist!

Der Ire ist im Mastkorbe des Besanmastes geblieben.

»Schiffe Dich ein, Alter! ruft ihm der Kapitän zu.

– Geht das Schiff schon unter? fragt der Starrkopf mit der größten Gleichgiltigkeit.

– Es sinkt geraden Wegs hinab.

[111] – Er schifft sich schon ein«, antwortet O'Ready, als ihm das Wasser bis an den Gürtel gestiegen ist.


»Da, um diese Leiche wird es Uns noch leid thun!«(S. 109.)

Kopfschüttelnd begiebt er sich nach dem Flosse.

Noch einen Augenblick verweilt Robert Kurtis auf dem Mastkorbe, wirst einen Blick ringsum und verläßt als der Letzte sein Fahrzeug.

Es ist die höchste Zeit. Die Taue werden gekappt, und langsam treibt das Floß ab.


Vergeblich! Die drei Unglücklichen verschwinden langsam. (S. 111.)

Unser Aller Augen sind nach der Stelle gerichtet, an der das Schiff untergeht. Erst verschwindet die Spitze des Besanmastes, dann die des Großmastes und nun ist – Nichts mehr sichtbar von dem schönen Schiffe, das vorher der Chancellor hieß.

[112][114]

Fußnoten

1 Ungefähr 400 Meter.

30. Capitel

XXX.

Fortsetzung vom 7. December. – Jetzt trägt uns also ein anderer schwimmender Apparat; versinken kann er zwar nicht, denn die Balken, aus denen er besteht, müssen unter allen Verhältnissen auf der Oberfläche bleiben. Doch wird ihn das Meer nicht zertrümmern?

Wird es nicht die Taue zerreißen, die ihn verbinden?

Von achtundzwanzig Personen, die der Chancellor bei seiner Abfahrt von Charleston trug, sind schon zehn umgekommen.

Wir sind noch achtzehn, – achtzehn auf einem Flosse, das auf vierzig Fuß Länge eine Breite von etwa zwanzig Fuß bietet.

Hier folgen die Namen der Ueberlebenden: Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, Miß Herbey und ich, als Passagiere; Kapitän Kurtis, Lieutenant Walter, der Hochbootsmann, der Steward Hobbart, der Koch Jynxtrop, der Zimmermann Daoulas; – endlich die sieben Matrosen Austin, Owen, Wilson, O'Ready, Burke, Sandon und Flaypol.

Hat uns der Himmel in den zweiundsiebenzig Tagen seit unserer Abfahrt von der amerikanischen Küste nun hinreichend geprüft, und seine Hand schwer genug auf uns gelegen? Auch der Vertrauensvollste würde das nicht zu hoffen wagen.

Doch, lassen wir die Zukunft, denken nur an die Gegenwart, und fahren wir fort, die Scenen dieses Dramas in der Reihenfolge, wie sie sich entwickeln, zu registriren.

Die Passagiere des Flosses sind bekannt. Welches sind aber ihre Hilfsmittel?

Robert Kurtis hat nichts Anderes einschiffen lassen können, als was von den schon aus der Cambuse entnommenen Provisionen übrig war, deren größter Theil damals, als das Verdeck des Chancellor überfluthet wurde, verdorben ist. Nur wenig verbleibt uns, wenn man bedenkt, daß achtzehn Personen zu ernähren sind, und wie lange es dauern kann, bis uns ein Schiff begegnet oder wir Land in Sicht bekommen. Ein Faß Schiffszwieback, [114] ein Faß getrocknetes Fleisch, ein kleines Tönnchen Branntwein, zwei Behälter mit Wasser, das ist Alles, was zusammengerafft werden konnte, so daß wir uns vom ersten Tage an mit zugemessenen Rationen begnügen müssen.

An Kleidungsstücken zum Wechseln besitzen wir ganz und gar nichts. Einige Segel dienen uns als Decken und Schutzdächer. Die Werkzeuge des Zimmermanns Daoulas, der Sextant, die Bussole, eine Karte, unsere Taschenmesser, ein metallener Siedekessel und eine Weißblechtasse, welche den alten Irländer O'Ready noch niemals verlassen hat, das sind die Instrumente und Geräthe, die noch übrig sind, denn alle die auf dem Verdeck schon niedergelegten und für das erste Floß bestimmten Kästen sind schon bei dem theilweisen Versinken des Schiffes verloren gegangen, und seit dieser Zeit hat Niemand mehr in den Kielraum dringen können. So ist also unsere Lage. Sie ist schwierig, doch nicht verzweifelt. Leider liegt die Befürchtung nahe, daß mehr als Einem mit der physischen Kraft auch die Seelenstärke schwinden wird, und es befinden sich Einige unter uns, welche nur schwer im Zaume zu halten sein werden.

31. Capitel

XXXI.

Fortsetzung vom 7. December. – Der erste Tag hat sich durch kein besonderes Ereigniß ausgezeichnet.

Heute hat der Kapitän Robert Kurtis uns Alle, Passagiere und Matrosen, versammelt.

»Meine Freunde, sprach er uns an, achten Sie wohl auf meine Worte. Ich commandire auf diesem Flosse ebenso wie an Bord des Chancellor, und ich rechne ohne Ausnahme auf unbedingten Gehorsam. Denken wir nur an das allgemeine Wohl, seien wir einig und möge der Himmel uns gnädig sein!«

Alle nahmen diese Worte mit Befriedigung auf.

Die schwache Brise, welche jetzt weht und deren Richtung der Kapitän mittels des Compasses bestimmt, nimmt etwas zu und bläst mehr aus Norden. Diesen günstigen Umstand darf man sich nicht entgehen lassen, um sich der [115] Küste Amerikas so weit als möglich zu nähern. Sofort geht der Zimmermann Daoulas daran, den Mast in der Oeffnung des Vordertheils aufzurichten, den er durch zwei Spieren sorgsam stützt. Währenddem befestigen der Hochbootsmann und die Matrosen das kleine Topsegel an der Stenge, welche zu diesem Zwecke aufbewahrt worden ist.

Um neuneinhalb Uhr wird der Mast aufgerichtet, dem zwei von den Seiten der Plateform aufsteigende Strickleitern noch mehr Stabilität verleihen. Das Segel wird gehißt und unser Floß bewegt sich mit dem Winde im Rücken merkbar fort.

Nach Beendigung dieser Arbeit versucht der Zimmermann auch ein Steuerruder herzustellen, um mit dessen Hilfe das Floß in der gewünschten Richtung zu erhalten. Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten gehen ihm dabei mit Rath und That zur Hand, und nach zwei Stunden Arbeit ist an dem Hintertheile eine Art Bootsriemen angebracht, ähnlich denen, wie sie an den malayischen Dschonken gebräuchlich sind.

Inzwischen hat Kapitän Robert Kurtis die nothwendige Beobachtung zur Bestimmung der geographischen Länge unternommen, und zu Mittag gelingt es ihm, die Sonnenhöhe mit großer Genauigkeit zu messen.

Der Punkt unserer Lage ist nach seiner Beobachtung:

15°7' nördlicher Breite, 49°35' westlicher Länge von Greenwich.

Durch Eintragung auf die Courskarte ergiebt es sich, daß wir uns gegen 650 Meilen nordöstlich von Paramaibo, d.h. dem nächsten Theile des amerikanischen Continents, der, wie erwähnt, zum Gebiete von Holländisch-Guyana gehört, befinden.

Wenn wir nur mittelmäßiges Glück haben, dürfen wir doch nicht, selbst bei constanter Hilfe der Passatwinde, darauf rechnen, mehr als zehn bis zwölf Meilen täglich zurückzulegen, da ein so unvollkommener Apparat, wie ein Floß, den Wind nicht vortheilhaft auszunutzen vermag. Darnach hätten wir auf eine Fahrt von zwei Monaten zu rechnen, selbst unter den günstigsten Umständen, abgesehen von dem wenig wahrscheinlichen Falle der Begegnung eines Schiffes. Der Atlantische Ocean ist aber gerade in diesem Theile weit weniger besucht als weiter nördlich oder südlich. Wir sind zum Unglück zwischen die Schiffswege nach den Antillen und die nach Brasilien mitten hinein geworfen worden, welche die transatlantischen englischen oder französischen Steamer einhalten, und es ist besser, wir verlassen uns nicht auf den Zufall einer [116] Begegnung. Wenn wir noch überdies in die Regionen der Calmen kämen oder der umschlagende Wind uns nach Osten treiben sollte, so werden aus den zwei Monaten vier, ja sechs werden, und vor Ablauf des dritten dürften unsere Lebensmittel wohl schon zur Neige gehen!

Die Klugheit erfordert also, daß wir nur das dringend nothwendige Quantum verzehren. Kapitän Kurtis hat uns das Alles vorgestellt, und wir haben die Lebensvorschriften strengstens festgesetzt. Für Alle ohne Unterschied werden die Rationen so bemessen, daß Hunger und Durst wenigstens halb gestillt wer den. Die Leitung des Flosses erfordert keinen großen Aufwand physischer Kräfte, und uns kann wohl eine schmälere Kost genügen. Der Branntwein, von dem das Fäßchen nur fünf Gallonen (etwa 23 Liter) enthält, soll nur mit größter Sparsamkeit vertheilt werden, und Niemand ohne ausdrückliche Erlaubniß des Kapitäns das Recht haben, ihn anzurühren.

Das Leben an Bord ist in folgender Weise geregelt: fünf Unzen Fleisch und fünf Unzen Schiffszwieback täglich für den Mann! Das ist zwar wenig, doch kann die Ration nicht verstärkt werden, denn fünfzehn Magen verzehren bei diesen Verhältnissen des Consums fünf Pfund täglich, oder in vier Monaten 600 Pfund. Alles in Allem besitzen wir aber nur 600 Pfund Fleisch und Zwieback. Man muß also bei diesem Maße stehen bleiben. Die vorräthige Menge Wasser kann etwa auf 130 Gallonen (d.s. gegen 600 Liter) geschätzt werden, und man ist dahin übereingekommen, Jedem täglich eine Pinte (d.i. 56 Centiliter) zu verabreichen, wobei wir auch drei Monate ausreichen werden.

Jeden Morgen um 10 Uhr findet durch den Bootsmann die Vertheilung der Lebensmittel statt. Jeder empfängt dann die ihm auf den Tag zukommende Ration die er verzehren kann, wann es ihm beliebt. Das Wasser, für welches es uns an geeigneten Gefäßen fehlt, um es zu schöpfen, soll zweimal des Tages, Morgens um zehn Uhr und Abends um sechs Uhr, ausgetheilt werden, und muß es Jeder sofort trinken.

Es ist nicht zu vergessen, daß es noch zwei Möglichkeiten giebt, die unsere Portionen vermehren könnten: den Regen, der uns Wasser liefern würde, und den Fischfang, der uns mit Fischen versorgen könnte. Zum Fangen des Regens werden zwei leere Behälter aufgestellt, und nach der anderen Seite beeilen sich die Matrosen, geeignete Angelgeräthschaften herzustellen.

[117] Das sind die Maßregeln, welche wir verabredet haben und strengstens einzuhalten überein gekommen sind. Nur dadurch dürfen wir hoffen, einer Hungersnoth vorzubeugen. Wir kennen Alle genug Beispiele, welche uns die peinlichste Vorsicht gerathen erscheinen lassen, und wenn wir wirklich den Becher des Unglücks bis zum letzten Tropfen leeren sollen, so wird es uns beruhigen, gethan zu haben, was in unseren Kräften stand.

32. Capitel

XXXII.

Vom 8. bis 17. December. – Der Abend ist herangekommen, wir haben uns unter die Segelstücke verkrochen, und da ich von dem Aufenthalt im Mastkorbe furchtbar ermüdet war, habe ich einige Stunden schlafen können. Das verhältnißmäßig gering belastete Floß hebt und senkt sich leicht, und da das Meer nicht schäumt, bleiben wir auch von den Wellen verschont. Zum Unglück kann aber der Seegang nur dadurch schwächer werden, daß der Wind sich ermäßigt, und gegen Morgen bin ich in der Lage, in mein Journal eintragen zu müssen: Ruhig Wetter.

Bis zum Anbruch des Tages hat sich nichts Neues ereignet. Auch die Herren Letourneur haben einen Theil der Nacht geschlafen, und noch einmal haben wir uns die Hand gedrückt. Miß Herbey hat ebenfalls geschlummert, und ihre jetzt weniger angegriffenen Züge haben ihre gewohnte Ruhe wieder angenommen.

Wir befinden uns unterhalb des fünfzehnten Breitengrades. Die Hitze am Tage ist sehr stark und die Sonne glänzt ungewöhnlich hell. Ein heißer Dunst schwebt in der Atmosphäre. Da der Wind nur stoßweise auftritt, so hängt das Segel während der Ruhepausen, die immer länger werden, schlaff am Maste. Robert Kurtis und der Bootsmann wollen aus gewissen nur den Seeleuten verständlichen Zeichen erkennen, daß eine Strömung von zwei bis drei Meilen in der Stunde uns nach Westen zu weiter trägt. Das wäre ein sehr günstiger Umstand, der unsere Ueberfahrt merklich abkürzen könnte. Möchten der Kapitän und der Hochbootsmann sich nicht getäuscht haben, denn bei der hohen Lufttemperatur dieser Tage will die Wasserration kaum hinreichen, nur unsern quälendsten Durst zu löschen. [118] Und doch, seitdem wir den Chancellor oder vielmehr die Mastkörbe des Schiffes verlassen und uns auf dem Flosse eingeschifft haben hat sich unsere Lage wesentlich verbessert, denn der Chancellor konnte jede Minute untergehen, und die Plateform, welche uns trägt, ist wenigstens fest und solid. Alle, ich wiederhole es, erkennen auch die jetzige günstige Lage unverhohlen an. Man lebt fast ganz nach seinem Vergnügen und kann hin und her gehen. Am Tage tritt man wohl zusammen, plaudert, bespricht dieses und jenes, oder betrachtet das Meer. In der Nacht schläft man unter der Segeldecke. Die Beobachtung des Himmels, die nöthige Aufmerksamkeit auf die Logleinen, welche zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Fahrt ausgelegt sind, Alles erweckt unser Interesse.

»Mr. Kazallon, sagt da André Letourneur einige Tage nach unserer Einschiffung auf dem neuen Apparat zu mir, es scheint, als sollten wir hier die Tage der Ruhe wiederfinden, welche unseren Aufenthalt auf dem Ham-Rock-Eilande so angenehm machten.

– Gewiß, so scheint es, mein lieber André, habe ich geantwortet.

– Doch möchte ich auch hinzufügen, daß das Floß vor dem Eilande einen großen Vorzug hat, – es trägt uns weiter!

– So lange wir günstigen Wind behalten, André, ist der Vorzug offenbar auf der Seite des Flosses, wenn dieser aber umschlägt ...

– Sie haben recht, Mr. Kazallon, antwortet mir der junge Mann. Doch wir wollen nicht niedergeschlagen sein, sondern frohe Hoffnung haben!«

Ja wohl, diese Hoffnung hegen jetzt auch alle Anderen! Es gewinnt den Anschein, daß wir die fürchterlichsten Prüfungen für immer überstanden haben! Alle Verhältnisse sind uns günstig geworden, und es ist Keiner unter uns, der sich jetzt nicht beruhigt fühlte!

Was in der Seele Robert Kurtis vorgeht, weiß ich nicht; ebenso wenig, ob er unsere Gedanken theilt, denn er hält sich etwas abseits. Gewiß ist seine große Verantwortlichkeit daran schuld! Er ist der Chef, der nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für das aller Uebrigen zu sorgen hat! Ich weiß, daß er seine Pflicht in diesem Sinne auffaßt. Ost sehen wir ihn in Gedanken versunken, und Jeder vermeidet es dann, ihn zu stören.


Unser Apparat läuft mit dem Winde im Rücken. (S. 122.)

Die langen Stunden ohne Beschäftigung bringt der größte Theil der Mannschaft auf dem Vordertheile schlafend zu. Auf Anordnung des Kapitäns ist der Hintertheil für die Passagiere reservirt worden, wo man auf Stangen [119] eine Art Zelt errichtet hat, das uns einigen Schutz gewährt. Wir erfreuen uns Alle eines befriedigenden Wohlseins. Nur der Lieutenant Walter kann nicht wieder zu Kräften kommen. Alle ihm zugewendete Sorgfalt ist vergebens, und er wird von Tag zu Tag schwächer.


Der Tag bescheerte uns einen wahrhaft wunderbaren Fischzug. (S. 123.)

André Letourneur habe ich niemals mehr schätzen gelernt, als unter unseren jetzigen Verhältnissen. Dieser liebenswürdige junge Mann ist die Seele unserer kleinen Welt. Bei seinem originellen Geiste überrascht er häufig durch [120] seine neuen Ideen und unerwarteten Anschauungen der Sachen, die ihm so eigen sind. Seine Unterhaltung zerstreut immer und belehrt nicht selten. Wenn André spricht, belebt sich seine kränkelnde Physiognomie. Sein Vater scheint die Worte Jenes aufzusaugen, und manchmal erfaßt er die Hand des Sohnes, die er lange Zeit betrachtet.

Dann und wann mischt sich auch, obwohl mit sorglichster Zurückhaltung, Miß Herbey in unser Gespräch; Jeder von uns bestrebt sich nach Kräften, [121] sie durch alle möglichen Zuvorkommenheiten vergessen zu lassen, daß sie Diejenigen verloren, die naturgemäß ihre Beschützer sein sollten. In Mr. Letourneur hat das junge Mädchen einen verläßlichen Freund gefunden, wie nur ein Vater einer sein könnte, und zu ihm spricht sie mit der hingebenden Offenheit, welche ihr das Alter desselben gestattet. Auf sein Ersuchen hat sie ihm ihre Lebensgeschichte mitgetheilt, – die Geschichte eines Lebens voll Muth und Selbstverleugnung, das so häufige Loos der meisten armen Waisen. Seit zwei Jahren war sie im Hause des Mr. Kear, und jetzt ohne alle Mittel, ohne Aussichten auf die Zukunft, doch immer voller Vertrauen, da sie sich gegen jede Prüfung des Schicksals gewappnet fühlt. Miß Herbey erzwingt sich durch ihren Charakter, ihre moralische Energie die ungetheilteste Hochachtung, und auch gewisse ungebildetere Leute an Bord hüten sich vor jedem Worte und jeder Geste, die sie unangenehm berühren könnten.

Vom 12. bis 14. December ist keine Aenderung in der Situation eingetreten, in wechselnder Stärke hat der Wind fortwährend aus Osten geweht. Eigentliche Schiffsmanöver sind auf dem Flosse überflüssig; selbst das Steuer, oder vielmehr der Bootsriemen braucht in seiner Stellung nicht geändert zu werden. Unser Apparat läuft mit dem Winde im Rücken, und seine Gestalt verhindert das Schwanken nach der oder jener Seite. Im Vordertheile bleiben stets einige Matrosen auf Wache, welche beauftragt sind, das Meer mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten.

Sieben Tage sind nun verflossen, seit wir den Chancellor verlassen, und gestehe ich, daß wir uns an die Rationen schon gewöhnt haben – wenigstens bezüglich der festen Nahrung. Freilich sind unsere Kräfte auch nach keiner Seite hin in Anspruch genommen. Wir »nutzen uns nicht ab«, – um den volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, der meine Gedanken recht treffend bezeichnet, – und unter derartigen Verhältnissen braucht der Mensch nur wenig zu seiner Erhaltung. Am meisten empfinden wir die Beschränkung des Wassergenusses, und bei der großen Hitze ist die uns zugetheilte Quantität notorisch unzureichend.

Am 15. December wimmelt es plötzlich rund um das Floß von einer großen Menge Fische, sogenannter Seebrassen. Obwohl unsere Angelgeräthe nur aus langen Schnuren besteht, an denen ein umgebogener Nagel mit einem Stückchen gedörrten Fleisches als Lockspeise befestigt ist, so gelingt es uns doch, eine nicht unbeträchtliche Menge dieser Brassen zu fangen.

[122] Der Tag bescheerte uns einen wahrhaft wunderbaren Fischzug und veranlaßte ein wirkliches Fest an Bord. Ein Theil jener Fische wurde geröstet ein anderer in Meerwasser über einem auf dem Vordertheile angezündeten Holzfeuer gekocht. O, das gab eine Mahlzeit! Und dabei sparten wir an unseren Vorräthen. Diese Brassen erscheinen in solcher Unzahl, daß wir binnen zwei Tagen über zweihundert Pfund derselben einfangen. Wenn jetzt noch Regen fallen sollte, müßte sich Alles für uns zum Besten wenden.

Leider hielt sich jener Schwarm von Fischen nicht lange in unserer Nähe auf. Am 17. sind einige große Haifische, von der vier bis fünf Meter langen Art der sogenannten getigerten Haie, an der Oberfläche des Meeres erschienen. Ihre Kiefern und der untere Theil des Körpers sind schwarz mit weißen Flecken und Querlinien. Die Gegenwart solcher gefährlichen Quermäuler hat immer etwas Beunruhigendes, denn wir befinden uns bei dem geringen Emporragen des Flosses fast in einem Niveau mit ihnen, und schon mehrmals haben sie mit dem Schwanze heftig gegen unseren Bau geschlagen. Zwar ist es den Matrosen gelungen, sie durch Schläge mit Pfählen zu vertreiben, doch sollte es mich sehr wundern, wenn sie uns nicht, wie eine Beute, die ihnen nicht entgehen kann, hartnäckig nachfolgten. Geschöpfe »mit solchem Ahnungsvermögen« liebe ich aber keineswegs.

33. Capitel

XXXIII.

Vom 18. bis 20. December. – Heute hat das Wetter sich geändert und der Wind aufgefrischt. Wir klagen nicht darüber, denn er ist uns günstig. Nur wird der Mast aus Vorsorge noch mehr verstärkt, um in Folge des Segeldrucks ein Brechen desselben zu verhindern. Nachdem das geschehen, bewegt sich unsere schwerfällige Maschine mit größerer Schnelligkeit fort und läßt eine Art langen Kielwassers hinter sich.

Nachmittags haben einige Wolken den Himmel bedeckt, und ist die Hitze weniger stark gewesen. Der Seegang hat das Floß mehr umhergeworfen, und zwei- oder dreimal schlug eine Welle auf dasselbe hinaus. Zum Glück [123] hat der Zimmermann aus früheren Schiffsplanken eine Art Schanzkleidung errichten können, die uns bei einer Höhe von zwei Fuß besser gegen das Meer schützt.

Auch die Fässer mit den Lebensmitteln und die Wassertonnen werden mit doppelten Tauen noch sicherer befestigt Wenn eine Sturzsee diese uns entführte, würden wir in die ärgste Noth gerathen, und Niemand vermag an einen solchen Unfall ohne Schaudern zu denken!

