[210] 32. An meine Ernestine

1784.


Frage nicht, was mir fehle, du Schmeichlerin; atm' ich doch ringsum
Düfte des sprossenden Laubs, höre die Nachtigall rings,
Und betracht' im Abend die wolkigen Riesengestalten,
Welche mit Pupur den Leib gürten, mit Golde das Haupt.
Siehe, mein Geist entschwebt zu den Heldenseelen der Vorwelt,
Da man das Große noch groß achtete, Kleines noch klein;
Da sich der Mensch noch seiner erinnerte, daß er verständig
Sei, ein empfindender Geist, nicht ein gefräßiger Bauch;
Und auch liebliche Blumen der Menschlichkeit emsig gewartet
Blüheten, nicht allein Futter für Menschen und Vieh.
Lebt' ich in jener Zeit, da Homer den starken Achilleus,
Und des duldenden Manns Tugend und Weisheit besang:
Mühsam wandert' ich fern aus den hyperborischen Wäldern,
Wie zum krotonischen Greis' Abaris, hin zu Homer.
Nicht unkundig des Liedes, denn hell in den Hainen Apollons
Tönt' auch unser Gesang, würd' ich sein Reisegenoß.
Singend zögen wir bald in Jonien, bald in den Inseln,
Bald durch Hellas umher, und das arkadische Thal;
Sähn noch ungefälscht die Natur, und des goldenen Alters
Sitte, da gern ein Gott oder ein Engel erschien;
Unschuld, Treu' und Thaten der ungefesselten Menschheit
Sähn wir, und streuten zur That edleren Samen umher.
Gleich willkommen im Hirtengeheg' und Palaste des Königs,
Beim nachbarlichen Schmaus' oder bei Festen des Volks,
Wären wir überall wie daheim, und nähmen mit Hauskost,
Milch und Früchten vorlieb, lieber mit rötlichem Wein.
Stattlich säßen wir beide mit Lorbeer gekränzt; und der Jungfraun
Schönste, noch schöner vom Tanz, setzte sich traulich zu uns,
Rühmte hold den Gesang, und betastete klimpernd die Saiten,
Füllte dann unser Gefäß nötigend wieder mit Wein.
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So wie wir Thäler und Höhn durchwanderten, hörten wir ringsum
Unserer Lieder Klang: hier von dem Jäger im Forst,
Dort beim Pflug' und der Sense, vom Fischer am See, und der Hirtin;
Unter den Linden des Dorfs lallten die Kinder sie nach;
Und Arbeiter am Weg' und Wanderer zeigten mit Fingern,
Nickten und grüßten uns zu, namentlich, und wie bekannt.
Aber kehrten wir müd' am Mittag' oder am Abend
In ein friedsames Dorf; schnell, wie der Ruf sich ergeußt,
Wenn ein Mann mit Orgel und bildender Lampe daherkommt,
Jubelt' es nah und fern: freut euch, die Sänger sind da!
Fröhlich käm' aus der Thüre die Tochter unseres Gastfreunds,
Klatscht' in die Händ', und eilt' ihren Gespielinnen zu:
Seht doch, Vater Homer, und der hyperborische Fremdling!
Mädchen, sein junger Gesell, welcher so angenehm küßt!
Auch nicht ganz zu verachten ist sein Gesang, wenn er anfängt;
Bei Apollon-Homers Liede vergißt man ihn zwar!
Herzlich grüßt' uns der Wirt, und stellte die Stäb' in den Winkel,
Macht' uns bequem, und trüg' emsig Erfrischungen auf.
Wenn wir dann spät mit Gesang die horchende Menge belustigt,
Und der ermüdete Greis oft auf die Harfe genickt,
Von mutwilligen Mädchen verhöhnt; dann führte die Jungfrau
Leuchtend uns beide zur Ruh in das bekannte Gemach.
Also wanderten wir in den schönen Tagen des Sommers
Singend von Stadt zu Stadt, singend von Dorfe zu Dorf.
Aber käme der Herbst, der die Weg' und grünenden Rasen
Überschwemmt, und das Laub schattigen Bäumen entreißt;
Klüglich zögen wir beide, bevor der Stolpernden Antlitz
Schnee und Hagel zerschlüg', heim in das Winterquartier.
Wenn die Flur noch besponnen mit regenbogigem Schimmer
Lachte, wenn gelb und rot streifte das falbe Gebüsch,
Und für den neuen Gesang der lesende Winzer uns Trauben
Schenkte, der Bauer am Weg' allerlei Früchte des Baums:
Ruhig kehrten wir dann von der Wallfahrt wieder gen Smyrna,
Und bezögen vergnügt unser gemächliches Haus,
Wo wir den Winter hindurch schulmeisterten, so wie gewöhnlich;
Spinnen hatten indes Bänk' und Katheder umwebt.
Aber sobald die Viol' aus zerronnenem Schnee, an dem Abhang
Blühete, fröhlich das Lamm blökte durchs grünende Thal,
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Und holdselige Mädchen im Sonnenschein und im Mondschein
Gern ausgingen aufs Feld: ach in der festlichen Zeit,
Wenn sich des Dorfs Schulmeister beklagt, daß die Jugend ihm wegbleibt,
Und beim Balle vergißt, was sie so mühsam gelernt:
Siehe dann bliesen wir lustig den Winterstaub von den Harfen,
Schüttelten uns, und hinaus ging' es, wie vorigen Lenz.
O wie bange geseufzt! Komm, küsse mich, Liebchen; ich bin ja
Gerne geboren für dich, bleibe ja gerne bei dir.
Weg mit dem Traum! Dann wäre mein Liebchen allein in der Einöd'
Ohne mich; und den Mund, welcher so herzlich mich küßt,
Drückte mit plumpem Schmatz ein wirklicher Titeljustizrat,
Oder ein pustender dickbäuchichter Dorfpredikant,
Der vom alten Homer im Vorbeigehn etwa gehört hat,
Daß er als blinder Heid' itzo beim Teufel sich wärmt.

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TextGrid Repository (2012). Voß, Johann Heinrich. Gedichte. Oden und Elegien. 32. An meine Ernestine. 32. An meine Ernestine. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-87D1-A