Am 18. haben die Matrosen einige, auch mit dem Namen Sargasso bezeichnete Seepflanzen aufgefischt, welche denen auf unserer Fahrt von den Bermuden bis nach Ham-Rock angetroffenen sehr ähnlich sind. Sie bestehen aus langen Schlinggewächsen mit einem zuckerhaltigen Safte, und ich berede meine Gefährten zu einem Versuche, die Stengel zu kauen. Sie thun es und bekennen mir, das Gefühl von wohlthuender Erfrischung des Gaumens und der Lippen davon zu haben.

Sonst ereignet sich an diesem Tage nichts Neues; nur fällt es mir auf, daß einige Matrosen, vorzüglich Owen, Burke, Flaypol, Wilson und der Neger Jynxtrop, immer unter einander zu zischeln haben, ohne daß mir der Gegenstand, um den es sich handelt, klar wird. Ich bemerke auch, daß sie sofort schweigen, wenn sich ihnen einer der Officiere oder der Passagiere nähert. Robert Kurtis hat schon vor mir dieselbe Beobachtung gemacht. Diese heimlich geführten Gespräche mißfallen ihm und nimmt er sich vor auf jene Leute ein wachsames Auge zu haben. Der Neger Jynxtrop und der Matrose Owen sind bekanntermaßen zwei Spitzbuben, denen man nicht viel trauen darf, da sie die Anderen gern zu verführen suchen.

Am 19. wird die Hitze ganz unerträglich, und zeigt sich kein Wölkchen am Himmel. Der schwache Luftzug schwellt die Segel nicht mehr, das Floß bleibt auf einer Stelle. Einige Matrosen sind in's Meer gegangen, und dieses Bad hat ihnen eine thatsächliche Erleichterung verschafft, indem es ihren Durst einigermaßen verminderte. Doch ist es nicht ungefährlich, sich in die von Haifischen unsicher gemachten Wellen zu wagen, und Keiner von uns hat Luft verspürt, es jenen Leichtsinnigen nachzuthun. Wer weiß, ob sich das in Zukunft nicht ändert? Wenn man das unbewegte Floß sieht, die langen ungefurchten Wellen des Oceans, das schlaffe Segel am Maste, liegt da nicht die Befürchtung nahe, daß diese Verhältnisse lange Zeit so fortdauern könnten?

[124] Die Gesundheit des Lieutenant Walter flößt uns von Tag zu Tag mehr Sorge ein. Der junge Mann wird von einem schleichenden Fieber verzehrt, das ihm in regellosen Anfällen zusetzt. Vielleicht vermöchte schwefelsaures Chinin dasselbe zu unterdrücken. Doch, ich wiederhole es, das Oberdeck ist so rasch verschlungen worden, daß der Arzneikasten dabei mit verloren ging. Uebrigens leidet der junge Mann offenbar an der Verzehrung, und hat diese unheilbare Krankheit seit einiger Zeit in ihm reißende Fortschritte gemacht. Schon die äußerlichen Symptome setzen das außer Zweifel. Walter quält sich jetzt mit einem trockenen Husten, sein Athem ist kurz, und vorzüglich gegen Morgen befällt ihn ein reichliches Schwitzen; er magert sichtlich ab, seine Nase wird spitzer, die hervorstehenden Backenknochen stechen durch ihre umschriebene Röthe von dem bleichen Gesicht auffallend ab; seine Wangen sind hohl, die Lippen etwas verzogen, die Bindehaut des Auges leuchtend und schwach bläulich gefärbt. Doch selbst wenn der Lieutenant jetzt noch in besseren Zuständen wäre, dürfte sich die Heilkunst ohnmächtig erweisen gegenüber einem Leiden, das kein Erbarmen kennt.

Am 20. – Derselbe Zustand der Atmosphäre, dieselbe Unbeweglichkeit des Flosses. Die Sonnenstrahlen durchdringen auch unser Zelt, und wir schmachten und seufzen bei der unbändigen Gluth. Mit welcher Ungeduld erwarten wir den Augenblick, in dem der Bootsmann die schmale Wasserration vertheilt, und mit welcher Gier verschlingen wir dann die wenigen Tropfen der lauwarmen Flüssigkeit! Wer niemals vor Durst am Verschmachten war, vermag sich diese Höllenqual gar nicht vorzustellen.

Der Lieutenant Walter ist sehr verdurstet und leidet schwerer von diesem Wassermangel, als irgend ein Anderer. Ich hab es gesehen, daß Miß Herbey ihm fast die ganze empfangene Ration überließ. Das gefühlvolle und mitleidige junge Mädchen thut alles Mögliche, um die Leiden unseres unglücklichen Genossen, wenn nicht zu stillen, so doch zu lindern.

Heute sprach mich Miß Herbey auch selbst an.

»Dieser Unglückliche wird tagtäglich schwächer, begann sie.

– Ja, Miß, habe ich ihr geantwortet, und wir können Nichts für ihn thun, gar Nichts!

– Vorsichtig, bittet Miß Herbey, er könnte uns hören!«

Dann setzt sie sich ganz an das Ende des Flosses und ergiebt sich, den Kopf in den Händen, ihren Gedanken.

[125] Auch noch etwas recht Bedauerliches ist heute vorgekommen, was ich nicht übergehen darf.

Eine Stunde lang standen die Matrosen Owen, Flaypol, Burke und der Neger Jynxtrop in eifrigem, aber heimlich geführtem Gespräche zusammen, wobei sich ihre Erregtheit durch die lebhaftesten Gesticulationen verrieth. Nach Beendigung desselben begiebt sich Owen ganz ohne Umstände nach dem für die Passagiere reservirten Hintertheile des Flosses.

»Wohin willst Du, Owen? fragt ihn der Hochbootsmann.

– Dahin, wo ich etwas zu thun habe«, antwortet frech der Matrose.

Bei dieser unverschämten Antwort verläßt der Hochbootsmann seinen Platz, doch schon vor ihm steht Robert Kurtis Owen Auge in Auge gegenüber.

Der Matrose erträgt den zornflammenden Blick seines Vorgesetzten und beginnt mit frechem Tone:

»Kapitän, ich habe mit Ihnen im Namen meiner Kameraden zu sprechen.

– Rede, erwidert Robert Kurtis kurz und bündig.

– Es handelt sich um den Branntwein, fährt Owen fort. Sie wissen das kleine Fäßchen ... Wird das für die Meerschweine oder für die Officiere aufgehoben?

– Nun ...? sagt Robert Kurtis.

– Wir verlangen jeden Morgen wie sonst gewöhnlich unseren Schluck.

– Nein, antwortet der Kapitän.

– Sie sagen ...? ruft Owen.

– Nochmals: Nein!«

Der Matrose blickt Robert Kurtis scharf an und ein boshaftes Lächeln umspielt seine Lippen. Er zaudert einen Augenblick, ob er seine Forderung wiederholen soll, doch zieht er sich, ohne ein Wort hinzuzufügen, zurück und mischt sich unter seine Kameraden, mit denen er heimlich spricht.

Hat Robert Kurtis wohl recht daran gethan, jenes Verlangen so rundweg abzuschlagen? Das wird die Zukunft noch lehren.

Als ich ihn über die Sache sprach, antwortet er mir.

»Diesen Leuten noch Branntwein? Lieber werfe ich das Fäßchen in's Meer!«

[126]

34. Capitel

XXXIV.

Am 21. December. – Jener Zwischenfall hat, wenigstens bis heute, weitere Folgen noch nicht gehabt.

Während einiger Stunden zeigen sich die Seebrassen wieder längs des Flosses, und wieder erlangt man eine große Anzahl derselben. Man schichtet sie in ein leeres Faß ein, und dieser Zuwachs an Nahrungsmitteln läßt uns hoffen, daß wir wenigstens vom Hunger verschont bleiben werden.

Der Abend ist gekommen, doch ohne die gewöhnliche Frische. Gewöhnlich sind nämlich die Nächte in den Tropen kühl, die heutige droht aber erstickend zu werden, und schwere Dunstmassen steigen langsam aus den Fluthen. Um ein Uhr dreißig Minuten Früh wird Neumond sein. Tief dunkel bleibt es auch bis zu dem Augenblicke, da ein fernes Wetterleuchten anfängt, den Horizont zu erhellen.

Es treten lang und breit hinschießende elektrische Entladungen auf, welche ungeheure Strecken in Flammen setzen. Von Donner ist aber keine Spur und die ganze Luft erscheint vielmehr erschreckend ruhig.

Zwei Stunden lang, während der wir immer nach einem minder glühenden Lüftchen schmachten, betrachten Miß Herbey, André Letourneur und ich jene Vorläufer eines Ungewitters, gewissermaßen die Vorversuche der Natur, und vergessen ganz unsere augenblickliche Lage über der Bewunderung des großartigen Schauspiels eines Kampfes zwischen den mit Elektricität geschwängerten Wolken. Man hätte hohe, mit Feuer bekrönte Zinnen zu sehen vermeint.


Der Sturm! Der Sturm! (S. 131.)

Auch der roheste Mensch ist für diese furchtbaren Scenen empfänglich, und so wie wir, sehe ich auch die Matrosen nach der unaufhörlichen Feuererscheinung in den Wolken aufschauen. Ohne Zweifel betrachten sie diese »Streiflichter«, wie sie wegen ihrer fortwährenden Ortsveränderung nicht selten genannt werden, als Vorboten eines elementaren Kampfes nicht ohne eine gewisse Unruhe. Was wird auch aus dem Flosse werden, mitten zwischen der Wuth des Himmels und des Wassers?

Bis Mitternacht bleiben wir so am Hintertheile sitzen. Die leuchtenden Ausströmungen, deren Helligkeit die dunkle Nacht verdoppelt, übergießen uns mit einem lividen Scheine, ähnlich der Farbe, welche die Gegenstände [127] annehmen, wenn die Flamme von Alkohol, in dem Kochsalz gelöst war, sie beleuchtet.

»Fürchten Sie sich vor dem Gewitter, Miß Herbey? fragt André Letourneur das junge Mädchen.

– Nein, mein Herr, antwortet Miß Herbey, das Gefühl in meinem Inneren möchte ich lieber das der Ehrfurcht nennen. Ist jenes nicht eine der prachtvollsten Erscheinungen, die wir nur je bewundern können?

[128] – Nichts wahrer als das, Miß Herbey, antwortet ihr André, und vorzüglich, wenn der Donner grollt. Kann das Ohr ein majestätischeres Geräusch hören, und was ist dagegen die trockene, kurze Stimme unserer Geschütze? Der Donner ergreift die ganze Seele; er ist weniger ein Geräusch, als ein Ton, der an- und abschwillt, wie die getragene Note eines Sängers, und wenn ich offen sein soll, Miß, so hat mich niemals eines Künstlers Stimme so ergriffen, als diese große, unvergleichliche Stimme der Natur.


Mich hat die Sturzsee auf die Plateform niedergeworfen. (S. 134.)

[129] – Ja, ein tiefer Baß! sage ich lächelnd.

– Wirklich, antwortet André, möchten wir ihn bald zu hören bekommen, denn diese stummen Blitze sind effectloser.

– Meinen Sie das, mein lieber André? hab ich ihm erwidert. Ertragen Sie das Unwetter muthig, wenn es da ist, doch wünschen Sie es nicht herbei.

– Nun, aber das Gewitter ist uns gleichbedeutend mit Wind!

– Und mit Wasser, fügt Miß Herbey hinzu, mit Wasser, an dem es uns gebricht!«

Den jungen Leuten wäre wohl noch Manches zu erwidern gewesen, ich mag aber meine nüchterne Prosa nicht in die Poesie ihrer Stimmung hineinmischen. Sie betrachten das Gewitter von einem ganz eigenen Gesichtspunkte, und eine volle Stunde höre ich sie davon schwärmen und es herbei wünschen.

Inzwischen hat sich das Firmament allmälig hinter schweren Wolken versteckt, und die Sterne im Zenith erlöschen einer nach dem anderen, kurze Zeit nachdem die Sternbilder des Thierkreises verschwunden sind. Die dichten schwarzen Dunstmassen ballen sich über unserem Haupte und verschleiern auch die letzten Lichter des Himmels. Jeden Augenblick erglänzt die Masse droben in fahlem Lichtscheine, von dem sich kleine graue Wolken abheben.

Bis jetzt hat sich die ganze in den Lüften angesammelte Elektricität geräuschlos entladen. Da die Luft aber sehr trocken und in Folge dessen ein sehr schlechter Leiter ist, so kann sie zuletzt doch nur in furchtbaren Schlägen zur Ausgleichung kommen, und es scheint mir unmöglich, daß das Gewitter nicht in kürzester Zeit mit voller Wuth ausbrechen sollte.

Robert Kurtis und der Hochbootsmann sind der nämlichen Ansicht. Letzteren leitet nur sein unfehlbarer seemännischer Instinct; der Kapitän dagegen verbindet mit diesem Instincte des »weather-wise« 1 auch noch die Kenntnisse des gebildeten Meteorologen. Es scheint mir, als bilde sich über uns eine dicke Wolkenschicht, die die Wetterkundigen »cloud-ring« 2 nennen, und welche sich fast allein in der heißen Zone bildet, die mit all' dem Wasserdampfe überladen ist, den die Passatwinde ihr von allen Theilen des Oceans aus zuführen.

[130] »Ja, Herr Kazallon, sagt Robert Kurtis zu mir, wir befinden uns in der Region der Gewitterstürme, denn der Wind hat unser Floß bis nach der Zone verschlagen, in der ein sehr feinhöriger Beobachter eigentlich unausgesetzt ein Rollen des Donners hören müßte.

– Mir scheint, antworte ich aufmerksam lauschend, als hörte ich jenes fortwährende Rollen, von dem Sie sprechen.

– Ich auch, sagt Robert Kurtis, jetzt ist das aber das erste Grollen des Gewitters, das binnen zwei Stunden in größter Heftigkeit wüthen wird. Nun, wir sind bereit, es zu empfangen.«

Keiner von uns denkt nur entfernt daran, zu schlafen; Niemand würde es auch im Stande sein, denn die schwüle Luft ist zum Ersticken. Die Blitze werden deutlicher, durchzucken den Horizont in einer Ausdehnung von hundert bis hundertundfünfzig Graden und setzen den ganzen Umkreis des Himmels in Flammen, während eine Art phosphorescirende Helligkeit sich in der Atmosphäre entwickelt.

Endlich wird das Rollen des Donners deutlicher und stärker; doch besteht es, wenn man so sagen darf, noch aus einem abgerundeten Tone, ohne scharfe Accente, aus einem Grollen, das noch kein Echo weckt. Das Himmelsgewölbe erscheint wie gepolstert mit diesen Wolken, deren Elasticität den Schall der elektrischen Entladungen erstickt.

Noch ist das Meer ruhig, schwer, fast stagnirend geblieben. Bei den langen Wellenbergen, welche sich zu erheben anfangen, können sich die Seeleute aber nicht mehr täuschen. Für sie ist das Meer »dabei, sich zu machen«, und in der Ferne wird jetzt schon ein Sturm ausgebrochen sein, dessen Rückwirkung es empfindet. Der entsetzliche Wind kann nicht mehr fern sein, und ein Schiff würde man aus Vorsicht schon jetzt ihm gerade entgegenstellen; aber mit dem Flosse ist nicht zu manövriren, ihm bleibt nichts übrig, als vor dem Unwetter her zu fliehen.

Um ein Uhr Morgens zeigt uns ein greller Blitz, dem nach wenigen Secunden ein prasselnder Donner schlag folgt, daß das Gewitter nun über uns ist. Der Horizont verschwindet plötzlich vor einem dichten Dunste, der sich massenhaft auf das Floß niederzusenken scheint.

Da läßt sich die Stimme eines Matrosen vernehmen:

»Da wälzt er sich heran! Der Sturm! Der Sturm!«

[131]

Fußnoten

1 Wetterpropheten.

2 Ringwolken.

35. Capitel

XXXV.

Die Nacht vom 21. zum 22. December. – Der Bootsmann stürzt nach dem Jöllseile, welches das Segel hält, und sofort wird die Stenge herabgelassen. Es war hohe Zeit, denn der Sturmwind braust furchtbar über uns hin. Ohne den warnenden Zuruf des Matrosen wären wir wohl halb umgeworfen worden. Das Zelt am Hintertheile reißt ein Windstoß weg.

Wenn das Floß nun auch vom Winde nicht mehr viel zu fürchten hat, da es zu flach ist, um ihm viel Angriffsfläche zu bieten, so ist das desto mehr bezüglich der ungeheuren Wellen der Fall, die der Orkan aufthürmt. Wenige Minuten hindurch schienen die Wogen wie niedergehalten und abgeplattet durch den Druck der Luftschichten; desto wüthender aber schwellen sie jetzt mehr als vorher in die Höhe.

Das Floß folgt den regellosen Bewegungen des empörten Wassers, und wenn es auch ebenso wenig von seiner Stelle weicht, so erzittert es doch unter einem fortwährenden Hin- und Herschwanken.

»Anbinden! Anbinden!« ruft der Hochbootsmann und wirst uns Seile zu.

Robert Kurtis ist uns zu Hilfe gesprungen, und bald sind die Herren Letourneur, Falsten und ich fest an das Gestell des Flosses geknüpft und können so lange bestimmt nicht fortgerissen werden, als jenes noch selbst zusammenhält. Miß Herbey hat sich an einen jener starken Pfähle gebunden, die ehedem unser Zeltdach trugen, und beim Scheine der Blitze sehe ich ihr immer heiteres Antlitz.

Ununterbrochen blendet jetzt das Feuer des Himmels und krachen die Donnerschläge. Dabei steht das ganze Dunstgewölbe um und über uns in Flammen. Auch vom Oceane möchte man wohl dasselbe sagen, und ich habe mehrere von den Wellen aufschlagende Blitze gesehen, welche gabelartig gespalten nach dem Firmamente züngelten. In der ganzen Atmosphäre verbreitet sich ein widerwärtiger Geruch nach Schwefel, bis jetzt ist aber das Floß von den Blitzstrahlen, welche nur die Wogen trafen, verschont geblieben.

[132] Um zwei Uhr Morgens rast das Unwetter in voller Wuth. Der Wind ist zum Orkan geworden und der entsetzliche Seegang droht unser Floß zu zerreißen. Der Zimmermann Daoulas, Robert Kurtis und mehrere Matrosen sind bemüht, es durch Taue noch mehr zu sichern. Ungeheure Sturzseen ergießen sich über das flache Bauwerk, und ein lauwarmer Wasserschwall durchnäßt uns bis auf die Knochen. Mr. Letourneur bietet dem wüthenden Anprall die Brust, als könne er seinen Sohn dadurch schützen.

Miß Herbey bleibt unbeweglich; man könnte sie für eine Bildsäule der Ergebenheit ansehen.

Bei dem nie verlöschenden Scheine der Blitze bemerke ich da sehr große und wahrscheinlich tiefgehende Wolken, die eine auffallend röthliche Farbe zeigen, und ein Knattern, wie von Kleingewehrfeuer, erfüllt die Lüfte. Es rührt das von dem eigenthümlichen Geräusche elektrischer Entladungen her, zu denen Hagelkörner, als Mittelglieder zwischen einander eingesetzt, geladenen Wolken dienen. Wirklich hat sich durch Aufeinandertreffen von Gewitterwolken und einem kalten Luftstrome Hagel gebildet, der jetzt mit unerhörter Gewalt niederfällt. Wir werden von den nußgroßen Körnern kartätscht, deren Aufschlagen auf die Plateform fast einen metallischen Ton erzeugt.

Eine halbe Stunde hält dieses Meteor an, welches den Wind einstweilen zu mäßigen scheint; nachdem dieser aber durch alle Compaßrichtungen gegangen, erhebt er sich wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen. Der Mast des Flosses, dessen Strickleitern gerissen sind, wird quer gebogen, und man beeilt sich, ihn aus der Oeffnung zu heben, um das Abbrechen desselben zu verhüten. Unser Steuerruder wird durch einen Wellenschlag zerstört, und der Bootsriemen treibt fort, ohne daß es möglich wurde, ihn wieder zu erlangen. Gleichzeitig werden auch die Schutzwände des Backbords eingedrückt, und wüthend drängen sich die Wellen durch diese Bresche.

Der Zimmermann und die Matrosen wollen versuchen, dem Schaden beizukommen; bei den fortwährenden Stößen ist das aber unmöglich, und sie rollen fallend Einer über den Andern, als das Floß, durch eine ungeheure Woge emporgehoben, sich um einen Winkel von mehr als fünfundvierzig Graden neigt. Sind die Männer nicht mit weggerissen worden? ... Müssen die Stricke, welche uns halten, nicht zerreißen? Welches Wunder hat uns Alle bewahrt, daß wir nicht in's Meer geschleudert wurden? ... Ich weiß es nicht zu erklären. Mir scheint es fast unglaublich, daß das [133] Floß bei den ungeordneten wilden Bewegungen nicht vollkommen umgestürzt wurde und wir, an seine Planken festgebunden, einem schrecklichen Tode entgingen!

In der That kommt das Floß gegen drei Uhr Morgens, als das Unwetter zügelloser als je vorher tobte, von dem Rücken einer bergeshohen Woge empor gehoben, fast auf die schmale Seite zu stehen. Ein Aufschrei des Schreckens erschallt! ... Wir kentern! ... Nein! ... Das Floß hat sich auf dem Wogenkamme in unbestimmbarer Höhe erhalten, und wir vermochten bei dem intensiven Lichte der Blitze, die sich nach allen Richtungen hin kreuzen, vor Entsetzen erstarrt, das Meer zu überblicken, welches ringsum aufschäumt, als brandete es über Klippen hinweg.

Das Floß nimmt sofort seine horizontale Lage wieder an, aber in dem Augenblicke, da es schief stand, sind die Taue der Wassertonnen gerissen. Eine derselben habe ich über Bord gehen sehen, während der Inhalt der anderen zum Theil ausfloß.

Einige Matrosen springen hinzu, um das Faß, welches das conservirte Fleisch enthält, zu erhalten. Da klemmt sich der Fuß des Einen zwischen die etwas auseinander gewichenen Planken der Plateform und stößt der Unglückliche ein herzzerreißendes Geschrei aus.

Ich will ihm zu Hilfe eilen, und es gelingt mir auch, die Stricke um meinen Leib zu lösen ... Zu spät! Bei einem blendenden Blitze erkenne ich noch, wie der Unglückliche, dessen Fuß wieder frei geworden ist, durch einen Wogenschwall, der sich donnernd über uns stürzt, hinweggerissen wird. Sein Kamerad ist mit ihm verschwunden, ohne daß es möglich wurde, Beiden zu Hilfe zu kommen.

Mich hat die Sturzsee auf die Plateform niedergeworfen, und ich habe durch Anschlagen des Kopfes auf einen vorspringenden Balken eine Zeit lang das Bewußtsein verloren.

36. Capitel

XXXVI.

Am 22. December. – Endlich ist der Tag angebrochen und die Sonne kommt zwischen den letzten übrig gebliebenen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gewährt, doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wütheten mit einer unvergleichlichen Erbitterung.

[134] Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben, denn ich war in Folge der Bewußtlosigkeit nach meinem Sturze nicht im Stande das Ende der Empörung der Natur zu beobachten. Ich weiß nur allein, daß der Orkan, kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in dieser kurzen Zeit uns verursacht, welche unersetzliche Verluste und welches Elend droht nun über uns hereinzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen herabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen können!

In Folge der Bemühungen der Herren Letourneur und der Miß Herbey bin ich bald wieder zu mir gekommen, aber Robert Kurtis heldenmüthiger Hilfe verdanke ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit hinweggespült wurde.

Der eine von den beiden durch das Unwetter umgekommenen Matrosen ist Austin; ein junger, gutmüthiger, thätiger und beherzter Mann von achtundzwanzig Jahren. Der andere ist der alte Ire O'Ready, der Ueberlebende so vieler Schiffbrüche!

Jetzt sind wir nur noch sechzehn Personen auf dem Floß, d.h. fast die Hälfte Derer, welche sich an Bord des Chancellor eingeschifft haben, ist schon umgekommen.

Und nun, was verbleibt uns noch an Lebensmitteln?

Robert Kurtis suchte sich bald darüber Aufklärung zu schaffen. Worin bestehen jene, und wie lange Zeit werden sie reichen?

Noch wird uns das Wasser nicht ganz fehlen, denn auf dem Boden der einen Tonne finden sich etwa noch vierzehn Gallonen 1, und die andere ist unversehrt. Aber das Faß mit dem conservirten Fleisch, und das, in welchem wir die gefangenen Fische aufbewahrten, sind uns beide entführt worden, und von diesen Vorräthen besitzen wir nun absolut nichts mehr. Von dem Schiffszwieback sind nach Robert Kurtis Abschätzung nicht mehr als sechzig Pfund gerettet worden.

Sechzig Pfund Schiffszwieback für Sechzehn, das ergiebt für eine Woche Nahrung, auf die Person täglich ein halbes Pfund gerechnet.

Robert Kurtis hat uns Alles bekannt gegeben. Schweigend haben wir ihm zugehört. Still ist auch der ganze Tag, der 22. December, vorübergegangen;[135] Jeder war mit sich selbst beschäftigt, doch offenbar wurden Alle von demselben Gedanken bewegt. Mir scheint es, als betrachte man sich gegenseitig mit ganz eigenthümlichen Augen, und zeige sich das Gespenst des Hungers schon von Weitem. Bis hierher hatte uns Speise und Trank noch nicht ganz und gar gefehlt. Jetzt indeß muß die Wasserration noch weiter verringert werden und noch mehr die an Zwieback!

Einmal näherte ich mich einer Gruppe auf dem Vordertheil lang hingestreckter Matrosen und hörte aus Flaypol's Munde in ironischem Tone noch die Worte:

»Was einmal sterben soll, das thut schnell ab!

– Ja, antwortet ihm Owen, sie lassen dann wenigstens ihren Theil den Anderen übrig!«

Der Tag schlich unter allgemeiner Niedergeschlagenheit dahin. Jeder empfing sein vorschriftsmäßiges halbes Pfund Schiffszwieback. Die Einen haben es voller Gier sofort verschlungen, Andere theilten es sorglich ein. Der Ingenieur Falsten scheint mir seine Ration in so viele Theile zerlegt zu haben, als er Mahlzeiten zu machen gewöhnt ist.

Wenn nur Einer uns überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

Fußnoten

1 65 Liter.

37. Capitel

XXXVII.

Vom 23. bis zum 31. December. – Nach dem Sturm hat der Wind sich nach Nordosten gewendet und zur günstigen Brise umgestaltet. Wir müssen ihn benutzen, da er uns nach dem Lande zu treiben verspricht.

Den Mast hat Daoulas jetzt sorgfältig wieder hergestellt, das Segel wird gehißt und das Floß treibt mit einer Schnelligkeit von zwei bis zwei und ein halb Meilen in der Stunde weiter.

Man hat auch versucht, mittels eines Pfahles und eines längs desselben aufgenagelten Brettes eine Art Steuer wieder herzustellen das wohl oder übel seine Schuldigkeit thut. Bei der geringen Geschwindigkeit, die der Wind dem Flosse nur mittheilt, wird ihm eine größere Kraftäußerung auch nicht zugemuthet.

[136] Die Plateform ist mit Keilen und Stricken so gut als möglich wieder in Stand gesetzt worden. Die auseinander gewichenen Planken sind auf's Neue befestigt. Die Backbordschutzwände, welche der Sturm eingedrückt hatte, sind wieder hergestellt und leisten dem Eindringen der Wellen Widerstand. Mit einem Worte, alles nur irgend Mögliche, was diesem Bauwerke aus Maststücken und Segelstangen Festigkeit verleihen kann, ist geschehen; doch droht uns von dieser Seite die ärgste Gefahr ja nicht.


Sie träufelt etwas Wasser auf die Lippen des Lieutenants. (S. 138.)

Mit dem reinen Himmel hat sich auch jene tropische Hitze wieder eingestellt, von der wir schon während der vorhergehenden Tage so unsäglich zu leiden hatten. Gerade heute ist sie übrigens durch die Brise einigermaßen gemildert, und da auch das Zeltdach auf dem Hintertheile wieder in Ordnung gebracht ist, su [137] chen und finden wir unter demselben noch weiteren Schutz.

Inzwischen macht sich die Unzulänglichkeit unserer Nahrung ernsthafter fühlbar. Alle leiden sichtlich an Hunger, die Wangen sind hohl, die Gesichter klein geworden. Bei den Meisten scheint auch das Central-Nervensystem direct ergriffen, und erzeugt die Zusammenziehung des Magens eine schmerzhafte Empfindung. Hätten wir, um diesen Hunger zu täuschen oder einzuschläfern, ein Narcoticum, Opium oder nur Tabak, gewiß wäre er erträglicher, – aber uns fehlt ja Alles!

Ein Einziger fühlt dieses gebieterische Bedürfniß weniger: es ist der Lieutenant Walter, der eine Beute des heftigsten Fiebers ist, das keinen Hunger in ihm aufkommen läßt, während ihn fortwährend ein brennender Durst quält. Miß Herbey, die sich von ihrer eigenen schmalen Wasserration etwas für den Kranken abdarbt, hat von dem Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertelstunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des Lieutenants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit einem dankbaren Blicke. Der Aermste! Sein Urtheil ist gesprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu leiden haben!

Uebrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen, und haucht mir in unterbrochener Rede zu:

»Herr Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«

So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter bemerkt es doch.

»Die Wahrheit! fährt er fort. Bitte, die volle Wahrheit!

– Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen ...

– Das thut Nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte Sie! ...«

Ich fasse den Kranken aufmerksam in's Auge und lege mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offenbar functionirt der eine Lungenflügel gar nicht mehr und vermag der andere dem Athembedürfnisse nur noch mit genauer Noth zu [138] entsprechen. Gleichzeitig leidet Walter an einem sehr heftigen Fieber das bei tuberculösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu sein pflegt.

Was kann ich auf die Frage des Lieutenants antworten?

Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir kaum zu helfen weiß, Und ich suche nach einer ausweichenden Erwiderung.

»Mein lieber Freund, sage ich, bei der Lage, in der wir uns befinden, kann überhaupt Niemand von sich sagen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht vor Ablauf einer Woche Alle, die das Floß jetzt trägt ...

– Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Lieutenant, dessen brennender Blick auf mir haftet.

Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlummern.

Am 24., 25. und 26. December hat sich in unserer Situation nicht das Geringste geändert. So unglaublich es erscheinen mag, so haben wir uns doch an das Hungern allmälig gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchigen haben nicht selten Thatsachen, welche mit den hier beobachteten übereinstimmen, angeführt. Wenn ich jene las, war ich geneigt, sie für Uebertreibungen anzusehen. Darin täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann, als ich je geglaubt hätte. Ueberdies hat der Kapitän unserem halben Pfund Schiffszwieback jetzt einige Tropfen Branntwein hinzugefügt, und erhält dieses Regime unsere Kräfte mehr, als man annehmen sollte. O wenn wir dieser Rationen für zwei Monate, ach, nur für einen, sicher wären! Doch unser Vorrath geht zu Ende, und Jeder kann den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere Nahrung uns völlig fehlen muß.

Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meere eine Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen suchen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. Indessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmermann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnuren an und versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm gebogenen Nägeln.

Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnisse der Arbeit ganz zufrieden gestellt zu sein.

»Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese Nägel, sagt er zu mir, indeß ein Fisch könnte an ihnen ebenso gut hängen bleiben, wenn wir nur einen Köder daran hätten. Nun haben wir als solchen aber blos Schiffszwieback, [139] der daran nicht lange halten kann. Wenn es erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln mit seinem Fleische als Lockspeise versehen. Aber den ersten Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«

Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich ist unser Angeln erfolglos. Indeß, man probirt es auf gut Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu erwarten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und offenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.

Während des 28. und 29. December setzen wir unsere vergeblichen Versuche fort. Die Zwiebackstücken, welche an die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im Wasser, fallen ab und bedürfen einer wiederholten Erneuerung. Damit verschwenden wir aber einen Theil der Substanz, welche unsere einzige Nahrung darstellt, und sind doch schon an dem Punkte, angelangt, die letzten Brocken zu zählen.

Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel erschöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoffgewebe an die Nägel zu befestigen. Miß Herbey opfert deshalb eine Ecke des rothen Shawltuches, das sie trägt, und vielleicht lockt der rothe, unter dem Wasser lebhaft leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.

Im Laufe des 30. December schreitet man zu diesem neuen Versuche. Mehrere Stunden lang läßt man die Schnüre dem Flosse in beträchtlicher Tiefe nachschwimmen, doch wenn sie herausgezogen werden, zeigt sich das rothe Wollenstückchen immer vollkommen unversehrt.

Dem Hochbootsmann sinkt aller Muth. Hier versiegt uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setzten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten, mit dem man dann andere zu fangen im Stande wäre!

»Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit einem Köder zu versehen! sagt der Bootsmann halblaut zu mir.

– Und welches? fragte ich ihn.

– Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der Seemann und wirst mir einen unverständlichen Blick zu.

Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem Sinn.

[140]

38. Capitel

XXXVIII.

Vom 1. bis 5. Januar. – Es sind nun drei Monate verflossen, daß wir Charleston auf dem Chancellor verlassen, und zwanzig Tage, die wir schon auf dem Flosse, von der Gnade der Winde und Strömungen abhängig, verbracht haben! Sind wir weiter nach Westen, nach der amerikanischen Küste gekommen, oder hat uns das Unwetter noch weiter von jedem Lande verschlagen? Es ist jetzt sogar unmöglich geworden, hierüber klar zu werden. Bei dem letzten, uns so verderblichen Sturme sind auch die Instrumente des Kapitäns trotz aller Vorsichtsmaßregeln beschädigt worden, und Robert Kurtis besitzt jetzt weder einen Compaß, um die Richtung zu bestimmen, in der wir fahren, noch einen Sextanten, um eine Höhenmessung vorzunehmen. Sind wir nun einer Küste nahe oder noch Hunderte von Meilen von einer solchen entfernt?

Man kann es nicht wissen, doch ist, da alle Umstände gegen uns gewesen sind, vielmehr zu befürchten, daß wir noch weiter hinaus getrieben wurden.

Diese absolute Unkenntniß unserer Lage hat etwas Beängstigendes; doch, so wie die Hoffnung nie des Menschen Herz verläßt, so lieben wir es trotz aller Gegengründe zu glauben, daß eine Küste in der Nähe sei. Jeder beobachtet den Horizont und sucht in dessen glatt verlaufender Linie ein Land zu entdecken. Wie häufig täuschen uns Passagiere die Augen! Ein Nebel, eine Wolke, eine Bewegung des Wassers! Kein Land erscheint, kein Schiff verirrt sich in den unendlichen Kreis um uns, in dem Himmel und Meer verschmelzen, und dessen Mitte das Floß unverändert einnimmt.

Am 1. Januar haben wir unseren letzten Zwieback verzehrt oder richtiger, unseren letzten Brocken Zwieback! Am 1. Januar! Welche Erinnerungen weckt dieser Tag, und wie traurig erscheint uns dagegen der heutige! Das neue Jahr, der erste Tag desselben, wie brachte man sich einander seine Wünsche dar, schmeichelte man sich mit den Hoffnungen, die das Herz erfüllten – uns ziemt sich nichts von alledem! Die Worte: »Ich wünsche [141] Ihnen ein glückliches Neujahr!«, die man doch nur mit freudigem Angesichte aussprechen kann, wem von uns kämen sie jetzt über die Lippen? Wer vermöchte auch nur einen Tag für sich selbst noch zu hoffen?

Da nähert sich mir der Hochbootsmann, sieht mich ganz eigenthümlich an und sagt:

»Mr. Kazallon, ich wünsche Ihnen einen glück ...

– Ein glückliches neues Jahr?

– Nein! Nur einen glücklichen Tag, und das will schon viel sagen, denn wir haben nichts mehr zu essen auf dem Flosse!«

Nichts mehr! Wir wußten es ja, und doch, als die Stunde der Vertheilung kam, traf es uns, wie ein neuer Schlag. Man mochte an diesen absoluten Mangel an Allem nicht glauben!

Gegen Abend fühle ich ein heftiges Zusammenziehen des Magens; dann folgt ihm ein schmerzhaftes Gähnen, das sich zwei Stunden nachher ein wenig mindert.

Am nächsten Tage, dem 3. Januar, bin ich sehr erstaunt, nicht mehr zu leiden. Ich fühle in mir eine furchtbare Leere, doch ist das ebenso ein Gefühl geistiger wie körperlicher Zerschlagenheit. Mein schwerer Kopf schwankt auf den Schultern, und es wird mir schwindelig, so als ob ich in einen Abgrund blickte.

Die Erscheinungen gleichen sich aber nicht bei Allen von uns, und einige meiner Gefährten leiden schon ganz entsetzlich, unter Anderen Daoulas, der Zimmermann, und der Bootsmann, die von Natur starke Esser sind. Die Hungersqualen pressen ihnen unwillkürlich Schmerzensschreie aus, und sie schnüren sich mit einem Stricke zusammen. Wir sind aber jetzt erst am zweiten Tage!

O, jenes halbe Pfund Zwieback, jene mageren Nationen, die uns noch vor wenig Tagen so unzureichend erschienen, wie vergrößert sie unser Verlangen, wie enorm erscheinen sie uns jetzt, da wir gar nichts mehr haben! Wenn man uns jetzt diese Stückchen Zwieback noch zutheilte, nur die Hälfte, ja nur den vierten Theil davon, wir würden mehrere Tage damit ausreichen! Bissen für Bissen würden sie nur verzehrt werden!

Wenn in einer belagerten Stadt Mangel herrscht, kann man in dem Kehricht, in den Flüssen, in einem Winkel einen abgenagten Knochen finden, eine weggeworfene Wurzel, die den Hunger eine Zeit lang wegtäuscht! Auf [142] diesen Brettern aber, welche die Wogen unzählige Male überflutheten, in deren Fugen man schon gierig nachgesucht, deren Ecken und Winkel, in die der Wind einige Brosamen hätte treiben können, man schon wieder und wieder ausgescharrt hat, was könnte man hier wohl zu finden hoffen?

Wie lang werden uns die Nächte – noch länger als die Tage! Vergeblich erhofft man vom Schlafe eine vorübergehende Milderung dieser Leiden. Wenn sich unsere bleiernen Augenlider ja einmal schließen, so verfallen wir vielmehr einer fieberhaften Betäubung, die uns mit Alpdrücken quält.

Und doch, die letzte Nacht unterlag ich der Erschöpfung und habe einige Stunden ruhen können.

Am anderen Tage erwache ich um sechs Uhr Morgens durch lautes Geschrei. Ich springe auf und sehe im Vordertheile den Neger Jynxtrop, die Matrosen Owen, Flaypol, Wilson, Burke und Sandon wie zum Angriffe zusammengetreten. Diese Schurken haben sich der Werkzeuge des Zimmermanns, der Aexte, des Beiles, der Meißel u. s. w. bemächtigt, und bedrohen damit den Kapitän, den Bootsmann und Daoulas. Ich geselle mich schleunigst zu Robert Kurtis und den Seinen. Falsten folgt mir unmittelbar. Wir haben als Waffen zwar nur unsere Messer, sind aber nicht minder entschlossen, uns zu vertheidigen.

Owen und die Uebrigen dringen auf uns zu. Die Verblendeten sind betrunken: in der Nacht haben sie das Branntweinfäßchen gestohlen und es fast ausgetrunken.

Was mögen sie wollen?

Owen und der Neger, die noch am Meisten bei Sinnen zu sein scheinen, reizen die Anderen auf, uns niederzumachen, und Jene unterliegen gewissermaßen einer Art Säuferwahnsinn.

»Nieder mit Kurtis! rufen sie. In's Meer mit dem Kapitän! Owen commandirt! Owen commandirt!«

Owen ist der Anführer der Rotte, ihm folgt der Neger. Der Haß dieser beiden Kerle gegen ihren Officier äußert sich jetzt in einem Gewaltstreiche, der im Falle des Gelingens unsere Lage gewiß nicht zu bessern im Stande wäre. Ihre Partner, welche kaum denken können, aber sich besser bewaffnet haben als wir, sind uns jetzt immerhin furchtbar.

Als Robert Kurtis sie heran kommen sieht, geht er ihnen entgegen und ruft mit fester Stimme:


»Nieder mit Kurtis! rufen sie. In's Meer mit dem Kapitän.« (S. 143.)

»Die Waffen weg!

– Den Tod dem Kapitän!« heult Owen.

Dieser Schuft treibt seine Genossen durch Handbewegungen an; doch Robert Kurtis weicht der betrunkenen Rotte aus und stellt sich gerade vor ihn hin.

»Was willst Du? fragt er Jenen.

[143]

– Keinen Commandanten auf dem Flosse! antwortet Owen, hier sollen Alle gleich sein!«


Das Beil dringt Wilson mitten in die Brust. (S. 146.)

Der Verblendete! Als ob wir, das Elend vor uns, nicht Alle schon gleich wären!

»Owen, wiederholt der Kapitän noch einmal, die Waffen weg!

– Tapfer drauf, Ihr Anderen!« brüllt Owen.

[144]

Es entspinnt sich ein Kampf. Owen und Wilson stürzen auf Robert Kurtis, der ihre Schläge mit einem Pfahle abwehrt, während Burke und [145] Flaypol auf den Bootsmann eindringen. Ich habe den Neger Jynxtrop als Gegner, der, ein Beil schwingend, mich zu treffen sucht. Ich versuche ihn mit den Armen zu umschlingen, um seine Bewegungen zu verhindern, aber die Muskelkraft dieses Spitzbuben übertrifft die meinige, und nach einigen Augenblicken des Widerstandes fühle ich, daß ich wohl unterliegen muß, als Jynxtrop plötzlich auf die Plateform hinrollt und mich im Sturze mit sich reißt. André Letourneur hat ihn an einem Beine gepackt und dadurch umgeworfen.

Diese Hilfe hat mich gerettet. Der Neger hat beim Fallen sein Beil verloren, dessen ich mich bemächtige, und eben will ich ihm den Schädel spalten, als André's Hand nun auch mich zurückhält.

In der That, die Empörer sind schon auf das Vordertheil zurückgedrängt. Robert Kurtis hat, nachdem er Owen's Axthieb glücklich parirt, selbst ein Beil erlangt und schlägt damit aus vollen Kräften zu.

Owen springt aber zur Seite und das Beil dringt Wilson mitten in die Brust. Der Elende stürzt rückwärts zusammen, vom Flosse herunter und verschwindet im Wasser.

»Rettet ihn! Rettet ihn! ruft der Hochbootsmann.

– Der ist todt! erwidert Daoulas.

– Eben deswegen ...«, sagt noch der Bootsmann, ohne den Satz ganz auszusprechen.

Aber Wilson's Tod endet den Kampf. Flaypol und Burke sind im höchsten Stadium der Trunkenheit besinnungslos hingesunken, und wir stürzen uns auf Jynxtrop, der fest an den Fuß des Mastes gebunden wird.

Der Zimmermann und der Hochbootsmann haben indessen Owen überwältigt. Mit der blutigen Axt in der Hand nähert sich ihm Robert Kurtis und sagt:

»Verrichte Dein letztes Gebet. Du stirbst!

– Sie haben gewiß rechte Lust, mich aufzuessen!« erwidert Owen mit einer Frechheit ohne Gleichen.

Diese trotzige Antwort rettet ihm das Leben. Robert Kurtis wirst die Axt weg, die er schon zum Schlage erhoben hat, und setzt sich leichenblaß auf dem Hintertheile des Flosses nieder.

[146]

39. Capitel

XXXIX.

Am 5. und 6. Januar. – Diese Scenen haben uns tief ergriffen. Owen's unter den thatsächlichen Verhältnissen gegebene Antwort ist wohl geeignet, auch die Muthigsten niederzuschlagen.

Sowie ich ein wenig wieder zur Ruhe gekommen bin, habe ich dem jungen Letourneur meinen Dank dafür ausgesprochen, daß er mir durch seine Intervention das Leben gerettet hat.

»Sie danken mir, antwortet er, wo Sie mir fluchen sollten!

– Ihnen, André?

– Mr. Kazallon, ich habe ja nichts gethan, als Ihre Leiden verlängert.

– Darauf kommt es nicht an, Mr. Letourneur, mischt sich da Miß Herbey ein, Sie haben Ihre Pflicht gethan!«

Immer dasselbe Gefühl der Pflicht, welche dem jungen Mädchen über Alles geht! Sie ist durch die grausamen Entbehrungen abgemagert, ihre durch die fortwährende Feuchtigkeit verdorbenen und schadhaft gewordenen Kleider flattern umher, doch keine Klage kommt aus ihrem Munde und Nichts vermag ihr den Muth zu rauben.

»Mr. Kazallon, fragt sie mich, nicht wahr, wir wer den Hungers sterben müssen? – Wie lange kann man wohl leben, ohne zu essen?

– Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange, unbestimmbare Tage!

Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meisten?

– Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich aus.«

Wie war ich nur im Stande, dem jungen Mädchen so zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos in's Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes menschliche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Vater, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt erstaunt mit ihren großen, vom Hunger erweiterten Augen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der also sprach.

[147] Einige Minuten später, als wir ziemlich allein waren, sagte mir Miß Herbey mit leiser Stimme:

»Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?

– Gern, Miß, habe ich erregt geantwortet; bereit, für das junge Mädchen Alles zu thun.

– Wenn ich vor Ihnen sterbe, fährt Miß Herbey fort, und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwächlicher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche in's Meer zu werfen.

– Miß Herbey, ich that sehr unrecht ...

– Nein, nein, fällt sie mir trübe lächelnd in's Wort, Sie thaten ganz recht daran, mir Alles zu sagen, nur versprechen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine Schwäche von mir. Lebend fürchte ich Nichts ... aber todt ... versprechen Sie mir, mich in's Wasser zu werfen.«

Ich habe es ihr versprochen. Miß Herbey reicht mir die Hand zum Danke, und ich fühle, wie ihre mageren Finger leise die meinigen drücken.

Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zu Zeiten sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich aufschreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder und ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim Wiedererwachen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch lebend zu finden.

Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken und einem ewigen Lächeln, »das aber nur seine Lippen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen, so, als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine ganze Erscheinung athmet Falschheit. Er ist ein Heuchler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte, daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine Klagen laut werden ließe. Im Gegentheil, er seufzt ohne Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewimmer nur affectirt vorkommt. Es wird sich das wohl zeigen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern klar würde.

Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei Seite, führt mich nach dem Hintertheile des Flosses, und das mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mittheilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch gehört zu werden.

[148] Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des Backbord, und nachdem der Abend angebrochen, vermag uns Niemand mehr zu sehen.

»Mein Herr, beginnt Mr. Letourneur mit leiser Stimme, André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen! Nein, ich kann es nicht!«

Mr. Letourneur spricht in einem Tone, dem man den verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Accent hat etwas Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater leiden mag!

»Lieber Herr, sage ich und ergreife seine Hand, verzweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff ...

– Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostesworte, unterbricht mich der arme Vater. Es wird hier kein Schiff vorbei kommen, das wissen Sie recht gut. Nein, es handelt sich um etwas Anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben Sie selbst und wir Alle nichts gegessen?«

Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und ich antworte:

»Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen. Wir haben jetzt den 6., es sind demnach vier Tage, daß ...

– Daß Sie nichts gegessen haben! Nun wohl, bei mir sind es schon acht!

– Acht Tage!

– Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«

Bei diesen Worten brechen ihm Thränen aus den Augen. Ich fasse Mr. Letourneur's Hand. Kaum bin ich Stande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an ... acht Tage!

»Herr! Mein Herr, sage ich endlich, was verlangen Sie von mir?

– Halt! Nicht so laut! Es darf uns Niemand hören!

– So sprechen Sie! ...

– Ich möchte ..., und seine Stimme wurde noch leiser, ich wünsche, daß Sie André von meinem Ersparten anbieten ...

– Aber können Sie das nicht selbst? ...

– Nein, nein! Er würde glauben, daß ich mich für ihn beraubt habe ... er würde es nicht annehmen ... nein, es muß von Ihnen kommen ...

– Mr. Letourneur! ...

[149] – Aus Mitleiden, bittet mich der unglückliche Vater, aus Erbarmen leisten Sie mir diesen Liebesdienst, den größten, um den ich Sie angehe ... übrigens ... für Ihre Bemühung ...«

Mr. Letourneur ergreift meine Hand und streichelt sie zärtlich.

»Für Ihre Bemühung können Sie ja auch ein wenig davon essen! ...«

Armer Vater! Bei seinen Worten zittere ich wie ein Kind! Mein ganzes Wesen ist in Aufregung und mein Herz arbeitet zum Zerspringen. Gleichzeitig fühle ich, wie Mr. Letourneur ein Stück Schiffszwieback in meine Hand gleiten läßt.

»Nehmen Sie sich in Acht, daß Niemand Sie gewahr wird, sagt er. Die Ungeheuer fielen über Sie her und tödteten Sie! Das ist nur für einen Tag, doch morgen werde ich Ihnen ebenso viel übergeben!«

Der Unglückliche traut mir nicht! Vielleicht hat er recht, denn so wie ich das Stück Zwieback in meinen Händen fühle, kann ich's mir kaum verwehren, es zum Munde zu führen!

Doch, ich habe mich überwunden, und wer diese Zeilen liest, wird begreifen, was meine Feder jetzt nicht zu schildern vermag.

Mit der in diesen niedrigen Breiten eigenthümlichen Schnelligkeit ist die Nacht hereingebrochen. Ich schleiche mich vorsichtig zu André Letourneur und biete ihm das kleine Stückchen Zwieback an, »so als ob es von mir käme«!

Der junge Mann erfaßt es mit Begierde.

»Und mein Vater?« sind seine nächsten Worte.

Ich versichere ihm, daß sein Vater auch seinen Theil hat ... ich den meinen, daß ich ihm morgen ... die folgenden Tage auch noch so viel würde zukommen lassen können! ... Er möge es nur nehmen ... nur nehmen! ...

André hat mich nicht gefragt, woher dieser Zwieback komme, und hat ihn schleunig zum Munde geführt.

Und diesen Abend habe ich trotz Mr. Letourneur's Angebot nichts gegessen ... gar nichts!

[150]

40. Capitel

XL.

Am 7. Januar. – Seit einigen Tagen spült das Meer fast unaufhörlich über die Plateform des Flosses hinweg und hat nach und nach die Füße einiger Matrosen wund gemacht. Owen, den der Bootsmann seit der Revolte im Vordertheil gefesselt hält, ist in bejammernswerthem Zustande, und seine Bande werden auf unsere Bitten hin gelöst. Auch Sandon und Burke haben durch das ätzende Salzwasser mehr oder weniger gelitten, und sind wir Andern nur deshalb davon verschont geblieben, weil das Hintertheil des Flosses den Wellen weniger ausgesetzt ist.

Heute hat sich der Hochbootsmann in wüthendem Hunger auf das Segelzeug, so wie auf Holzstücke gestürzt, und noch immer höre ich seine Zähne diese Stoffe zermalmen. Der Unglückliche sucht nur seinen Magen zu füllen, um die Schleimhäute desselben wieder einmal auszudehnen. Zuletzt findet er an einem der Maststücke, welche die Plateform tragen, ein Stück Leder. Dieses Leder ist ja eine thierische Materie, deren er sich bemächtigt, sie verzehrt, und mit welcher er sich doch einige Erleichterung zu verschaffen scheint. Alle thun es ihm nach. Ein Hut von gummirtem Leder, die Sturmriemen der Mützen, jede animalische Substanz wird angenagt. Uns treibt ein bestialischer Instinct, dem Niemand zu widerstehen vermag. Einen Augenblick scheint es, als ob wir aller menschlichen Eigenschaften beraubt wären, und niemals werde ich diese Scenen vergessen!

Wenn auch der Hunger nicht eigentlich zu stillen war, so ist doch sein Drängen eine Zeit lang unterdrückt. Einige unter uns konnten diese Art Nahrung freilich nicht einmal vertragen und singen darauf an, an Uebelkeiten zu leiden.

Man verzeihe mir diese Einzelheiten! Ich mag Nichts verhehlen, was die Schiffbrüchigen des Chancellor zu leiden hatten! Man wird aus diesen Berichten erfahren, welches moralische und physische Elend menschliche Wesen zu ertragen im Stande sind! Das verleihe diesem Tagebuche seinen Werth! Ich werde nichts verschweigen, und leider ahnet mir, daß wir unsere Leiden noch nicht erschöpft haben!

[151] Eine Beobachtung, die ich während der oben erwähnten Scene zu machen Gelegenheit hatte, bestärkt mich in meinem Verdacht gegen den Steward. Trotzdem daß Hobbart sein Jammern nicht unterbrach, ja es wo möglich noch übertrieb, hat er sich bei jener Scene nicht betheiligt. Wenn man ihn hört, sollte man glauben, daß er schon Hungers sterbe, und wenn man ihn sieht, scheint er allein von den allgemeinen Qualen verschont zu sein. Besitzt dieser Heuchler noch einen geheimen Vorrath? Ich habe ihn schon überwacht, aber noch nichts entdecken können.

Die Hitze ist immer bedeutend und sogar unerträglich, wenn die Brise sie nicht mäßigt. Unser Wasservorrath ist gewiß unzureichend, aber der Hunger ertödtet in uns den Durst. Und wenn ich mir nun gar noch sage, daß die Entbehrung des Wassers uns noch mehr foltern wird, als die der festen Nahrung, so kann ich es kaum glauben, oder mir wenigstens nicht augenblicklich vergegenwärtigen. Doch steht diese Thatsache unzweifelhaft fest, und Gott wolle es verhüten, daß wir auch das noch auskosten sollen!

Zum Glück enthält die halb zerbrochene Wassertonne noch immer einige Pinten Wasser, und die andere ist ja noch unversehrt. Trotzdem sich unsere Anzahl vermindert hat, so hat der Kapitän dennoch, entgegen dem Widerspruche von manchen Seiten, die täglichen Rationen auf eine halbe Pinte herabgesetzt. Ich stimme ihm hierin vollständig bei.

Vom Branntwein haben wir nur noch eine Viertel-Gallone übrig, die auf dem Hintertheile des Flosses an sicherer Stelle untergebracht ist.

Heute, am 7., gegen halb acht Uhr Abends, hat wieder Einer von uns aufgehört zu leiden. Wir sind nur noch vierzehn! Der Lieutenant Walter hat sein Leben in meinen Armen ausgehaucht, und weder die Sorgfalt Miß Herbey's, noch die meinige hat ihm nützen können ... er hat überstanden!

Wenige Minuten vor seinem Tode hat der Lieutenant Miß Herbey und mir mit einer kaum noch zu verstehenden Stimme seinen Dank ausgesprochen.


Ich kann eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken. (S. 154.)

»Mr. Kazallon, flüsterte er und ließ einen zerknitterten Brief aus seiner zitternden Hand gleiten, dieser Brief ... von meiner Mutter ..., ich habe keine Kräfte mehr ... der letzte, den ich erhielt ... sie schreibt mir: ›Ich erwarte Dich, mein Kind, ich will Dich wiedersehen!‹ Nein, Mutter, Du wirst mich nicht mehr wiedersehen! Mr .... diesen Brief ... legen sie ihn dahin, auf meine Lippen, da ... dahin, ihn küssend will ich sterben ... meine Mutter ... mein Gott! ...«

[152] Ich habe den Brief aus Lieutenant Walter's schon erkalteter Hand genommen und ihn auf seine Lippen gelegt. Noch einen Augenblick schien sein Auge aufzuleuchten, und wir hörten ein schwaches Geräusch, wie von einem Kusse!

Er ist todt, der Lieutenant Walter! Gott sei seiner Seele gnädig!

[153]

41. Capitel

XLI.

Am 8. Januar. – Die ganze Nacht über bin ich neben dem todten Körper geblieben, und Miß Herbey hat wiederholt Gebete für sein Seelenheil verrichtet.

Bei Anbruch des Tages ist der Leichnam völlig erkaltet. Ich hatte Eile ... ja! Eile, ihn in's Meer zu werfen, und ersuchte Robert Kurtis, mir in diesem traurigen Geschäfte beizustehen. Nach Einhüllung in seine Kleidungsstücke werden wir ihn den Wellen übergeben, und ich hoffe, daß er bei seiner außerordentlichen Magerkeit sich nicht schwimmend erhalten wird.

Mit Tagesgrauen treffen wir, Robert Kurtis und ich, gewisse Vorsichtsmaßregeln, nicht gesehen zu werden, und entnehmen den Taschen des Lieutenants noch einige Gegenstände, welche dessen Mutter zugestellt werden sollen, wenn Einer von uns am Leben bleibt.

Eben als ich den Leichnam in die Kleidungsstücke bringen will die ihm als Bahrtuch dienen sollen, kann ich eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken.

Der rechte Fuß fehlt, das Bein ist nur noch ein blutiger Stumpf!

Wer ist der Urheber dieser Schändung? Ich bin also doch wohl in der Nacht einmal der Ermüdung erlegen, und Jemand hat sich meinen Schlummer zu Nutzen gemacht, diesen Körper zu verstümmeln. Aber wer, wer hat das gethan?

Robert Kurtis sieht rings umher, und seine Augen sprühen Flammen. An Bord bemerkt man nichts Ungewöhnliches, nur einige Jammerlaute unterbrechen das Stillschweigen. Vielleicht belauert man uns! Eilen wir, die Ueberreste in's Meer zu bringen, um noch schrecklichere Auftritte zu vermeiden.

Nach einem kurzen Gebete des Kapitäns lassen wir den Leichnam in die Fluthen gleiten, in denen er sofort versinkt.

»Donnerwetter! Die Haifische werden gut gemästet!«

Wer sprach das? Ich drehe mich um. Es war der Neger Jynxtrop.

Der Bootsmann stand gleichfalls in meiner Nähe.

»Vermuthen Sie, sage ich zu ihm, daß jene Unglücklichen diesen Fuß ...

[154] – Diesen Fuß ... ah, ja! erwidert mir der Hochbootsmann. Im Uebrigen war das ihr Recht.

– Was? Ihr Recht? rufe ich erstaunt.

– Herr, entgegnet der Hochbootsmann, es ist besser, einen Todten zu verzehren, als einen Lebendigen!«

Diese frostige Antwort läßt mich verstummen, und ich gehe, um mich zu sammeln, nach dem Hintertheile des Flosses.

Gegen elf Uhr überrascht uns ein glücklicher Zufall. Der Hochbootsmann, der schon seit dem Morgen seine Angelschnuren wieder hat nachschleppen lassen, erzielt einen Erfolg, – er hat drei Fische gefangen. Es sind drei ziemlich große Schellfische von vierundzwanzig Centimeter Länge und zu der Art gehörig, welche getrocknet unter dem Namen »Stockfisch« bekannt ist.

Kaum hat der Hochbootsmann die drei Fische an Bord gezogen, so stürzen sich die Matrosen auf dieselben. Der Kapitän Kurtis, Falsten und ich werfen uns dazwischen, und die Ordnung ist bald wieder hergestellt. Es ist freilich wenig drei Schellfische für vierzehn Verhungerte, doch, es bekommt Jeder seinen Theil. Die Einen verschlingen die Fische roh, man möchte sagen, noch lebend, und das thun die Meisten. Robert Kurtis, André Letourneur und Miß Herbey haben die Ueberwindung, zu warten. Auf einer Ecke des Flosses entzünden sie mittels einiger Stückchen Holz ein Feuer und rösten ihren Antheil. Ich habe nicht denselben Muth gehabt und verzehre das Fleisch noch blutend!

Mr. Letourneur ist nicht weniger ungeduldig gewesen, als ich und die meisten Anderen. Wie ein ausgehungerter Wolf stürzte er sich auf das ihm zukommende Stück Fisch. Wie vermag dieser unglückliche Mann, der so lange Zeit nichts genossen hat, nur überhaupt noch zu leben? – Ich begreife das nicht.

Ich erwähnte die große Freude des Bootsmannes, als er seine Angelleinen einzog, und diese Freude steigert sich fast bis zum Wahnwitz. Wenn der Fischfang noch weitere Beute liefert, ist es sicher, daß er uns vor einem grauenvollen Tode rettet.

Ich spreche deshalb mit dem Hochbootsmann und treibe ihn an, seine Versuche zu wiederholen.

»Ja wohl! antwortet er mir, ja ... gewiß ... ich werde es thun! ...

[155] – Und warum legen Sie die Schnuren nicht schon wieder ein?

– Jetzt nicht! erwidert er ausweichend. Die Nacht ist günstiger als der Tag zum Fange der größeren Fische, und wir dürfen auch den Köder nicht verschwenden, denn vorhin haben wir Dummköpfe auch nicht ein Stückchen übrig gelassen, um es zum nächsten Fischfang zu verwenden!«

Das ist wahr, und der Fehler vielleicht nicht wieder gut zu machen.

»In dessen, werfe ich ein, da es Ihnen das erste Mal gelang ohne Lockspeise ...

– Ich hatte welche.

– Eine gute?

– Eine ausgezeichnete, Herr, da jene Fische darauf anbissen!«

Ich sehe den Bootsmann an, dessen Blick auch auf mir haftet.

»Haben Sie auch noch etwas für Ihre Angelhaken übrig? frage ich.

– Ja wohl«, antwortete der Seemann mit leiser Stimme und wendet sich ohne ein weiteres Wort weg.

Die dürftige Nahrung hat uns aber doch einige Kräfte gegeben und neue Hoffnungen erweckt. Wir sprechen von dem Fischfange des Hochbootsmannes und können es gar nicht glauben, daß dieser nicht wiederholt von Erfolg sein werde. Sollte das Geschick endlich satt sein, uns zu prüfen?

Ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß in unserem Geiste eine Veränderung vor sich gegangen ist, liegt für mich darin, daß wir anfangen, von der Vergangenheit zu reden. Unsere Gedanken sind nicht einzig und allein auf die martervolle Gegenwart gerichtet oder auf die furchtbare Zukunft, die uns doch drohend bevorsteht. Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, der Kapitän Kurtis und ich erinnern uns der einzelnen Vorkommnisse seit dem Schiffbruche, lassen die Bilder der Umgekommenen an uns vorüberziehen, die Details der Feuersbrunst, die Strandung des Fahrzeugs, das Ham-Rock-Eiland, den Leck, die schreckliche Fahrt in den Mastkörben, das Floß, den Sturm, alle jene Zufälle, welche uns jetzt so fern zu liegen scheinen. Ja! Alles das hat uns betroffen, und doch leben wir noch!

Wir leben! Aber kann man diesen Zustand wirklich ein »Leben« nennen? Von achtundzwanzig sind wir nur noch vierzehn übrig, bald vielleicht nur noch dreizehn.

[156] »Eine böse Zahl! sagt der junge Letourneur, doch würden wir wohl große Mühe haben, einen Vierzehnten 1 für uns zu finden!«

In der Nacht vom 8. zum 9. hat der Hochbootsmann seine Leinen auf's Neue ausgelegt und ist selbst auf dem Hintertheile des Flosses geblieben, da er die Ueberwachung jener Niemandem anvertrauen wollte.

Am Morgen gehe ich auf ihn zu. Kaum graut der Tag, und mit den brennenden Augen sucht der Angler schon die Dunkelheit des Wassers zu durchdringen. Er hat mich weder schon gesehen, noch kommen hören.

Ich berühre leise seine Schulter; er wendet sich halb erschrocken um.

»Nun, wie steht's, Bootsmann?

– Die verdammten Haifische haben mir den Köder weggeschnappt! antwortet er mit tonloser Stimme.

– Und sie haben keinen mehr?

– Nein! Und wissen Sie, was damit bewiesen ist? fügt er hinzu und drückt mir den Arm. Damit ist bewiesen, daß man nichts blos halb thun soll ...«

Ich lege meine Hand auf seinen Mund; ich habe ihn verstanden!

Armer Walter! ...

Fußnoten

1 In Paris lebt eine Anzahl Leute von dem sonderbaren Erwerbe, bei Gesellschaften, welche zufällig nur aus dreizehn Personen bestehen, zur Aushilfe als »Vierzehnte« einzuspringen.

42. Capitel

XLII.

Am 9. und 10. Januar. – Heute herrscht in der Atmosphäre um uns wieder vollkommene Ruhe. Die Sonne brennt, die Brise schweigt ganz und gar und keine Furche unterbricht die langen. Wellen des Meeres, das sich unmerklich hebt. Wenn keine Strömung vorhanden ist, deren Richtung wir nicht zu bestimmen im Stande sind, so muß das Floß ganz unbeweglich fest stehen.

Ich sagte, daß die Hitze heute unerträglich sei; unser Durst ist aber in Folge dessen noch weit unerträglicher. Zum ersten Male leiden wir ganz [157] entsetzlich von dem Mangel an Wasser, und mir wird es nun deutlicher, daß die Qualen des Durstes noch schrecklicher sind, als die des Hungers. Schon hat sich bei den Meisten von uns der Mund, der Schlund und der Kehlkopf vor Trockenheit zusammengeschnürt, und die Schleimhäute verhornen fast durch die warme Luft, welche das Athmen ihnen zuführt.

Auf meine Bitte geht der Kapitän für dieses Mal von dem gewohnten Régime ab. Er erlaubt eine doppelte Wasserration, und wir haben an diesem Tage unseren Durst vier Mal, wohl oder übel, stillen können. Ich sage »wohl oder übel«, denn dieses auf dem Boden der Tonne befindliche Wasser ist trotz der Bedeckung mit einem nassen Segel ganz lauwarm geworden.

Alles in Allem ist heute ein böser Tag, und von Neuem verfallen die Matrosen unter den Qualen des Hungers der Verzweiflung.

Auch bei Aufgang des Mondes hat sich die Brise nicht wieder erhoben. Da aber die Nächte in den Tropen immer etwas frisch sind, so gewährt das uns doch einige Erleichterung; während des Tages aber bleibt die Temperatur ganz unerträglich, und diese so auffällige Erhöhung derselben unterstützt die Meinung, daß wir weiter nach Süden getrieben sind.

Nach dem Lande auszulugen, hat man jetzt ganz aufgegeben. Der ganze Erdball scheint nur noch eine Wasserkugel zu sein – immer und ewig der grenzenlose Ocean!

Am 10. dieselbe Ruhe, dieselbe Hitze. Der Himmel gießt nur einen Feuerregen auf uns herab, und wir athmen glühende Luft. Unser Bedürfniß zu trinken, wächst ohne Maß, und wir vergessen fast die Pein des Hungers; mit solcher Gier erwarten wir den Augenblick, bis Robert Kurtis die wenigen Tropfen unserer Wasserrationen austheilt. O, könnten wir uns nur einmal satt trinken, könnten wir unseren Vorrath erschöpfen und dann sterben!

In diesem Augenblicke, – es ist jetzt Mittag, – wird einer unserer Gefährten von den heftigsten Schmerzen ergriffen, die ihm manchen gräßlichen Schrei auspressen. Es ist der elende Owen, der, im Vordertheil liegend, sich unter schrecklichen Convulsionen krümmt.

Ich schleppe mich zu ihm hin. Was er auch verbrochen haben mag, die Menschlichkeit gebietet es, zu versuchen, ob ihm einige Hilfe zu bringen ist.

[158] Aber gleichzeitig stößt der Matrose Flaypol einen lauten Schrei aus; ich drehe mich um.

Flaypol ist am Maste in die Höhe geklettert, und seine Hand zeigt nach Osten gegen den Horizont.

»Ein Schiff!« ruft er.

Schnell sind Alle auf den Füßen. Eine Todesstille herrscht an Bord. Auch Owen vergißt seine Schmerzen und hat sich mit erhoben.

Wirklich ist in der von Flaypol bezeichneten Richtung ein weißlicher Punkt sichtbar. Aber ändert er denn seine Stelle? Ist es ein Segel?

Was denken die Seeleute darüber, welche ja dafür ein so scharfes, geübtes Auge haben?

Ich beobachte Robert Kurtis, der mit gekreuzten Armen den weißen Punkt in's Auge faßt, seine Wangen springen vor, alle Theile seines Gesichtes sind in Folge der Zusammenziehung der kreisförmigen Augenmuskeln emporgedrängt, seine Augenbrauen runzeln sich, seine Lider sind halb geschlossen, und er concentrirt in seinem Blicke alle ihm zu Gebote stehende Sehkraft. Wenn jener weiße Punkt ein Segel ist, wird er sich darüber nicht täuschen.

Doch nein, er schüttelt den Kopf, seine Arme fallen schlaff herab.

Ich sehe dorthin. Der weiße Punkt ist nicht mehr vorhanden. Es war kein Schiff, es war irgend ein Reflex, ein schäumender Wellenkamm, oder wenn es ein Schiff gewesen ist, so ist es eben wieder verschwunden.

Welch' eine Niedergeschlagenheit folgt diesen Momenten der Hoffnung! Alle haben wir unseren gewohnten Platz wieder eingenommen. Robert Kurtis verharrt unbeweglich, aber er mustert den Horizont nicht mehr.

Da wiederholen sich Owen's Schmerzensschreie heftiger als zuvor. Sein ganzer Körper windet sich unter der qualvollen Pein, und sein Anblick ist wahrhaft erschreckend. Seine Kehle schnürt ein spasmodischer Krampf zusammen, seine Zunge ist trocken, der Leib aufgerieben, der Puls klein, schnell und unregelmäßig. Der Unglückliche leidet an convulsivischen Bewegungen und selbst an tetanischem Zucken.

Diese Symptome lassen keinen Zweifel übrig: Owen ist durch ein Kupferoxyd vergiftet.

Wir haben kein Gegenmittel, um die Wirkung des Giftes zu neutralisiren, doch kann man wohl Erbrechen hervorrufen, um den Mageninhalt [159] des Kranken fortzuschaffen. Warmes Wasser muß diesen Erfolg er zielen, und ich bitte also Robert Kurtis um etwas Wasser.


Owen's Körper mußte sofort in's Meer geworfen werden. (S. 162.)

Der Kapitän sagt es mir zu. Doch die Flüssigkeit der ersten Tonne ist zu Ende gegangen, und ich will meinen Bedarf also aus der zweiten noch unberührten entnehmen, als Owen sich auf die Knie erhebt und mit einer Stimme, welche kaum noch eine menschliche zu nennen ist, ausruft:


Ein Schiff in Sicht!(S. 164.)

»Nein! Nein! Nein!«

Warum dieses Nein? Ich kehre zu Owen zurück und erkläre ihm, was ich vorhabe. Noch entschiedener widersetzt er sich aber, von diesem Wasser zu trinken.

[160]

Ich versuche demnach durch Kitzeln des Schlundes bei dem Unglücklichen Erbrechen zu erzeugen, und bald giebt er auch bläuliche Massen von sich.

[161] Es ist nur zu gewiß, daß Owen mit einem Kupfersulfat, mit Kupfervitriol vergiftet ist, und was wir auch vornehmen, Owen ist verloren!

Aber auf welche Weise hat er sich vergiften können? Das Erbrechen hat ihm einige Erleichterung verschafft, und er vermag endlich zu sprechen. Der Kapitän und ich, wir fragen ihn ...

Ich mag es gar nicht versuchen, den Eindruck zu schildern, den die Antwort des Unglücklichen auf uns machte!

Owen hat, von unbezähmbarem Durst getrieben, einige Pinten Wasser aus der noch unberührten Tonne gestohlen, und das Wasser aus derselben ist vergiftet!

43. Capitel

XLIII.

Vom 11. bis 14. Januar. – Owen ist in der Nacht unter tetanischen Zuckungen, welche einen seltenen Grad der Intensität erreichten, gestorben. Es ist nur zu wahr! Die vergiftete Tonne hat früher Kupfervitriol enthalten, das ist Thatsache. Durch welchen unglücklichen Mißgriff diese Tonne gerade als Wasserbehälter benutzt wurde und durch welchen bedauernswerthen Zufall gerade sie auf das Floß mit verladen worden ist? ... Alles das kommt ja wenig in Betracht. Eins steht fest: daß wir kein Wasser mehr haben!

Owen's Körper mußte sofort in's Meer geworfen werden, da er unmittelbar nach dem Tode in Zersetzung überging, und der Hochbootsmann hätte nicht einmal seine Leine mit dem todten Fleisch als Köder versehen können, da dieses jeden Zusammenhang verloren hatte. Der Tod dieses Elenden ist für uns nicht einmal von Nutzen gewesen!

Wir Alle kennen unsere thatsächliche Situation und verhalten uns still in dumpfem Brüten. Was sollten wir auch sprechen? Schon den Ton unserer Stimme zu hören, berührt uns schmerzlich. Bei unserer übermäßigen Reizbarkeit ist es besser, daß wir gar nicht reden, denn das geringste Wort, ein Blick, eine Geste könnte ausreichen, unberechenbare Folgen hervorzurufen. Ich begreife nicht, wie es kommt, daß wir noch nicht Alle von Sinnen sind.

Am 12. Januar haben wir keinen Tropfen Wasser erhalten, da der letzte Tropfen Tags vorher ausgeschöpft war. Am Himmel ist keine Wolke, [162] die etwas Regen verspräche, und ein Thermometer zeigte im Schatten gewiß 40° C., wenn auf dem Flosse überhaupt an Schatten zu denken wäre.

Am 13. ist die Lage die gleiche. Das Meerwasser beginnt auch mir die Füße wund zu ätzen, doch das beachte ich fast gar nicht. Auch der Zustand Derjenigen, die an diesem Uebel schon länger leiden, ist dadurch nicht wesentlich verschlimmert.

O, dieses Wasser, das uns rings umgiebt, wenn ich bedenke, daß wir es durch Verdampfen oder Gefrierenlassen trinkbar zu machen im Stande wären!

In Dampf oder Eis verwandelt, würde es keine Spur Salz mehr enthalten, und man könnte es genießen! Aber uns fehlen alle Hilfsmittel, und wir vermögen sie auch nicht herzustellen.

Heute haben sich, auf die Gefahr hin, von Haien verschlungen zu werden, der Bootsmann und zwei Matrosen gebadet. Solch' ein Bad gewährt ihnen eine gewisse Erleichterung und erfrischt sie doch einigermaßen. Drei meiner Genossen und ich, – die wir nicht schwimmen können, – haben uns an ein Seil befestigt und sind wohl eine halbe Stunde lang im Meer geblieben. Robert Kurtis überwachte dabei die Wellen, und zum Glück hat sich kein Haifisch genähert. Trotz unserer Bitten und ihrer quälenden Leiden hat Miß Herbey unserm Beispiel nicht folgen wollen.

Am 14., gegen elf Uhr Morgens, nähert sich mir der Kapitän und flüstert mir in's Ohr:

»Vermeiden Sie jede Bewegung, die Sie verrathen könnte. Herr Kazallon, denn ich könnte mich irren, und ich möchte den Andern eine neue Enttäuschung ersparen.«

Ich sehe Robert Kurtis erwartungsvoll an.

»Dieses Mal, sagt er zu mir, habe ich wirklich ein Schiff wahrgenommen!«

Der Kapitän hat wohl daran gethan, mich vorzubereiten, denn ich wäre gewiß nicht meiner ersten Bewegung Meister geworden.

»Schauen Sie, fügt er hinzu, da hinten über Backbord!«

Ich erhebe mich, affectire eine mir gewiß ganz fremde Gleichgiltigkeit, und meine Augen schweifen über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen am Horizont.

Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemannes, aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Silhouette, ein Schiff unter Segel.

[163] Fast zu gleicher Zeit ruft der Hochbootsmann, dessen Blicke einige Secunden nach dieser Gegend hinausschweifen:

»Ein Schiff in Sicht!«

Die Meldung eines entfernten Schiffes erweckt nicht unmittelbar die Bewegung, welche man wohl hätte erwarten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung hervor, ob man nun an dieselbe nicht glauben wollte, oder die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein Schiff! Ein Schiff!« Und Aller Blicke heften sich an den Horizont.

Dieses Mal ist die Thatsache nicht zu leugnen, wir sehen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns sehen?

Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Erscheinung des Fahrzeuges und seine Richtung, vorzüglich die letztere.

Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Betrachtung desselben:

»Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalfen dicht am Winde läuft. Hält sie ihren jetzigen Cours nur zwei Stunden lang ein, so muß sie unsern Weg kreuzen.«

Zwei Stunden! – Zwei Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen Cours aber jede Minute wechseln und wird das um so wahrscheinlicher thun, weil es offenbar durch Laviren gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich aber diese Annahme, so wird es nach Vollendung seines »Schlags« (d.i. die Strecke, welche ein lavirendes Schiff in ein und derselben Richtung zurückgelegt) Backbordhalfen beisetzen und sich wieder entfernen. O, wenn es mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir hätten ein Recht, zu hoffen!

Uns handelt es sich jetzt darum, die Aufmerksamkeit jenes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle möglichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dutzend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere Rufe könnten unmöglich gehört werden. Auch kein Feuergewehr steht uns zur Verfügung, dessen Detonationen so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige Flagge am Maste aufhissen. Miß Herbey's rothes Shawltuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres und des Himmels ab.

Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein [164] wiederholtes lustiges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung. Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die Flagge ist dieser Strohhalm für uns!

Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend abwechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg dem Flosse genähert, doch bisweilen scheint es, als ob sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie nicht im Begriff ist, zu werden.

O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin! Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist sein Rumpf auch jetzt noch kaum über dem Horizonte sichtbar. Doch der Wind ist schwach und legt sich immer mehr! ... Wir gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine Stunde älter zu sein!

Gegen halb ein Uhr schätzen der Kapitän und der Hochbootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf neun Meilen. In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur drei Meilen näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch, der noch über dem Flosse weht, bis zu ihm reichen. Mir scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, sondern an den Masten schlaff herab zu hängen. Ich beobachte, gegen den Wind gerichtet, ob eine Brise wieder aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen und der Athem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte, erstirbt.

Ich befinde mich auf dem Hintertheile neben den Mrs. Letourneur und der Miß Herbey; unsere ängstlichen Blicke richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapitän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm, ihre Augen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben kann, lesen wir die Empfindungen ab, welche sie erregen. Nicht ein Wort kommt über ihre Lippen, bis der Zimmermann mit einem gar nicht wiederzugebenden Tone ausruft:

»Es wendet!«

Unser ganzes Ich scheint sich jetzt in die Augen zusammen zu drängen, und erstarrt stehen die Einen wie Bildsäulen, die Andern liegen auf den Knien. Ein furchtbarer Fluch entfährt dem Munde des Hochbootsmannes. Auf neun Meilen Entfernung hat das Schiff unsere Signale unmöglich wahrnehmen können! Das Floß stellt ja in dem unendlichen Raume nur ein Pünktchen dar, das in dem Glanze der blendenden Sonnenstrahlen wohl ganz [165] verschwindet! Man hat uns nicht gesehen! Könnte der Kapitän jenes Schiffes, er sei wer auch immer, wenn er uns bemerkt hätte, so unglaublich unmenschlich sein, zu entfliehen, ohne uns geholfen zu haben? Nein! Das ist unmöglich! Nein, er hat uns nicht gesehen!

»Macht Feuer! Laßt Rauch aufsteigen! ruft Robert Kurtis. Verbrennt die Planken des Flosses! Freunde! Meine Freunde! Das ist ja die letzte Möglichkeit, uns bemerkbar zu machen!«

Im Vordertheile werden einige Bretter zu einem Scheiterhaufen zusammengetragen. Nicht ohne Mühe setzen wir diese, da sie zu naß sind, in Brand, aber sie geben deshalb auch einen um so dichteren und weithin sichtbaren Rauch. Bald wirbelt eine schwarze Säule gerade empor. Wenn es jetzt Nacht wäre oder doch vor dem Verschwinden der Brigg dunkel würde, müßten die Flammen trotz der Entfernung bis zu jener hin erkennbar sein!

Doch – die Stunden verrinnen, das Feuer erlischt! ...

Um in solchen Augenblicken sich mit frommer Ergebenheit dem göttlichen Willen zu unterwerfen, muß man mehr Macht über sich haben, als ich besitze. Nein! Jetzt schwindet mein Vertrauen auf Gott, der unsere Folterqualen durch solche aufblitzende Hoffnungsstrahlen noch erhöht, und ich lästere ihn, wie ihn der Hochbootsmann gelästert hat! ... Da legt sich eine schwache Hand ganz leise auf meine Schulter, und Miß Herbey zeigt nach dem Himmel!

Doch, ich ertrage es nicht länger! Ich mag nichts mehr sehen und vergrabe mich seufzend unter unserer Segeldecke ....

Inzwischen hat das Fahrzeug andere Halsen beigesetzt, dann entfernt es sich langsam nach Osten, und drei Stunden später vermochten auch die schärfsten Seemannsaugen kein Stückchen Leinwand mehr am Horizonte zu erblicken!

44. Capitel

XLIV.

Am 15. Januar. – Nach diesem letzten Schlage, der uns getroffen, haben wir nichts mehr vor uns als den Tod. Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er kommt doch gewiß.

[166] Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen, wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühlbar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir diese wohlthuende Aenderung. Meine Kehle saugt eine minder trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des Hochbootsmannes, d.h. seit sieben Tagen, haben wir nichts gegessen. Auf dem Flosse ist nichts mehr vorhanden, und gestern habe ich André Letourneur das letzte von seinem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, welches Jener mir unter Thränen übergab.

Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kurtis deshalb nicht von Neuem binden lassen. Wozu auch? Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch das lange Fasten ganz von Kräften gekommen. Was wären sie jetzt noch zu unternehmen im Stande?

Heute zeigen sich mehrere große Haifische, deren schwarze Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durchschneiden sehen. Ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß sie die lebendigen Särge darstellen, die unsere erbärmlichen Ueberreste aufzunehmen bestimmt sind. Sie erschrecken mich keineswegs, nein, sie haben etwas Anheimelndes. Sie kommen bis dicht an den Rand des Flosses heran, und Flaypol's Arm, der über denselben hinaushing, wäre beinahe von einem jener Ungeheuer weggeschnappt worden.

Der Hochbootsmann betrachtet mit starren, hohlen Augen und zusammengebissenen, hinter den erhobenen Lippen herausleuchtenden Zähnen diese Haifische unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkte als ich. Er will sie verzehren, doch nicht von ihnen verzehrt werden. Wenn er einen derselben zu fangen im Stande wäre, er würde sich nicht vor seinem zähen Fleische scheuen. Wir Anderen auch nicht.

Der Bootsmann will den Versuch machen; da er aber keinen geeigneten Haken besitzt, an den ein Seil zu befestigen wäre, so muß er einen solchen herzustellen suchen. Robert Kurtis und Daoulas haben ihn verstanden und halten Rath, während sie durch Auswerfen von Holzstücken und Seilenden bemüht sind, die Quermäuler in der Nähe des Flosses aufzuhalten.

Daoulas holt sein Zimmermannsbeil, das er als Angel zu benutzen gedenkt und dessen scharfe Schneide oder die derselben entgegengesetzte Spitze sich wohl in der Kinnlade eines Haies festsetzen könnten, wenn ein solcher darauf anbeißt. Der hölzerne Stiel des Beiles wird also an ein Greling [167] (d.i. die kleinste Art Kabeltaue) befestigt und dieses an einen Tragbalken der Plateform gebunden.


Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. (S. 171.)

Diese Vorbereitungen reizen unser Verlangen auf's Aeußerste, und zitternd vor Ungeduld suchen wir die Aufmerksamkeit der Haie auf jede mögliche Weise rege zu erhalten, um sie nicht wegschwimmen zu lassen.


Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. (S. 173.)

Der Haken ist bereitet, aber wieder fehlt es an einem Köder für denselben, und der Hochbootsmann, der vor sich hinmurmelnd da- und dorthin [168] läuft und das ganze Floß durchsucht, hat das Aussehen, als forsche er nach einem Leichnam unter uns!...

Man muß endlich nochmals zu der schon früher versuchten Aushilfe greifen, das Eisen des Beiles mit einem Stücke rothen Stoffes zu umwickeln, den wiederum Miß Herbey's Shawltuch liefert.

Der Hochbootsmann will aber nichts ohne die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln für ein glückliches Gelingen unternehmen. Ist der Haken wohl [169] haltbar genug befestigt? Wird die Leine, welche diese Angel mit dem Flosse verbindet, nicht reißen? Wird der Tragbaum das Zerren eines gefangenen Haies aushalten? Der Hochbootsmann unterrichtet sich erst über alle diese jetzt sehr wichtigen Punkte und läßt erst dann sein Angelgeräth in das Wasser gleiten.

Das Meer ist so klar und durchsichtig, daß man in einer Tiefe von hundert Fuß noch jeden Gegenstand zu unterscheiden vermag. Ich folge dem hinabsinkenden Haifischhaken, dessen rothe Umhüllung sich leuchtend von dem Wasser abhebt bequem mit den Augen.

Passagiere und Matrosen, Alle lehnen wir über die Schanzkleidung geneigt und beobachten das tiefste Stillschweigen. Es scheint aber als ob die Haifische, seitdem ihnen dieser sonderbare Köder zugeworfen wurde, nach und nach verschwänden. Doch können sie unmöglich weit entfernt sein und würden gewiß jede ihnen erreichbare Beute schnell verschlingen.

Plötzlich giebt der Hochbootsmann mit der Hand ein Zeichen und weist auf eine ungeheure Masse, welche nach dem Flosse zu gleitet und fast die Oberfläche des Wassers streift. Es ist ein wohl zwölf Fuß langer Haifisch, der die Tiefe verlassen hat und in gerader Linie auf uns zu schwimmt.

Sobald das Thier nur noch vier Faden vom Flosse entfernt ist, zieht Hochbootsmann vorsichtig seine, Leine an, um den Haken jenem zu Gesicht zu bringen, und theilt dem rothen Packen eine leichte Bewegung mit, die das Aussehen eines lebenden Körpers verleiht.

Ich fühle das heftige Klopfen meines Herzens, als wohne meine ganze Lebenskraft nur in diesem Organe!

Indessen nähert sich der Hai; seine gierigen, großen Augen leuchten fast auf der Oberfläche des Meeres und seine halbgeöffneten Kiefern zeigen die furchtbare Reihe seiner spitzen Zähne.

Da erhebt sich ein Schrei! ... Der Haifisch hält an und verschwindet in der Tiefe des Wassers.

Wer von uns hat diesen Schrei, wenn auch unwillkürlich ausgestoßen?

Sofort erhebt sich der Hochbootsmann bleich vor Zorn.

»Den Ersten, welcher ein Wort spricht, schlage ich nieder«, sagt er.

Dann geht er wieder an seine Arbeit.

Alles in Allem hat er wohl recht, der Hochbootsmann. [170] Der Haifischhaken wird wieder hinabgelassen, doch während einer halben Stunde erscheint kein solcher Seeräuber wieder, so daß man den Apparat bis auf zwanzig Faden Tiefe hinabgehen läßt. Doch kommt es mir vor, als wenn die tieferen Wasserschichten etwas getrübt wären, woraus man wohl auf die Anwesenheit jener Quermäuler schließen könnte.

Wirklich bemerkt man an der Leine plötzlich ein so heftiges Rucken, daß dieselbe den Händen des Hochbootsmannes entgleitet: da sie aber an den einen Tragbalken des Flosses sicher befestigt ist, hat sie deshalb nicht verloren gehen können.

Ein Haifisch hat angebissen und sich gleichsam selbst harpunirt.

»Zu Hilfe, Jungens, zu Hilfe!« ruft der Seemann.

Sofort ergreifen Alle, Passagiere und Matrosen, die Angelleine. Die Hoffnung leiht uns neue Kräfte, doch kaum wollen diese hinreichen, denn das Thier wehrt sich furchtbar. Wir ziehen ganz gleichzeitig an, und nach und nach kommen die oberen Wasserschichten von dem heftigen Peitschen des Schwanzes und der großen Brustflossen des Ungeheuers in Aufruhr. Ich beuge mich hinaus und sehe den enormen Körper, der sich inmitten blutig gefärbter Wellen windet.

»Tapfer! Fest daran!« ruft der Hochbootsmann.

Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. Unser Haken ist ihm durch den geöffneten Rachen bis in den Schlund eingedrungen und hat sich dort so festgesetzt, daß ihn keine Zuckung und kein Stoß wieder heraus zu reißen vermag. Daoulas ergreift schon eine Axt, um das Thier, wenn es nahe genug heran sein wird, zu erschlagen.

Da läßt sich ein kurzes, eigenthümliches Geräusch vernehmen. Der Haifisch hat seine mächtigen Kiefern geschlossen, den langen Stiel des Beiles glatt durchgebissen, und schnell entweicht er in die grünliche Tiefe.

Ein allgemeiner Aufschrei der schmerzlichen Enttäuschung entringt sich uns!

Der Hochbootsmann, Robert Kurtis und Daoulas versuchen auch noch ferner, trotzdem sie nun keinen Haken und kein irgend brauchbares Ersatzmittel dafür mehr haben, einen jener Haie zu fangen. Sie werfen Taue mit Schlingen in's Wasser, doch diese Lassos gleiten auf der schlüpfrigen Haut jener Quermäuler ab. Der Hochbootsmann geht sogar so weit, sie dadurch heranzulocken, daß er ein Bein hinter dem Flosse in's Wasser hält, selbst auf die Gefahr hin, durch den Biß eines der Ungeheuer amputirt zu werden....

[171] Endlich giebt man diese fruchtlosen Versuche auf, und Jeder schleppt sich auf seinen gewohnten Platz zurück, in Erwartung des Todes, den jetzt nichts mehr abzuwenden im Stande ist.

Ich bin aber Robert Kurtis gerade nahe genug, um es zu verstehen, wie der Hochbootsmann Jenen leise fragt:

»Kapitän, wann loosen wir?«

Robert Kurtis hat zwar nicht geantwortet aber diese Frage ist nun doch schon gestellt worden.

45. Capitel

XLV.

Am 16. Januar. – Wir liegen Alle auf den Segeln ausgestreckt, und die Mannschaft eines vorübersegelnden Schiffes würde eine mit Todten bedeckte Seetrift zu sehen meinen.

Ich leide furchtbar. Könnte ich bei dem jetzigen Zustande meiner Lippen, meiner Zunge, meiner Kehle überhaupt noch essen? Ich glaube es nicht, und doch werfen wir Alle, meine Gefährten und ich mit, einander wilde Blicke zu.

Die Hitze ist heute bei gewitterdrohendem Himmel noch stärker. Dicke Dünste wälzen sich empor, aber ich will glauben, daß es vielleicht überall regnen kann, nur über dem Flosse nicht.

Dennoch sieht Jeder mit begehrlichem Blicke diese Ansammlung von Wolken, und unsere Lippen lechzen nach ihnen. Auf den Knieen liegend erhebt Mr. Letourneur flehend die Hände nach dem unerbittlichen Himmel!

Ich lausche, ob irgend ein fernes Rollen ein Gewitter verkündigt. Es ist elf Uhr Morgens; die Dunstmassen verdecken jetzt die Sonne vollkommen, doch schon haben diese ihren elektrischen Charakter merklich eingebüßt. Offenbar wird sich kein Gewitter entladen, denn das ganze Gewölk hat eine gleichmäßige Färbung angenommen und seine am Morgen so scharfen Ränder sind in einer verbreiteten grauen Dunstmasse verschwunden und verschwommen, die jetzt nur noch einem in der Höhe schwebenden Nebel gleich zu achten ist

Doch kann denn dieser Nebel keinen Regen gebären, und wäre es noch so wenig, wären es nur einige erquickende Tropfen!

[172] »Da, der Regen, der Regen!« rief plötzlich Daoulas.

Und wirklich, in der Entfernung einer halben Meile hat der Himmel jene schrägen Striche, welche man beim Regen beobachtet, und ich sehe die Tropfen von der Wasserfläche wieder in die Höhe springen. Der Wind, der sich etwas mehr erhebt, treibt sie zu uns. Möchte dieselbe Wolke sich doch nicht vorher erschöpfen, bevor sie über uns weggegangen ist!

Gott hat endlich einmal Mitleid mit uns; in großen Tropfen fällt der Regen, so wie aus einer Gewitterwolke. Doch ein solcher Platzregen ist niemals von Dauer, und wir müssen, so schnell es angeht, möglichst viel davon aufzufangen suchen, denn schon färbt ein hellerer Lichtschein den unteren Rand der Wolke über dem Horizonte.

Robert Kurtis hat die halbzerbrochene Tonne so aufstellen lassen, daß sie möglichst viel Wasser aufnehmen kann, und ringsum spannt man die Segel in der Art auf, daß sie die größten Oberflächen bieten.

Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. Das Wasser benetzt mein Gesicht, meine Lippen, und ich fühle, daß es in meine Kehle dringt! O, unaussprechliche Freude! Das ist neues Leben, das in mich einzieht! Die Schleimhäute meiner Kehle werden bei dieser Benetzung wieder schlüpfrig, und ich athme die belebende Flüssigkeit fast noch mehr ein, als ich sie trinke.

Zwanzig Minuten lang hat der Regen angedauert, dann löst sich die halberschöpfte Wolke in der Atmosphäre auf.

Wir haben uns gebessert wieder erhoben, ja, »gebessert«. Man drückt sich die Hände, man spricht wieder! Es scheint, als ob wir gerettet wären!

Gott wird uns in seiner Barmherzigkeit noch andere Wolken senden, die uns noch mehr Wasser bringen werden, Wasser; das wir so lange entbehrt haben!

Und auch das Wasser, welches nur auf das Floß gefallen ist, wird ja nicht verdorben sein, denn die Tonne und die Leinwand haben es aufgefangen

Aber es muß sorgsam aufbewahrt und darf nur tropfenweise vertheilt werden.

In der That, die Tonne enthält jetzt zwei bis drei Pinten Wasser, und wenn wir das noch ausdrücken, was die Segel eingesogen haben, so vermögen wir unsern Vorrath noch bis zu einer gewissen Grenze zu vermehren.

[173] Die Matrosen wollen eben zu jener Operation schreiten, als Robert Kurtis sie durch einen Wink daran hindert.

»Einen Augenblick! ruft er. Wird dieses Wasser auch trinkbar sein?«

Ich sehe ihn staunend an. Warum soll dieses Wasser, das doch nur vom Regen herstammt, nicht trinkbar sein?

Indessen drückt der Kapitän ein wenig von dem aufgesaugten Wasser einer Segelfalte in die Weißblechtasse, kostet dasselbe, und zu meiner größten Verwunderung wirst er diese von sich.

Ich koste nun auch selbst. Das Wasser ist fast noch salzhaltiger, als das Meerwasser selbst!

Es rührt das daher, daß die so lange Zeit dem Einflusse der Wellen ausgesetzten Segel sich mit Salz inprägnirt und dem aufgefangenen Wasser einen sehr hohen Gehalt davon mitgetheilt haben. Das ist freilich ein nicht wieder gut zu machendes Unglück! Doch, sei es! Wir haben ja wieder Vertrauen, und in dem Fasse sind noch einige Pinten Wasser übrig! Dazu ist ja einmal Regen gekommen, – er wird auch wiederkehren!

46. Capitel

XLVI.

Am 17. Januar. – Wenn unser Durst für einen Augenblick gestillt wurde, so erwachte als ganz natürliche Folge davon unser Hunger desto wüthender. Giebt es denn kein Mittel, sich ohne Haken oder Köder eines dieser Haifische zu bemächtigen, welche sich rings um das Floß tummeln? Nein, man müßte sich denn selbst in's Meer stürzen, um mit dem Messer eines dieser Ungeheuer in seinem eigenen Elemente anzugreifen, so wie es die Indianer der Perlenfischereien thun. Robert Kurtis hat daran gedacht, dieses Abenteuer zu bestehen. Wir halten ihn zurück. Die Haifische sind zu zahlreich, und es hieße sich ohne irgend einen Nutzen nur einem gewissen Tode weihen.

Ich mache die Bemerkung, daß, wenn der Durst hinweggetäuscht werden kann, etwa durch Eintauchen in's Wasser oder durch Kauen irgend [174] eines Gegenstandes, es sich mit dem Hunger nicht ebenso verhält, und daß Nichts im Stande ist, die eigentlichen Nahrungsmittel zu ersetzen. Außerdem kann das Wasser Schiffbrüchigen stets durch ein natürliches Ereigniß bescheert werden, z.B. durch den Regen. Wenn man also niemals zu verzweifeln braucht, vor Durst zu sterben, so kann man doch viel leichter durch Hunger wirklich umkommen.

Wir sind nun schon an diesem Punkte angelangt, und einige meiner Gefährten sehen sich gegenseitig mit wahrhaft gierigen Augen an. Man vergegenwärtige sich, auf welchem Abhange unsere Gedanken weiter gleiten und bis zu welchem Grade der Wildheit die durch ein einziges Verlangen gereizten Unglücklichen herabkommen können!

Seitdem die Gewitterwolken, welche uns einen halbstündigen Regen bescheert, vorüber sind, ist auch der Himmel wieder klar geworden. Einen Augenblick frischte der Wind auf, aber jetzt hat er sich wieder ganz gelegt, und das Segel schlottert am Maste. Uebrigens sehenn wir ihn uns gar nicht mehr als bewegende Kraft herbei. Wo befindet sich das Floß? Nach welchem Punkte des Atlantischen Oceans haben die Strömungen es wohl getrieben? Niemand vermag es zu sagen, noch zu bestimmen, ob wir den Wind jetzt lieber aus Osten, oder aus Norden oder Süden wehen sähen! Wir verlangen nur eines von ihm, daß er unsere Brust erfrische, daß er der trockenen Luft, die uns verzehrt, ein wenig Wasserdunst beimische, daß er die unausstehliche Hitze mäßige, welche die feurige Sonne vom Zenith herabgießt.

Der Abend ist gekommen, und bis Mitternacht, d.h. bis zu der Stunde, da der Mond aufgeht, der in sein letztes Viertel tritt, wird es dunkel sein. Die etwas verschleierten Sternbilder flimmern nicht mit dem hellen Lichte der kalten Nächte.


Ich sehe ihn beim Scheine des Mondes näher an. (S. 178.)

Eine Beute eines wahrhaften Deliriums und unter der Qual des fürchterlichsten Hungers, der sich immer mit Anbruch des Tages zu verdoppeln scheint, strecke ich mich auf einen Haufen Segel, die am Steuerbord liegen, und neige mich über das Wasser, um seine Frische einzuathmen.

Wie viele meiner Gefährten, welche an ihrem gewohnten Platz liegen, mögen wohl im Schlummer ein Vergessen ihrer Leiden finden? Vielleicht Keiner! Was mich betrifft, so ist mir der Kopf wüst und leer und von ängstlichem Alpdrücken belästigt.


Es ist ein Erhängter. (S. 180.)

[175]

Inzwischen bin ich einer krankhaften Betäubung, die weder Wachen noch Schlaf zu nennen ist, verfallen, und es ist mir unmöglich, anzugeben, wie lange ich mich in diesem Zustande der Prostration befunden hatte, als ich plötzlich durch ein eigenthümliches Geräusch wieder zu mir kam.

Ich glaubte zu träumen, denn meine Nase traf ein an Bord ganz unbekannter Duft, den der Wind mir dann und wann zuwehte. Meine Nasenlöcher erweitern sich ... »Was bedeutet dieser Geruch!« bin ich schon versucht [176] auszurufen ... eine Art Instinct hält mich davon zurück, und ich suche, so wie man in seinem Gedächtnisse einem vergessenen Worte oder Namen nachzuspüren pflegt.

Einige Augenblicke vergehen so. Die Intensität jener Ausdünstung, welche stärker zu werden scheint, läßt mich sie gieriger aufsaugen.

»Das ist ja aber, sage ich mir plötzlich, wie ein Mensch, der sich besonnen hat, das ist ja der Geruch von geräuchertem Fleische.«

[177] Noch einmal suche ich mich zu versichern, daß meine Sinne mich nicht getäuscht haben, und doch, auf diesem Flosse ...

Ich erhebe mich auf die Knie, ich rieche von Neuem, ich, man verzeihe mir den Ausdruck – ich durchschnüffle diese Luft ringsum; und noch einmal trifft jener Geruch meine Nase. Also befinde ich mich unter dem Winde von jenem lieblich duftenden Gegenstande, und folglich ist derselbe auf dem Vordertheil des Flosses zu suchen.

So schleiche ich denn, kriechend wie ein Thier, von meinem Platze und stöbere überall, nicht mit den Augen, aber mit der Nase umher, gleite unter den Segelstücken hin, in und durch das Untergestell, immer mit der Vorsicht einer Katze, um die Aufmerksamkeit meiner Gefährten nicht zu erregen.

Einige Minuten lang krieche ich so in alle Winkel, vom Geruche wie ein Spürhund geführt. Bald verliere ich die Spur, entweder wenn ich mich zu weit von derselben entfernte, oder der Wind sich vollkommen legte, und bald trifft mich die Ausdünstung mit erneuter Stärke. Endlich bin ich im Stande, die Spur festzuhalten, ihr zu folgen, und ich fühle es gleichsam, daß ich jetzt auf den Gegenstand meiner Nachforschung gerade zugehe!

Da erreiche ich im Vordertheile die Ecke am Steuerbord und erkenne jetzt deutlich, daß jener Geruch von einem Stück geräuchertem Speck herrührt. Nein, ich täusche mich nicht; es ist mir, als ob alle Nervenpapillen meiner Zunge vor Verlangen sich strotzend erhöben!

Jetzt schlüpfe ich unter einen dicken Haufen Segelwerk. Niemand sieht mich, Niemand hört mich. Ich gleite auf den Knien, auf den Ellenbogen hin. Ich strecke den Arm aus, und meine Hand erfaßt einen in Papier gewickelten Gegenstand. Schnell hole ich ihn hervor und sehe ihn beim Scheine des Mondes, der gerade jetzt über den Horizont emporsteigt, näher an.

Es ist keine Illusion! Ich halte ein Stück Speck in der Hand, kaum ein Viertelpfund, doch das vermag für einen ganzen Tag meine Qualen zu stillen, und schnell führe ich es zum Munde.

Da hält eine andere Hand die meinige zurück. Ich drehe mich um, kaum kann ich mich eines Murrens enthalten, und erkenne den Steward Hobbart.

[178] Jetzt wird mir Alles klar; das eigenthümliche Benehmen Hobbart's, seine verhältnißmäßig gute Gesundheit, seine erheuchelten Klagen. Bei Gelegenheit des Schiffbruchs hat er einigen Mundvorrath zu bergen gewußt, den er in einem Verstecke unterbrachte, und er hat sich genährt, während wir Anderen vor Hunger sterben wollten! O, der Schurke!

Doch nein! Hobbart hat vielleicht ganz klug gehandelt. Ich finde, daß er ein sehr vorsichtiger Mann ist, und wenn er ohne Wissen der Uebrigen etwas an Nahrungsmitteln aufbewahrt hat, so ist das desto besser für ihn ... und für mich.

Hobbart ist aber dieser Meinung nicht. Er ergreift meine Hand und sucht mir das Stück Speck wieder zu entreißen, doch ohne ein Wort zu sprechen, da er die Aufmerksamkeit der Anderen zu erregen fürchtet.

Wir kämpfen schweigend, denn ich habe ja dieselbe Ursache, still zu sein. Ich will natürlich nicht, daß noch Andere dazukommen, mir meine Beute abzujagen, und wehre Hobbart mit allen Kräften ab; da höre ich ihn die Worte zwischen den Zähnen murmeln: »Mein letztes Stückchen! Mein letzter Bissen!«

Sein letzter Bissen! Aber er muß um jeden Preis mein werden, und ich packe meinen Gegner an der Gurgel, der unter meinen Händen nach Luft schnappt und bewegungslos zusammensinkt – die Beute ist mein!

Und während ich Hobbart noch immer niederhalte, zermalme ich den Speck zwischen den Zähnen ...

Dann lass' ich den Unglücklichen los, krieche wieder fort und nehme meinen Platz am Hintertheile wieder ein.

Niemand hat mich bemerkt. Ich habe einmal gegessen!

[179]

47. Capitel

XLVII.

Am 18. Januar. – Ich erwarte den Tag mit einer ganz eigenthümlichen Angst! Was wird Hobbart sagen? Mir scheint, er habe ein Recht dazu, mich zu denunciren! Doch nein! Das ist absurd. Wenn ich das Vorgefallene erzählen wollte, wenn ich sagte, wie gut Hobbart lebte, während uns der Hungertod angrinste, wie er sich so lange Tage ohne unser Wissen genährt hat, seine Gefährten würden ihn ohne Erbarmen zerfleischen.

Und doch ... ich wünschte, es wäre erst heller Tag.

Augenblicklich ist mein hungriger Magen befriedigt worden, trotzdem, daß das Stückchen Speck nur klein, nur »ein Bissen«, der letzte war, wie der Unglückliche sagte. Indessen, ich leide jetzt nicht mehr, und doch, ich gestehe es offen, mache ich mir fast Vorwürfe, den erbärmlichen Rest nicht mit meinen Unglücksgefährten getheilt zu haben. Ich hätte an Miß Herbey, an André, an seinen Vater denken sollen ... und ich habe nur an mich gedacht!

Der Mond steigt langsam nieder, und bald folgt ihm das erste Morgenlicht. Schnell wird es Tag werden, denn wir befinden uns unter jenen niedrigen Breiten, die weder Morgen- noch Abenddämmerung kennen.

Ich habe kein Auge zuthun können; sobald es einigermaßen hell wird, scheint es mir, als schwanke eine unförmliche Masse in halber Höhe am Maste.

Was mag das sein? Noch vermag ich es nicht zu erkennen und verbleibe ausgestreckt auf meinem Segelbündel.

Doch endlich streifen die ersten Sonnenstrahlen über das Meer, und bald sehe ich einen Körper, der an einem Stricke hängt und den Bewegungen des Flosses folgt.

Eine schreckliche Ahnung überschleicht mich fröstelnd und ich nähere mich dem Maste ...

Es ist ein Erhängter, und dieser Erhängte ist – der Steward Hobbart, dieser Unglückliche, und ich, ja ich habe ihn zum Selbstmorde getrieben!

[180] Ich stoße einen Schreckensschrei aus. Meine Gefährten erheben sich, sehen einen Körper und stürzen auf ihn zu. Ob noch ein Fünkchen Leben in ihm schlummere, darnach fragt Niemand! ... Uebrigens, Hobbart ist wirklich todt und sein Körper schon erkaltet.

In einem Augenblicke wird der Strick zerschnitten. Der Hochbootsmann, Daoulas, Jynxtrop, Falsten, noch Andere sind bei der Hand, fallen über den Leichnam her ...

Nein! Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts sehen wollen – ich nehme keinen Antheil an dieser entsetzlichen Mahlzeit! Weder Miß Herbey, noch André Letourneur oder sein Vater haben eine Erleichterung ihrer Leiden mit diesem Preise bezahlen wollen!

Robert Kurtis? – Das weiß ich nicht ... ich habe nicht gewagt, ihn darüber zu fragen.

Die Anderen aber ... o, der Mensch verwandelt sich so leicht in ein Raubthier ... es ist schrecklich!

Die Herren Letourneur, Miß Herbey und ich, wir haben uns unter das Zelt verkrochen, um nichts mit ansehen zu müssen! Es war schon mehr als zu viel, was wir hörten!

André Letourneur wollte sich auf die Kannibalen stürzen und ihnen die grauenvollen Ueberreste entreißen, so daß ich Noth hatte, ihn davon zurückzuhalten.

Und übrigens, es war ja ihr Recht, das Recht der Unglücklichen! Hobbart ist ja todt; sie haben ihn nicht gemordet! Und wie eines Tages der Hochbootsmann sagte, »es ist besser, von einem Todten zu essen, als von einem Lebendigen«!

Wer weiß aber, ob dieser Auftritt nicht die Einleitung zu noch schrecklicheren sein wird, welche das Floß mit Blut besudeln könnten!

Ich theile André Letourneur meine Gedanken mit, aber ich vermochte das Entsetzen nicht zu unterdrücken, das bei ihm seinen Höhepunkt erreicht und alle seine Qualen verstummen läßt.

Indeß, man bedenke, wir sterben vor Hunger, und acht unserer Gefährten können nun diesem grausamen Tode vielleicht entgehen!

Hobbart war, Dank seinen versteckten Vorräthen, der Wohlgenährteste von uns. Keine organische Krankheit hat sein Körpergewebe verändert, [181] in voller Gesundheit ist er durch einen Gewaltstreich aus dem Leben geschieden! ...

Doch zu welcher entsetzlichen Schlußfolgerung läßt sich mein Geist hinreißen? Wohin gerathe ich? Flößen mir jene Kannibalen jetzt mehr Vergnügen oder mehr Abscheu ein?

In diesem Augenblicke erhebt einer derselben seine Stimme. Es ist Daoulas, der Zimmermann.

Er spricht davon, Meerwasser zu verdampfen, um Salz zu gewinnen.

»Und das Uebrigbleibende salzen wir ein, sagt er.

– Ja«, antwortet der Hochbootsmann.

Dann wird es still. Der Vorschlag des Zimmermanns ist ohne Zweifel angenommen worden, denn ich höre nichts mehr. Ein tiefes Schweigen herrscht wieder an Bord des Flosses, und ich schließe daraus, daß meine Gefährten schlafen.

Sie haben jetzt keinen Hunger mehr.

48. Capitel

XLVIII.

Am 19. Januar. – Während dieses Tages derselbe Himmel, dieselbe Temperatur, und auch die Nacht kommt heran, ohne eine Aenderung in diesem Zustande herbeizuführen. Nicht einige Stunden habe ich schlafen können.

Gegen Morgen höre ich Zornesrufe an Bord.

Die Herren Letourneur und Miß Herbey, die mit mir Unter demselben Zeltdache verweilen erheben sich. Ich schlage die Leinwand zurück und sehe nach, was vorgeht.

Der Hochbootsmann, Daoulas und die anderen Matrosen sind in furchtbarer Aufregung. Robert Kurtis, der im Hintertheile sitzt, springt auf und sucht Jene nachdem er sich nach der Ursache ihres Zornes erkundigt hat, zu beruhigen.

»Nein! Nein! Wir müssen wissen, wer uns das angethan hat, ruft Daoulas, und schleudert wilde Blicke um sich herum.

[182] – Ja, fällt der Hochbootsmann ein es ist ein Dieb hier, da unsere Ueberbleibsel verschwunden sind.

– Ich war es nicht! – Ich auch nicht!« antworten die Matrosen Einer nach dem Anderen.

Ich sehe die Unglücklichen alle Ecken durchsuchen, die Segel aufheben, die Planken der Plateform verschieben. Ihre Wuth wächst nur, je länger sie vergeblich suchen.

Der Hochbootsmann kommt auf mich zu.

»Sie müssen den Dieb kennen, sagt er.

– Den Dieb von was? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen,« habe ich ihm geantwortet.

Daoulas und einige andere Matrosen nähern sich.

»Wir haben das ganze Floß durchwühlt, sagt Daoulas, jetzt ist nur noch dieses Zelt zu untersuchen ...

– Niemand von uns hat dieses Zelt verlassen, Daoulas.

– Wir müssen nachsehen.

– Nein, laßt Die in Ruhe, welche nahe daran sind, vor Hunger zu sterben!

– Mr. Kazallon, sagt der Hochbootsmann in ruhigem Tone zu mir, wir beschuldigen Sie nicht ... wenn Einer von Ihnen sich seinen Theil genommen hätte, den er gestern verschmähte, so wäre das ja sein Recht. Aber Alles ist abhanden gekommen, Alles, Sie verstehen mich!

– Untersuchen wir das Zelt!« ruft Sandon.

Die Matrosen dringen vor, und ich vermag den Unglücklichen, die der Zorn verblendet, nicht zu wehren. Eine schreckliche Furcht erfaßt mich ... sollte Mr. Letourneur nicht für sich, doch für seinen Sohn das vielleicht gethan haben? ... Wenn es der Fall ist, werden diese Furien ihn zerreißen.

Ich sehe Robert Kurtis an, wie um von ihm Schutz zu erbitten, und der Kapitän stellt sich an meine Seite. Er hält beide Hände in den Taschen, doch vermuthe ich, daß er darin eine Waffe habe.

Inzwischen haben Miß Herbey und die Herren Letourneur auf Anordnung des Hochbootsmannes das Zelt verlassen müssen, das man bis in die geheimsten Winkel durchsucht – doch zum Glück vergebens.

[183] Offenbar sind die Neste Hobbart's, da man sie nirgends findet, ins Meer geworfen worden.

Der Hochbootsmann, der Zimmermann und die Matrosen überlassen sich der wüthendsten Verzweiflung.

Doch wer hat das gethan? Ich sehe Miß Herbey an, Mr. Letourneur, und ihre Blicke antworten mir, daß sie es nicht sind.

Meine Augen schweifen zu André, der einen Moment den Kopf wegwendet.

Der unglückliche junge Mann! Sollte er es gewesen sein? Und wenn dem so ist, hat er sich die Folgen seiner That vergegenwärtigt?

49. Capitel

XLIX.

Vom 20. bis 22. Januar. – Während der folgenden Tage haben Diejenigen, welche an der schauderhaften Mahlzeit am 18. Januar Theil nahmen, nur wenig gelitten, da sie ihren Hunger und Durst gestillt hatten.

Doch was Miß Herbey, André Letourneur, sein Vater und ich leiden, kann das eine Feder schildern? Sind wir nicht zu bedauern, daß jene Neste verschwunden sind, und wenn Einer von uns mit Tod abgeht, werden wir dann auch noch zu widerstehen vermögen? ...

Der Hochbootsmann, Daoulas und die Anderen haben nun auch wieder Hunger bekommen und sehen uns mit verwirrten Blicken an. Betrachten sie uns als sichere Beute?

In der That, wovon wir am meisten leiden, das ist nicht der Hunger, sondern der Durst. Gewiß, hätten wir zwischen einigen Tropfen Wasser und einem Stück Zwieback zu wählen, wir würden nicht im Zweifel sein. Von Schiffbrüchigen in denselben Verhältnissen wie wir ist das wiederholt ausgesprochen worden und verhält sich auch wirklich so. Man leidet vom Durst noch empfindlicher als vom Hunger, und stirbt an jenem schneller.

Und, o abscheulicher Spott, rings um sich hat man das Wasser des Meeres, das dem Trinkwasser ja so ähnlich sieht! Wiederholt habe ich versucht, [184] einige Tropfen davon zu genießen, aber es erzeugt mir einen unüberwindlichen Ekel und nur noch heftigeren Durst.


Dann stürzt er sich über die Brüstung und sein Körper fällt in das Meer. (S. 186.)

O das ist zu viel! Seit zweiundvierzig Tagen haben wir nun das Schiff verlassen! Wer von uns kann sich noch einer Illusion für die Zukunft hingeben? Sind wir nicht verdammt, Einer nach dem Anderen langsam hinzusterben, und das durch eine der schrecklichsten Todesarten?

[185] Ich fühle, wie sich mein Gehirn allmälig umnebelt. Wie ein Wahnsinn erfaßt es mich, und ich habe Mühe, mich bei Verstand zu erhalten. Dieser Zustand erschreckt mich! Wohin wird er mich noch führen? Werde ich stark genug sein, meine Vernunft zu bewahren? ...

Ich bin wieder zu mir gekommen, nach wie viel Stunden, vermag ich nicht zu sagen. Meine Stirn fand ich mit Compressen bedeckt, die Miß Herbey sorgfältig mit Seewasser tränkte, doch ich fühle, daß ich nur noch kurze Zeit zu leben habe.

Heute, am 22., spielt eine entsetzliche Scene. Der Neger Jynxtrop, der plötzlich toll geworden ist, läuft heulend auf dem Floß umher. Robert Kurtis versucht ihn aufzuhalten, doch vergeblich. Er wirst sich auf uns, um uns zu zerfleischen, so daß wir Mühe haben, uns gegen die Angriffe des wilden Thieres zu wehren. Jynxtrop hat einen Hebebaum ergriffen, und wir können seinen Schlägen nur schwer ausweichen.

Plötzlich wendet er sich, als flackere der Wahnsinn auf's Neue auf, gegen sich selbst und zerreißt sich mit den eigenen Zähnen, zerkratzt sich mit den Nägeln und spritzt uns sein Blut in's Gesicht mit dem Rufe:

»Da trinkt! Trinkt doch!«

Dann stürzt er sich über die Brüstung, und ich höre seinen Körper in's Meer fallen.

Der Hochbootsmann, Falsten und Daoulas eilen nach vorn, um den Körper womöglich zu erhaschen, aber sie sehen nur noch einen blutigen Kreis, in dessen Mitte sich die Haifische herumtreiben.

50. Capitel

L.

Am 22. und 23. Januar. – Nur elf sind wir noch an Bord, und mir erscheint es unmöglich, daß nicht jeden Tag ein neues Opfer hinzu käme. Das Ende des Dramas, es sei wie es will, kommt nun heran. Vor Ablauf einer Woche müssen wir entweder an's Land gestoßen oder von einem begegnenden Schiffe aufgenommen worden sein, oder aber der letzte Ueberlebende des Chancellor hat aufgehört, zu athmen.

[186] Am 23. hat sich das Aussehen des Himmels auffallend verändert und die Brise ist merklich stärker geworden. Der Wind ging im Laufe der Nacht nach Nordosten. Das Segel des Flosses hat sich wieder aufgebläht und ein langes Kielwasser beweist uns, daß wir nicht unerheblich vorwärts treiben. Der Kapitän schätzt unsere Bewegung auf drei Meilen in der Stunde.

Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten befinden sich offenbar noch am besten unter uns, und obwohl auch sie im höchsten Grade abgemagert erscheinen, so ertragen sie doch alle Entbehrungen mit erstaunlicher Ausdauer. Wie sehr die arme Miß Herbey angegriffen ist, vermag ich gar nicht zu schildern. Sie ist nur noch ein Geist aber ein wachsamer Geist, der ganz und gar in ihren Augen zu wohnen scheint, wel che ganz außerordentlich leuchten. Sie lebt mehr im Himmel, als auf der Erde!

Auch der Hochbootsmann, der sonst eine so große Energie zeigte, ist doch jetzt vollkommen erschlafft. Man erkennt ihn nicht mehr. Sein Kopf sinkt ihm auf die Brust, seine langen, knochigen Arme hängen schlotternd herab, und spitzig treten die Kniescheiben unter seinen abgenutzten Beinkleidern hervor, – so sitzt er unbeweglich in einem Winkel des Flosses und erhebt kaum seine Augen. Wie unähnlich ist er der Miß Herbey, er, der nur in und mit dem Körper lebt, und dessen Bewegungslosigkeit eine so vollkommene ist, daß ich manchmal auf den Gedanken komme, er sei schon gestorben.

Kein Wort, keinen Seufzer mehr hört man auf dem Flosse. Rings herrscht Grabesruhe. Nicht zehn Sylben werden den Tag über gewechselt, und die wenigen Worte, die unsere vertrockneten und verhärteten Lippen hätten aussprechen können, wären nicht einmal zu verstehen gewesen. Das Floß trägt nur noch blasse, blutlose Gespenster, die nichts Menschliches mehr an sich haben!

[187]

51. Capitel

LI.

Am 24. Januar. – Wo sind wir? Nach welchem Theile Amerikas zu wurden wir verschlagen? Zweimal habe ich Robert Kurtis darüber gefragt doch vermochte er mir keine bestimmte Antwort darauf zu geben. Da er jedoch die Richtung der Strömungen und der Winde immer aufgezeichnet hat, so glaubt er, daß wir im Ganzen weiter nach Westen, also nach dem Lande zu, getrieben seien.

Heute zeigt die Luft gar keine Bewegung, und dennoch verräth die hohlgehende See, daß im Osten das Wasser aufgeregt worden ist. Jedenfalls wird ein Sturm über jene Theile des Atlantischen Oceans hinweg gebraust sein. Das Floß arbeitet schwer, und Robert Kurtis, Falsten und der Zimmermann setzen ihre letzten Kräfte daran, seine Theile, die sich zu lockern drohen, sicherer zu befestigen.

Warum bemühen sie sich noch damit? Möchten diese Planken doch endlich auseinander weichen und der Ocean uns verschlingen! Es ist zu viel, ihm unser elendes Leben noch abringen zu wollen.

In Wahrheit haben unsere Qualen den höchsten Grad erreicht, den Menschen wohl zu ertragen vermögen, und unmöglich können sie noch über diesen hinausgehen! Die Hitze ist ganz unausstehlich, der Himmel gießt geschmolzenes Blei über uns aus. Der Schweiß läuft durch unsere Lumpen, und diese Transspiration erhöht noch unseren Durst. Nein, ich kann es nicht wiedergeben, was ich empfinde. Die Worte gehen aus, wenn es gilt, übermenschliche Qualen zu schildern.

Die einzige Möglichkeit, durch welche wir uns früher einige Erquickung zu verschaffen vermochten, ist uns jetzt ebenfalls abgeschnitten. Niemand kann mehr daran denken, sich zu baden, denn seit Jynxtrop's Tode umringen uns die Haifische in ganzen Schaaren.

Heute habe ich versucht, mir etwas trinkbares Wasser zu verschaffen, indem ich Meerwasser verdunstete. Doch trotz der größten Geduld gelang es mir kaum, ein Stück Leinenzeug anzufeuchten. Außerdem widerstand der sehr [188] abgenutzte Siedekessel dem Feuer nicht mehr, schmolz zusammen und ich war genöthigt, die Operation einzustellen.

Der Ingenieur Falsten ist jetzt ebenfalls ganz gebrochen und wird uns höchstens um einige Tage überleben. Wenn ich die Augen einmal aufschlage, sehe ich ihn kaum mehr. Liegt er irgendwo unter Segeln oder ist er todt? Nur der energische Kapitän Kurtis steht auf dem Vordertheile und lugt in's Weite. Wenn man sich vorstellt, daß dieser Mann ... noch Hoffnung hat!

Ich selbst strecke mich auf dem Boden aus und er warte den Tod. Je eher er kommt, desto willkommener soll er mir sein!

Wie viele Stunden mir in dieser Weise verflossen sind ... ich weiß es nicht, doch ich höre ein gellendes Gelächter, einer von uns muß wahnsinnig geworden sein!

Das Lachen verdoppelt sich. Ich erhebe den Kopf gar nicht. Wozu auch? Einige unzusammenhängende Worte erreichen dennoch mein Ohr.

»Eine Wiese! Eine Wiese! Grüne Bäume! Eine Schenke unter den Bäumen! Schnell, schnell! Branntwein her! Gin! Wasser! Eine Guinee für den Tropfen! Ich bezahl' es! Ich habe Gold, viel Gold!«

Armer Verblendeter! Für alle Reichthümer Alt-Englands könntest Du jetzt keinen Tropfen Wasser erkaufen.

Der Matrose Flaypol ist es, der von Delirien erfaßt, ausruft:

»Land! Da ist das Land!«

Dieses Wort hätte bei uns auch Todte erweckt. Ich mache eine schmerzliche Anstrengung und erhebe mich. Kein Land ist sichtbar. Flaypol läuft auf der Plateform umher, er lacht, singt und giebt Zeichen nach der eingebildeten Küste hin! Unleugbar sind die directen Sinnesthätigkeiten des Gehörs, des Gesichts und Geschmacks bei ihm gänzlich erloschen, doch ist er von einer rein cerebralen Erscheinung vollkommen erfüllt. Er spricht auch mit abwesenden Freunden. Er führt sie nach der Schenke in Cardiff, dort bietet er ihnen Gin, Whisky, Wasser an, – Wasser vorzüglich; Wasser, das ihn trunken macht! Da geht er über alle die daliegenden Körper weg, stolpert bei jedem Schritte, fällt hin und erhebt sich wieder, singt mit weinseliger Stimme und hat das Aussehen, als befände er sich im stärksten Grade der Trunkenheit. Unter der Herrschaft seines Wahnsinns leidet er nicht, und sein Durst ist gestillt! O, ich möchte seine Sinnestäuschungen auch haben!

[189] Wird der Unglückliche ebenso enden wie der Neger Jynxtrop, und sich zuletzt in die Fluthen stürzen?

Daoulas, Falsten und der Hochbootsmann müssen das erwartet haben, denn wenn er sich umbringen sollte, wollen sie es »nicht ohne Vortheil für sich« geschehen lassen! Sie erheben sich, sie folgen ihm, sie belauern ihn, und wenn Flaypol sich in's Meer stürzte, dieses Mal würden sie ihn den Haifischen aus den Zähnen reißen!

Doch, es sollte so nicht kommen. Im Verlaufe seiner Hallucinationen ist Flaypol im letzten Stadium der Trunkenheit angelangt, so, als ob er sich durch die geistigen Getränke wirklich berauscht hätte, die er freigebig ausbot, und wie eine todte Masse stürzt er in einem Winkel zusammen, um einem bleiernen Schlafe zu verfallen.

52. Capitel

LII.

Am 25. Januar. – Die Nacht vom 24. zum 25. war dunstig, ich weiß nicht aus welchem Grunde eine der schwülsten, und der Nebel wahrhaft erstickend. Man sollte meinen, daß ein Funke hinreichen müßte, die Luft wie einen explosiven Körper zu entzünden und den ganzen Weltraum in Brand zu setzen. Das Floß bewegt sich nicht nur nicht fort, sondern unterliegt sogar überhaupt keinerlei Bewegung, so daß ich mich manchmal frage, ob es denn noch schwimme.

Während dieser Nacht versuchte ich zu zählen, wie viel wir noch sind. Es scheint mir, als ob wir noch elf Personen wären, aber ich habe Mühe, die nöthigen Gedanken zu dieser Zählung zu sammeln. Einmal finde ich zehn, das andere Mal zwölf. Wir müssen wohl unserer elf sein, da der Neger Jynxtrop umgekommen ist. Morgen können es nur noch zehn sein, denn bis dahin bin ich gestorben.

Ich fühle es recht wohl, daß ich mich dem Ende meiner Qualen nähere, denn mein ganzes vergangenes Leben zieht durch meine Erinnerung und es ist mir vergönnt, mein Vaterland, meine Freunde, meine Familie zum letzten Male im Traume zu sehen!

[190] Gegen Morgen bin ich erwacht, wenn man die krankhafte Betäubung, in der ich lag, noch Schlaf nennen darf. Gott verzeihe mir, doch ich denke nun ernstlich daran, diesem Zustande ein Ende zu machen! Diese Idee setzt sich in meinem Gehirn immer fester, und es gewährt mir eine Art Freude, mir zu sagen, daß meine Leiden ein Ende haben werden, so bald ich es will.

Ich habe Robert Kurtis von meinem Entschlusse in Kenntniß gesetzt und ihm davon mit einer ganz auffallenden Ruhe des Geistes gesprochen. Der Kapitän begnügt sich, mir durch ein zustimmendes Zeichen zu antworten. Dann aber sagt er:

»Was mich betrifft, so werde ich mich nicht selbst tödten, das hieße meinen Posten verlassen, und das darf ich nicht. Wenn der Tod mich nicht vor den Anderen ereilt, so werde ich bis zuletzt auf dem Flosse ausharren!«

Der Nebel dauert fort, wir schwimmen mitten in einer weißgrauen Atmosphäre; man sieht fast die Wasserfläche gar nicht mehr. Wie eine dichte Wolke erhebt sich der Dunst aus dem Ocean, aber man fühlt es recht gut, daß über ihm die Sonne brennt, die in kurzer Zeit all' diesen Wasserdampf aufgesaugt haben wird.

Gegen sieben Uhr glaube ich Vogelgeschrei über meinem Kopfe zu vernehmen. Robert Kurtis, welcher aufmerksam lauscht, hört die Töne, welche sich dreimal wiederholen, ebenfalls.

Beim dritten Male nähere ich mich ihm und höre, wie der Kapitän mit dumpfer Stimme murmelt:

»Vögel! ... Aber dann ... dann müßte ja das Land nahe sein! ...«


Glänzende Strahlen dringen bis zu uns nieder. (S. 192.)

Robert Kurtis glaubt also überhaupt noch an das Land? Ich nicht mehr! Nein, es giebt keine Continente, keine Inseln mehr, und der ganze Erdball ist wiederum nur jene flüssige Kugel, wie zur Zeit der zweiten Schöpfungsperiode!

Dennoch erwarte ich das Aufsteigen des Nebels mit erklärlicher Spannung, nicht deshalb, weil ich mir schmeichelte, dann vielleicht Land zu erblicken, sondern weil es mich drängt, den absurden Gedanken, den eine unerfüllbare Hoffnung mir vorspiegeln wollte, schnell los zu werden.

Erst gegen elf Uhr beginnt der Dunst sich zu zerstreuen, und während seine dichten Wolken über die Oberfläche des Wassers gleiten, sehe ich an [191] manchen Stellen durch dieselben den Himmel hindurchschimmern. Glänzende Strahlen dringen bis zu uns nieder und treffen uns wie weißglühende, metallene Pfeile. Doch die Condensation der Dünste vollzicht sich in den oberen Schichten, und noch kann ich den Horizont nicht wahrnehmen.

Eine halbe Stunde lang umhüllen diese Nebel das Floß und zertheilen sich bei der absoluten Windstille nur sehr schwierig.

[192] Robert Kurtis, der sich auf die Schanzkleidung der Plateform stützt, sucht diesen dicken Nebelvorhang mit den Augen zu durchdringen.

Endlich glänzt die Sonne mit ihrer vollen Pracht über die Oberfläche des Oceans; der Nebel weicht zurück, ein großer Kreis um uns wird sichtbar und der Horizont erscheint ...

Doch, es ist derselbe Horizont, wie seit sechs vollen Wochen ... Eine ununterbrochene runde Linie, in der Himmel und Wasser in einander übergehen!

Nachdem Robert Kurtis sich überall umgesehen hat, verharrt er in tiefem Schweigen. Ach, ich bedauere ihn wirklich, denn von uns Allen ist er der Einzige, der nicht das Recht hat, zu endigen, wann es ihm beliebt. Ich, ich werde morgen sterben, und wenn der Tod nicht kommt, mich abzulösen, so werde ich ihm entgegengehen. Was meine Gefährten betrifft, so weiß ich gar nicht, ob sie noch am Leben sind, und es scheint mir, als wären viele, viele Tage verflossen, seit ich sie zum letzten Male gesehen habe.

Die Nacht ist gekommen, doch habe ich keinen Augenblick schlafen können. Gegen zwei Uhr quälte mich der Durst so furchtbar, daß ich laut aufschreien mußte. Wie? Vor dem Tode sollte ich nicht noch einmal die Wollust genießen, das Feuer zu löschen, das meine Brust verzehrt?

Und doch! Ich werde mein eigenes Blut trinken, wenn ich das der Anderen nicht habe. Das wird mir zwar nichts nützen, ich weiß es, doch ich werde mein Leiden betrügen!

Kaum ist dieser Gedanke in mir aufgestiegen, so schreite ich auch schon zu seiner Ausführung. Es gelingt mir, mein Messer zu öffnen. Mein Arm ist entblößt, und mit raschem Stoße zerschneide ich eine Vene. Nur tropfenweise quillt das Blut heraus, und so stille ich meinen Durst an der eigenen Quelle alles Lebens! Dieses Blut kehrt ja wieder in mich zurück, und ich besänftige einen Augenblick meine wilden Schmerzen. Dann stockt es ganz; ihm fehlt die Kraft, zu fließen!

Wie lange dauert es doch, bis jenes morgen kommen will!

Wiederum hat sich am Horizont ein dicker Nebel angehäuft, der den Gesichtskreis, dessen Mittelpunkt das Floß einnimmt, beschränkt; aber dieser Nebel ist glühend, wie die Wolken, die aus einem Schmelzofen ausströmen.

Das ist heute der letzte Tag meines Lebens.

[193] Bevor ich sterbe, würde ich glücklich sein, die Hand meines Freundes zu drücken. Robert Kurtis ist da, nicht weit von mir. Ich schleppe mich zu ihm hin und ergreife seine Hand. Er versteht mich, er weiß, daß das ein Abschied ist, doch es hat den Anschein, als wolle er mich durch einen letzten Gedanken an Hoffnung zurückzuhalten suchen! Das ist vergebens.

Ich hätte auch die Herren Letourneur, Miß Herbey gern noch einmal gesehen ... Ich wage es nicht! Das junge Mädchen würde meinen Entschluß mir aus den Augen lesen! Sie würde mir von Gott sprechen, und von dem anderen Leben, das man ergeben erwarten sollte! Erwarten! Gott sei mir gnädig, aber ich habe den Muth dazu nicht mehr.

Ich krieche auf dem Flosse hin, und mit der letzten Kraftanstrengung gelingt es mir, mich am Maste aufzurichten. Zum letzten Male lasse ich meine Augen über dieses unerbittliche Meer hinweg schweifen, und über den Horizont, der sich nie und nimmer verändert. Wenn mir jetzt ein Land erschiene, oder ein Segel sich über den Wellen erhöbe, so würde ich glauben, der Spielball einer Illusion zu sein ... doch, das Meer ist öde und verlassen!

Es ist jetzt zehn Uhr Morgens. Der Augenblick, meinen Qualen ein Ende zu machen, ist gekommen. Das Zerren des Hungers und das Stacheln des Durstes zerreißt mich mit erneuter Heftigkeit und der Trieb der Selbsterhaltung erlischt in mir. In einem Augenblicke habe ich aufgehört zu leiden! Gott erbarme sich meiner!

In diesem Moment erhebt sich eine Stimme, ich erkenne die des Zimmermanns.

Daoulas steht neben Robert Kurtis.

»Kapitän, sagt er, wir wollen nun losen.«

Im Begriffe, mich ins Wasser zu stürzen, halte ich doch ein. Warum? Ich weiß es selbst nicht, doch ich schleppe mich nach dem Hintertheile des Flosses zurück.

[194]

53. Capitel

LIII.

Am 26. Januar. – Der Vorschlag ist gemacht. Alle haben ihn gehört, Alle verstanden. Seit einigen Tagen schon war er zur fixen Idee geworden, welche nur Niemand in ihrer Nacktheit auszusprechen wagte.

Man will das Los entscheiden lassen.

Jeder soll einen Theil von dem erhalten, den das Los zum Opfer bezeichnen wird.

Nun gut, es sei! Wenn mich das Los träfe, ich würde mich nicht beklagen.

Mir scheint, daß eine Ausnahme zu Gunsten der Miß Herbey vorgeschlagen worden ist, und daß sie von André Letourneur angeregt wurde. Doch ein Murmeln des Unmuths wird unter den Matrosen hörbar. Wir sind elf an Bord. Jeder hat also zehn Chancen für und nur eine gegen sich; die vorgeschlagene Ausnahme würde dieses Verhältniß umstoßen. Miß Herbey muß das Schicksal aller Anderen theilen.

Es ist nun zehn ein halb Uhr geworden. Der Hochbootsmann, den Daoulas' Vorschlag wieder belebt hat, dringt darauf, daß die Verlosung sogleich vorgenommen werden solle. Er hat recht. Uebrigens hängt wohl Keiner von uns besonders am Leben, und der, den das Los treffen wird, geht ja den Uebrigen nur um wenige Tage, vielleicht nur um wenige Stunden im Tode voran. Man weiß das; der Tod hat seinen Stachel verloren. Aber nicht einen oder zwei Tage mehr von diesem Hunger leiden und diesen entsetzlichen Durst empfinden, das will man, das wird man erreichen.

Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß sich alle unsere Namen in einem Hute befinden; es kann nur Falsten gewesen sein, der sie auf ein aus seinem Notizbuche herausgerissenes Stück Papier geschrieben hat.

Die elf Namen sind vorhanden, und man kommt ohne Gegenrede dahin überein, daß der letzte Name, welcher gezogen wird, das Opfer bezeichnen soll.

Wer wird die Auslosung vornehmen? Alle zaudern ein wenig.

[195] »Ich«, antwortet da Einer von uns.

Ich sehe mich um und erkenne Mr. Letourneur.

Er steht da, bleich, mit vorgestreckter Hand, seine weißen Haare fallen ihm über die ausgehöhlten Wangen, und er erschreckt durch seine gespenstige Ruhe!

Ach, unglücklicher Vater, ich verstehe Dich; ich weiß es, warum gerade Du die Namen aufrufen willst! Deine väterliche Opferfreudigkeit wird auch so weit gehen.

»Wenn es Ihnen gefällig ist!« sagt der Hochbootsmann.

Mr. Letourneur senkt die Hand in den Hut, ergreift ein Billet, entfaltet es, spricht mit lauter Stimme den Namen aus, den es trägt, und übergiebt es Demjenigen, den es bezeichnet.

Der erste herausgezogene Name ist der Burke's, der einen Freudenschrei ausstößt.

Der zweite der Flaypol's.

Der dritte der des Hochbootsmannes.

Der vierte der Falsten's.

Der fünfte der Robert Kurtis'.

Der sechste der Sandon's.

Die Hälfte der Namen und einer darüber ist ausgerufen.

Der meinige ist nicht gekommen, und ich suche die Chancen zu berechnen, die mir noch bleiben: Bier gute gegen eine schlechte.

Seitdem Burke jenen Schrei ausstieß, hat Niemand ein Wort vernehmen lassen.

Mr. Letourneur fährt in seinem traurigen Geschäfte fort.

Der siebente Name ist der der Miß Herbey, aber das junge Mädchen verräth kein Zeichen der Freude.

Der achte Name ist der meinige. Ja! Der meinige!

Der neunte Name:

»Letourneur!

– Welcher? fragt der Hochbootsmann.

– André!« antwortet Mr. Letourneur.

Da hört man einen wiederholten Schrei, und André stürzt bewußtlos zusammen.

[196] »Nur vorwärts!« ruft der Zimmermann Daoulas, dessen Name mit dem des Mr. Letourneur allein noch im Hute zurückgeblieben ist.

Daoulas betrachtet seinen Rivalen als das Opfer, das er verschlingen will. Mr. Letourneur selbst zeigt fast ein Lächeln. Er führt seine Hand wieder in den Hut, er zieht das vorletzte Los heraus, entfaltet es langsam, und ohne daß seine Stimme zittert und mit einer Seelenstärke, welche ich diesem Greise kaum zugetraut hätte, spricht er den Namen »Daoulas!« aus.

Der Zimmermann ist gerettet, und ein Stoßseufzer entringt sich seiner Brust.

Dann nimmt Mr. Letourneur noch das letzte Billet und zerreißt es, ohne es erst zu öffnen.

Doch ein Stückchen des zerrissenen Papieres fliegt, von Niemanden beachtet, nach einer Ecke des Flosses. Ich krieche darnach hin, ich ergreife es, und auf einer Ecke desselben lese ich noch: And ...

Mr. Letourneur kommt eiligst auf mich zu, entreißt meinen Händen das winzige Stück Papier, dreht es fest zusammen, und indem er mich scharf und ernst anblickt, wirst er es in das Meer.

54. Capitel

LIV.

Fortsetzung vom 26. Januar. – Ich hatte es wohl verstanden; der Vater hat sich für den Sohn geopfert, und da er ihm nichts mehr zu geben hat als sein Leben, so giebt er ihm dieses.

Doch alle jene Verhungerten wollen nicht warten, und der Schmerz in ihren Eingeweiden verdoppelt sich in Gegenwart des ihnen zugefallenen Schlachtopfers. Mr. Letourneur ist für sie kein Mensch mehr. Noch haben sie nichts gesagt, aber ihre Lippen spitzen sich, ihre Zähne, welche zum raschen Erfassen schon sichtbar werden, würden Jenen wie die Zähne der Raubthiere und mit der gierigen Gefräßigkeit der Bestien zerfleischen. Soll man es mit ansehen, daß sie sich auf ihr Opfer stürzen und es lebend verschlingen[197] Wer sollte glauben, daß Jemand noch jetzt einen Appell an das Restchen von Menschlichkeit in Jenen wagen, und vorzüglich, daß er gehört werden würde? Ja! ein Wort war doch im Stande, ihnen in dem Augenblicke Halt zu gebieten, da sie sich auf Mr. Letourneur stürzen wollten, und der Hochbootsmann, in Begriff, als Fleischer zu dienen, sowie Daoulas mit der Axt in der Hand sind plötzlich still stehen geblieben.

Miß Herbey geht oder schleppt sich vielmehr auf Jene zu.

»Meine Freunde, beginnt sie, wollt Ihr noch einen einzigen Tag warten? Nur einen Tag! Wenn bis morgen kein Land sich zeigt, kein Schiff uns begegnet ist, so mag unser armer Gefährte Euch als Beute gehören? ...«

Bei diesen Worten wird mein Herz wieder lebendiger. Mir scheint es, als spräche das junge Mädchen in einem so zuversichtlich prophetischen Tone, und als sei es die Eingebung eines Höheren, welche diese edle Seele antreibt. O, wie kehrt die Hoffnung wieder in mein Herz ein. Die Küste, das Schiff, gewiß hat Miß Herbey sie schon in einer übernatürlichen Vision gesehen, welche Gott seinen Auserwählten manchmal sendet. Was will ein Tag bedeuten, gegenüber den Qualen, welche wir schon erduldet haben?

Robert Kurtis ist auch meiner Meinung, wir vereinigen unsere Bitten mit denen der Miß Herbey, Falsten spricht in demselben Sinne, wir flehen unsere Gefährten, den Hochbootsmann, Daoulas, die Anderen an ...

Die Matrosen halten schweigend ein.

Der Hochbootsmann wirst die Axt weg und murmelt:

»Also bis morgen mit Anbruch des Tages!«

Dieses Wort sagt Alles. Wenn sich morgen weder das Land noch ein Schiff zeigt, wird das schreckliche Opfer gebracht werden.

Jeder kehrt nach seinem Platze zurück und unterdrückt seine Schmerzen mit dem Aufgebot der letzten Kräfte. Die Matrosen verbergen sich unter den Segelstücken und haben gar kein Interesse mehr daran, nach dem Meere auszuschauen. Sie sind gleichgiltig geworden, – morgen werden sie ja essen.

Inzwischen ist André Letourneur wieder zu sich gekommen, und mit dem ersten Blicke sucht er seinen Vater. Dann sehe ich, wie er die Insassen des Flosses zählt .... Es fehlt nicht Einer. Auf wen ist das Los nun gefallen? Als André das Bewußtsein verlor, verblieben nur noch zwei Namen, der des [198] Zimmermanns und der seines Vaters, im Hute! Und Mr. Letourneur so gut wie Daoulas sind doch Beide noch da!

Miß Herbey nähert sich dem jungen Manne und sagt ihm einfach, daß die Losziehung nicht beendet worden sei.

André Letourneur verlangt nicht mehr zu wissen und ergreift die Hand seines Vaters. Das Gesicht des Mr. Letourneur hat einen ruhigen, fast lächelnden Ausdruck. Er sieht nichts, er versteht nichts Anderes, als daß sein Sohn gerettet ist. Diese beiden so innig verbundenen Wesen sitzen im Hintertheile und sprechen leise mit einander.

Doch ich muß noch einmal auf den ersten Eindruck zurückkommen, den das Dazwischentreten des jungen Mädchens in mir hinterließ. Ich glaube jetzt an eine Hilfe durch die Vorsehung, und ich vermag nicht zu sagen, bis zu welcher Tiefe dieser Gedanke in meinem Gehirn sich festwurzelt. Ich möchte behaupten, daß wir vor dem Ende unseres Elendes stehen, und daß das Land oder ein Schiff dort, einige Meilen unter dem Winde, sein müssen; so sicher bin ich dieser Hoffnung! Erstaune Niemand über diesen Umschlag in mir. Mein Gehirn ist so schwach, daß Chimären in ihm jetzt zur Wirklichkeit werden.

Ich spreche den Mr. Letourneur von meinen Ahnungen. André ist ebenso vertrauensselig, wie ich. Der arme Junge! Wenn er wüßte, daß morgen ...!

Der Vater hört mir ernsthaft zu und bestärkt mich noch in meiner Hoffnung. Er glaubt gern – und sagt es wenigstens, – daß der Himmel die Ueberlebenden verschonen werde, und er überhäuft seinen Sohn mit Liebkosungen, mit den letzten des zärtlichen Vaterherzens.

Später, als ich mit ihm allein war, neigte sich Mr. Letourneur dicht zu mir.

»Ich empfehle Ihnen mein unglückliches Kind, flüstert er, und möge es ihm nie bekannt werden, daß ...«

Er vermag den Satz nicht zu vollenden, heiße Thränen entquellen seinen Augen!

Ich, – ich bin ganz Hoffnung.

Ohne mich einen Augenblick abzuwenden, betrachte ich den Horizont und durchlaufe ihn mit den Blicken in seinem ganzen Umfange. Noch ist er leer, [199] aber das beunruhigt mich nicht. Noch vor morgen wird das Land oder ein Segel gemeldet werden.


»Wollt Ihr noch einen einzigen Tag warten?« (S. 198.)

Robert Kurtis beobachtet das Meer ebenso wie ich. Miß Herbey, Falsten selbst der Hochbootsmann fassen ihre ganze Lebensenergie in den Augen zusammen.


Alle trinken mit wahrhaft wollüstigem Entzücken. (S. 205.)

Inzwischen sinkt die Nacht herab, doch ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, daß ein Fahrzeug bei dieser Dunkelheit uns nahe genug kommen werde, um unsere Signale mit Tagesanbruch sehen zu können.

[200][202]

55. Capitel

LV.

Am 27. Januar. – Ich schließe kein Auge und höre das geringste Geräusch, das Plätschern des Wassers, das Murmeln der Wellen. Ich mache die auffällige Beobachtung, daß sich kein Haifisch mehr in der Nähe des Flosses befindet. Ich erblicke darin ein glückverheißendes Vorzeichen.

Der Mond ist um zwölf Uhr sechsundvierzig Minuten aufgegangen und zeigt sein letztes Viertel, doch gestattet mir sein unzureichendes Licht nicht, das Meer in einem größeren Umkreise zu überblicken. Wie häufig glaubte ich in der Entfernung einiger Kabellängen das so ersehnte Segel zu erschauen!

Aber der Morgen kommt, und die Sonne steigt über derselben Wasserwüste auf.

Der schreckliche Augenblick nahet, und ich fühle alle meine Hoffnungen des letzten Tages wieder verlöschen. Das Schiff erscheint nicht, ebenso wenig das Land. Ich kehre zur Wirklichkeit zurück, und in mir lebt die Erinnerung auf. Jetzt ist die Stunde, in der die schreckliche Hinrichtung stattfinden soll! Ich wage das Opfer nicht mehr anzusehen, und wenn seine so wohlwollenden, so resignirten Blicke sich auf mich richten, schlage ich die Augen nieder.

Ein unbesiegbarer Schrecken schnürt mir die Brust zusammen, und mein Kopf schwindelt, als ob ich betrunken wäre.

Es ist jetzt sechs Uhr Morgens. Ich glaube an keine göttliche Hilfe mehr. Mein Herz schlägt mehr als hundert Mal in der Minute, und ein kalter Angstschweiß dringt mir aus allen Poren.

Der Hochbootsmann und Robert Kurtis, die am Maste stehen, forschen unausgesetzt über den Ocean. Der Hochbootsmann ist schrecklich anzusehen. Man erkennt wohl an ihm, daß er der Stunde nicht vorgreifen, aber auch, daß er sie nicht vorübergehen lassen wird. Es ist mir unmöglich, zu errathen, welches die Empfindungen des Kapitäns sind, doch sein Gesicht ist bleich, und er scheint nur noch mit den Augen zu leben.

[202] Die Matrosen schleppen sich über die Plateform, und mit ihren gierigen Blicken verschlingen sie schon das unglückliche Opfer.

Ich vermag mich nicht mehr auf meinem Platze zu halten und rutsche nach dem Vordertheil des Flosses hin.

Immer auslugend steht der Hochbootsmann da.

»Nun denn!« ruft er plötzlich.

Ich schnelle bei diesen Worten in die Höhe.

Der Hochbootsmann, Daoulas, Flaypol, Burke, Sandon begeben sich nach dem Hintertheile, und krampfhaft erfaßt der Zimmermann die Axt!

Miß Herbey kann jetzt einen Schrei nicht unterdrücken.

Plötzlich richtet sich André auf.

»Mein Vater? spricht er mit erstickter Stimme.

– Das Los hat mich getroffen ...« antwortet Mr. Letourneur.

André stürzt sich auf seinen Vater und umschlingt ihn mit den Armen.

»Nie! Niemals! brüllt er. Eher tödtet mich! Bringt mich doch um! Ich bin es gewesen, der Hobbart's Leiche in's Meer geworfen hat. Ich bin es, ich bin es, den Ihr erwürgen müßt!«

Der Unglückliche!

Seine Worte steigern nur die Wuth der Henker, und Daoulas geht auf ihn zu und entreißt ihn den Armen des Mr. Letourneur mit den Worten:

»Nicht so viel Umstände!«

André stürzt rückwärts nieder, und zwei Matrosen fesseln ihn, so daß ihm jede Bewegung geraubt ist.

Zu gleicher Zeit ergreifen Burke und Flaypol ihr Opfer und zerren es nach dem Vordertheil des Flosses.

Dieser schreckliche Auftritt vollzog sich schneller, als ich ihn zu beschreiben im Stande bin. Das Entsetzen hält mich wie angenagelt zurück. Ich möchte mich zwischen Mr. Letourneur und seine Henker stürzen, ich kann es nicht!

Da hat sich Mr. Letourneur erhoben und die Matrosen, welche ihm schon einen Theil seiner Kleidung von den Schultern gerissen haben, zurückgestoßen.

[203] »Nur einen Augenblick, sagt er mit einer Stimme voll unerschütterter Energie, einen Augenblick! Ich habe nicht die Absicht, Jemandem die ihm zukommende Ration zu entziehen! Doch ich denke, Ihr würdet mich heute doch nicht ganz und gar aufzehren können!«

Die Matrosen halten ein und sehen und hören erstaunt auf ihn.

Mr. Letourneur fährt fort:

»Ihr seid Zehn. Sollten Euch meine Arme nicht für heute genug sein? Schneidet sie ab und morgen erhaltet Ihr das Uebrige!«

Letourneur streckt seine beiden nackten Arme vor.

»Einverstanden!« ruft mit schrecklicher Stimme der Zimmermann Daoulas.

Und schnell wie der Blitz erhebt er die Axt ....

Robert Kurtis hat es nicht mehr mit ansehen können.

Ich auch nicht! So lange wir leben, darf dieser Mord nicht ausgeführt werden. Der Kapitän stürzt sich unter die entmenschten Henker, ihnen ihr Opfer zu entreißen, ich werfe mich in den Tumult ... Aber kaum komme ich hinzu, so werde ich von einem der Matrosen mit aller Gewalt zurückgestoßen und falle in's Meer ...

Ich schließe den Mund. Ich will an Erstickung sterben, aber die Athemnoth überwindet meinen Willen; meine Lippen öffnen sich, und einige Schlucke Wasser dringen in meine Kehle! ...

O Du ewiger Gott! Das Wasser ist süß!

[204]

56. Capitel

LVI.

Fortsetzung vom 27. Januar. – Ich habe getrunken! Ich habe getrunken! Ich bin neu geboren! Das Leben zieht wieder in mich ein! Ich will nicht mehr sterben!

Ich schreie und werde gehört. Kurtis erscheint über der Schanzkleidung und wirst mir ein Tau zu, das meine Hand erfaßt. Ich klettere an Bord und breche auf der Plateform zusammen.

»Süßwasser! Trinkwasser! sind meine ersten Worte.

– Süßwasser! ruft Robert Kurtis, meine Freunde, das rettende Land ist da!«

Noch ist es Zeit! Der Mord ist noch nicht vollbracht! Das Opfer noch nicht geschlachtet! Robert Kurtis und André hatten gegen die Kannibalen gekämpft, und gerade als sie dem Unterliegen nahe waren, sind meine Rufe zu ihnen gedrungen.

Der Kampf schweigt. Ich rufe nochmals die Worte: »Süßwasser! Trinkwasser!« neige mich über den Rand des Flosses und trinke, ja, ich trinke mit langen, wohlthätigen Zügen!

Miß Herbey folgt zunächst meinem Beispiele. Robert Kurtis, Falsten, alle Uebrigen stürzen sich nun auf die neu erschlossene Lebensquelle; Jeder kühlt sein brennendes Verlangen. Die wilden Thiere der letzten Minuten strecken die Arme gen Himmel, und einige Matrosen bekreuzen sich, da sie ein Wunder vor sich zu haben glauben. Alle knieen am Bordrande nieder und trinken mit wahrhaft wollüstigem Entzücken. Der Ausbruch der Freude folgt dem der Wuth!

André und sein Vater sind die Letzten, die dem allgemeinen Beispiele folgen.

»Doch wo, wo sind wir? habe ich laut gefragt.

– Da!« antwortet Robert Kurtis und weist mit der Hand nach Westen.

[205] Man sieht ihn verwundert an. Ist jetzt der Kapitän auch toll geworden? Es ist keine Küste in Sicht, und das Floß nimmt noch immer den Mittelpunkt der Wasserscheibe ein.

Und doch, das Wasser ist ja süß. Seit wann? – Einerlei; jetzt haben die Sinne uns nicht betrogen und unser Durst ist gelöscht.

»Ja wohl, fährt der Kapitän fort, noch ist das Land unsichtbar, doch wir haben es weniger als zwanzig Meilen unter dem Winde.

– Welches Land? fragt der Hochbootsmann.

– Das amerikanische Festland, und zwar denjenigen Theil, an welchem der Amazonenstrom mündet, denn dieser Strom allein wälzt seine Fluthen mit solcher Gewalt in's Meer, daß er im Stande ist, bis auf zwanzig Meilen dessen Salzwasser zu verdrängen!«

57. Capitel

LVII.

Fortsetzung vom 27. Januar. – Robert Kurtis hatte vollkommen recht, denn die Mündung des Amazonenstroms, welcher so viel Wasser in's Meer führt, ist die einzige Stelle des Atlantischen Oceans, an der wir Süßwasser antreffen konnten. Das Land ist da. Wir fühlen es voraus! Der Wind trägt uns dorthin.

In diesem Augenblicke erhebt sich Miß Herbey's Stimme gen Himmel, und wir verbinden unsere Gebete mit dem ihrigen!

André Letourneur liegt in den Armen seines Vaters, und wir Anderen Alle, auf dem Vorder- und dem Hintertheile des Flosses, starren nach dem Horizonte im Westen ...

Eine Stunde später ruft Robert Kurtis laut:

»Land! Land!«

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Das Tagebuch, in dem ich meine täglichen Beobachtungen niedergelegt habe, ist beendet. In wenigen Stunden waren wir gerettet, was ich noch mit kurzen Worten erzählen will.

Das Floß begegnete gegen elf Uhr Morgens an der Magouri-Spitze der Insel Marajo mitleidigen Schiffern, die uns aufnahmen und stärkten.

[206] Dann wurden wir nach Para übergeführt und der Gegenstand der rührendsten Sorgfalt.

Das Floß stieß unter 0°12' nördlicher Breite an's Land. Es ist also seit wir das Schiff verließen, mindestens fünfzehn Grade nach Süden getrieben worden. Ich sage mindestens, denn offenbar waren wir schon weiter nach Süden verschlagen, und wenn wir an der Mündung des Amazonenstromes anlangten, so kommt das daher, daß der Golfstrom das Floß wieder erfaßt und es dorthin getrieben hat. Ohne diesen glücklichen Umstand wären wir verloren gewesen.

Von zweiunddreißig Menschen, nämlich neun Passagieren und dreiundzwanzig Seeleuten, die sich in Charleston eingeschifft hatten, waren nur fünf Passagiere und sechs Seeleute übrig, – im ganzen elf Personen.

Das sind die einzigen Ueberlebenden des Chancellor.

Von den brasilianischen Behörden wurde ein officielles Protokoll aufgenommen.

Unterzeichnet haben es: Miß Herbey, J. R. Kazallon, Letourneur sen., André Letourneur, Falsten, der Hochbootsmann, Daoulas, Burke, Flaypol, Sandon und als Letzter – Robert Kurtis, Kapitän.

Ich füge hinzu, daß uns in Para sofort Gelegenheit geboten wurde, in unser Vaterland zurückzukehren. Ein Schiff brachte uns nach Cayenne, und wir wollen die Französische Transatlantische Linie von Aspinwall benutzen, deren Steamer Ville-de-Saint-Nazaire uns nach Europa zurückbringen soll.


Wir verbinden unsere Gebete mit dem ihrigen. (S. 206.)

Ist es aber jetzt, nach so viel gemeinschaftlich überstandenen Prüfungen, nach so vielen Gefahren, denen wir nur wie durch ein Wunder entgangen sind, nicht ganz natürlich, daß ein unlösliches Freundschaftsband sich um die Passagiere des Chancellor schlingt, und daß sie unter allen Verhältnissen, und wie weit das Schicksal sie auch von einander wegführe, sich niemals vergessen werden? Robert Kurtis ist jetzt auf immer der Freund Derjenigen, die seine Unglücksgefährten waren.

Miß Herbey hatte die Absicht, sich von der Welt zurückzuziehen und ihr späteres Leben den Leidenden zu widmen.

»Ist denn mein Sohn nicht auch ein Kranker! ...« hat Mr. Letourneur darauf zu ihr gesagt.

[207] Miß Herbey hat jetzt in ihm einen Vater, in seinem Sohne einen Bruder gefunden. Ich sage, einen Bruder, doch in kurzer Zeit wird dem muthigen Mädchen in ihrer neuen Familie dasjenige Glück winken, das sie verdient und wir ihr Alle von ganzem Herzen wünschen.


Ende des Chancellor.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Der Chancellor. Der Chancellor. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7543-E